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HERMANN ULRICI
Das Prinzip des Kritizismus
und sein Kampf gegen den Dogmatismus

Nur das Eine ist Kant zum Vorwurf zu machen, daß er von vornherein nicht noch einen Schritt weiter oder noch eine Stufe tiefer hinab gestiegen ist und anstatt zu fragen: wie sind synthetische Urteile a priori möglich, nicht vielmehr gefragt hat: wie kommen wir überhaupt sowohl zu den apriorischen, reinen, allgemeinen Verstandesbegriffen, wie zu den sogenannten aposteriorischen Erkenntnissen, zur sinnlichen Wahrnehmung, Anschauung, Vorstellung? Diese Frage würde ihn weiter zu einer tiefergehenden Erörterung der Begriffe des Allgemeinen und Besonderen, des Notwendigen und Zufälligen, und zuletzt zu der Kontroverse der mittelalterlichen Nominalisten und Realisten geführt haben, d. h. zu der Frage: ob und wiefern das Allgemeine (Notwendige) überhaupt objektive Bedeutung (Realität) hat?"

Nachdem alle bisherigen Systeme in sich selber wankend geworden sind; nachdem selbst der Skeptizismus sich als theoretisch selbstwidersprechend, praktisch als unhaltbar erwiesen hatte; begann notwendig die Philosophie gleichsam von vorn, d. h. es trat ein Knotenpunkt der Entwicklung ein, auf welchem die Prinzipalfrage der Philosophie: wie kommt das menschliche Wissen zustande, worin besteht es, und welchen Anspruch hat es auf Gewißheit und Wahrheit, sich wiederum ausschließlich in den Vordergrund gedrängt hat. Diese Frage war bisher, meist nur beiläufig und Einleitungsweise, durch Berufung auf die sogenannten Tatsachen des Bewußtseins beantwortet worden. Resümieren wir die Resultate unserer bisherigen Untersuchung, so war es die Reflexion auf den Inhalt des Bewußtseins, durch die der Realismus zu zeigen suchte, daß alle unsere Vorstellungen und damit all unser Erkennen und Wissen durch die äußeren Objekte vermittelt und bewirkt ist, während der Idealismus durch dieselbe Reflexion nachgewiesen hat, daß sich im Bewußtsein gewisse Ideen, Urteile, Sätze finden, die durch keine Erfahrung gegeben, vielmehr unmittelbar durch sich selbst evident, die Gewißheit ihrer Notwendigkeit und Wahrheit in sich selbst enthalten. Beides nahm der Dogmatismus als unbezweifelbare Tatsache an, d. h. er nahm ohne weiteres die objektive Gewißheit und Wahrheit des ganzen Inhalts des gemeinen Bewußtseins an, und suchte diesen Inhalt nur durch analytische Deduktion [Ableitung - wp] systematisch zu ordnen. Ihm gegenüber bewies der Skeptizismus mittels derselben Reflexion auf das Bewußtseins, daß aller Erfahrungserkenntnis die Notwendigkeit und Allgemeinheit fehlt, alle sogenannten apriorischen Ideen aber nur Abstraktionen von empirischen Vorstellungen, jedenfalls bloß subjektiver Natur, ohne alle objektive Gültigkeit sind. Aus diesem Streit entsprang von selbst der Mystizismus und sein Gegensatz, die Aufklärungsphilosophie, als Rückfall und abstrakte Vollendung des Dogmatismus. -

Sollte dieser Kreislauf durchbrochen werden, so mußte nicht wie bisher bloß gefragt werden, woher unserem Bewußtsein zufolge unsere Vorstellungen, Begriffe und Ideen stammen und ob und wiefern sie Erkenntnisse sind, sondern auf die allgemeinen notwendigen Bedingungen (Gründe), Formen und Tätigkeitsweisen, durch welche das Bewußtsein selbst zustande kommt, mußte die Untersuchung gerichtet werden. Es mußte insbesondere zunächst nach einer subjektiven, innerhalb des menschlichen Geistes selbst sich vollziehenden Vermittlung jener beiden an der Spitze stehenden Gegensätze gesucht werden, d. h. es mußten jene sogenannten aposteriorischen und apriorischen Erkenntnisse in gegenseitiger Beziehung und Durchdringung, als sich gegenseitig bedingend und möglich machend, dargetan, und somit den aposteriorischen Erkenntnissen die Allgemeinheit und Notwendigkeit, den apriorischen die Objektivität vindiziert [zugeteilt - wp] werden. Beide konnten damit zugleich auch als notwendige Tatsachen des Bewußtseins nachgewiesen, philosophisch begründet werden, sofern sich dartun läßt, daß beide gleich notwendig sich gegenseitig fordern, wenn überhaupt von einem menschlichen (zusammenhängenden, geordneten) Bewußtsein die Rede sein soll, d. h. daß beide notwendige Bedingungen des menschlichen Bewußtseins selbst sind. -

Freilich war mit einer bloß subjektiven Vermittlung jener beiden Faktoren auch nur eine subjektive Allgemeinheit und Notwendigkeit, eine subjektive Objektivität gegeben. Denn wenn auch dargetan war, daß alle Erfahrung nur mittels apriorischer (allgemeiner, notwendiger) Begriffe zustande kommt und damit selbst die Allgemeinheit und Notwendigkeit an sich hat, und daß andererseits alle apriorischen Ideen nur mittels der Objekte der Erfahrung im Bewußtsein geweckt werden, auf diese sich beziehen und als Bedingungen möglicher Erfahrung objektive Gültigkeit haben; so ist doch dieser ganze Prozeß, durch den das menschliche Wissen und Bewußtsein zustande kommt, eben nur ein Vorgang innerhalb des menschlichen Geistes. Ob den Dingen ansich, in ihrer äußerlichen, sich auch sich beziehenden Realität dasjenige zukommt, was der menschliche Geist Allgemeines und Notwendiges an ihnen erkennt, und ob den apriorischen Ideen Objektivität im Sinne dieser äußerlichen Realität beizulegen ist, ist damit noch gar nicht entschieden. Das Ding-ansich bleibt vielmehr außerhalb aller Erkenntnis: die Allgemeinheit und Notwendigkeit der aposteriorischen, wie die Objektivität der apriorischen Erkenntnisse bezieht sich nur auf die Gegenstände als Erscheinungen, d. h. wie sie für uns in unserer Wahrnehmung, Anschauung, Vorstellung sind. Woraus weiter von selbst folgt, daß diejenigen apriorischen Ideen (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit), die über alle Erfahrung hinausgehen, oder auf die Erscheinungen bezogen, sich widersprechen und unmöglich scheinen, doch sehr wohl in den Dingen-ansich ihre Objektivität haben können, und folglich zwar objektiv nicht erkennbar, wohl aber wegen ihrer praktischen Notwendigkeit und unleugbaren objektiven Möglichkeit geglaubt werden müssen.

Trotz der damit ausgesprochenen Subjektivität aller menschlichen Erkenntnis war, wenn jener Beweis gelingt, doch ein großer Fortschritt getan und auf neuer Bahn eine höhere Entwicklung vorbereitet. Zunächst war damit eine Vermittlung der beiden großen Gegensätze des Realismus und Idealismus zumindest eingeleitet. Demnächst war an die Stelle jenes bloßen Findens der Wahrheit, das notwendig stets den Charakter der Zufälligkeit an sich trägt, eine genetische Entwicklung des menschlichen Erkennens und Wissens aus sich selbst gesetzt, die zwar noch keineswegs erschöpfend war, indem sie gleichsam von der Mitte der Bahn, statt vom Anfang ausgegangen ist, doch aber schon ihrer Grundidee nach die nachhaltigsten Folgen haben mußte. Endlich war es, wenn jene Vermittlung gelingen sollte, unerläßlich, den reinen, schlechthin denknotwendigen Inhalt der menschlichen Erkenntnis von den durch die Sinne vermittelten Anschauungen und Vorstellungen bestimmter abzusondern. Dies aber war von der größten Wichtigkeit. Denn indem die Theorie zugleich jenen denknotwendigen Inhalt zusammen mit den sinnlichen Anschauungen als notwendige Bedingung aller Erfahrung wie alles menschlichen Bewußtseins überhaupt nachgewiesen hat, tat sie den ersten Schritt, dasjenige, das allen bisherigen Erkenntnistheorien stillschweigend und unbewußt zugrunde gelegen ist, ins Bewußtsein zu erheben, d. h. den ersten Schritt zu der Einsicht, daß die im Denken immanente Denknotwendigkeit Prinzip und Fundament allen Erkennens und Wissens ist. -

