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THEODOR LIPPS
Das Selbstbewußtsein
[- Empfindung und Gefühl - ]
[2/2]

"Ein Impuls mag physiologisch sein, was er will, für mein Bewußtsein kann er nie aus etwas anderem bestehen als im Dasein eines Vorgestellten und einem Gefühl des auf die Verwirklichung des Vorgestellten gerichteten Strebens."

"Ich identifiziere, vom unmittelbaren Gefühls-Ich und vom  realen Ich  abgesehen,  nicht nur  den Körper und die Kleidung mit mir. Ich sage auch: Ich baue ein Haus, wenn ich dabei keinen Finger rühre. Der es baut, das ist mein Baumeister. Und auch dieser baut es nicht eigentlich. Die Arbeiter bauen es. Aber der Baumeister baut es auf mein Geheiß. Darum eben ist er  mein  Baumeister. Und die Arbeit bauen es auf sein und damit indirekt auf mein Geheiß. Darum sind sie seine und indirekt  meine  Arbeiter."

"Hier identifiziere ich also nicht mehr meinen Körper, sondern außerhalb desselben befindliche  Personen  mit  mir.  Ich identifiziere mit mir den Baumeister und weiter die Arbeiter. Ich sage  Ich  und meine sie. Hier aber sieht man deutlich, wie dies zugeht. Ihr Bauen geht aus mir, nämlich meinem Willen hervor. Insofern ist es zugleich mein Bauen. Ihr Bauen ist mein Bauen, also sind sie Ich. Ich baue  durch sie.  Meine Tätigkeit schließt die ihrige in sich: Ich, d. h. mein Wollen, wirkt in ihnen."



6. Möglichkeit der Verwechslung
von Gefühlen und Empfindungen

Schon jener Gegensatz der Empfindungsinhalte und des Ich, den die Empfindungsinhalte mit den Phantasie-Inhalten gemein haben, und dann noch in besonderer Weise diese unmittelbar erlebte Gegensätzlichkeit, läßt es gar verwunderlich erscheinen, daß manche, auch ernsthaft zu nehmende Psychologen, unvermögend erscheinen, die Empfindungsinhalte einerseits und die Ich-Inhalte oder Gefühle andererseits überall zu unterscheiden, ja daß einige derselben die beiden sozusagen grundsätzlich verwechseln. Damit scheitern sie am Eingang in die Psychologie. Wir müssen fragen, wie eine solche Verwechslung möglich ist.

Wir konstatierten schon Eingangs: Gewisse Empfindungsinhalte und Gefühle tragen gleichklingende Namen. Ich erinnere an eines der angeführten Beispiele: Ich empfinde Wärme an meinem Körper, und ich fühle mich innerlich erwärmt durch eine Person, eine Handlung und dgl. Jene Wärme ist dieselbe, die ich auch am Ofen empfinde.  Diese  Wärme ist die Wärme meiner  Anteilnahme.  Diesem Beispiel füge ich ein anderes hinzu: Ich empfinde meinen Körper als hungrig; und ich fühle Hunger nach Erkenntnis, oder ich "hungere und dürste nach Gerechtigkeit". Aber in solchen Fällen ist ja doch der Gegensatz von Empfindungsinhalt und Gefühl nicht etwa schwer zu erkennen, sondern erst recht deutlich. Der Hunger nach Erkenntnis hat nichts zu tun mit physischem Hunger. Er ist ein Wünschen, Streben, Verlangen.

Indessen der Sprachgebrauch kennt nicht nur solche einzelne gleichklingende Benennungen. Er setzt sich auch ganz allgemein unserer obigen scharfen Unterscheidung von Empfindungsinhalt und Gefühl entgegen. Er läßt es zu, daß ich Lust und Streben ebensowohl "empfinde", wie physische Wärme. Er hat andererseits nichts dagegen, daß ich  Wärme, Hunger  und dgl. "fühle".

Dies hat nun alles zweifellos seinen Grund. Und diesen Grund müssen wir zu erkennen suchen. Es genügt in der Psychologie nirgends, daß wir den gemeinen Sprachgebrauch abweisen. Wir müssen ihn auch zu verstehen suchen. Dann wird er sich immer als irgendwie sinnvoll, jedenfalls als belehrend erweisen.

Auch der physische Hunger ist mit einem Verlangen verbunden, nämlich nach Nahrung. Und im praktischen Leben ist uns nicht die spezifische Beschaffenheit des Empfindungsinhaltes,  Hunger  genannt, sondern eben dieses Verlangen das Wichtige. Daraus begreift sich zunächst jene Doppelbedeutung des Wortes  Hunger. 

Aber es begreift sich daraus auch, daß wir Hunger "fühlen". Wir nehmen, indem wir vom Hunger sprechen, das Gefühl des Verlangens gedanklich gleich mit hinzu. Und dann ist der Hunger in der Tat beides. Empfindungsinhalt und Gefühl. Und ist uns das Verlangen das eigentlich Wichtige, dann ist der Hunger für uns sogar in erster Linie ein Gefühl.

Gleichartiges gilt von der Schmerzempfindung. Hier scheint die Verwechslung, von der wir reden, unausrottbar. Indem man dieselbe von dieser Empfindungsgattung aus weiter führte, hat man Gefühlslehren aufgebaut, und insbesondere Gefühle physiologisch "erklärt", ohne zu sehen, daß man gar nicht von Gefühlen handelte. Man hat Bücher geschrieben über das "körperliche Gefühl", in denen über den Körper recht viel, über Gefühle nichts oder nicht zur Sache Gehöriges gesagt ist.

"Schmerz" ist einmal ein Empfindungsinhalt, z. B. Bohren oder Reißen im Zahn. Daneben steht der "seelische Schmerz", etwa über den Tod eines geliebten Wesens. Dieser Schmerz ist  intensives,  zugleich eigenartig gefärbtes  Gefühl  der  Unlust.  Auch hier ist der Grund der gleichen Benennung leicht zu finden. Der Schmerz im ersteren Sinn ist eine  intensive  Empfindung, die von  Unlust begleitet  zu sein pflegt. Wiederum aber pflegt uns, wenn wir Schmerz empfinden, nicht die besondere Natur dieses Empfindungsinhaltes, sondern die Art, wie er uns anmutet, das Wichtige zu sein.

Dies hindert nicht, daß wir doch auch hier, wie beim Hunger, selbst bei geringem Nachdenken, den Gegensatz des Gefühls und des Empfindungsinhaltes leicht entdecken. Ich empfinde den Hunger wie das Bohren und Reißen, und habe  angesichts  dieses Inhaltes meines Bewußtseins das Gefühl der Unlust, des Widerstrebens, der Abwehr. Ich stelle damit deutlich mich selbst und mein Gefühl dem Gegenständlichen, dem Objekt des Gefühls, gegenüber.

Zwei Tatsachen dringen zum Überfluß noch speziell gut diese Unterscheidung. Man hat mit Recht bemerkt - es ist dies eine auch aus anderen Gründen wichtige Einsicht -, Aufmerksamkeit auf die Beschaffenheit eines körperlichen Schmerzes, Beobachtung desselben, könne die begleitende Unlust mindern. Während also der Empfindungsinhalt mir möglichst deutlich gegenwärtig ist, kann das Gefühl zurücktreten.

Und zweitens. Das Unlustgefühl ist nicht unabtrennbar mit der Schmerzempfindung verbunden. Schmerz einer bestimmten Art - ebenso Hunger - kann mir als Zeichen wiederkehrender Gesundheit höchst erfreulich sein. Dann ist natürlich nicht der Schmerz oder Hunger als  solcher  lustvoll. Aber dies tut hier gar nichts zur Sache. Es genügt, daß in solchen Fällen, gleichgültig aus welchem Grund, die Unlust, die sonst die fraglichen Empfindungsinhalte begleitet, verschwunden und in ihr Gegenteil umgeschlagen ist. Dabei ist doch der Empfindungsinhalt derselbe geblieben.

Als drittes, besonders interessantes Beispiel einer Gattung von Empfindungsinhalten, die sich die Verwechslung mit Gefühlen gefallen lassen müssen, füge ich die Spannungen in Muskeln und Sehen hinzu. Die Verwechslung ist hier speziell eine Verwechslung mit dem Gefühl des Strebens, das auf eben diese Spannung gerichtet ist. Der Sachverhalt ist im Übrigen durchaus analog demjenigen, der beim Schmerz und Hunger vorliegt.

Warum sage ich, daß ich meinen Bogen "spanne"? Warum nenne ich die Formveränderung, die ich hier vollbringe, eine "Spannung"? Weil ich Mühe habe, sie hervorzubringen und  festzuhalten,  weil es dazu einer fühlbaren Spannung des Willens, oder eines fühlbaren Strebens bedarf. Dies ist das Einzige, was die fragliche Formveränderung vor anderen, die ich nur einfach als Formveränderungen bezeichne, voraus hat. Diese Spannung meines Willens macht die Formveränderung zur "Spannung". Das heißt: Spannung ist ansich oder ursprünglich nicht der Name für etwas Empfundenes oder Wahrgenommenes, sondern für ein Gefühl, speziell für das Gefühl der Willensspannung oder des Strebens. Darauf weist auch die "gespannte Aufmerksamkeit", die nichts ist als ein deutlich fühlbares Streben, eine Sache innerlich zu erfassen und festzuhalten.

Von da wird dann aber der Name übertragen auf den objektiven Vorgang oder Tatbestand, insbesondere auf die Formveränderung, an die sich für uns ein solches Streben knüpft, d. h. angesichts deren wir nicht umhin können, uns selbst in solcher Weise strebend zu fühlen. So entstehen die objektiven Spannungen. So entstehen auch die Spannungsempfindungen. Die eigentümliche Empfindung, die entsteht, wenn ich einen Muskel spanne, trägt diesen Namen, weil  ich  den Muskel  "spanne",  d. h. weil ich wollend den Muskelzustand und damit den Empfindungsinhalt ins Dasein rufe und festhalte.

