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Was uns Kant sein kann? - Eine Betrachtung zum Jubeljahr der Kritik der reinen Vernunft - [1/2]
I. Ansich wäre das eine ziemlich gleichgültige Sache; vielleicht sind sogar einige der Meinung, daß für die Philosophie selbst dieser Zustand der natürliche und förderlichste ist. Aber Eines ist nicht zu verkennen: daß die Anarchie innerhalb der Philosophie mit völliger Ohnmacht nach außen zusammenfällt. Im Jahrhundert ihrer monarchischen Verfassung war die Philosophie eine Macht in der Welt. FRIEDRICH und JOSEPH wollten sich als Ausführer ihrer Gedanken angesehen wissen. Jener schrieb 1740 an WOLFF, der ihm sein Naturrecht dediziert [gewidmet - wp] hatte:
Wo sind die Wirkungen der Philosophie im zuletzt vergangenen Menschenalter? In der Entwicklung der Wissenschaften, wo man sie zunächst suchen zu müssen scheint? Es dürfte einem künftigen Historiker schwer werden, ihre Spuren darin zu entdecken, es sei denn, daß er Verwahrungen gegen philosophische Einflüsse dafür nehmen will. Oder in der Gestaltung des öffentlichen Lebens? Nun, unsere Politiker, die regierenden und die nichtregierenden, beschäftigen sich mit vielen Dingen, wenn darunter auch die Philosophie wäre, könnte es in einer Zeit, wo regieren mit einem so großen Aufwand von öffentlichen Reden geschieht, schwerlich verborgen bleiben; doch ist bisher nichts davon bemerkt worden. Unsere gegenwärtigen Politiker rühmen sich, Realpolitiker zu sein. Vermutlich ist ihnen die Philosophie ihres Zeitalters nicht unter den Dingen vorgekommen, welche sie Realitäten nennen, sonst wäre sie ihrer Beachtung schwerlich entgangen. Oder ist die gegenwärtige Politik der Nichtintervention in philosophischen Dingen von der Einsicht eingegeben, daß die Staatsgewalt der Philosophie in ihrem Geschäft durch nichts förderlich sein kann, als durch Gewährenlassen? und nicht von der Erwägung, daß es sich nicht lohnt, sich um eine so geringfügige Sache zu bemühen? Was ist die Ursache dieser Lage der Philosophie? Und ist es die definitive? Hat Philosophie ihre Rolle ausgespielt? Vielleicht können wir eine Anleitung zur Beantwortung dieser Frage aus der Untersuchung gewinnen, worauf die Herrschaft jener früheren Philosophien begründet war. Ich meine nicht, eine neue Antwort zu geben, wenn ich sage: sie beruhte darauf, daß jene Systeme für die vielen und vereinzelten Bestrebungen der Zeit die einigende begriffliche Formel gegeben haben. Wie das Weltall nach der Vorstellung einiger alter Philosophen von Gott als dem Ziel bewegt wird, so wird ein Zeitalter von der Idee seiner vollkommenen Bildung wie von einem verborgenen Zielpunkt angezogen. Führer seines Zeitalters ist, wer diese Idee tiefer als die übrigen empfindet, kräftiger will, klarer erkennt und darstellt. Die wolffische Philosophie war in diesem Sinne Führerin ihrer Zeit. Eine völlig rationale Gestaltung der Weltanschauung und eine völlig rationale Gestaltung des praktischen Lebens, das war die Idee der Bildung, welche dem 18. Jahrhundert vorschwebte. Noch war die theoretische Welt voll von Irrationalitäten, welche aus der vorhergehenden Epoche stammten. Die Massen waren voll Aberglauben, die Wissenschaft auf ihrem eigenen Gebiet gehemmt und unfrei: aus einer Quelle von Wahrheiten, die formell nicht unter der Kontrolle der Vernunft, d. h. der freien wissenschaftlichen Forschung stand, schöpften durch Mittel der weltlichen Autorität geschützte Inhaber des Interpretationsrechts Erklärungen und Deutungen der Wirklichkeit, deren Anerkennung erzwungen wurde. Erst seit etwa einem