Die Form, in der das neue Prinzip auftrat, war notwendig die der Kritik. Denn die Frage, ob, wie und was der Mensch zu erkennen vermag, oder das dasselbe ist, wie er zu seinen Erkenntnissen kommt, wie sich sein Wissen und Bewußtsein überhaupt bildet, fordert eine Untersuchung des menschlichen Geistes, eine Unterscheidung seiner verschiedenen Vermögen und ihres Wirkungskreises, eine Beurteilung der Mittel und Wege, der Formen und Tätigkeitsweisen, durch die er zu einem zusammenhängenden, geordneten Inhalt seines Denkens und damit zu einem menschlichen Bewußtsein überhaupt gelangt. Diese Untersuchung setzt nun aber doch wiederum voraus, daß der menschliche Geist wenigstens sein eigenes Tun und Leiden, sein eigenes Erkenntnisvermögen, ohne vorherige Untersuchung des Ob und Wie wahrhaft zu erkennen vermag. Denn ohne diese Voraussetzung ist die Frage selbst, weil jede Antwort darauf, unmöglich. Will also der Kritizismus nicht sogleich im ersten Anfang sich selbst widersprechen, will er nicht jenem Scholastikus gleichen, der nicht eher ins Wasser gehen will, bevor er nicht schwimmen kann; so muß er seine Frage bestimmter so stellen: Ob und was vermag der menschliche Geist, - unter der Voraussetzung daß er die Formen und Bedingungen seines Erkennens, die Bedingungen und den Bildungsprozeß seines Bewußtseins wahrhaft zu erkennen imstande ist, von seinem eigenen Wesen wie von der Natur der Dinge zu wissen, und welchen Anspruch hat danach das, was dem gemeinen Bewußtsein (dem Dogmatismus) Erkenntnis heißt, auf Gewißheit und Wahrheit, auf Objektivität und Allgemeingültigkeit? - Der Kritizismus hat also den Dogmatismus und Skeptizismus notwendig zu seiner Voraussetzung: denn ohne den vorangegangenen Glauben und den nachgefolgten Zweifel an der Wahrheit der menschlichen Erkenntnis hat seine kritische Untersuchung keinen Sinn. -

In der antiken Philosophie nun erscheint der Kritizismus als wesentliches Element der Sokratik. SOKRATES, weil er, wie gezeigt, alle die bisherigen Prinzipien der Philosophie in sich zusammenfaßte, war eben dadurch auch befähigt, den Impuls zum wahren Fortschritt und der weiteren Entwicklung zu geben, deren erstes Moment der Kritizismus ist. Sein skeptischer Satz, er wisse nur, daß er nichts weiß, war der Ausgangspunkt, von dem aus er teils das aufgeblähte, nihilistische Scheinwissen der Sophistik in seiner Nichtigkeit aufgedeckt hat, teils den krassen Dogmatismus der bisherigen Philosophie und des gemeinen Bewußtseins bekämpft hat, um von Neuem zu erforschen, was der Mensch in Wahrheit weiß und wissen kann. (1) Jene berühmte sokratische Ironie, dieses Fragen und Belehrtseinwollen, dieses Fortführen des aufgestellten Satzes durch alle Momente hindurch bis in seine äußersten Konsequenzen, um zu zeigen, daß er sich selbst widerspricht oder seinen Gegensatz zur Ergänzung fordert, war teils das Gewand, in welches sich die Kritik der geltenden Meinungen und aller menschlichen Erkenntnis gehüllt hat, teils der Anfang zu jener dialektischen Methode, welche erst die Megariker, und insbesondere PLATO und ARISTOTELES näher ausgebildet haben. Von SOKRATES selbst scheint sie noch prinziplos und gleichsam instinktartig geübt worden zu sein; und nur der Grundgedanke derselhben, daß alles menschliche Wissen und Bewußtseins durch die Vermittlung ursprünglicher Gegensätze zustande kommt, scheint ihm dunkel vorgeschwebt und sein Verfahren geleitet zu haben. Wenn er die Kunst seiner Mutter, eine geistige Hebammenkunst sich beigemessen und ausgeübt hat, so sprache er damit wenigstens die Ansicht aus, daß alles menschliche Wissen im menschlichen Geist selbst mittels eines innerhalb seiner sich vollziehenden Prozesses sich entwickelt. Wie weit er der Erforschung dieses Prozesses nachgegangen ist, und welche Ansicht er von der Entstehungsweise unseres Wissens hatte, läßt sich freilich nicht näher angeben. Ohne Zweifel war er jedoch Realist genug, um (mit KANT) die Realität der Sinnesobjekte und ihre Bedeutung für die Bildung unseres Wissens und Bewußtseins anzuerkennen. Die Ideenlehre PLATOs zumindest, wonach alle Wahrheit nur ideell, alle Erkenntnis derselben nur Erinnerung der Ideen, die Erscheinungswelt eben nur Erscheinung, ein schlechtes, unvollkommenes und damit unwahres Abbild der Ideenwelt ist, war gewiß eine eigentümlich platonische Erfindung. Die Abtrennung der Begriffe als für sich bestehender Wesenheiten von den Gegenständen erklärt zumindest ARISTOTELES für unsokratisch. Jedenfalls dürften die angeführten verbürgt sokratischen Lehrsätze und Lehrmethoden so viel beweisen, daß eine wesentliche Analogie zwischen SOKRATES und KANTs Verfahren und der durch sie in der Philosophie hervorgerufenen Revolution sich schwerlich leugnen läßt. Das ist genug für unseren Zweck. Denn andererseits ist freilich die bedeutende Differenz zwischen beiden ebenso unverkennbar.

SOKRATES war offenbar seinem innersten Wesen nach durch und durch Popularphilosoph, dogmatisch bis zum Geht-nicht-mehr. Die unmittelbare Gewißheit, die plastische Ruhe und Festigkeit seines Bewußtseins war so groß, so unerschütterlich, daß ihm der Inhalt desselben durch eine natürliche Jllusion in der Gestalt realer Objektivität, als die Stimme eines Gottes, d. h. als der Ausdruck des absolut Allgemeinen und Objektiven erschien. Mit dieser unerschütterlichen Gewißheit im Herzen warf er sich der Alles erschütternden, zersetzenden, auflösenden Sophistik entgegen. Die Ironie und die eigentümliche Lehrmethode, deren er sich bediente, d. h. das kritische Element seiner Philosphie, war ihm nur Form, nur Mittel um seine Gegner zu bekämpfen, und die ewigen Ideen des Wahren, Guten und Schönen in der Brust des Menschen zu wecken. Sein Kritizismus war daher gleichsam nur das äußere Gewand, Panzer und Wehr seines Dogmatismus. Aber selbst hier zeigt sich noch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und KANT. Man braucht nur die "Vorrede zur zweiten Ausgabe der Kr. d. r. V." zu lesen, um sich zu überzeugen, daß KANT den Hauptwert und Hauptzweck seiner Untersuchung darin setzte, die sittlich notwendigen Ideen, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, indem er sie aus dem Bereich des eigentümlichen Erkennens und Wissens herausrückte, gegen die Angriffe des Skeptizismus, Materialismus und Atheismus zu schützen. Beiden war folglich das kritische Verfahren nur Mittel, und auch darin stehen beide gleich, daß gerade dieses bloße Mittel, die neue Form und Methode, die sie der philosophischen Forschung gegeben haben, der Haupthebel zur weiteren Entwicklung der Philosophie wurde. Die Differenz zwischen ihnen besteht aber vornehmlich nur darin, daß SOKRATES in mehr praktischer Tendenz vor allen Dingen den wahren ewigen Inhalt des Bewußtseins in jedem Menschen zu erzeugen suchte, und demgemäß nur beiläufig und indirekt an der Form oder am Bildungsprozeß der Erkenntnis keine Kritik übte, während KANT in theoretischer Absichtlichkeit gerade umgekehrt letzteren vornehmlich zum Gegenstand seiner Kritik gemacht hat, und, was damit zusammenhängt, daß jenem die Kritik bloßes Mittel geblieben ist, diesem dagegen gleichsam unwillkürlich zum Zweck, ihr Resultat zum Inhalt der Philosophie selbst wurde.

Dieser Unterschied beruth jedoch wiederum nur auf jener Fundamentaldifferenz zwischen der antiken und modernen Philosophie überhaupt. Schon der sokratische Dogmatismus hatte am realen Sein und Wesen des Menschen seine objektive Grundlage; darauf erst gründete sich ihm die subjektive Gewißheit der Tatsachen des Bewußtseins, die Selbstgewißheit des Wissens. Der moderne Dogmatismus dagegen macht diese Tatsachen, die subjektive Selbstgewißheit, zum Ausgangspunkt; dadurch ist ihm erst das Sein seiner selbst wie der Dinge außerhalb von ihm gewiß, und die Erkenntnis derselben möglich. -

In demselben Sinn geht SOKRATES' Kritik mehr auf den Inhalt, KANTs mehr auf die Form der menschlichen Erkenntnis. Jener nämlich setzt das Sein und die Realität der ewigen Ideen des Wahren, Guten, Schönen voraus, und es kommt ihm nur darauf an, dieses Sein auch zu Bewußtsein zu bringen, oder was dasselbe ist, das Bewußtsein dieses Seins entstehen zu lassen. KANT dagegen geht vom Wissen oder vom Glauben aus, und fragt, ob das auch realiter ist, was wir glauben und wissen. Ihm kommt es daher auf die Art der Entstehung unseres Wissens, auf den Bildungsprozeß unseres Bewußtseins zunächst und vorzugsweise an, weil er daraus erst auf das Sein des Gewußten einen Schluß ziehen will. - Aus der Grunddifferenz des allgemeinen Charakters erklärt es sich daher auch von selbst, warum in der antiken Philosophie der Kritizismus niemals prinzipiell, selbständig, als besonderes System aufgetreten ist.