Noch  eines  muß zur Ergänzung hinzugefühgt werden. Das Streben scheint in der Spannung zweimal enthalten: als Streben und als Widerstreben. Aber  beides  ist doch wiederum  eines.  Und beides liegt in gewisser Weise im Streben. Streben ist Streben gegen einen Widerstand: nicht nur tatsächlich, sondern auch für mein Gefühl. Das Gefühl des Strebens  ist,  solange es als solches  besteht,  d. h. nicht in "Befriedigung" sich  löst, zugleich  Gefühl des Widerstandes. Beides ist dasselbe Gefühl, nach verschiedenen Seiten hin betrachtet. Widerstand aber ist Widerstehen oder "Widerstreben". So ist auch das Gefühl des Strebens, das die Spannung des Bogens begleitet, zugleich Gefühl eines Widerstandes oder Widerstrebens. Der Bogen übt Widerstand. Dieses Gefühl des Widerstandes ist mein Strebungsgefühl, auf das Objekt, den Bogen, bezogen. Genau das Gleiche gilt von der Spannung des Muskels.

Nebenbei bemerkt ist hier auch der Quell der Spannungen, Spannkräfte, Spannungszustände in der  Natur Ein Stein liegt z. B. auf einer Unterlage. Jetzt besteht ein Spannungszustand: der Stein "strebt" zur Erde, d. h. er müßte eigentlich fallen. Und dies wiederum heißt: Es besteht in  mir  aufgrund von ehemaligen Erfahrungen ein Streben oder eine Tendenz, ihn in meinen Gedanken fallen zu lassen. Daß die Tendenz unmittelbar durch den Anblick des Steines mir aufgenötigt oder daß sie mir unmittelbar in und mit dem wahrgenommenen Stein gegeben ist, dies macht die Tendenz zur Tendenz des  Steins.  Diese Tendenz bleibt als Tendenz bestehen, d. h. ich kann sie nicht verwirklichen, weil die Unterlage, genauer, weil mein Bewußtsein von ihrem Vorhandensein, wiederum aufgrund der Erfahrung "widerstrebt". Damit ist der "Spannungszustand" gegeben. Er ist der wahrgenommene objektive Sachverhalt, in welchem ansich von Streben und Widerstand, also auch von Spannung nichts enthalten ist, zusammen mit meinem Spannungs-, d. h. meinem Strebungs- und dem darin enthaltenen Widerstandsgefühl.

Daß der Begriff der Spannung von den Empfindungen der Muskelspannung weiterhin auch auf analoge Empfindungen, etwa die der Hautspannung, übertragen wird, begreift sich leicht. Die Empfindung scheint ansich eine ähnliche. Im Übrigen pflegt sie unter gleichen Voraussetzungen zu entstehen. Freilich kann sie auch, und es kann ebenso die Muskelspannung auf einem  anderen  Weg entstehen. Aber dies ist, nachdem einmal der Name aus dem bezeichneten Grund feststeht, kein Anlaß, ihn durch einen anderen zu ersetzen. Der Name ist eben einmal zum Namen für die bestimmt  beschaffene  Empfindung  geworden. 

Aus dem hier zuletzt Gesagten ersieht man nun aber zugleich, wie wenig, auch bei den Spannungsempfindungen, die Verwechslung von Gefühl und Empfindungsinhalt entschuldbar ist. Die Erinnerung an die Spannungen, die "auf anderem Weg", d. h. etwa durch galvanische Reizung zustande gebracht werden, müßte genügen, dieser Verwechslung, trotz der in der Regel stattfindenden engen Verbindung, ein für allemal vorzubeugen. In solchen Fällen haben wir ja die Empfindung ohne das Gefühl.


7. Spezifische Subjektivität der
Körperempfindungen

Das im Bisherigen über die besondere Beziehung des Gefühls zu Schmerz, Hunger, Spannungen Gesagte genügt nun aber noch nicht, wenn wir uns den Sprachgebrauch, der alle diese Empfindungsinhalte Gefühle nennt, vollkommen verständlich machen wollen. Auch wenn ich im Hunger den Hunger selbst und das begleitende Gefühl scharf scheide, darf ich dem gemeinen Sprachgebrauch zufolge den Hunger als Gefühl bezeichnen. Ich darf sagen: Ich fühle Hunger, und fühle zugleich Unlust, Widerstreben, Abwehr dagegen.

Damit kommen wir auf das Wichtigste: Hunger und Schmerz sind spezifische Körperempfindungsinhalte. Als solchen eignet ihnen eine spezifische Subjektivität, d. h. eine spezifische, unmittelbar erlebte Beziehung zu mir oder Zugehörigkeit zu mir.

Farben, so glauben wir, existieren, d. h. sie sind objektiv wirklich, auch wenn sie nicht empfunden werden. Dabei verstehe ich unter einer "Farbe" nicht die der Farbempfindung zugrunde liegende physikalische Tatsache, sondern das in der Farbempfindung unmittelbar Gegebene oder Erlebte. Beim wissenschaftlich Gebildeten korrigiert eine anderweitige Einsicht jenen Glauben. Abgesehen davon und in jedem Moment, wo uns diese Einsicht nicht gegenwärtig ist, besteht der fragliche Glaube für jeden von uns. Indem ich die grüne Farbe der Wand hinter mir, die ich jetzt nicht sehe, vorstelle, und auf den Vorstellungsinhalt meine Aufmerksamkeit richte, habe ich das Bewußtsein. Diese Farbe, dieses Grün, existiert da hinter mir, es existiert da als eben das Grün, das ich sehen würde, wenn ich mich umdrehte.

Anders beim Hunger. Den Hunger kann ich nicht als existierend ansehen, es sei denn, daß er empfunden wird. Der Hunger, dieses eigentümliche in der Hungerempfindung unmittelbar Gegebene, ist nur, wenn es empfunden ist. Nun ist jeder Empfindungsinhalt als solcher für mein Bewußtsein subjektiv oder mir zugehörig. Von dieser Subjektivität war oben schon die Rede. Hier können wir kurz sagen: das Empfundensein ist ein Dasein  für mich,  als Gegenstand  meiner  inneren  Tätigkeit,  z. B. meiner Beobachtung.

Dies nun gilt nicht nur vom Empfundensein, sondern auch vom bloßen Vorgestelltsein. Beim Empfundensein kommt aber noch ein Moment hinzu, das beim bloßen Vorgestelltsein fehlt: Das Empfundene steht mir innerlich besonders nahe, es affiziert mich unter im Übrigen gleichen Umständen stärker, macht einen größeren Eindruck als das bloß Vorgestellte, vor allem als der bloße Phantasie-Inhalt. Ich fühle mich intensiver dabei oder fühle mich damit in höherem Grad  eins.  Darin liegt ein neues wesentliches Moment der Subjektivität. Wir wollen es kurz als das Moment der spezifischen Gefühlsnähe des Empfundenen bezeichnen.

Fassen wir dies mit dem oben Gesagten zusammen, so ergibt sich: Der Hunger und ebenso jeder andere spezifische Körperempfindungsinhalt hat das Eigentümliche, daß er immer, wenn er existiert,  für mich  da ist und zwar als Empfundenes, alss so, daß ihm zugleich jene spezifische Gefühlsnähe eignet. Es liegt in seiner  Natur  die damit bezeichnete spezifische Subjektivität oder diese spezifische Weise des Daseins für mich oder des Gebundenseins an mich. Warum sie in seiner Natur liegt, ist niemandem unbekannt. Was der Hungerempfindung zugrunde liegt, ist ein Körperzustand, und dieser steht als solcher in unmittelbarer Beziehung zum Gehirn, an dessen Funktionen die Empfindungsinhalte gebunden sind. Zwischen die Farbe und das Gesichtsorgan kann ich die Hand halten: oder ich kann das Auge schließen. Das Organ der Hungerempfindung dagegen kann ich weder schließen, noch kann ich zwischen dasselbe und den Hunger die Hand halten.

Die hiermit bezeichnete besondere Weise des Gebundenseins der Körperempfindungsinhalte an mich ist aber nicht die einzige. Ich sagte schon, die Körperempfindungsinhalte, die wir Muskelspannungen nennen, gehen nach Aussage unseres Bewußtseins aus unserem Wollen unmittelbar hervor. Dies gilt von allen Elementen der Bewegungs- und Lage-Empfindungen. Indem wir uns willkürlich bewegen oder in einer Lage verharren, erscheinen uns jedesmal die dadurch bedingten empfundenen Zuständlichkeiten des Körpers als unmittelbarer Ausfluß unseres Wollens.

Zweifach also erscheinen die Körperempfindungsinhalte unmittelbar an mich oder das Ich gebunden. Sie ind einmal  sämtlich  an mich gebunden in dem Sinne, daß sie nicht das sein können, ohne von mir empfunden zu sein und damit zugleich jene spezifische "Gefühlsnähe" zu besitzen. Sie sind es außerdem  zum Teil,  sofern sie aus mir, d. h. meinem Streben unmittelbar hervorgehen.

Und daraus ist nun die Tatsache, daß der Sprachgebrauch die Körperempfindungsinhalte auch Gefühle nennt völlig begreiflich. Im "Gefühl" liegt für den gemeinen Sprachgebrauch, ebenso wie für uns, das Moment der Subjektivität. Nur daß der Sprachgebrauch diese weiter faßt, d. h. Gefühle nicht nur die Bewußtseinsinhalte nennt, die dem Ich als Merkmale oder Bestimmungen  angehören,  sondern auch solche, die in besonderer Weise ihm  zugehören  oder daran gebunden erscheinen.


8. Rückführung von Gefühlen und Empfindungen.
Die Affekte.

Dagegen müssen die im Verlauf unserer Betrachtung vorgebrachten Tatsachen dazu gedient haben, die  Verwechslung  der Empfindungsinhalte und der Gefühle immer unverständlicher erscheinen zu lassen. Diese Verwechslung haben wir bisher wesentlich von einer Seite betrachtet: Man nennt Empfindungsinhalte Gefühle und wirft sie mit wirklichen Gefühlen zusammen: man redet von körperlichen Gefühlen und meint Körperempfindungsinhalte.

Diese Verwechslung weist man nun vielleicht weit von sich ab. Man sehe wohl die Gefühle. Diese Gefühle aber seien auf Empfindungsinhalte  zurückzuführen,  seien zu denken als Komplexe oder Verschmelzungsprodukte von solchen.

Damit ist ein Standpunkt gegeben, der die bisher bekämpfte Verwechslung in gewisser Weise umkehrt. Dieser Standpunkt scheint jetzt manchem fast selbstverständlich. Er entspricht einer jetzt herrschenden, wir dürfen getrostsagen, einer Modedenkrichtung.