Jahrhundert hatte sich die Wissenschaft ein kleines Gebiet zu freiem Besitz erobert, das Gebiet der mechanischen Physik. Die Form, in welcher sie dort die Tatsachen beherrschte, waren mathematisch formulierte, syllogistisch demonstrierte Gesetze. Derselben Gesetzmäßigkeit alle Tatsachen des materiellen und geistigen Daseins zu unterwerfen schwebte ihr nun als letztes Ziel vor. Nicht weniger war die praktische Welt voll von Irrationalitäten, welche nicht durch die Vernunft eingeführt oder doch längst von aller Vernunft entleert waren. Sie weigerten sich, der Vernunft Rede zu stehen und die verlangten zu gelten, weil sie da waren: der deutsche Staat ein absolut irrationales compositum von zufälligen Einzelrechten, privilegierte Stände, die nichts mehr leisteten, Zünfte, welche zu arbeiten verlernt hatten, Bauern, die nach uralten, unveränderlichen Gewohnheiten wirtschafteten, Gerichte, die alten Aberglauben zur Grundlage der Praxis hatten, eine Erziehung, die ganz im Mittelalter wurzelte. Von allen diesen Irrationalitäten strebte das Zeitalter sich loszumachen. Die wolffische Philosophie faßte alle seine Bestrebungen zusammen in die Maxime: nichts glauben und nichts tun ohne zureichenden Grund. Diese Formel, so dürr und dürftig sie uns vorkommen mag, wurde in jener Zeit das einigende Banner aller höheren Bestrebungen. Das war es, was man zuletzt wollte: die Vernunft soll Selbstherrscherin sein in allen Dingen, die blinden Tatsachen sollen ihr unterworfen werden. Wodurch war die kantische Philosophie ihrer Zeit Führerin? - Sie verwarf nicht die Idee des wolffischen Zeitalters. An der Selbstherrlichkeit der Vernunft hielt sie mit voller Zuversicht fest: es gibt keine Instanz im Himmel und auf Erden, welche in Sachen von wahr und unwahr für uns entscheiden könnte, als allein menschliche Vernunft, es gibt keine Instanz im Himmel und auf Erden, welche in Sachen von gut und böse für uns entscheiden könnte, als allein menschliche Vernunft. Aber sie vertiefte jene Idee. Die Rationalität, welche das wolffisches Zeitalter erstrebt hatte, war eine etwas allzu einfache. Die rationale Metaphysik, welche in der sogenannten natürlichen Theologie ihren Abschluß gefunden hatte, war doch etwas zu rational. Oder auch zu wenig, wie man will. Zu wenig, denn offenbar waren die Artikel der natürlichen Religion zuletzt nicht durch spontane Vernunftbetätigung erworben, sie waren vielmehr, historisch betrachtet, das Sublimat [sich niederschlagende Substanz - wp] der positiven Religion und blieben es trotz allen Demonstrierens. Das Demonstrieren wollte auch gar nicht recht an ihnen haften und der Vernunftglaube, so viel man davon redete, wollte nicht recht zu Kräften kommen. Aber andererseits waren sie freilich allzu rational. Eine unendlich oft unternommene und jetzt hinlänglich verhöhnte Theologie wurde nicht müde nachzuweisen, wie rational es bei der Weltschöpfung zugegangen ist: wie Gott den Plan erst wohl gefaßt, die Mittel überlegt und endlich alles ins Werk gesetzt hat, so daß nirgends zu viel, noch zu wenig; fast ganz so rational wie bei der Gründung einer Suppenanstalt oder einer Sparkasse. Und ebenso rational, wie in der Natur, schien es von jeher auch in der Menschenwelt hergegangen zu sein. Die Sprache hatten die Menschen erfunden, wohl einsehend, wie vorteilhaft es sein müßte, ein Mittel zu haben, sich ihre Absichten und Ansichten mitzuteilen. Ebenso das Recht und den Staat: in der vernünftigen Erwägung, daß Friede schließlich Allen nützlicher ist als Krieg, hatten sie von weisen Männern sich Gesetze geben lassen; hin und wieder