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Transzendentalphilosophie
FRITZ MÜNCH

Es sei hier eine weitere Ausführung von grundlegender Bedeutung für die richtige Einstellung auf das Problem der Transzendentalphilosophie gestattet: Im Verlauf der transzendentallogischen Untersuchung enthüllt sich auch  das Sein  als ein Geltungsproblem; darin vollendet sich erst die kopernikanische Tat in ihrer vollen Tragweite. "Das  Sein  des Seienden - nicht  das Seiende selber  - ist also ein Spezialfall des Geltenden, des Reiches des Nichtwirklichen".  Das Sein  ist eine Geltungsform neben und unter anderen Geltungsformen.

En arche nu o logos:  Im Anfang war der  Sinn!  Das heißt: Der Sinn ist das  logische  Prius jedes sinnvollen Zusammenhangs (also auch jedes "Wirklichkeits"-Zusammenhanges) und damit auch jedes sinnvollen Verhaltens, z. B. des logischen Urteilens oder ethischen Handelns. Wer die logische Priorität des Sinnes vor allem - auch jedem idealen oder ideellen - Sein bestreitet, behauptet damit selbstzugestandenermaßen - "Un-sinn". Gerade darin, daß die Transzendentalphilosophie sich nicht von vornherein auf das Seiende einstellt, sondern das Sein des Seienden selbst zum Problem macht, beruth ihr kritischer, antidogmatischer Charakter. Und hat man erst einmal das Problem gesehen - darin begründet sich die Unsterblichkeit KANTs! -, ist der Weg nicht mehr so weit zu der Einsicht, daß das Sein des Seienden nicht selbst wieder ein Sein haben kann (sondern eben nur noch einen Sinn).

Es gibt auch unter den sogenannten Philosophen eine Menge Leute, die ein der Seekrankheit ähnliches Gefühl haben, wenn sie hören, das Sein sei eine "Kategorie": sie glauben, den Boden unter den Füßen zu verlieren und in die Luft zu fliegen; sie haben die Vorstellung, als ob damit die Klammern, die das Weltgefüge zusammenhalten, sich in ein "ätherisches" Gebilde verflüchtigen. Wer aber die Frage nach dem  Sein des Seienden, der Wirklichkeit des Wirklichen, der Gegebenheit des Gegebenen  usw. nicht von den Fragen nach dem Seienden, Wirklichen, Gegebenen usw. selbst zu trennen vermag, ist eben in logischer Hinsicht formenblind: er hat kein Recht, die transzendentale Problemstellung weder anzunehmen noch abzulehnen, da er sie noch gar nicht sieht; der philosophische Star ist ihm noch nicht gestochen, ihm fehlt das transzendentale Sehen.

Man hat vor der Infinitesimalrechnung gesagt, sie sei die Wissenschaft, "welche das Gras wachsen hört": ein ausgezeichnetes Bild! Eines von den wenigen Bildern, die geeignet sind, auch einem im rein logischen Denken weniger geschulten Kopf ein rein begriffliches Verhältnis anschaulich näher zu bringen. Aber es gilt viel Allgemeiner: von der gesamten Transzendentalphilosophie. Die transzendentale Problemstellung sieht letzten Endes auch in jeder Tat-"sache", in jeder "Wahr"-nehmung ihr Konstituiertsein aus transzendentalen Formprinzipien, aus denen allein sie ihre "Geltung" entnimmt, ihr transzendentales "Erzeugt"-sein aus ihren logischen "Möglichkeitsbedingungen".


[ Transzendental  nenne ich jede  wissenschaftliche  Untersuchung, die nicht sowohl auf eine Erkenntnis irgendwelcher Gegenstände selbst abzielt, als vielmehr auf eine Einsicht in das Wesen der "Gegenständlichkeit" von Gegenständen überhaupt. Es ist also eine Untersuchung, die nicht eine inhaltliche Gegenstandserkenntnis anstrebt, sondern bloß auf das Problem der Form eines "Gegenstandes überhaupt" gerichtet ist, d. h. auf die logische "Möglichkeit" des Gegenstandes, d. h. auf den Begriff "Gegenstand", d. h. auf den Sinn des Wortes "Gegenständlichkeit".

Dabei ist jedoch nicht bloß an theoretische Gegenständlichkeit = Wahrheit, sondern auch an ästhetische, ethische, religiöse Gegenständlichkeit zu denken, mit einem Wort: an der "Gegenstand der Kultur überhaupt", d. h. dasjenige, das allen Sinnzusammenhängen die  Geltungssanktion  verleiht; an dem sich alle Phänomene zu legitimieren haben, die Kultur in einem prägnanten Sinn sein wollen.

Zusammengefaßt: Transzendental ist jede Untersuchung, die (unter methodischer Zugrundelegung der kopernikanischen Wende - das geht gegen jede ontologistische Metaphysik!) sich mit dem Problem der schlechthinnigen Geltung von Prinzipien irgendwelcher Sinn-, d. h. Vernunft-, d. h. Kulturzusammenhänge befaßt, die also auf Herausstellung von Prinzipien der Gültigkeit schlechthin abzielt. Die Transzendentalphilosophie hat es mit dem "Logos" zu tun, d. h. mit dem Gehalt der Kulturwirklichkeit an absoluten Werten und dem Zusammenhang dieser Werte.]


LITERATUR, Fritz Münch, Das Problem der Geschichtsphilosophie, Kant-Studien Bd. 17, Berlin 1912