Unpsychologischer Sinn hat die Forderung einer fälschlich sogenannten "objektiven Methode" in der Psychologie aufgebracht. Auch in dieser "objektiven" Methode liegt eine Begriffsverwechslung. Zweifellos soll die Methode jeder Wissenschaft objektiv sein: d. h. jede Wissenschaft soll die für sie in Betracht kommenden Tatsachen so nehmen wie sie sind: unbeirrt durch Vorurteile, unbeeinflußt von "Forderungen", die nicht durch die Tatsachen selbst gestellt sind, ungehemmt von anderswoher mitgebrachten Denkneigungen. Nun sind die dem Psychologen einzig unmittelbar gegebenen Tatsachen die Tatsachen seines eigenen Bewußtseins oder seine eigenen Bewußtseinserlebnisse. Also besteht die psychologische Objektivität zunächst darin, daß diese Tatsachen absolut ungetrübt zu ihrem Recht kommen. Sie müssen überall Ausgangspunkt und letzte Instanz sein.

Aber dieser Objektivität stellt man nun eine andere gegenüber, die davon das volle Gegenteil ist. Das "Objektive", d. h. das Äußere, das draußen Liegende, das vom Bewußtsein des Psychologen unabhängig Bestehende, das Körperliche, Physische oder Physiologische soll der Ausgangspunkt der psychologischen Betrachtung sein. Man wendet sich an die wirklichen oder angeblichen  Äußerungen  des Bewußtseinslebens, an die Begleit- und Folgeerscheinungen. Man sieht nicht, daß man, ehe davon die Rede sein kann, erst zeigen muß, daß und inwiefern die fraglichen Begleiterscheinungen diesen Namen verdienen, und  wovon  eigentlich, d. h. von welchen Momenten des Bewußtseinslebens, sie Äußerungen, Begleit- oder Folgeerscheinungen sind oder sein sollen. Und man sieht nicht oder gibt sich den Anschein, nicht zu sehen, daß man dies nicht zeigen, daß man von den Beziehungen des Bewußtseinslebens zu diesem Physischen oder Physiologischen keinerlei "objektive" Kenntnis gewinnen kann, es sei denn, daß man zuerst vom Bewußtseinsleben selbst, nämlich vom eigenen Bewußtseinsleben, da dies doch nun einmal einzig und allein unmittelbar beobachtbar ist, ein vollkommen klares Bild gewonnen hat. So schafft man sich eine "objektive" Methode, die von Objektivität oft gar weit entfernt ist. Man erspart sich die erste und wichtigste psychologische Arbeit, die freilich zugleich die schwierigste ist, und gewinnt eine Psychologie, welche die mitgebrachten Vorurteile auf das Herrlichste bestätigt.

Eine Folgeerscheinung dieser Denkneigung ist nun auch der jetzt viele Köpfe verwirrende Kultus der Körperempfindungen, vor allem der spezifischen Körperempfindungen, die man auch wohl unter dem Namen der Organempfindungen zusammenfaßt. Kein Wunder: Sie stehen als  Empfindungen,  und noch spezieller als  Körper empfindungen, dem "Objektiven", d. h. dem Körperlichen, näher als andere psychische Vorgänge. Man macht jetzt Miene, jede psychologische Frage zu lösen durch die eintönige Berufung auf "Organempfindungen".

So haben die Phänomene des Wollens und der Aufmerksamkeit es sich gefallen lassen müssen, in Organempfindungen aufgelöst zu werden. Was die Affekte charakterisiert, sollen Organempfindungen sein. Der ästhetische Genuß, so wird versichert, bestehe aus Organempfindungen. Schließlich wird wissenschaftliches Erkennen und sittliches Bewußtsein es sich gefallen lassen müssen, den gleichen Weg zu gehen.

Dies alles nun ist völlig konsequen, wenn Gefühle Organempfindungen sind. Wir würden keinen Anlaß haben, von einem Wollen oder von Aufmerksamkeit überhaupt zu reden, ohne das unmittelbar erlebte Willens- und Aufmerksamkeits- Gefühl.  Und die Affekte sind zunächst charakterisiert durch das Gefühl. Der ästhetische Genuß gar  ist  ein Gefühl. Und Erkenntnis und sittliches Bewußtsein sind unmittelbar erlebte Weisen, wie ich mich, nämlich das im Gefühl gegebene Ich, zu gegenständlichen Bewußtseinsinhalten verhalte. So begegnen wir überall im psychischen Leben Gefühlen.

Erwähnen wir nun zunächst die einzige Tatsache, die man mit einem Schein von Recht für die Rückführbarkeit der Gefühle auf Organempfindungen ins Feld führen könnte. Affekte, also auch die sie charakterisierenden Gefühle, lassen sich durch eine Einwirkung auf Körper, etwa durch Narkotika, künstlich erzeugen. Man scheint zu schließen: Was hier erzeugt wird, sind Körperempfindungen. Also sind Affekte Körperempfindungen.

Aber dies ist dann doch eine gar sonderbare Weise des Argumentierens. Gesetzt, Affekt sind  nicht  Körperempfindungen, was sind sie dann? Oder fragen wir gleich: Was sind sie  für uns?  Wir antworten: Affekte sind für uns, was sie für  jedermann  sind, der nicht durch "Psychologie" verdorben ist. Affekte sind - Affekte, mit einem deutschen Wort  Gemütsbewegungen,  d. h. Weisen des Ablaufs des psychischen Geschehens. Sie sind eigenartig ziegler_gef1.htmlcharakterisierte Weisen dieses Ablaufs.

Und was sind die sie begleitenden Gefühle? Was sind Gefühle überhaupt? Sehr allgemein gesagt: Bewußtseinssymptome von der Weise, wie sich die Psyche, die Persönlichkeit, das psychische Individuum, zu dem was es erlebt, was ihm zuteil wird, was in ihm vorgeht, verhält, stellt, wie es darin sich betätigt, davon affiziert wird, dagegen reagiert. Oder von der Seite der psychischen Vorgänge aus betrachtet: Gefühle sind das im Bewußtsein unmittelbar gegebene Symptom von der Art, wie sich die psychischen Vorgänge und Zusammenhänge von solchen verhalten zur Psyche, zu ihrem überall gleichen oder von Individuum zu Individuum wechselnden Wesen, zu Anlagen, Temperament und Naturell, zu den ursprünglich gegebenen oder erworbenen Neigungen oder Betätigungsrichtungen, zu den dauernden oder vorübergehenden Verfassungen, Zuständlichkeiten, Disponiertheiten, Gewohnheiten. Sie sind etwa, in einem gegebenen Fall, die Sympathie dafür, daß ein Vorgang oder Zusammenhang von solchen, einer natürlichen Betätigungsrichtung des psychischen Individuums gemäß ist, damit übereinstimmt, dadurch begünstigt wird, oder das Gegenteil.

Wer der Anschauung des physiologischen Materialismus huldigt, den bitte ich, im Vorstehenden statt Psyche, Individuum, Persönlichkeit jedesmal zu setzen: Gehirn oder Großhirnrinde. Damit verwandeln sich für ihn zugleich die "psychischen Vorgänge" in mechanische Gehirnprozesse -.

Im Obigen nun ist das Wesen des Affekts, wenn auch allgemein, so doch vollständig bezeichnet. Affekte, so sagten wir, sind eigenartige Weisen des Ablaufs des psychischen Geschehens, sie sind ein eigenartiges psychisches Gesamtgeschehen. Nach dem eben Gesagten ist damit das begleitende, eigenartige Gefühl ohne weiteres gegeben.

Und welche Rolle spielen nun hier jene äußeren Einwirkungen, durch welche Affekte künstlich hervorgebracht werden? Sie erzeugen Organempfindungen. Zweifellos. Aber sie erzeugen zunächst einen psychischen, oder wenn man lieber will, "zentralen" Gesamtzustand und modifizieren damit zugleich den Gesamtcharakter des psychischen Geschehens. Jedermann weiß, daß der Berauschte psychisch ein anderer ist, als der Nüchterne. Seine im Ganzen herabgeminderte und für Einzelnes oder für den Moment gesteigerte geistige Fähigkeit, seine Willenlosigkeit und die blinde Raschheit seiner Willensregungen, seine Stumpfheit und seine erhöhte Eindrucksfähigkeit für das jetzt gerade in seine Stimmung Passende oder in besonders eindrucksvoller Weise ihm nahe Gebrachte, das alles weist hin auf eine andere  Persönlichkeit,  d. h. eine modifizierte Gesamtverfassung derselben. Und so gibt es schließlich überhaupt keinen körperlichen Gesamtzustand, der nicht irgendwo in die Psyche oder das "Zentrum" hineinwirken und die Persönlichkeit alterieren würde. Ich bin psychisch im Ganzen ein anderer, auch schon wenn ich satt, als wenn ich hungrig, wenn ich ausgeruht, als wenn ich ermüdet bin.

Verhält es sich nun aber so, dann ist es kein Wunder, wenn besonders  eingreifende  Veränderungen meines physischen Gesamtzustandes, wie sie bei den künstlich erzeugten Affekten stattfinden, auch besonders eingreifende Veränderungen des psychischen Gesamtzustandes bedingen. Mögen dabei diese oder jene Organempfindungen entstehen. Das zunächst Feststehende ist doch die veränderte psychische Gesamtverfassung.

Und in der dadurch bedingten eigenartigen Weise des psychischen Geschehens oder seines Ablaufs nun haben wir ohne weiteres den Affekt. Und in der besonderen Weise, wie sich diese eigenartige Weise des psychischen Geschehens zum Ganzen der Psyche stellt oder sie affiziert, haben wir zugleich unmittelbar den Grund des Gefühls oder des Gefühlsverlaufs, wodurch der Affekt für unser Bewußtsein unmittelbar charakterisiert ist.

Äußere Einwirkungen erzeugen also die Affekte und Gefühle, die sie erzeugen, nicht weil sie bestimmte Organempfindungen hervorrufen, sondern weil sie, kurz gesagt, eine bestimmte Rhythmik oder Ablaufsweise des psychischen Gesamtlebens bedingen. Die Herbeiführung von Affekten und begleitenden Gefühlen durch äußere Einwirkungen ist verständlich, nicht weil Gefühle Organempfindungen sind, sondern weil sie dies  nicht  sind, ihr wahrer Grund vielmehr in den Beziehungen zu suchen ist, die zwischen psychischen Geschehnissen und der Zuständlichkeit der Psyche obwalten, oder weil Gefühle die unmittelbar erlebte Antwort sind auf die Frage, was ein psychisches Geschehen und die Weise seines Ablaufs für die Psyche  bedeuten. 