Kants Kritik der Vernunft

KANT betrachtete zwar, wie schon bemerkt, ursprünglich ebenfalls seine Kritik nur als Vorarbeit, und behielt sich die Ausführung eines auf dieselbe gestützten philosophischen Systems vor. Allein bekanntlich hat er dieses System nicht nur niemals geliefert, sondern später auch überall die Kritik für das System selbst ausgegeben. Diese Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] der Kritik ist jedoch keineswegs eine bloße subjektive Willkür oder eine zufällige, durch äußere Umstände veranlaßte Inkonsequenz, sondern vielmehr gerde eine objektiv-notwendig Konsequenz der Prämissen, von denen KANT ausgegangen ist, wie der Resultate, zu denen er gelangte. Denn einerseits hat KANT seiner Kritik von Anfang an ein positives Resultat vorausgesetzt, und demgemäß die Frage nach dem Was der menschlichen Erkenntnis sogleich mit in seine Untersuchung hineingezogen. Andererseits ist (wie schon angedeutet) der Inhalt, den er dem menschlichen Erkenntnisvermögen zuschreibt, nicht das ansich Seidende, sondern nur das Erscheinende, d. h. nicht das reale (objektive), sondern nur das angeschaute, wahrgenommene, vorgestellte (subjektive) Sein, - ein Inhalt, der mit dem Erkenntnisprozeß unmittelbar gegeben und deshalb von der Untersuchung desselben nicht abzutrennen war. - Um dies völlig verständlich zu machen, müssen wir jedoch tiefer und ausführlicher, als bei den bisher betrachteten Systemen geschehen, auf KANTs Kritizismus eingehen, was auch schon darum unerläßlich erscheint, weil seine Philosophie nicht nur den Ausgangspunkt der neueren deutschen Spekulation, sondern, wie bemerkt, einen Knoten- und Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie überhaupt bildet.

KANTs System kündigt sich schon insofern als ein bedeutsamer Fortschritt im Entwicklungsprozeß der Philosophie an, als es, ganz wie die Sokratik, nicht bloß ein neues Prinzip aufgestellt hat, sondern zugleich alle Prinzipien der bisher aufgetretenen System in sich zusammenfaßt. KANT erkennt sie alle an, und seine Kritik ist nur die Methode, den Widerspruch unter ihnen auszugleichen, den wahren Sinn und damit die Berechtigung eines jeden festzustellen, und so alle unter ein höheres Prinzip zusammenzufassen. Er behauptet einerseits mit LOCKE, daß die Sensation als Affektion des äußeren Sinns und die Reflexion als Affektion des inneren Sinns der Anfang all unserer Erkenntnis ist; leugnet aber, daß alle unsere Erkenntnis aus der Erfahrung entspringt. Er behauptet vielmehr andererseits mit den Idealisten, daß das Allgemeine und Notwendige unserer Erkenntnis ein Apriorisches ist, und von unserem eigenen Erkenntnisvermögen ausgeht; leugnet aber wiederum, daß dasselbe, weil als allgemein und notwendig zu denken, darum auch als real und objektiv seiend zu betrachten ist. Er behauptet im Gegenteil, daß dem Apriorischen, nur soweit es Bedingung möglicher Erfahrung ist, Objektivität zukommt; und beschränkt sogar die Objektivität der Erfahrung auf das bloße Dasein der Dinge, indem das, was wir von der Beschaffenheit der Dinge erkennen, bloße Erscheinung, d. h. diejenige Bestimmtheit der Dinge ist, in der sie sich uns in der Zeit und im Raum zwar notwendig darstellen und von uns unter diesen bloß subjektiven Formen der Anschauung notwendig angeschaut werden, die ihnen aber darum noch nicht ansich zukommt. KANT vermittelt demnach insofern auch den Materialismus und Spiritualismus, als er einerseits ein zwar unerkennbares, aber nichts destoweniger unzweifelhaft reales, vom Geist verschiedenes (materielles) Ansichsein der Dinge voraussetzt, durch dessen Einwirkung auf unsere Sinne der Inhalt unserer aposteriorischen Erkenntnis einen eigentümlichen, von den frei erzeugten Vorstellungen der Einbildungskraft unterschiedenen Charakter erhält, - andererseits aber eben diesen Inhalt nur in die Erscheinung setzt, und ihm damit einen nur ideellen, subjektiven Wert beimißt. - Indem KANT dabei von den sogenannten aposteriorischen und apriorischen Bestandteilen unserer Erkenntnis als von Tatsachen des Bewußtseins ausgeht, so erkennt er damit auch das Prinzip des Dogmatismus an, rezipiert aber zugleich auch den Skeptizismus, indem er ihm einräumt, daß keiner empirischen Erkenntnis der Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit zukommen kann. Nur leugnet er zugleich gegen HUME, daß derjenige Bestandteil unserer Erkenntnis, der mit dem unwiderstehlichen Bewußtsein der Allgemeinheit und Notwendigkeit verknüpft ist, aus bloßer Gewohnheit wiederholter Erfahrungen entspringt, - er leugnet gegen die Dogmatiker, daß durch die Tatsachen des Bewußtseins irgendetwas über die Wahrheit und objektive Gültigkeit unseres Wissens ausgemacht werden kann. -

KANT nimmt endlich auch den Mystizismus auf, indem er einerseits aus den Postulaten der praktischen Vernunft (des sittlichen Bewußtseins) den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, andererseits aber zugleich die Unbegreiflichkeit und Unerreichbarkeit eben dieser Ideen für die theoretische Vernunft deduziert. Sofern danach die praktische Vernunft eben dasselbe anzunehmen genötigt ist, was der theoretischen unerkennbar und unbegreiflich bleibt, so ist damit ein Unbegreifliches und doch Notwendiges, d. h. ein reines Mysterium gegeben. Ja da die theoretische Vernunft sich eine bestimmte, klare, widerspruchsfreie Vorstellung jenes Glaubensinhaltes nicht soll bilden können, und dieser Inhalt als geglaubt, doch auch vorgestellt, gedacht werden muß, so erscheint damit der menschliche Geist so ziemlich jenem Monstrum von PASCAL ähnlich, welches denkt, was im Grunde undenkbar ist und dogmatisch festhält, was sich bei näherer Untersuchung in Widerspruch und Unmöglichkeit auflöst. KANT sucht jedoch auch hier den immanenten Widerspruch des Mystizismus zu lösen, und ihn mit seinen Gegnern zu versöhnen. Denn indem er die Notwendigkeit jenes Glaubens auf Rechnung der praktischen, die Unerkennbarkeit und Unbegreiflichkeit seines Inhalts dagegen auf Rechnung der theoretischen Vernunft setzt, so erscheint diese gleichsam nur zu ohnmächtig, die Forderungen jener zu befriedigen; deshalb aber können diese Forderungen selbst nicht als beseitigt angesehen werden, ihr Inhalt erhält vielmehr dadurch nur den Charakter des Glaubens, statt des Wissens und Erkennens.

Was nun zunächst das dogmatische Element in KANT anbelangt, so mußte er gewisse Sätze des bisherigen Dogmatismus aufnehmen und zu Ausgangspunkten seiner Kritik machen. Denn es liegt, wie schon angedeutet, im Wesen des Kritizismus, daß er nicht nur ein Erkennen der menschlichen Geistestätigkeit, sondern auch einen Begriff des Erkennens selbst voraussetzen muß, weil nur unter dieser Voraussetzung der Bildungsprozeß des Bewußtseins und das menschliche Erkenntnisvermögen nach Bereich, Inhalt und Form sich untersuchen läßt, oder weil die Frage nach dem menschlichen Erkenntnisvermögen Eins ist mit der Frage nach dem Verhältnis des menschlichen Erkennens zum allgemeinen Begriff des Erkennens überhaupt, - ein Verhältnis, das wiederum nur durch das Verhältnis des menschlichen Erkenntnisvermögens zu den Gegenständen der Erkenntnis bestimmt werden kann. Indem KANT das berühmte Problem aufgeworfen hat:
    "Ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik besser fortkommen würden, wenn wir nicht wie bisher, annehmen, unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, sondern umgekehrt, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten." (Kr. d. r. V., 7. Auflage, 1828, Vorrede, Seite XV);
so machte er in der Tat jenes Verhältnis zum Hauptgegenstand seiner Untersuchung. Konsequenterweise setzt er daher gewisse allgemeine Bestimmungen der menschlichen Natur in Beziehung auf den Begriff des Erkennens, unter die Prämissen seiner Kritik. Er beginnt sein Werk sogleich mit dem Satz:
    "Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt." (Kr. d. r. V., Seite 1)
Er schreitet aber auch sogleich weiter fort zu HUMEs Satz:
    "Erfahrung lehrt uns zwar, daß etwas so oder so beschaffen ist, aber nicht, daß es nicht anders sein kann." (a. a. O., Seite 3)
Auch dies wird als gewiß und unbestreitbar vorausgesetzt, und daraus unmittelbar gefolgert:
    1) findet sich ein Satz, der zugleich mit seiner Notwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Urteil a priori. Und

