"Wir lernen in der Jugend so viele Wörter, ohne etwas Bestimmtes dabei zu denken, noch denken zu können. Sie werden demnach mit einem unbestimmten Bild im Gedächtnis niedergelegt und unaustilgbar; wenn nicht früh innere Selbsttätigkeit einmal wenigstens alles auswirft, bis es einst mit gutem Fug und Grund oder etwas Besseres an dessen Stelle wieder aufgenommen werden könne; wenn wir nicht einmal wenigstens in unserem Leben an allem zweifeln und uns völlig zur leeren Tafel machen. Wer sich nicht bewußt ist, durch diesen Zustand hindurchgegangen zu sein, der sei nur im Voraus sicher, daß er mit seinem Philosophieren weder sich selbst noch anderen sehr zur Freude leben wird. Könnte ihm auch irgendein Genius die reine Wahrheit in die Hand geben, so hälfe ihm dies alles nichts; die Wahrheit würde nie die seinige, da sie nicht aus ihm selbst hervorgegangen wäre, sondern sie wäre und bliebe eine fremde Zutat. Wenn nun ein solcher, übrigens mit dem besten Willen und der emsigsten Tätigkeit von der Welt, in sich selbst einkehrt, alles wegwirft, was seines Wissens durch Freiheit in ihm ist, bleibt ihm immer etwas auf dem Grund übrig, von welchem er nicht weiß, woher es kommt. Oh, das muß meine ursprüngliche Gestalt sein, denkt er; aber es ist leider nicht mehr als der Eindruck von seiner Amme, seinen Wärterinnen, seinem Katechismus. ... Daher entsteht gleichsam ein Grundsystem, das Erbteil der Generation von allen vorhergehenden, welches ihr ohne alle eigene Arbeit zuteil wird. ... Dieses Grundsystem ist für alle gebildete Nationen ziemlich dasselbe; und ihr Räsonnement ist größtenteils weiter nichts, als nur Revidieren, Kombinieren und wieder anders und noch anders Kombinieren, jenes ursprünglichen sicheren Besitzes. ... Wer (somit) hintritt und sagt: mir ist das unmittelbare Tatsache des Bewußtseins, der beweist gerade durch diese Art der Begründung, daß es für ihn nicht wahr ist, ... daß er die ganze Sache nur vom Hörensagen, nur aus seinem Katechismus hat."
LITERATUR, Johann Gottlieb Fichte, "Vergleichung des von Herrn Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre", Sämtliche Werke II, Seite 452f.