9. Unabhängigkeit der Gefühle
von Körperempfindungen

Im Übrigen müssen wir in der Theorie, die Gefühle auf Organempfindungen zurückführt, noch verschiedene Möglichkeiten unterscheiden. Gefühle sollen, so sagte ich, "Komplexe" oder "Verschmelzungsprodukte" aus solchen Empfindungen sein. Beides ist nicht dasselbe. Verschmelzen Töne zu Klängen, so tritt für das Bewußtsein an die Stelle der Töne das Neue, das wir Klang nennen. Gesetzt, Körperempfindungen verschmölzen in  diesem  Sinne zu Gefühlen, so wäre also immerhin das Gefühl ein Neues. Es fragte sich dann nur noch, ob jene Erklärung für das Dasein dieses Neuen zutrifft.

Freilich aber sind Klänge im Vergleich mit Tönen nur etwas  relativ  Neues. Sie sind auch wiederum etwas den Tönen Gleichartiges. Klänge tönen oder klingen ebensogut wie Töne, nur in anderer Weise. Demnach könnten auch Körperempfindungsinhalte nur  "verschmelzen"  zu etwas  Gleichartigem,  zu einer für das Bewußtsein unterschiedslosen Gesamt körper empfindung; nicht zu etwas damit vollkommen Unvergleichbarem. Und ein solches sind nun einmal die Gefühle, mögen sie Gefühle der Lust oder der Unlust, oder Gefühl der Gewißheit oder Gefühl der Bekanntheit oder wie auch immer heißen. Zu diesem ganz und gar Neuen können Körperempfindungen so wenig verschmelzen, wie etwa Töne zu Farben oder Farben zu Gerüchen verschmelzen.

Indessen offenbar darf der Begriff der Verschmelzung hier nicht allzu scharf genommen werden. Verschmelzung ist ja leider vielfach ein Name für Allerlei. Mit der fraglichen Verschmelzung wird gemeint sein irgendwelche irgendwie zu denkende mehr oder weniger innige Verbindung von gleichzeitigen Körperempfindungen zu einem Ganzen oder zu einer, verschiedene empfindbare körperliche Zuständlichkeiten, etwa Hunger, Spannungen etc. umfassenden Gesamtempfindung. Damit wäre der Unterschied der beiden Annahmen, daß Gefühle Komplexe und daß sie Verschmelzungsprodukte von Körperempfindungen sind, aufgehoben. Demgemäß wollen auch wir diesen Unterschied im Folgenden vernachlässigen.

Dann müssen wir sagen: Gefühle sind, wie man auch die körperliche "Gesamtempfindung" fassen mag, ganz gewiß  keine  solchen Gesamtempfindungen. Nehmen wir erst an, Gefühle sollen  die  jeweilige Gesamtkörperempfindung sein, d. h. eine solche, in welche  alle  gegenwärtigen Körperempfindungen als Elemente oder Faktoren eingehen. Dann müßte jede Körperempfindung die Beschaffenheit des Gefühles mit beeinflussen. Und es müßte mit dem Wechsel einzelner Elemente ein Gefühl in sein Gegenteil umschlagen können.

So ist es nun aber nicht. Mag sich, während ich nachdenke, jetzt diese, jetzt jene Körperempfindung einstellen oder verschwinden, ein überzeugender Grund weckt in mir immer das Gefühl der Gewißheit, ein Gegenstand das Gefühl des Zweifels. Es kommt auch nicht vor, daß der Eintritt einer neuen Körperempfindung das Gefühl der Überraschung einem neuen Objekt gegenüber in ein Gefühl der Bekanntheit verwandelt. Ebenso ist das Wohlgefallen an einer schönen Linie immer gegeben durch die schöne Linie, das Mißfallen an einer häßlichen Form immer durch diese häßliche Form. Gewiß kann mein Körperzustand mich abhalten, mich der Form innerlich so zuzuwenden, wie ich es sonst täte. Dann schwächt sich das Gefühl des Wohlgefallens oder Mißfallesn ab. Aber das hat nichts zu tun mit der Behauptung, der Komplex aller gleichzeitigen Körperempfindungen  ist  das Gefühl. Verhielte es sich so, so müßten qualitativ andere Körperempfindungen unweigerlich ein  qualitativ  verändertes Gefühl ergeben.

So wird man sich dann zunächst bequemen müssen,  bestimmte  Gefühle auf  bestimmte Gruppen  von Körperempfindungen, schließlich vielleicht auch auf einzelne Körperempfindungen zurückzuführen. Dabei ist natürlich von vornherein darauf zu achten, daß die Körperempfindungen, auf welche ein wirkliches, d. h. ein jetzt  erlebtes  Gefühl zurückgeführt werden soll, wirkliche d. h. jetzt erlebte Körperempfindungen sein müssen. Sie dürfen nicht etwa bloß  vorgestellte  Körperempfindungen, genauer gesagt, den Körperempfindungsinhalten entsprechende  Vorstellungsinhalte  sein. Solche könnten ja natürlich nur mit  vorgestellten  Gefühlen, etwa mit Erinnerungsbildern gehabter oder erlebter Gefühle in  eines  zusammenfallen.

Ebensowenig dürfen an die Stelle der tatsächlichen Körperempfindungen  Impulse,  etwa an die Stelle der Bewegungsempfindungen Bewegungsimpulse gesetzt werdn. Ich erlebe einen Impuls zu einer Bewegung, das heißt: Ich erlebe es, daß eine Bewegung von mir vorgestellt und zugleich ein Streben sie auszuführen von mir gefühlt wird. Ein Impuls mag physiologisch sein, was er will, für mein Bewußtsein kann er nie aus etwas anderem bestehen als im Dasein eines Vorgestellten und einem Gefühl des auf die Verwirklichung des Vorgestellten gerichteten Strebens.

Damit ist zunächst gesagt, daß nicht etwa das Gefühl des  Strebens  auf solche "Impulse" zurückgeführt werden kann. Dies hieße ja das Streben auf sich selbst zurückzuführen. Ebensowenig aber können  andere  Gefühle darauf zurückgeführt werden. Ein von einem Gefühl des Strebens  verschiedenes  Gefühl kann zunächst ganz gewiß nicht mit dem in den "Impulsen" enthaltenen Gefühl des  Strebens  identisch sein. Bleibt nur übrig, daß es mit den  Vorstellungs inhalten, auf deren Verwirklichung sich das Streben bezieht, identisch gesetzt würde. Dagegen aber gilt das eben Gesagte: Mit einem bloß Vorgestellten kann nur ein vorgestelltes Gefühl in  eines  zusammenfallen. Und dazu träte die weitere Sonderbarkeit: Dieses vorgestellte Gefühl wäre Gegenstand eines Strebens. Das Gesamtresultat wäre also nicht ein Gefühl, sondern ein Streben nach einem solchen. - Natürlich würde die Sache nicht besser, wenn man die Bewegungsimpulse durch "intendierte" Bewegungen ersetzen wollte.

In der Tat ist nun offenbar bei denjenigen, die Gefühle auf Körperempfindungen zurückführen, die Sache in der Regel so gemeint: Sie identifizieren bestimmte Gefühle mit  bestimmten  Körperempfindungen oder Komplexen von solchen. Und sie meinen dabei auch meist  wirkliche  Körperempfindungen.

Sie versichern etwa, wie oben schon angedeutet, das Strebungsgefühl sei ein Komplex von Spannungsempfindungen. Einem anderen ist Lust die Empfindung eines "leichten Hautkitzels" oder ein Komplex von Strebungsempfindungen, Unlust ein Komplex von Beugungsempfindungen. Das Gefühl der logischen Zustimmung, der Wahrheit, der Gewißheit müßte, nach Analogie solcher Versicherungen, etwa gedacht werden als eine Empfindung des Kopfnickens oder auch des Jasagens, das Gefühl der Verneinung als eine Empfindung des Kopfschüttelns, das Gefühl des Zweifels als eine Empfindung des Zuckens in den Schultern und dgl. Man müßte in Konsequenz eines Wortes von JAMES sagen: Wir nicken nicht mit dem Kopf, weil wir einer Behauptung zustimmen, sondern wir stimmen ihr zu, weil wir nicken usw.

Geben wir uns Mühe, solche Theorien ernst zu nehmen. Dann müssen wir auch hier sagen: es ist nun einmal  tatsächlich nicht  so. Eine überzeugende Beweisführung ruft in mir das Gefühl der Zustimmung, der Wahrheit, der Gewißheit hervor, auch wenn ich mich darauf kapriziere, statt zu nicken, den Kopf zu schütteln. Jenes Gefühl verwandelt sich dadurch nicht etwa in ein Gefühl der Verneinung oder der Unwahrheit. Ebenso gelingt es mir nicht, durch willkürliche Streckbewegungen mein Mißfallen an häßlichen Formen, mißtönenden Klängen und Zusammenklängen, unharmonischen Farbenverbindungen oder gar an einer niedrigen Handlungsweise in Wohlgefallen zu verwandeln. Und so gibt es schließlich, soweit ich sehe, unter all den Körperempfindungen oder Komplexen von solchen, auf die man bestimmte Gefühle zurückgeführt hat oder zurückführen könnte, keine einzige, die nicht wegfallen oder mit einer entgegengesetzten vertauscht werden könnte, ohne daß die Gefühle, die durch wahrgenommene oder vorgestellte Dinge, gedachte oder erkannte Tatsachen uns aufgenötigt werden, irgendwelche qualitative Veränderung erlitten hätten. Ich kann, wenn es mir beliebt, rasch oder langsam, kurz oder lang atmen, ich kann durch körperliche Bewegung dafür sorgen, daß meine Gefäße sich erweitern, das Blut in die Peripherie strömt, die Pulsfrequenz sich steigert. Niemals wird durch dergleichen das Schöne für mich häßlich, das Erfreuliche widrig, das Erhabene gemein, das Begehrenswerte zum Gegenstand des Abscheus oder umgekehrt. Erzeuge ich die fraglichen Körperempfindungen willkürlich, so geschehen sie vielleicht im Widerspruch mit einem fühlbaren Streben oder "Impuls" zur Erzeugung von Bewegungen, die entgegengesetzte Empfindungen zur Folge haben. Aber dies könnte nach dem, was bereits oben gesagt wurde, für die Vertreter der von uns bekämpften Theorie doch nichts anderes heißen als: Ich erzeuge ein Gefühl im Widerspruch mit einem fühlbaren Impuls, das entgegengesetzte Gefühl zu haben. Ich wiederhole: Sind Körperempfindungen Gefühle, so sind willkürlich erzeugte Körperempfindungen willkürlich erzeugte Gefühle und Impulse zur Körperempfindungen Impulse zu Gefühlen.