    2) wird ein Urteil in strenger Allgemeinheit gedacht, d. h. so, daß gar keine Ausnahme als möglich verstattet wird, so ist es nicht von der Erfahrung abgeleitet, sondern schlechterdings a priori gültig.
Daß es nun dergleichen notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, folglich reine Urteil a priori gibt, zeigt KANT teils aus Beispielen der Mathematik, teils aus "dem gemeinsten Verstandesgebrauch", der z. B. den Satz, "daß alle Veränderung eine Ursache haben muß", mit dem vollen Bewußtsein seiner notwendigen und allgemeinen Gültigkeit täglich anwendet. Auch wäre ja die Erfahrung selbst ohne alle Gewißheit, "wenn die Regeln, nach denen sie fortgeht, immer wieder empirisch, folglich zufällig wären", womit die Unentbehrlichkeit reiner Grundsätze a priori zur Möglichkeit der Erfahrung selbst a priori dargetan ist. (a. a. O. Seite 4)

Danach bestimmt er diese "Erkenntnisse a priori", in deren "Besitz" wir und befinden, näher, indem er zwischen analytischen und synthetischen Urteilen a priori unterscheidet, ein Unterschied, der die Basis seiner ganzen weiteren Untersuchung bildet. Unter jenen versteht er alle Urteile, in denen das Prädikat nichts mehr enthält, als im Begriff des Subjekts bereit gegeben ist, oder "in welchen die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt durch Identität gedacht wird. Synthetische Urteile dagegen sind ihm solche,
    "in denen das Prädikat ganz außerhalb des Begriffs des Subjekts liegt, obwohl es mit demselben in Verknüpfung steht, oder in welchen diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird." (Kr. d. r. V., Seite 8)
Endlich zeigt KANT, "daß in allen theoretischen Wissenschaften synthetische Urteile a priori als Prinzipien enthalten sind", namentlich in der Mathematik (deren Urteile insgesamt synthetisch sind), in der Naturwissenschaft, wie insbesondere in der Metaphysik (a. a. O., Seite 11f). Auch der gemeine Verstandesgebrauch hat seine synthetischen Urteile a priori, wie das schon angeführte Beispiel beweist.

Dies sind die Prämissen, die KANT seiner Hauptuntersuchung: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich, vorausschickt; von ihnen aus kommt er erst zu diesem Problem.

Es fragt sich daher zunächst, wie kommt KANT zu diesen Prämissen? Er selbst bezieht sich weder auf LOCKE noch auf HUME noch auf irgendeine andere vorangegangene Philosophie. Sie scheinen ihm also tatsächlich festzustehen, wie er dann in Beziehung auf den Unterschied zwischen aposteriorischen und apriorischen Erkenntnissen ausdrücklich erklärt: er wolle, obwohl die Unentbehrlichkeit der letzteren für die Erfahrung sich a priori beweisen läßt, sich damit begnügen, "den reinen Gebrauch unseres Erkenntnisvermögens als Tatsache samt den Kennzeichen desselben dargelegt zu haben" (Kr. d. r. V. , Seite 4) Es steht ihm also tatsächlich fest, daß all unser Erkennen mit der Erfahrung anfängt, und diese von der Affektion der Sinne durch die Gegenstände ausgeht; es steht ihm ebenso tatsächlich fest, daß alles aposteriorische Erkennen keinen Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeinheit seines Inhalts hat, diese vielmehr nur den apriorischen Erkenntnissen, d. h. "einer von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängigen Erkenntnis" zukommt. Woher weiß nun aber KANT von diesen Tatsachen? Woher haben sie ihre Gewißheit und Allgemeingültigkeit? Daß unser Erkennen von der Erfahrung und diese von der Sinnesaffektion ausgeht, läßt sich nicht selbst wieder durch äußere sinnliche Erfahrung erkennen. Ebensowenig weiß die Erfahrung als solche etwas davon, daß sie selbst ohne Notwendigkeit und Allgemeinheit ihres Inhalts ist; und noch weniger können wir unseren Besitz apriorischer Erkenntnisse erfahren, sinnlich wahrnehmen. Auch stehen all diese Tatsachen keineswegs a priori fest. Denn nach KANT selbst kann durch reine apriorische Sätze schlechthin nichts über das reale, tatsächliche Dasein ausgesagt werden. LOCKE rechnete die Erkenntnis der Tatsachen des Bewußtseins, das Wahrnehmen derselben mittels des inneren Sinnes, das Beobachten der geistigen Operationen, ebenfalls zur Erfahrung und nach seiner Auffassung ist es in der Tat nichts anderes als innere Erfahrung. Wollte aber KANT jene Tatsachen ebenfalls auf diese innere Erfahrung stützen, so würden sie nach seiner eigenen Begrifsbestimmung durchaus ohne alle Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, folglich ohne alle philosophische Berechtigung sein. Nach KANTs eigenen Behauptungen können folglich jene Tatsachen, auf denen seine ganze Philosophie ruht, als Tatsachen nicht apriorisch, als apriorisch nicht Tatsachen sein.

In der Tat kann KANT diesem Dilemma nicht entgehen: entweder muß er der inneren Erfahrung eine Notwendigkeit und Allgemeinheit des Inhalts beimessen, die er der Erfahrung überhaupt abspricht; oder er muß jene Tatsachen auf apriorische Erkenntnis basieren, und damit aufgrund rein apriorischer Sätze ein reales, tatsächliches Dasein behaupten, - womit er wiederum sich selbst widerspricht. Bei näherer Betrachtung zeigt sich dann auch, daß KANT diesen Widerspruch wirklich begeht. Denn wenn er, um seine erste Prämisse zu fundieren, frägt:
    "Wodurch sollte unser Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung geweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren", etc.,
so stützt er seinen Satz, daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, in Wahrheit auf die Notwendigkeit, daß unser Erkenntnisvermögen zur Ausübung erweckt werden muß. Diese Notwendigkeit ist aber eine Denknotwendigkeit und geht auf den allgemeinen Gedanken zurück, daß jede Wirkung ihre Ursache, jede Tätigkeit ihren Anstoß haben muß (2). Jene erste Prämisse ist also im Grunde keine Tatsache der (inneren) Erfahrung, sondern ein apriorischer Satz, ein Resultat des Denkens und ihm immanenten Denknotwendigkeit. Seine zweite Prämisse, daß wir im Besitz apriorischer Erkenntnis sind, folgert er aus der ersten, indem er dartut, daß ohne solche Erkenntnisse die Erfahrung selbst unmöglich ist. Da aber alles Folgern, Schließen, Beweisen, nur eine Entwicklung der Denknotwendigkeit und der Satz, aus dem gefolgert wird, ein apriorischer ist, so beruth die zweite Prämisse auf derselben Denknotwendigkeit, aus der die erste so wie die einzelnen apriorischen Erkenntnisse überhaupt abfließen. Denn die Notwendigkeit und Allgemeinheit der letzteren kann wiederum nur die allgemeine Denknotwendigkeit sein, d. h. sie können nur als Momente, Ausdrücke, Manifestationen der Denknotwendigkeit gefaßt werden, was KANT auch selbst ausspricht, wenn er seine apriorischen Erkenntnisse als Sätze oder Urteile bezeichnet, die mit strenger Denknotwendigkeit und Allgemeinheit gedacht werden.

Haben nun also KANTs Prämissen das Denken und die ihm immanente Denknotwendigkeit zur Voraussetzung, sind sie rein apriorisch, und sollen sie dennoch tatsächlich, objektiv gewiß, ansich wirklich sein, so folgt von selbst, daß KANT dem rein Apriorischen, Denknotwendigen nicht ohne weiteres die ansich seiende Objektivität und Realität absprechen darf. Eben damit aber folgt weiter von selbst, daß er nicht von jenen Prämissen, sondern von dieser allgemeinen Denknotwendigkeit hätte ausgehen müssen. Ohne die Voraussetzung derselben ist seine ganze Philosophie grund- und haltlos.

Der Kritizismus, statt auf dem primären, ursprünglichen Prinzip seiner selbst zu stehen, hat sonach gleich allen bisher betrachteten Systemen, in Wahrheit nur sekundäre, abgeleitete Prämissen zu seiner Basis. - Wären jedoch letztere in jenem wahrhaft gegründet, so würde er immerhin auf die Wahrheit seiner Behauptungen vollen Anspruch haben. Allein auch in dieser Beziehung hält er die Prüfung der Kritik nicht aus.