Es ist sehr auffallend, daß unsere Organempfindungspsychologen die soeben angedeuteten einfachen Versuche nicht angestellt zu haben scheinen. Es ist dies eine umso auffallendere Tatsache, als einige unter ihnen sonst von der experimentellen Psychologie oder dem, was sie so nennen, alles Heil für die Psychologie zu erwarten scheinen. Freilich, es geschieht leicht, daß man im Eifer der Erreichung eines Zieles die nächstliegenden Mittel dazu übersieht. Ich meine, es stünde sehr viel besser um die experimentelle Psychologie, wenn diese Neigung minder stark wäre.

Ich erwähne zur weiteren Kritik noch einmal die vermeintliche Identität des Strebungs- oder Willensgefühls mit Spannungsempfindungen. Schon oben erinnerte ich an die Möglichkeit die Spannungen künstlich zu erzeugen. Dann fehlt das Gefühl des Strebens, das die willkürlich erzeugten, eben weil sie willkürlich erzeugt sind, begleitet. Beide sind also nicht identisch.

Es kann aber auch der entgegengesetzte Fall eintreten: Ich will meinen Arm, etwa den rechten, bewegen oder möchte es. Aber der Arm ist gelähmt. Jetzt besteht das Gefühl des Strebens, aber die Spannungsempfindungen fehlen. Hier sagt man: Aber im anderen, dem  linken  Arm entstehen Spannungen: und man fügt mit ernster Miene hinzu: die in diesem linken Arm empfundenen Spannungen, das  ist  das Gefühl des Strebens den rechten Arm zu bewegen. Aber wenn nun beide Arme gelähmt sind? Nun, dann sind irgendwelche sonstige Spannungen das Gefühl des Strebens den rechten Arm zu bewegen. Man sieht, was sich daraus ergäbe: Sind beliebige Spannungen das Gefühl eines auf ein beliebiges Objekt oder Geschehen gerichteten Strebens, so ist für mein Bewußtsein jederzeit alles Vorgestellte in gleicher Weise Gegenstand meines Strebens. Irgendwelche Spannungen finden sich ja in meinem Körper jederzeit.

Hiermit ist zugleich wiederum ein Punkt von allgemeiner Bedeutung berührt. Wir hören die Vertreter der Körperempfindungstheorie immer wieder reden von Körperempfindungen, die sich bei irgendeiner Gelegenheit einstellen. Wir hören sie das Dasein derselben konstatieren oder zumindest behaupten. Damit aber ist noch wenig getan. Gefühle sind nicht nur da, sondern sie sind auch auf Objekte bezogen. Genauer gesagt: Indem ich mich irgendwie bestimmt fühle, fühle ich mich zugleich mit dieser Bestimmtheit bezogen auf ein Objekt. Die ganze gegnerische Theorie bleibt völlig bedeutungslos, sofern sie nicht auch diese Beziehung verständlich macht.

Es sthet doch gewiß fest: Die Körperempfindungen, die mit einem auf ein vorgestelltes Objekt bezogenen Gefühle ein und dieselbe Sache sein sollen, müssen, und zwar für mein  Bewußtsein,  irgendwie zum vorgestellten Objekt  hinzugehören.  So müssen insbesondere auch die Spannungsempfindungen, die das Gefühl des Strebens, den rechten Arm zu bewegen, ausmachen sollen, unmittelbar als diesem Arm zugehörig erscheinen. Es können nicht beliebige Spannungen, bloß weil sie da sind, dieses Gefühl sein. Und am allerwenigsten sind dazu Spannungen geeignet, die bereits mit voller Bestimmthei einem  anderen  Teil des Körpers, beispielsweise dem linken Arm zugehörig erscheinen. Es ist ja aber kein Zweifel, Spannungen des linken Armes, die für mein  Bewußtsein da sind  - und von solchen allein kann hier die Rede sein - stellen sich auch meinem Bewußtsein als zum linken, und eben damit als  nicht  zum rechten Arm gehörig mit genügender Bestimmtheit dar.

Gleichartiges gilt hinsichtlich der Identifikation von Aufmerksamkeitsgefühl und Spannungsempfindungen, etwa Empfindungen der Kopfhautspannung oder der Spannung in den Augen. Das Gefühl des Aufmerkens muß nicht, aber es kann ein Gefühl des Strebens sein. Wie dem aber auch sein mag, in jedem Fall finde oder fühle ich mich nicht aufmerksam überhaupt, sondern aufmerksam auf etwas. Ich frage nun: Wenn ich das Bewußtsein habe, jetzt auf dieses, dann auf jenes, jetzt auf eine Farbe, dann auf eine Form, dann auf einen Ton zu merken, worin besteht das Bewußtsein meines  Bezogenseins  jetzt auf  dieses,  dann auf  jenes? 

Ich sagte, die Körperempfindungstheorie müßte das Bewußtsein einer Zugehörigkeit der Körperempfindungen zu den Objekten, auf welche die Gefühle bezogen erscheinen, aufzeigen und verständlich machen. Gesetzt, es wäre eine solche bewußte Zugehörigkeit  konstatiert.  So wäre die Aufgabe noch nicht erschöpft. Es müßte auch gezeigt werden, worin dieselbe für das Bewußtsein besteht. Und gesetzt, man machte damit vollen Ernst. Dann würde sich herausstellen, daß in jedem Bewußtsein einer "Zugehörigkeit" bereits die Beziehung meiner, nämlich des im Gefühl gegebenen Ich, auf die Objekte, die zueinander gehörig erscheinen, enthalten ist.

Es würde sich schließlich zeigen, daß jedes Bewußtsein eines Bezogenseins  überhaupt mag dieses Bezogensein nun Zugehörigkeit oder sonstwie heißen, eine Weise ist der Aufnahme in die "Einheit der Apperzeption", d. h. eine Weise der zusammenfassenden Beziehung des Gegenständlichen auf das von ihm unterschiedene Ich, oder umgekehrt gesagt, des zusammenfassenden Bezogenseins meines Ich auf das Gegenständliche, des Zusammenschlusses des Gegenständlichen in einen einzigen  Akt  dieses Bezogenseins, daß jedes bewußte Bezogensein zwischen Gegenständlichem in solcher Weise durch das Ich hindurchgeht, also ein von ihm unterschiedenes Ich zur notwendigen Voraussetzung hat. Dieses Ich aber ist gegeben im Gefühl.

Dies nun will ich hier nicht genauer erörtern. Ich will mit dem Gesagten nur andeuten, daß die Körperempfindungstheorie, wenn sie statt nur immer von Gefühlen zu reden und Gefühle mit Körperempfindungen zu identifizieren, sich auch die Frage gestellt hätte, wie es sich denn nun mit dem  Bezogensein  der "Gefühle", d. h. der Körperempfindungen auf die Objekte der Gefühle verhält, sofort und von allem Übrigen abgesehen, in nichts hätte zergehen müssen. Ich will andeuten, daß sich die fragliche Theorie etwas ernsthafter um die allgemeinsten psychologischen Tatsachen, und speziell um die allgemeinsten Tatsachen des  Bewußtseinslebens  hätte bemühen müssen, daß es für sie mit der oberflächlichen Betrachtung nicht getan war.

Aber freilich, wir wollen hier gleichfalls an der Oberfläche bleiben. Zur  Abweisung  der Theorie genügt ja der Hinweis auf Tatsachen, die auch dem auf der Oberfläche bleibenden Blick einleuchten.

Gehen wir in der Aufzeigung solcher Tatsachen noch weiter. Aufmerksamkeitsgefühl sei ein Komplex von Spannungsempfindungen. Wenn ich nun aber auf diese Spannungsempfindungen meine Aufmerksamkeit richte und mir dieses Sachverhaltes bewußt bin, wenn ich mich also auf die Spannung merkend oder innerlich gerichtet fühle, finde ich dann die Spannungen auf sich selbst gerichtet? Ist das, was für mein Bewußtsein Zweierlei ist und sich gegenübersteht, für mein Bewußtsein auch wiederum Einerlei?

Und wenn ich auf irgendwelche  sonstige  Körperempfindungen oder Komplexe von solchen aufmerke, wenn ich mir schließlich mein ganzes körperliches Gesamtbefinden vergegenwärtige, wenn ich daran Lust oder Unlust fühle, wenn ich den Wunsch verspüre, daß es nicht so ist, wie es ist, wenn ich es erlebe als etwas unabhängig von mir oder meinem Bewußtsein Existierendes, ist dann das Gefühl, das ich angesichts des Komplexes von Körperempfindungsinhalten habe, eben dieser Komplex vom Körperempfindungsinhalten?

Und schließlich, die entgegengesetzte Möglichkeit: Wenn ich  nicht  auf die Körperempfindungen und den ganzen Komplex derselben, auf mein einheitliches körperliches Gesamtbefinden achte? Dann können die Gefühle erst recht da sein. Ich gebe mich irgendeinem Gedankenzusammenhang ganz und gar hin. Ich lebe ganz darin, gehe darin völlig auf. Dabei fühle ich mich fortstrebend von Gedanken zu Gedanken, fühle mich bejahend und verneinend, zweifelnd und gewiß. Ich fühle mich befriedigt bei jeder Annäherung an das Ziel. Ich fühle mich beglückt, wenn ich das Ergebnis gewonnen habe, das ich suche. Ich fühle mich auf das Stärkste in Anspruch genommen, im höchsten Grad interessiert. Kurz, ich habe das lebhafteste Gefühl: ich erlebe in diesem Gefühl mich selbst auf das Intensivste.

Und nun nehmen wir an, diese Gedanken haben mit Körperempfindungen gar nichts zu tun. Sie beziehen sich in keiner Weise darauf. Dann ist der Komplex meiner Körperempfindungen für mein Bewußtsein gar nicht da. Die Zuwendung zu meinen Gedanken ist die Abwendung von ihnen. Die Konzentration auf jene schließt diese aus meinem Bewußtsein aus. Auch heftige Körperempfindungen, Kopfschmerz, Hunger sind für mein Bewußtsein ausgelöscht. Dann müssen nicht erst die minder aufdringlichen, die Spannungen der Muskeln und dgl. dem Bewußtsein entrückt sein. Und eben diese anschließliche Konzentration auf jenen Gedankenzusammenhang macht, daß ich  jene intensiven Gefühle erlebe. 

So wenig  sind Gefühle Körperempfindungen. Vielleicht meint man, ich habe in solchen Fällen von den Körperempfindungen immerhin ein  dunkles  Bewußtsein. Auch dann bleibt jener Widerspruch bestehen. Die  Gefühle  sind mir  nicht  dunkel bewußt.


10. Ichgefühl und Körper-Ich

Gefühle, so sagte ich, sind Ichgefühle. Der Komplex von Körperempfindungsinhalten macht den unmittelbar gegebenen Körper aus. Indem wir die Gefühle den Körperempfindungsinhalten als etwas anderes gegenüber stellten, haben wir demnach zugleich den Körper diesem Ich gegenübergestellt. Wir erkannten das Gefühls-Ich als das ursprüngliche Ich. Also kann im Körper nicht das ursprüngliche Ich gegeben sein.

Damit kommen wir speziell auf die Ichfrage zurück. Eben dies, daß der Körper das ursprüngliche Ich ist, wird von einigen mit Bestimmtheit behauptet. Darauf wollen wir zunächst mit einigen Worten noch besonders eingehen. Wir sahen schon Eingangs: Wir nennen allerdings auch den Körper Ich. Der Sprachgebrauch erlaubt mir nicht nur, wie oben betont, daß ich sage: Ich fühle Hunger. Ich darf auch sagen: Ich fühle  mich  hungrig: genauso wie ich sage, ich fühle mich heiter oder gekränkt oder einer Sache gewiß. Das hierin liegende Ich nun, so wird gesagt, sei das ursprüngliche oder mache den letzten Kern des Ichbewußtseins überhaupt aus. Ich, das heiße ursprünglich: Dieser Komplex von Hunger, Durst, Muskel-, Sehnen- und Gelenkempfindung usw.

Ich frage hier zunächst:  Welcher  Körper ist das "Ich", da es doch viele Körper gibt. Die nächste Antwort, die zugleich die richtige wäre, würde lauten: Nun,  mein  Körper, d. h. der Körper, der "mir" zugehört und den ich als "mir" zugehörig unmittelbar erlebe. Dann dreht sich die Erklärung im Kreis.

Vielleicht meint man dieser Kreisbewegung zu entgehen, indem man sagt: "Mein Körper", das ist der  unmittelbar erlebte  Körper oder der unmittelbar erlebte Komplex von Körperempfindungen. Hunger, Durst, Muskelspannungen etc. kann ich erleben, d. h. empfinden lediglich in diesem Körper, oder als Elemente dieses Empfindungskomplexes. Dadurch ist dieser Komplex vor jedem anderen ausgezeichnet.

Dies ist richtig. Aber nun entsteht die Frage: Was wiederum zeichnet diese  Erlebnisse  vor anderen, die im selben Sinne Erlebnisse sind, etwa vor den jetzt gesehenen Farben oder den jetzt gehörten Tönen aus? Was macht, daß nur sie, und nicht ebenso diese letzteren, Elemente des Ich sind? Worin liegt dieser Ichcharakter oder diese spezifische Subjektivität? Ist dieselbe unmittelbar mit der  Qualität  der Körperempfindungsinhalte gegeben?

Das kann nicht sein. Die Wärme gehört bald zum Ich, bald zum Nichtich. Bald bin "ich" warm, gerade so wie ich hungrig bin, bald ist der Ofen warm. Und doch ist dies beidemale dieselbe Wärme. Sie ist  meine  Wärme, wenn sie zu "meinem" Körper gehört. Aber die Frage lautet ja: Was macht, daß dieser Körper zum Ich in der besonderen Beziehung steht, die durch das Wort "mein" bezeichnet ist?

Einige antworten, indem sie auf die Konstanz oder Permanenz der Körperempfindungen hinweisen. Dies kann gewiß nicht heißen, diese Empfindungen erfreuen sich einer besonderen Unveränderlichkeit. Soviel ich sehe, sind sie das Veränderlichste, das wir kennen. Ich empfinde jetzt diese, jetzt jene Spannung, der Hunger weicht der Sättigung usw. Sondern nur dies kann gemeint sein, daß  irgendwelche  Körperempfindungen immer da  sind,  daß es für uns eine nie fehlende, obgleich in ihrer Beschaffenheit beständig wechselnde Gesamtkörperempfindung gibt.

Aber haben wir nicht auch immer Gesichtseindrücke? Das Auge sei geschlossen, dann habe ich doch vor mir unvermeidlich das graue vom Lichtnebel erfüllte Sehfeld. Warum sehe ich darin nicht "mich"; warum bin nicht  "ich"  grau oder das Sehfeld?

Zudem, ein konstanter oder permanenter Empfindungskomplex ist, solange nichts hinzutritt, nichts anderes als eben ein konstanter oder permanenter Empfindungskomplex. Konstanz und Permanenz  sind  aber nicht etwa ansich Subjektivität oder Ichheit. Sie finden sich überall in den Gegenständen unseres Bewußtseins in einem höheren oder niederen Grad. Dies heißt doch nicht, daß diese Gegenstände unseres Bewußtseins jedesmal in entsprechendem Grad "Ich" sind, etwa der Sternenhimmel mehr als die Wolken. Ichheit hat überhaupt keine Grade.

Schließlich, die fragliche Konstanz oder Permanenz ist von vornherein für die Ichfrage bedeutungslos, wenn sie nicht Konstanz oder Permanenz für mein  Bewußtsein  ist. Anlaß für den Hinweis auf diese sogenannte Konstanz und Permanenz war doch zweifellos der Umstand, daß das unmittelbar erlebte Ich für unser Bewußtsein  jederzeit da ist.  Dann muß auch der Komplex von Körperempfindungen, in welchem wir das unmittelbar erlebte Ich haben sollen, jederzeit für unser Bewußtsein dasein. Und es muß zugleich die Eindringlichkeit des Ichbewußtseins oder die Intensität des Selbstgefühls mit der Eindringlichkeit des Körperbewußtseins Hand in Hand gehen. Wir sahen aber oben, wie wenig dies der Fall ist.

Im übrigen widerspricht die Identifizierung des Körpers mit dem unmittelbar erlebten Ich der Natur dieses Körpers und dieses Ich. Der Körper ist ein Ding unter anderen Dingen, ein Stück der Welt der sinnlichen Wahrnehmung, der gegenüber ich das Bewußtsein habe, daß "ich" sie wahrnehme, daß "ich" in ihr lebe, daß sie "mich" umgibt. Kurz, der Körper gehört zur Peripherie meines Bewußtseinslebens. Dagegen ist das Ich der Mittelpunkt desselben. Es ist aber unmöglich, daß der Mittelpunkt mit der Peripherie oder einem Teil derselben zusammenfällt.

Und es ist ebenso unmöglich, daß das absolut  einheitliche  Ich zusammenfällt mit dem  Nebeneinander  meines Körpers. Das unmittelbar erlebte Ich aber ist ein absolut Einheitliches: vielmehr es ist  das  absolut Einheitliche. Und der Körper ist ein Nebeneinander von Teilen, der Komplex von Empfindungsinhalten, in welchem das Wahrnehmungsbild des Körpers besteht, ist ein Nebeneinander von Empfindungsinhalten. Gewiß bilden diese für mich eine Einheit: aber nur, wenn  ich  sie zu einer Einheit  zusammenfasse.  Das Bewußtsein der Einheit des Körpers oder der Empfindungsinhalte ist nichts, als das Bewußtsein, daß ich das Mannigfaltige dieser Inhalte zur Einheit zusammenfasse und der Erfahrung zufolge zur Einheit zusammenfassen muß. Die Einheit der Körperempfindungsinhalte, die Zugehörigkeit zu einem einheitlichen "Komplex", setzt also das Ich bereits voraus. Ohne dies sind die fraglichen Inhalte eine Vielheit: Hier eine Spannung, dort ein Druck, wiederum an einer anderen Stelle ein Schmerz usw.

Und es geht auch nicht an, zwei Mittelpunkte des Bewußtseinslebens zu statuieren. Diejenigen, gegen die ich hier streite, sehen, wie ich schon sagte, mindestens zwei Arten von Gefühlen, nämlich in den Gefühlen der Lust und Unlust, wirkliche  Gefühle.  Und die meisten sehen in diesen Gefühlen eigenartige, auf nichts sonst zurückführbare Bewußtseinsinhalte. Damit nun haben sie  ein  "Ich" unweigerlich anerkannt, nämlich eben dasjenige, das ich in Lust und Unlust unmittelbar fühle, finde, habe.

Ist aber dieses in Lust und Unlust enthaltene Ich einmal gegeben, dann ist kein Platz mehr für ein anderes Ich, insbesondere für ein Ich das mir, gleich unmittelbar, im Körper gegeben wäre. Ich wiederhole: Ich fühle mich jederzeit nur einmal.

Und es geht am wenigsten an, in meinem Bewußtseinsleben einen Mittelpunkt zu statuieren und daneben einen Komplex, der die Rolle des Mittelpunkts noch einmal spielt, ein einfaches, nirgendwo befindliches, allen Raumbegriffen fremdes, und daneben ein an dieser bestimmten Stelle der räumlichen Welt befindliches und selbst räumlich ausgebreitetes und in eine räumliche Vielheit auseinandergehendes Ich.