Zunächst nämlich ist der Anfang unseres Erkennens ebenso sehr das Denken oder die geistige Tätigkeit als die Erfahrung oder die Sinnesaffektion. Denn die Sinne sind nicht bloß physische, sondern auch psychiches Organe, und die Seele ist nicht bloß mittels ihrer, sondern auch in ihnen tätig, d. h. die Sinne werden von den Gegenständen nicht bloß passiv affiziert (wie etwa der Spiegel vom Licht), sondern sie oder vielmehr die Seele in ihnen bringt zugleich selbsttätig die Affektion hervor: nur mittels dieses Zusammentreffens zweier unterschiedener Tätigkeiten kann die Sinnesaffektion zur Anschauung, Wahrnehmung werden. Diese Produktivität der Seele in den Sinnen ist die äußerste, in das Physische übergehende Tätigkeit des Geistes oder das Denken in der Form der Sinnlichkeit. Was also KANT durch die Beantwortung seiner Hauptfrage (wie sind synthetische Urteile a priori möglich?) erst zusammenbringen will, das aktive Denken mit seinen ihm selbst immanenten apriorischen Erkenntnissen und die sogenannte Erfahrung mit ihren Sinnesaffektionen, das ist schon so beisammen, daß dessen Einigung die Voraussetzung nicht nur für die Möglichkeit des Denkens und der Erfahrung, sondern schon für die Möglichkeit jeder einzelnen sinnlichen Anschauung ist.

Demnächst 2) ist das Einzelne und Zufällige, das nach KANT den ausschließlichen Inhalt der bloß empirischen Erkenntnis bildet, in Wahrheit nicht ohne das Allgemeine und Notwendige empirisch zu erkennen. Denn das Einzelne ist nur Einzelnes im Gegensatz zum Allgemeinen, das Zufällige nur zufällig im Gegensatz zum Notwendigen. Das Einzelne, Zufällige kann also auch nur als Einzelnes, Zufälliges wahrgenommen werden, sofern es als unterschieden vom Allgemeinen und Notwendigen, oder sofern der Unterschied des Einen vom Andern wahrgenommen wird. Im wahrgenommenen Unterschied sind aber notwendig beide Unterschiedenen gleichmäßig wahrgenommen. Entweder also muß gesagt werden, daß die sinnliche Wahrnehmung als solche ebensowenig das Einzelne und Zufällige als solche ebensowenig das Einzelne und Zufällige als das Allgemeine und Notwendige wahrnimmt, dieser Unterschied vielmehr jenseits aller Erfahrung liegt (- womit als Inhalt der Erfahrung die Indifferenz des Einzelnen und Allgemeinen, Zufälligen und Notwendigen bestimmt wäre -). Oder es muß behauptet werden, daß die Erfahrung eben sowohl das Allgemeine und Notwendige, als das Einzelne und Zufällige erfährt. In der Tat ist die Erfahrung als bloße sinnliche Perzeption ganz gleichgültig gegen das Zufällige und Einzelne wie gegen das Notwendige und Allgemeine. Es ist nur die Reflexion, d. h. die Perzeption mit dem Denken zusammen, die diesen Unterschied ausmacht, die aber auch bei näherer Betrachtung leicht erkennt, daß die empirisch gewonnenen Anschauungen und Vorstellungen das Allgemeine und damit das Notwendige mit enthalten, mit ausdrücken.

In Wahrheit ist daher 3) KANTs sogenannte apriorische Erkenntnis der aposteriorischen gar nicht so schroff entgegengesetzt: beide sind eben so sehr Eins wie sie unterschieden sind, oder vielmehr es gibt nur eine Erkenntnis, die auf dem Denken und der Denknotwendigkeit basiert und kraft dieser sich als die konkrete Identität des Apriorischen und Aposteriorischen, des Idealismus und Realismus ausweist. Denn worin die wahre, allgemeine Natur des menschlichen Erkennens besteht, kann nur die Denknotwendigkeit bestimmen, und nur das ist wahrhaft erkannt, was sich durch die Denknotwendigkeit als notwendig erweisen läßt. Letztere entwickelt sich zwar nur mit der Erfahrung zusammen, umfaßt aber sowohl die Erfahrung selbst als deren Inhalt, d. h. philosophisch kann von Erfahrung und Erfahrungserkenntnissen nur die Rede sein, sofern es durch die Denknotwendigkeit feststeht, daß zum menschlichen Erkennen notwendig die Erfahrung gehört, und ihrem Inhalt Wahrheit zukommt.

Der Mensch weiß in der Tat nichts a priori ohne die Erfahrung, und erfährt nichts ohne ein apriorisches Wissen. KANT sagt zwar:
    "Daß ein Körper ausgedehnt ist, ist ein Satz, der a priori feststeht [= ein analytisches Urteil a priori] und keine Erfahrungsurteil. Denn ehe ich zur Erfahrung gehe, habe ich alle Bedingungen zu meinem Urteil schon in dem Begriff, aus welchem ich das Prädikat nach den Satz des Widerspruchs nur herausziehe, und dadurch zugleich der Notwendigkeit des Urteils mir bewußt werden kann, welche mich Erfahrung nicht einmal lehren würde." (Kr. d. r. V. Seite 9)
Allein soll ich danach den Begriff von "Körper" und "Ausgedehnt" nicht durch das Denken und die Erfahrung, sondern vor und ohne alle Erfahrung haben, so müßte der Begriff meinem Bewußtsein angeboren sein, und KANT widerspräche seiner eigenen Behauptung, daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt. Denn da ist kein Anfangen mit der Erfahrung, wo ich einen Begriff vor aller Erfahrung bereits besitze. Habe ich aber den Begriff eines Körpers nur aus dem Denken mit der Erfahrung zusammen, so kann ich auch die Gewißheit, daß alle Körper ausgedehnt sind, nur aus derselben Quelle haben. Denn daß im Begriff des Körpers unmittelbar das Prädikat der Ausdehnung enthalten ist (- worauf eben nach KANT die apriorische Erkenntnis, daß alle Körper notwendig ausgedehnt sind, beruth -), das kann ich nur eben daher wissen, von woher ich den Begriff selbst habe, d. h. aus dem Denken mit der Erfahrung zusammen. Aus derselben Quelle stammt der Ursatz aller sogenannten apriorischen Sätze, A = A oder der Satz des Widerspruchs. Denn den Begriff von A (von irgendetwas) wie den Begriff der Gleichheit gewinne ich in Wahrheit nur durch das Denken und die Erfahrung zusammen. Dasselbe gilt von allen rein apriorischen Erkenntnissen, d. h. von allen analytischen Urteilen a priori, und folglich noch weit mehr von allen synthetischen Urteilen a priori, die nach KANT selbst nur in Bezug auf eine mögliche Erfahrung gültig sind.