11. Ursprung des Körper-Ich

Aber nun fragt es sich, wie  komme  ich trotz alledem dazu, meinen Körper auch als Ich zu bezeichnen. Erinnern wir uns hier gleich wiederum, daß wir diese Ehre nicht nur dem Körper erweisen, daß ich in Sätzen wie "Ich bin bestaubt", auch die Kleidung mit dem Namen "Ich" beehre. Nicht die im Schrank hängende, sondern diejenige, mit der ich jetzt bekleidet bin. Natürlich tue ich dies, weil die Kleidung zu mir gehört. Dann besteht die Vermutung, daß ich den Körper aus dem gleichen Grund als Ich bezeichne. Oder genauer: Der Körper wird Ich heißen, weil er zu mir, die Kleidung, weil sie zum Körper, und dadurch zu mir  "gehört". 

Und wiefern nun jenes der Fall ist, haben wir gesehen. Ich erinnere an die besondere Subjektivität der spezifischen Körperempfindungsinhalte.

Hier müssen wir aber die beiden Faktoren dieser besonderen Subjektivität unterscheiden. Der eine war dieser: Die Inhalte der spezifischen Körperempfindungen, Hunger, Spannung, Wärme des Körpers, Druck auf die Körperoberfläche, existieren nicht, ohne empfunden zu werden und damit zugleich in der entsprechenden spezifischen Gefühlsnähe sich zu befinden.

Dieser Sachverhalt hat zwei Seiten. Das in solchen Empfindungen Gegebene kann sich, falls es überhaupt existiert, der apperzeptiven Macht nicht entziehen, die  ich  allem Empfundenen, wie überhaupt allen Bewußtseinsinhalten  gegenüber habe.  Und andererseits: Ich kann mich, wenn das in solchen Empfindungen Gegebene einmal existiert,  seiner  Macht, d. h. der Macht, die  es  als Empfundenes auf  mich  und mein Gefühl ausübt, nicht entziehen. Die Wärme meines Körpers etwa ist, solange sie besteht, in solcher Weise einmal an mich gebunden, zum anderen bin aber auch ich an diese Wärme gebunden. Sie wird mich, aber auch ich werde sie nicht "los".

Anders beim zweiten Faktor: Bestimmte Körperempfindungsinhalte oder gewisse empfindbare Zuständlichkeiten des Körpers, nämlich die bei willkürlichen Bewegungen und willkürlich eingenommenen Lagen sich ergebenden, sind in jedem Sinn - wenn auch nicht schrankenlos - meiner Macht unterworfen. Wir dürfen hinzufügen: Ist der Körper einmal für uns zu einem einheitlichen Ding geworden, so ist diese meine Macht über jene Zuständlichkeiten zugleich eine Macht über den Körper, nämlich im Hinblick auf diese Zuständlichkeiten, sie ist eine relative Macht über den  Gesamt körper. Diese Macht nun hat nicht jene Kehrseite; d. h. sie ist nicht zugleich ein Gebundensein meiner selbst an diese Zuständlichkeiten oder durch dieselben.

Es fragt sich nun: Was macht eigentlich, daß ich meinen Körper "Ich" nenne? Mein Gebundensein an ihn, insbesondere jene unvermeidliche spezifische Gefühlsnähe oder meine Macht über den Körper? Beides macht den Körper spezifisch subjektiv. Beides knüpft ihn an mich und macht ihn zu "meinem" Körper. Aber nicht um meinen Körper, sondern um das Körper-Ich handelt es sich hier. - Wie man sieht, hat diese Frage auch Geltung für das Kleider-Ich: Wenn ich die Kleidung "Ich" nenne, liegt das daran, daß ich an sie gebunden bind oder daß sie an  mich  gebunden ist, d. h. insbesondere, daß sie den Körperbewegungen, also meinem Willen, folgt und notwendig folgt?

Hier nun müssen wir von vornherein sagen: Wie aus meinem  Gebundensein  an den Körper eine Identifikation von Körper und Ich, oder eine gedankliche Hinnahme des Körpers in das Ich sich ergeben sollte, ist in keiner Weise einzusehen. Soweit dieser Sachverhalt besteht, tritt ja der Körper vielmehr deutlich mir gegenüber. Er  verfolgt  mich, mitunter freundlich, aber oft genug, so in allen körperlichen Schmerzen, auch feindlich. Gesetzt, etwas anderes als mein Körper verfolgt mich, nicht so unvermeidlich wie der Körper - denn dies ist unmöglich - aber immerhin mit möglichster Hartnäckigkeit. Ein Mensch sitzt mir womöglich im Nacken. Dann wird derselbe gewiß im besonderen Sinn "mein". Er wird, wenn er mir Übles tut, mein  Feind,  und erscheint mir in dieser Eigenschaft als etwas mir spezifisch Zugehöriges. Aber er ist eben damit besonders weit davon entfernt "Ich" zu sein.

Dagegen sehen wir recht wohl ein, wie aus  meiner Macht  über den Körper jene Erweiterung des Ichbegriffs sich ergeben kann, und muß. Das "Mein", von dem ich  soeben  redete, ist ein passives, das ich nur  erleide,  vielleicht notgedrungen über mich ergehen lasse. Ihm nun steht das aktive "Mein" gegenüber, in welchem ich mich tätig, bedingend, frei erzeugend weiß. In diesem Sinne "mein" ist der Körper, den ich  beherrsche.  Und wie nun dieser zum  Ich  werden kann, dies sehen wir leicht, wenn wir auch hier an die Stelle des Körpers Dinge oder Personen außerhalb des Körpers setzen.

Indem wir dies tun, gelangen wir zugleich dazu, dasjenige, was zu Beginn dieser Untersuchung über die Mehrheit der "Iche" gesagt worden ist, noch zu ergänzen. Ich identifiziere, vom unmittelbaren Gefühls-Ich und vom "realen Ich" abgesehen,  nicht nur  den Körper und die Kleidung mit mir. Ich sage auch: Ich baue ein Haus, wenn ich dabei keinen Finger rühre. Der es baut, das ist mein Baumeister. Und auch dieser baut es nicht eigentlich. Die Arbeiter bauen es. Aber der Baumeister baut es auf mein Geheiß. Darum eben ist er "mein" Baumeister. Und die Arbeit bauen es auf sein und damit indirekt auf mein Geheiß. Darum sind sie seine und indirekt meine Arbeiter.

Hier identifiziere ich also nicht mehr meinen Körper, sondern außerhalb desselben befindliche  Personen  mit "mir". Ich identifiziere mit mir den Baumeister und weiter die Arbeiter. Ich sage "Ich" und meine sie. Hier aber sieht man deutlich, wie dies zugeht. Ihr Bauen geht aus mir, nämlich meinem Willen hervor. Insofern ist es zugleich mein Bauen. Ihr Bauen ist mein Bauen, also sind sie Ich. Ich baue  durch sie.  Meine Tätigkeit schließt die ihrige in sich: Ich, d. h. mein Wollen wirkt in ihnen.

Dies geht noch weiter. LUDWIG XIV. sagt, und andere denken es - und die Tatsachen geben ihnen dazu ein Recht - :  L'état c'est moi!  [Der Staat bin ich! - wp] Was der "Staat" tut, das tun sie. Im "Staat" wirken sie, ihr Wille oder - ihre Laune.

Auch ein außerhalb meines Körpers liegendes materielles  Ding  identifiziere ich mit mir. Der Stock, den ich in der Hand halte, berührt die Wand. Aber daß er dies tut, entstammt meinem Wollen. So sage ich: Ich berühre die Wand. Hier ist also der Stock "Ich".

Und jetzt braucht auch nicht mehr gesagt zu werden, was den  Körper  zum Ich macht. Näher als der Stock steht mir der Körper. In dem, was er tut, fühle ich mich  unmittelbar  tätig. Der Körper bewegt sich, aber darin bin ich und zwar völlig unmittelbar der Bewegende, d. h. die Bewegung entstammt unmittelbar meinem Wollen. Die Hand faßt den Stock; letzten Endes aber bin ich der Fassende. Also ist die Hand ein Stück von mir. Ich wirke auf die umgebende Welt durch meinen Körper. Aber als das in ihm Wirksame fühle ich  mich. 

Immerhin ist ein Unterschied zwischen dem Körper-Ich und dem Ich, das im Baumeister und den Bauarbeitern wirkt, und ebenso zwischen dem Körper-Ich und dem Ich, das im Stock wirkt. Ich sagte schon, der Körper ist mir  unmittelbar  nahe.

Hier nun ist der Punkt, wo doch auch jener andere der beiden oben unterschiedenen Faktoren, von denen ich sagte, daß sie gemeinsam meinen Körper zu  "meinem"  Körper machen, nämlich das  Gebundensein  des unmittelbar erlebten  Ich an den Körper,  bedeutsam wird. Dabei halte man fest, daß es sich hiher nicht um physikalische oder physiologische Tatsachen, sondern allein um Tatsachen unseres Bewußtseins handelt. Der Stock kann existieren, ohne  für mich,  insbesondere als  wahrgenommener,  da zu sein. Es liegt also auch nicht in seiner Natur, ein unmittelbar und unvermeidlich gegenwärtiges Objekt meines  Willens  zu sein. Dagegen liegt dies in der Natur meines Körpers. Da gibt es keine dazwischen tretende Bedingung. Der unvermeidlich und unmittelbar mir gegenwärtige Körper wirkt, und in ihm finde ich unmittelbar  mich  wirkend.

Alle Ichheit eines Realen außerhalb von mir, so sehen wir also, weist hin auf ein und denselben Ausgangspunkt, nämlich auf das von mir unmittelbar erlebte Wollen. In diesem Wollen also, wenn man will, im  "Willen",  haben wir das letzte Ich, das Ur-Ich. Ebenso aber, wie wollend, erleben wir uns lustgestimmt, gekränkt, einer Sache gewiß usw. Das Gefühls-Ich überhaupt also ist das Ur-Ich, oder macht überall den letzten und eigentlichen Sinn des Wortes  Ich  aus.

Man ermesse jetzt etwa den Wert jenes Einfalls eines Gehirnanatomen, der in den Zentralwindungen der Großhirnrinde die Körperempfindungssphäre findet, und nun meint, hier also säße das Ich oder das ursprüngliche Ichbewußtsein, und der zugleich, wie zur Bestätigung, hinzufügt, das Ich sei ja der "Zentralpunkt" des Bewußtseinslebens. Solche Gedankenlosigkeiten ergeben sich, wenn derjenige, der das Bewußtseinsleben mit dem Physischen in Beziehung bringen will, nicht zunächst mit der Betrachtung des Bewußtseinslebens vollen Ernst macht.