Damit verschwindet nun aber zugleich der kantische Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile a priori. In Wahrheit sind alle apriorischen Urteile analytisch; und sofern jeder Begriff, von dem etwas prädiziert wird, nur durch das Denken mit der Erfahrung zusammen gewonnen wird, können alle auch synthetisch, d. h. durch die Erfahrung vermittelt, genannt werden. Immer aber muß bei einem apriorischen Urteil das Prädikat im Subjektbegriff selbst enthalten sein oder sich aus ihm entwickeln lassen. KANT beruft sich für seine entgegengesetzte Behauptung zunächst auf das Beispiel der Mathematik, deren Urteile (mit Ausnahme der wenigen ersten Grundaxiome, wie A = A etc.) sämtlich synthetisch sein sollen. Als ein besonders schlagendes Beispiel führt er den Satz: 7 + 5 = 12 an. Dies soll scheinbar ein bloß analytisches Urteil sein.
    "Allein wenn man es näher betrachtet, so findet man, daß der Begriff der Summe von 7 und 12 nichts weiter enthält, als die Vereinigung beider Zahlen in eine einzige, wodurch ganz und gar nicht gedacht wird, welches diese einzige Zahl ist, die beide zusammenfaßt. Der Begriff von 12 ist keineswegs dadurch schon gedacht, daß ich mir jene Vereinigung von 7 und 5 denke, und ich mag meinen Begriff von einer solchen möglichen Summe noch so lange zergliedern, so werde ich doch darin die 12 nicht antreffen." (Kr. d. r. V., Seite 12)
Allein hierbei vergißt KANT offenbar, daß die Zahl 12 überhaupt nur das Zeichen der vollendeten Tätigkeit des Zählens bis 12 ist, oder daß ich nur weiß, was das Zeichen 12 heißt, wenn ich bis 12 gezählt habe. Ebenso sagen die Zeichen 7 + 5 nur aus, daß ich erst bis 7 und sodann noch um 5 weiter, d. h. im Ganzen bis 12 zählen soll; der Unterschied ist nur, daß ich im letzteren Fall mein Zählen teilen, und hinter 7 einen Einschnitt machen, in jenem Fall dagegen kontinuierlich bis 12 fortzählen soll. Der Satz: 7 + 5 = 12 ist also in der Tat rein rein analytisches Urteil, ganz gleichbedeutend mit 12 = 12 (a = a). Denn es liegt eben im Begriff der Zahl (des reinen Quantums), daß ich sie beliebig teilen und die Teile wieder zusammenfügen kann, ohne daß sich das Resultat ändert. -
    "Daß die gerade Linie", fährt Kant fort, " zwischen zwei Punkten die kürzeste ist, ist ein synthetischer Satz. Denn mein Begriff vom Geraden enthält nichts von Größe, sondern nur eine Qualität. Der Begriff des Kürzesten kommt also gänzlich hinzu, und kann durch keine Zergliederung aus dem Begriff der geraden Linie gezogen werden. Anschauung muß also hier zu Hilfe genommen werden, mittels deren allein die Synthesis möglich ist."
Allein in diesem Raisonnement [Argumentation - wp] sind zwei evidente Irrtümer enthalten. Denn 1) ist der Satz: die gerade Linie ist die kürzeste zwischen zwei Punkten, in dieser Fassung falsch. Es muß vielmehr heißen: die durch zwei bestimmte Punkte begrenzte gerade Linie ist die kürzeste zwischen diesen Punkten. Denn die gerade Linie ansich als solche ist unendlich, unbegrenzt, uhnd kann also weder lang noch kurz noch die kürzeste genannt werden, weil diese Bestimmungen eine bestimmte Begrenzung voraussetzen. Ist aber nur die durch zwei bestimmte Punkte (d. h. Grenzen) begrenzte gerade Linie die kürzeste, so ist der Satz in dieser richtigen Fassung offenbar nur ein analytisches Urteil. Denn im Begriff der Begrenzung liegt bereits der Begriff der Kürze: alles bestimmt Begrenzte ist als solches kurz, weil mit der bestimmten Begrenzung der Begriff der Quantität und damit unterschiedener Quanta, d. h. der Begriff von Groß und Klein, Lang und Kurz, unmittelbar gegeben ist. Die bestimmt begrenzte gerade Linie ist also als solche, ihrem Begriff nach, eine kurze Linie, d. h. ich muß, wenn ich mir eine solche Linie vollständig denke, den Begriff der Kürze mit denken, oder sie selbst als kurze Linie im Unterschied von anderen längeren Linien denken. Denn im Begriff der bestimmten Begrenztheit, d. h. des bestimmten Quantums, liegt unmittelbar die Beziehung auf andere Quanta, weil die bestimmte Begrenzung nur durch diese Beziehung eine bestimmte ist, d. h. im Begriff der bestimmten Begrenztheit liegt bereits die Komparation [Vergleich - wp], - das Kurze ist nur kurz, indem es kürzer ist als ein anderes (längeres), - und im Begriff des Komparativs liegt wiederum unmittelbar der Superlativ, d. h. unter mehreren verschieden bestimmten Quantis, die sich als solche notwendig komparativ aufeinander beziehen, muß infolge dieser komparativen Bezüglichkeit Eines notwendig das Kürzeste sein. Es muß also - dies liegt unmittelbar im Begriff der bestimmten Begrenzung - eine kürzeste Linie zwischen zwei bestimmten Grenzpunkten gehen. Dies allein ist es, was unser Satz aussagt, d. h. seine richtige Fassung ist: Zwischen zwei bestimmten Punkten muß es notwendig unter allen möglichen Verbindungslinien eine kürzeste geben, und diese nenne ich gerade. So gefaßt ist er ein rein analytisches Urteil. Denn der (mathematische) Ausdruck "Gerade" hat keineswegs die Bedeutung einer qualitativen, sondern einer rein quantitativen Bestimmung. Und darin liegt der zweite Irrtum KANTs. "Gerade" uns sein Gegensatz "Krumm" beziehen sich auf die äußersten Umrisse der Dinge, d. h. auf die Grenzen ihrer Gestalt; sie sind nicht Bestimmungen der Dinge selbst, sondern Bestimmungen ihrer Grenzen. Die bestimmte Begrenzung eines Dings ist aber seine Quantitätsbestimmung, Bestimmung seiner Extension. "Gerade", als Bestimmung der Extension eines bestimmten Dings, hat nur die Bedeutung, daß dieses Ding, sofern es gerade ist, zwischen zwei bestimmten Punkten seiner Begrenzung die geringste (kürzeste) Ausdehnung einnimmt; Krumm dagegen, daß das Ding nicht die geringste, sondern eine größere, weitere Ausdehnung hat. "Gerade" ist daher nur der bestimmte Ausdruck für den Begriff der reinen, abstrakten Kürze. Kann aber sonach die Geradheit nicht als Qualitätsbestimmung betrachtet werden, so fällt aller Grund weg, den obigen mathematischen Satz für ein synthetisches Urteil a priori zu erklären. - Ebenso endlich, - um noch ein von KANT angeführtes Beispiel näher zu beleuchten, - ist der Satz: nur durch 3 sich schneidende Linien ist ein Flächenraum vollständig begrenzt, ein rein analytisches Urteil; denn er folgt unmittelbar aus dem Begriff des Flächenraums. Die Fläche hat ihrem Begriff nach zwei entgegengesetzte Dimensionen (Länge und Breite), die als entgegengesetzt sich notwendig schneiden, und sich jenseits und diesseits ihres Schneidepunkts ins Grenzenlose ausdehnen. Soll also die Fläche begrenzt werden, so kann dies nur geschehen durch die Begrenzung ihrer beiden entgegengesetzten Dimensionen. Mit dem Setzen der Grenzpunkte in beiden ist aber eine neue Linie gesetzt, welche die beiden Dimensionen schneidet, d. h. geht jede der beiden Dimensionen von ihrem Schneidepunkt aus nur bis zu dem bestimmten Grenzpunkt, so ist mit der damit schon vollendeten Begrenzung der Fläche notwendig eine dritte Grenzlinie gegeben, und ohne diese dritte Grenzlinie ist die Begrenzung unmöglich. -

Eine andere Frage ist freilich, wo der Begriff des Flächenraums selbst und der seiner Dimensionen herkommt, und ob er ein Begriff oder eine reine Anschauung ist. wenn er aber einmal gegeben ist, so liegt die Bestimmung, daß er nur durch mindestens 3 Linien vollständig zu begrenzen ist, unmittelbar in ihm selbst. -

Aus dem Gebiet der Physik beruft sich KANT besonders auf den Satz: "Alle Körper sind teilbar." Allein wenn nach KANT selbst die Ausdehnung unmittelbar zum Begriff des Körpers gehört, und, daß ein Körper ausgedehnt ist, ein rein analytisches Urteil ist (Kr. d. r. V., Seite 9), so ist auch jener Satz offenbar nur ein analytisches Urteil. Denn mit der Bestimmung der Ausdehnung ist zugleich die Quantitätsbestimmung gegeben: jeder ausgedehnte Körper ist ein extensives Quantum. Jedes Quantum aber - dies liegt wieder unmittelbar im Begriff der Quantität - ist als solches gleichgültig gegen seine Bestimmtheit. Es bleibt folglich Quantum, möge auch seine bestimmte Größe noch so mannigfaltig verändert, d. h. möge zu ihr beliebig zugesetzt oder abgenommen werden. Zusetzen und Abnehmen aber ist Teilen. Jeder Körper also, sofern er ausgedehnt ist, ist notwendig teilbar: das liegt unmittelbar im Begriff der Extension, und ist folglich ein rein analytisches Urteil. - Dasselbe würde sich leicht von allen Sätzen des sogenannten "reinen Teils der Naturwissenschaft" zeigen lassen.