12. Das "reale Ich".

Wenden wir uns jetzt endlich auch noch zum "realen Ich", das wir dem unmittelbar gefühlten Ich zugrunde legen. Es ist das Wesen, das sich in den psychischen Erscheinungen betätigt oder sein Dasein kund gibt. Es ist das Empfindende, Vorstellende, Fühlende, Wollende, im Sinne des realen  Substrates  der als Empfindung, Vorstellung, Fühlen, Wollen bezeichneten psychischen Tatbestände oder Vorgänge. Es ist mit einem Wort die  Psyche. 

Einige Psychologen wollen verbieten, daß man in der Psychologie von einem realen Ich, einer Psyche, einem Substrat der psychischen Erscheinungen redet: Sie wittern das irgendwo im Gehirn sitzende immaterielle Seelending. Davon nun ist hier keine Rede. Das reale Ich ist das reale Ich, gleichgültig wie man sein "Wesen" näher bestimmen mag. Mit einem solchen realen Ich aber, mit einem Substrat der Bewußtseinserscheinungen, operiert die Psychologie überall und jederzeit. Kein Psychologe läßt etwa die Anlagen, die ursprünglichen oder erworbenen psychischen Eigenschaften des Individuums, die in ihm liegenden Gedächtnisspuren oder Gedächtnispositionen außer Acht.

Einige bestimmen auch dieses Substrat genauer: etwa als Gehirn oder als Großgehirnrinde. In der Tat wissen wir, daß Bewußtseinserscheinungen an das Gehirn gebunden sind. Das heißt: wir wissen, daß sie irgendwie, in einer nicht angebbaren Weise gebunden sind an dasjenige, was sich den Sinnen eines fremden Individuums unter geeigneten Umständen als Gehirn und Zusammenhang materieller Gehirnvorgänge  darstellt.  Aber wir wissen nicht, ob in diesen Wirkungen auf die Sinne eines fremden Individuums, und dem, was sich aufgrund davon erkannt werden kann, das  ganze  Wesen des Substrates der psychischen Erscheinungen enthüllt. Und es kann niemandem verwehrt sein zu meinen, daß dies  nicht  der Fall ist. Wir müssen uns darum begnügen zu sagen: Das reale Ich oder die Psyche ist dasjenige, was sich den Sinnen des fremden Individuums im Bild eines Gehirns und materieller Gehirnprozesse kundgibt,  soweit  es sich eben darin kundgeben  kann.  Wir geben damit zu verstehen, daß das Rätsel des Bewußtseinslebens tiefer liegen könnte, als eine materialistische Gehirnphysiologie sich träumen läßt.

Aber auch davon machen wir in der Psychologie  keinen Gebrauch.  Die Psychologie hat nicht mit irgendwelchen, sei es materialistischen, sei es nicht materialistischen Voraussetzungen über das Wesen der Seele an die Bewußtseinserscheinungen heranzutreten, sondern dieses Wesen so zu bestimmen, wie es sich aus den Bewußtseinserscheinungen ergibt.

Wir reden ja doch überhaupt von einer "Seele" einzig und allein um der  Bewußtseinserscheinungen  willen. Dann muß auch jeder einzelne  Inhalt  des Seelenbegriffs aus diesen Erscheinungen und nur aus ihnen hergenommen sein. Psychologie ist nicht Metaphysik, sondern - Psychologie.

Damit ist aber zugleich das Andere gesagt: Mag das Substrat des Bewußtseinslebens das Gehirn sein und weiter nichts, d. h. mag dasselbe in einem Zusammenhang von Phänomenen, die das Wort "Gehirn" in sich begreift, sein Wesen allseitig kundgeben, oder mag es eine Seite haben, die darin nicht sich offenbart, sondern nur in jenem Bewußtseinsleben sich selbst verrät: in jedem Fall haben wir mit jenen Phänomenen in der Psychologie nicht zu tun. Das Substrat der Bewußtseinserscheinungen ist also für die  Psychologie nicht  das Gehirn, d. h. es kommt für sie nicht als solches in Betracht. Es ist für sie einfach das Substrat der Bewußtseinserscheinungen, das sie aus diesen zu bestimmen hat. Psychologie ist auch nicht Physiologie, sondern - Psychologie.

Wie verhält sich nun die Psyche oder das reale Ich zu jenem unmittelbar erlebten Ich oder jenem Ichgefühl. Ich sagte, die Psyche ssei das den Bewußtseinserscheinungen unmittelbar zugrunde Gelegte. Sie ist genauer gesagt,  zunächst  das dem  Ichgefühl  zugrunde gelegte. Darin besteht der ganze ursprüngliche Sinn des realen Ich. Dasselbe ist erst in zweiter Linie auch das den gegenständlichen Bewußtseinsinhalten zugrunde Gelegte. Sofern und nur sofern diese für mein unmittelbares Bewußtsein an  jenes  Ich gebunden oder dadurch bedingt erscheinen, sind sie zugleich für mein Denken oder Erkennen mittelbar gebunden als dieses  reale  Ich.

Das reale Ich, so kann ich auch sagen, verhält sich zum Ich des Ichgefühls analog, wie sich der  "reale"  Ton, von dem der Physiker redet, und den er als Luftschwingungen genauer bestimmt, zum unmittelbar gegebenen Ton verhält oder dem Ton als Inhalt meiner Tonempfindung. Diese beiden sind ganz und gar nicht dasselbe. Ich höre keine Luftschwingungen, wenn ich einen Ton höre. Aber die Luftschwingungen liegen diesem Ton  zugrunde.  Darum tragen sie den Namen "Ton". So nennen wir auch das Substrat der Bewußtseinserscheinungen "Ich" aus keinem anderen Grund, weil es das dem unmittelbar erlebten Ich, dem zunächst allein dieser Name zukommt, zugrunde Gelegte ist. Ohne dasselbe wäre das reale Ich nicht weiter als ein namenloses Etwas.

Im Gegensatz zum realen Ton können wir den in der Tonempfindung gegebenen Ton als den phänomenalen oder als das Tonphänomen bezeichnen. Im gleichen Sinn kann das Gefühls-Ich das phänomenale Ich oder das Ichphänomen heißen. Im empfundenen Ton "erscheint" mir der reale. Er gibt darin sein Dasein kund, offenbart es. Im gleichen Sinn  erscheint  mir das reale Ich im Ichgefühl oder ist das Ichgefühl dasjenige, worin mir das reale Ich sein Dasein kundgibt oder offenbart. Nur ist hier die Offenbarung eine unmittelbare, nicht wie beim Ton eine durch die Sinne vermittelte.

Der Phänomenale Ton  ist  nicht, wenn er nicht empfunden ist, ebenso  ist  das phänomenale Ich nicht, wenn es nicht erlebt, d. h. gefühlt wird. Dagegen heißt der reale Ton real und ebenso das reale Ich real, weil sie beide  sind unabhängig davon, ob sie für mein  Bewußtsein  sind, d. h. genauer: unabhängig davon, ob sie gedacht werden. Darum ist doch das phänomenale Ich nicht minder tatsächlich. Ja es ist, wie der phänomenale Ton, das Urtatsächliche.

Noch  eines  müssen wir hinzufügen. Das Verbot, von einem realen Ich oder einem Substrat der Bewußtseinserscheinungen zu sprechen, erweist sich nicht überall als so harmlos, wie es zunächst scheinen mag. Es hat verführt, etwas anderes an die Stelle zu setzen, nämlich das "Bewußtsein" selbst. Da man eben doch ein Substrat des Bewußtseins brauchte und es nicht  Seele, Psyche, reales Ich  nennen, auch nicht ohne weiteres mit dem Gehirn identifizieren wollte, so hat man es  Bewußtsein  genannt, also das Bewußtsein zu seinem eigenen Substrat gemacht. Man hat das Abstraktum "Bewußtsein"  verdinglicht.  So ist ein "Bewußtsein" entstanden, das die Bewußtseinsinhalte hervorbringt, das empfindet, denkt, fühlt, will, ein Bewußtsein, das angeborene oder erworbene Fähigkeiten hat usw. Man spricht von einem individuellen Bewußtsein und meint das  Individuum,  das Bewußtsein  hat,  ja man macht schließlich aus dem abstrakten Kollektivbegriff des Bewußtseins überhaupt ein Allbewußtsein, das in Wahrheit nichts ist als eine Allgemeinseele oder Weltseele. So ist eine Bewußtseinsmythologie entstanden, indem man eine angebliche Seelenmetaphysik zu vermeiden meinte.

Hierher gehören auch die Begriffe des Ober- und Unterbewußtseins, der Spaltung des Bewußtseins, des alternierenden Bewußtseins und dgl. Es gibt kein Ober- und Unterbewußtsein und keine Spaltung des Bewußtseins in zwei gleichzeitige "Bewußtseine", so gewiß es vorkommen kann und auch normalerweise vorkommt, daß neben einer Reihe psychischer Vorgänge eine andere Reihe relativ unabhängig hergeht. Und es gibt kein alternierendes Bewußtsein, sondern nur wechselnde Zuständlichkeiten des einen Substrates der psychischen Erscheinungen. Weiß das eine "Bewußtsein" nichts vom anderen oder erinnert sich nicht an seine Inhalte, so heißt das, daß sich das  Individuum  im einen Zustand der psychischen Erlebnisse oder Leistungen des anderen Zustandes nicht erinnert. Und wir verstehen dies, wenn wir wissen, daß die Gesamtzuständlichkeit der Psyche eine der fundamentalen Bedingungen jeder Erinnerung ist.

Es wäre Zeit, daß auch diejenigen, die sich mit solchen Phänomenen beschäftigen, sich klarer psychologischer Begriffe befleissigen.

Vom Ichbewußtsein war im Vorstehenden die Rede. Wir erkannten das Gefühls-Ich oder das Ichgefühl als das primäre Ich und den Kern jedes Ichbewußtseins, wir fanden um diesen Kern liegend die verschiedenen Außenzonen des Ich, und ihm zugrunde liegend das reale Ich.
LITERATUR - Theodor Lipps, Das Selbstbewußtsein - Empfindung und Gefühl, Wiesbaden 1901