Doch lassen wir die Mathematik und Physik, und halten uns an die Metaphysik, d. h. an die Philosophie! Auch hier sieht KANT lauter synthetische Urteile a priori, und beruft sich zunächst, um nur die Tatsache festzustellen, insbesondere auf den Satz: "jede Veränderung", - oder wie er sich auch ausdrückt, - "Alles was geschieht, muß eine Ursache haben." (Kr. d. r. V., Seite 10). Allein näher zugesehen, ist auch dieser Satz offenbar nur ein analytisches Urteil a priori. Denn zunächst heißt "Alles was geschieht" nur so viel wie: jedes geschehende, entstehende, anfangende Etwas oder Ding, und ebenso "alle Veränderung" nur soviel als: jedes sich verändernde Ding. Da es nun im Begriff jedes entstehenden, anfangenden Dings liegt, eine Ursache zu haben, ist bereits oben in der Kritik von HUMEs Skeptizismus beiläufig gezeigt worden. Jede Veränderung aber ist ein Anderswerden, das Entstehen eines Anderen, hat folglich einen Anfang, und involviert folglich begrifflich ebenfalls die Notwendigkeit, eine Ursache zu haben. Außerdem liegt es unmittelbar im Begriff des Dings, daß es qualitativ und quantitativ bestimmt, und damit von anderen Dingen unterschieden ist. Denn seine Bestimmtheit ist nur seine Unterschiedenheit von anderen, und das schlechthin unbestimmte Ding wäre vielmehr das reine (unmittelbare, einfache) Sein. Von letzterem aber gilt der Satz der Kausalität nicht. Denn hätte das reine Sein, das Sein schlechthin, auch noch eine Ursache, so wäre damit ein Sein vor dem Sein oder als Voraussetzung des Seins behauptet, was eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] ist (das Sein als solches kann nur seine eigene Ursache, causa sui sein). Der Satz der Kausalität im kantischen Sinn gilt also nur von der Mannigfaltigkeit der qualitativ und quantitativ bestimmten Dinge. In dieser Bestimmtheit ist jedes Ding zugleich qualitativ und quantitativ begrenzt (endlich). Denn die qualitative und quantitative Unendlichkeit wäre wiederum das Sein selbst als Substanz, von der der Satz der Kausalität ebensowenig gilt wie vom reinen Sein. Jedes qualitativ und quantitativ begrenzte Ding ist aber nicht bloß in und ansich begrenzt, sondern notwendig durch Anderes begrenzt, d. h. jedes begrenzte Ding hört qualitativ und quantitativ da auf, wo das Andere anfängt. Danach aber ist die Begrenzung der Dinge durcheinander zugleich ihr Übergehen ineinander. Denn indem das Eine da aufhört, wo das Andere anfängt, so fällt das Ende des Einen mit dem Anfag des Anderen in Eins zusammen, d. h. A geht notwendig in B über oder vermittelt sich mit B. Eben damit aber wird A mittels des von ihm verschiedenen B, und B mittels A, selbst ein Anderes: Jedes verändert sich notwendig mittels des Anderen - beide sind sich gegenseitig Ursache und Wirkung. Liegt es also unmittelbar im Begriff des Dings, daß es qualitativ und quantitativ bestimmt und damit begrenzt und damit veränderlich ist, so liegt es eben so unmittelbar in demselben Begriff, nicht nur daß dieses Anderswerden, sondern auch daß jedes Ding selbst nur mittels eines anderen (und näher, mittels aller anderen) Ding ist, d. h. daß nicht nur jede Veränderung, sondern auch jedes Ding selbst eine Ursache haben muß. - Wird also der Begriff des Dings nur in seiner Vollständigkeit und Wahrheit gedacht, so ist der Satz der Kausalität unmittelbar in diesem Begriff enthalten, d. h. er ist ein rein analytisches Urteil. (3)

In der Tat leuchtet ganz von selbst ein, daß in jedem Urteil, in welchem ein Prädikat a priori, d. h. mit Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, von einem Subjekt ausgesagt wird, dieses Prädikat auch notwendig und wesentlich zum Begriff des Subjekts gehören muß, d. h. nur ein notwendiges, wesentliches, immanentes, untrennbares Moment des Begriffs selbst sein kann, und also, wenn der Begriff nur in seiner Vollständigkeit bestimmt und klar gedacht wird, in ihm unmittelbar mit gedacht werden muß. Denn wäre das Prädikat nicht ein wesentliches, immanentes Moment des Begriffs, so wäre es auch nicht innerlich, wesentlich, sondern nur äußerlich mit ihm "verknüpft", d. h. das Prädikat könnte nur von außen, aus dem Gebiet der Erfahrung, zum Subjekt hinzutreten, wäre nicht im Begriff, sondern nur in der sinnlichen Anschauung mit ihm verknüpft. Eine solche Verknüpfung aber könnte nach KANT selbst nimmermehr eine apriorische, notwendige, allgemeingültige sein. Denn sie würde nicht dem Verstand (dem Vermögen der Begriffe, - dem Denken), sondern nur der Sinnlichkeit an, die ja nach KANT nichts von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit weiß. Synthetische Urteile a priori wären also, nach KANTs eigenen Prämissen, von vornherein unmöglich, und seine Hauptfrage nach der Möglichkeit derselben wäre ein Widerspruch gegen seine eigenen Grundvoraussetzungen.

KANTs unwahre, jedenfalls aber unnütze Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen a priori hat den Gang seiner Untersuchung nur verwirrt und erschwert. Seine Hauptfrage ließ sich weit einfacher ohne diese Unterscheidung stellen und lösen. Denn seine eigentliche Frage ist: "Wie können sich überhaupt Urteil a priori, notwendige, allgemeine Verstandessätze, auf Gegenstände der sinnlichen Anschauung, d. h. auf Erscheinungen (im kantischen Sinn) beziehen und objektive Gültigkeit haben? da doch die sinnliche Anschauung vom Notwendigen und Allgemeinen nichts weiß, sondern nur Einzelnes und Zufälliges zu ihrem Inhalt hat. Dieses Problem löst er, indem er zeigt, daß die reinen apriorischen Verstandesurteile die subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung wie überhaupt der Erfahrung sind, ohne die wir schlechthin nichts anschauen und erfahren würden, also Bedingungen der Erscheinung selbst, von denen die Dinge als erscheinende notwendig abhängen, weil sie nur mittels derselben erscheinen, d. h. für uns sind, uns zu Bewußtsein kommen und unser Bewußtsein selbst möglich machen. Damit zeigt er zugleich, daß in der Tat die Gegenstände, d. h. die Erscheinungen, sich nach unserer Erkenntnis richten müssen, und nicht, wie bis dahin angenommen wurde, umgekehrt unsere Erkenntnis nach den Gegenständen. Mit einem Wort: KANTs Absicht geht zunächst darauf aus, die beiden Haupterkenntnisquellen die er prinzipiell voraussetzt, miteinander zu vermitteln, und damit der apriorischen Verstandeserkenntnis zu objektiver Bedeutung, der aposteriorischen Sinneserkenntnis zur Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ihres Inhalts zu verhelfen.

Seine Lösung wie die ganze Behandlung der Frage hat einen bleibenden Wert, und beweist das große philosophische Genie KANTs, weil sie von dem Standpunkt, den KANT einnimmt, d. h. vom Standpunkt des gemeinen Bewußtseins (sofern dasselbe ebenfalls vom Sensualismus ausgeht), die einzig mögliche Lösung ist. Nur das Eine ist KANT zum Vorwurf zu machen, daß er von vornherein nicht noch einen Schritt weiter oder noch eine Stufe tiefer hinab gestiegen ist und anstatt zu fragen: wie sind synthetische Urteile a priori möglich, nicht vielmehr gefragt hat: "Wie kommen wir überhaupt sowohl zu den apriorischen, reinen, allgemeinen Verstandesbegriffen, wie zu den sogenannten aposteriorischen Erkenntnissen, zur sinnlichen Wahrnehmung, Anschauung, Vorstellung? Diese Frage würde ihn weiter zu einer tiefergehenden Erörterung der Begriffe des Allgemeinen und Besonderen, des Notwendigen und Zufälligen, und zuletzt zu der Kontroverse der mittelalterlichen Nominalisten und Realisten geführt haben, d. h. zu der Frage: ob und wiefern das Allgemeine (Notwendige) überhaupt objektive Bedeutung (Realität) hat?

Jene beiden Fragen aber mußte KANT notwendig aufwerfen und zuvor beantworten, weil ja jedes Urteil auf den Begriffen des in ihm verknüpften Subjekts und Prädikats beruth, folglich jedes apriorische Urteil nur dadurch apriorisch ist, daß der Begriff des Subjekts mit dem Begriff des Prädikats, der Natur dieser Begriff gemäß, notwendig und allgemein verknüpft werden muß, und also kein apriorisches Urteil objektive Bedeutung und Gültigkeit haben kann, wenn nicht den Begriffen des in ihm verknüpften Subjekts und Prädikats objektive Bedeutung zukommt.

Hätte KANT jene Frage nach den apriorischen Begriffen und nach der Genesis [Entstehung - wp] der sinnlichen Anschauung als Grundfrage in den Vordergrund gestellt, so würde sich in derselben Art wie bei der Frage nach den apriorischen Urteilen, ja noch klarer und bündiger, haben zeigen lassen, daß die reinen allgemeinen Verstandesbegriffe (die Kategorien: Sein, Werden, Dasein, Qualität, Quantität, Etwas, Ding etc.) die subjektive conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] aller empirischen Erkenntnis sind, und daß also, wenn der Erfahrung irgendein objektive Bedeutung zukommen soll, dieselbe Bedeutung auch jenen reinen Verstandesbegriffen beigemessen werden muß. Daraus würde von sich von selbst ergeben haben, daß auch die apriorischen Urteile, die mit jenen allgemeinen Verstandesbegriffen unmittelbar gegeben sind, dieselbe objektive Gültigkeit haben müssen. In der Tat leuchtet ganz von selbst ein, daß ich z. B. dieses bestimmte Ding mit diesen bestimmten Eigenschaften etc. gar nicht als Ding wahrnehmen und vorstellen könnte, wenn mir nicht schon der allgemeine Begriff des Dings im Bewußtsein läge, oder doch zugleich mit der Anschauung (nicht erst durch sie) zu Bewußtsein käme. Dieser Allgemeinbegriff kann nicht erst durch den Verstand von der Vorstellung der einzelnen konkreten Dinge als der Inbegriff ihrer gemeinsamen Merkmale abstrahiert sein. Denn um die Dinge nur vergleichen zu können, muß ich zuvor schon das Bewußtsein ihrer Vergleichbarkeit und Bezüglichkeit aufeinander, d. h. ihrer gleichen, ihnen gemeinsamen Dingheit haben; und um das Identische, Gemeinsame (Allgemeine) an ihnen finden zu können, muß in meinem Denken schon der Begriff des Allgemeinen und zwar insbesondere des dinglich-Allgemeinen, d. h. der allgemeine Begriff des Dings überhaupt vorhanden sein (4). Umgekehrt aber ist es ebenso unmöglich, zu den allgemeinen Verstandesbegriffen zu kommen ohne die sinnliche Anschauung des Einzelnen und Besonderen. Denn das Allgemeine ist eben nur das in den von ihm verschiedenen Einzelnen mit sich Identische; ohne das Einzelne also schlechthin Nichts, undenkbar: es kann nur gedacht werden in Bezug auf das Einzelne, entweder (konkret) als mit ihm vermittelt, oder (abstrakt) als von ihm unterschieden, immer also nur mit dem Einzelnen zusammen. -

Mit anderen Worten: es liegt im menschlichen Geist, in der Entwicklung des menschlichen Denkens, daß die a priori oder ansich (potentia) in ihm vorhandenen allgemeinen Begriff erst von ihm entwickelt, (actu) gebildet werden müssen, womit sie erst zu Bewußtsein kommen, und dies geschieht nur mit der konkreten sinnlichen Anschauung oder mit der Erfahrung zusammen. Und umgekehrt kann es die Sinnlichkeit zu keinem Wissen oder Erkennen, zu keiner einzigen Wahrnehmung (Anschauung mit Bewußtsein) bringen als nur mit dem Denken zusammen, d. h. nur sofern zugleich mit den sinnlichen Anschauungen die reinen allgemeinen Verstandesbegriffe (wenn auch zunächst noch unbewußt) sich bilden. Der Satz: Nihil est in sensu, quod non antea fuerit in intellectu [Nichts ist in den Sinnen, was nicht vorher im Verstand war - wp], ist daher in Wahrheit ebenso wahr als der bekannte aristotelische Gegensatz: Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu [Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war. - wp], - d. h. die apriorische wie die aposteriorische Erkenntnis umfassen beide gleichmäßig die ganze Welt: all unser Wissen beruth gleichermaßen auf der apriorischen, im Denken immanenten allgemeinen Denknotwendigkeit wie auf der aposteriorischen, sinnlichen Anschauung und Erfahrung; es kommt nur im Zusammenwirken beider zustande; und daß es sich so verhält, ist selbst nur das Resultat dieses Zusammenwirkens, d. h. eine mit der Erfahrung zusammen gewonnene allgemeine Denknotwendigkeit. KANTs Hauptfehler besteht daher darin, daß er beide Seiten des Geistes anfänglich (prinzipiell) auseinanderreißt, und der Einen nur dieses, der andern ein anderes Gebiet angewiesen hat, oder gewisse Erkenntnisse nur a priori, andere dagegen nur a posteriori ableitet. Darum stellt er erstere als nur subjektive den letzteren als durch Objektivität vermittelten gegenüber. Und darum hat es nach ihm den Anschein, als sei das aposteriorische Erkenntnisvermögen oder die Sinnlichkeit anfänglich ohne alles Zutun des Verstandes oder des apriorischen Erkenntnisvermögens tätig (denn alle unsere Erkenntnis soll mit der Sinnlichkeit anfangen), und als bildeten sich andererseits die apriorischen, reinen und allgemeinen Verstandesbegriffe, wenn auch auf Veranlassung, doch ohne alles Zutun der Sinnlichkeit in und aus dem Verstand allein, d. h. als gingen Verstand und Sinnlichkeit jedes seinen eigenen Weg, und träten gleichsam nur willkürlich zusammen, wenn es zu einer wahren, vollen Erkenntnis kommen soll. In Wahrheit aber wirken beide immer und überall zusammen. In Wahrheit sind alle aposteriorischen Erkenntnisse ebensosehr die Bedingung der apriorischen, als umgekehrt diese Bedingung von jenen.

LITERATUR: Hermann Ulrici, Das Grundprinzip der Philosophie, 1. Teil, Leipzig 1845
    Anmerkungen
    1) Wahrscheinlich dürfte sogar Platos Unterscheidung zwischen Vorstellung und Wissen von Sokrates ausgegangen sein. Jedenfalls war es ein wesentlicher Zielpunkt seines Philosophierens, das Wissen vom Nichtwissen zu sondern, wie schon daraus hervorgeht, daß ihn nach seiner Meinung die Pythia nur darum für weiser als Andere erklärt hat, weil er sich nicht einbildet zu wissen, was er nicht weiß. Vgl. Schleiermacher, "Über den Wert der sokratischen Philosophie", in den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften, 1814, Bd. 15, Seite 45; Brandis, "Handbuch der Geschichte der griechisch-römischen Philosophie", Bd. II, 1., Seite 50.
    2) Der Satz der Kausalität ist zwar nach Kant ein synthetisches Urteil, das als Bedingung möglicher Erfahrung sich auf die Erfahrungswelt bezieht, und insoweit objektive Gültigkeit hat. Allein hier fällt diese Beziehung weg, hier erscheint der Satz rein apriorisch. Denn hier folgert Kant aus ihm erst die Notwendigkeit, daß es überhaupt eine Erfahrung gibt, und mit ihr unser Erkennen anfangen muß.
    3) Wenn Kant selbst (Kr. d. r. V., Seite 602) sagt: "Wir hatten in der transzentdentalen Analytik den Grundsatz: Alles was geschieht hat eine Ursache, aus der einzigen Bedingung der objektiven Möglichkeit eines Begriffs von dem, was überhaupt geschieht, gezogen: daß die Bestimmung einer Begebenheit in der Zeit, folglich diese Begebenheit als zur Erfahrung gehörig, ohne unter einer solchen dynamischen Regel zu stehen, unmöglich wäre", - d. h. wenn Kant selbst den Satz der Kausalität und seine objektive Gültigkeit nur dadurch beweist, daß er zeigt, wie es nur mittels desselben möglich ist, auf empirischem Weg zum Begriff des Geschehens überhaupt zu gelangen, und daß also, wenn wir den letzteren Begriff (durch Erfahrung) haben, wir notwendig auch jenen Satz als objektiv gültig annehmen müssen; - so leuchtet von selbst ein, daß auch umgekehrt aus dem Begriff des Geschehens der Satz der Kausalität von selbst folgen muß. Wäre also der allgemeine Begriff des Geschehens überhaupt ein apriorischer (eine reine Denknotwendigkeit), nicht aus der Erfahrung gezogen, sondern nur mittels derselben zu Bewußtsein gekommen; so wäre auch der Satz: alles Geschehen muß seine Ursache haben, kein synthetisches, sondern nur ein analytisches Urteil a priori, d. h. rein apriorisch, ohne Beziehung auf die Erfahrung und deren Möglichkeit gültig. Daß es nun aber in der Tat so ist, geht aus Kants eigener Definition hervor. Denn wenn der Satz der Kausalität die Voraussetzung und Bedingung ist, unter der wir allein zum Begriff des Geschehens gelangen können, und dieser Begriff gleichwohl den Satz der Kausalität involviert und empirisch darstellt; so haben wir in der Tat den Begriff des Geschehens nur unter der Form des Kausalitätsgesetzes, a priori in uns, und die sinnliche Wahrnehmung bringt denselben nur zu Bewußtsein. Der Satz der Kausalität ist nur der allgemeine, explizierte Begriff des Geschehens, und der Begriff des Geschehens (der Tätigkeit) nur der konkrete, noch unentwickelte Satz der Kausalität, - gerade so, wie der Satz: "Die Winkel des Dreiecks sind gleich 2 Rechten", nur der explizierte Begriff des Dreiecks selbst ist, indem damit eine Qualität, die im Begriff desselben implizit liegt, aber weil nur implizit, nicht wahrnehmbar ist, zu Bewußtsein gebracht wird.
    4) Ich empfinde z. B. daß dieses Ding hart ist, jenes auch, und ein drittes ebenfalls; und behaupte demnach, daß die Härte das allen dreien Gemeinsame, an ihnen Identische ist. Allein zu dieser Behauptung bin ich keineswegs durch die bloße sinnliche Empfindung gekommen. Empfunden habe ich bei allen dreien nur Hartes; daß ich damit in jedem Fall dasselbe empfunden habe, das sagt mir nicht die Empfindung, sondern das bemerke ich nur, sofern ich den allgemeinen Begriff der Identität bereits habe, oder sofern sich dieser Begriff unmittelbar zugleich mit der sinnliche Empfindung bildet, zu Bewußtsein kommt.