hatten freilich auch Tyrannen aus Herrschsucht sich Herrschaften gegründet. Und nicht weniger rational waren die Religionen in die Welt gekommen: die wahren und guten von den großen Religionsstiftern, die falschen von listigen Betrügern eingeführt. Endlich hatte man auch die Kunst in ihren mannigfachen Formen zur Ergötzung und bequemeren Belehrung erfunden. Vernunft war das Formal- und Materialprinzip aller Wissenschaft des wolffischen Zeitalters: durch Vernunft konnten alle Dinge begriffen werden aus vernünftiger Absicht. Und durch vernünftige Absicht sollten nunmehr alle Dinge, soweit sie noch Mängel zeigen, ihre vollendete Gestalt erhalten: nach einem vernünftigen Entwurf gedachte man den vollkommenen Staat, die vollkommene Religion, vollkommene Kunstwerke, endlich vollkommene Menschen selbst hervorzubringen. Eine Ahnung, daß es mit der Weltschöpfung und der Menschheitsentwicklung nicht eine so einfache Sache ist, daß es zur Auffassung des Natürlichen und Geschichtlichen tieferer Kategorien als das absichtlich Machen bedarf, war bei den tiefer empfindenden Geistern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr und mehr hervorgetreten. WINKELMANN und LESSING hatten jenen engen Rationalismus zunächst in der Auffassung der Kunst durchbrochen, indem sie die Augen für Kunstwerke öffneten, die nicht vernünftig nach Regeln zustande gebracht, sondern aus dem Genie geboren waren. HERDER hob die Kategorie der Rationalität für die geschichtlichen Dinge überhaupt auf: sie werden nicht durch die Absicht der Menschen gemacht, Sprache, Religion, Poesie sind nicht Erfindungen guter oder schlechter Köpfe, sondern Schöpfungen, Schöpfungen Gottes durch die Menschennatur; Schöpfung aber ist nicht Anfertigung nach einem Plan, sondern Gottentwicklung, wie dann SPINOZA, freilich sonst in der Mechanik verbleibend, zuvor schon gesehen hat. Endlich GOETHE, von HERDER befruchtet, ist erfüllt von der neuen Anschauung, die er doch nicht begrifflich formuliert: die Kategorie des absichtlich Machens hat keine erhebliche Bedeutung in der Welt, werden und wachsen ist Alles; alles Größte und Tiefste, alles Herrlichste und Beste ist da, ohne je in jemandes Absicht gekommen zu sein. Die Welt selbst, ist sie von außen nach einer Absicht angefertigt? Dann ist Gott außerhalb von ihr, wie der Uhrmacher außerhalb der Uhr. Aber was wäre ein Gott, - der nur von außen dazu stößt, im Kreis das All am Finger laufen läßt? Sondern: Ihm ziemt es, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in sich, sich in Natur zu hegen. Natur ist Gottes Selbstentfaltung, nicht nach einer Absicht, denn Gott ist nicht vor sich selbst, überlegend, was er sein und wie er werden will. Und nach dem Bild Gottes ist der Mensch geschaffen: erdenkt sich auch ein Mensch vorher einen Plan seiner Selbstentwicklung, welche wir Leben nennen, und Mittel zur Ausführung? Sondern aus dem Wesen Gottes geboren, entwickelt sich seine Anlage, umso unabsichtlicher, je größer und herrlicher der Inhalt, ihm selbst ein erstaunliches Wunder. Deshalb ist auch alles Wirken auf Menschen nicht ein Hinzutun oder Abtun, sondern nur die Herbeiführung von Gelegenheitsursachen zu Äußerungen und Entwicklungen von innen heraus. Das 18. Jahrhundert meinte, es sei nichts in einem Menschen, was nicht von außen hineingekommen ist. Deshalb meinte es Menschen machen zu können; die Älteren waren überzeugt, durch Schläge Tugend, durch Katechismuslernen Religion zuwege zu bringen; die Jüngeren gaben zwar diese Praxis auf, aber nicht die Anschauung, worauf sie beruhte: in wohleingerichteten Erziehungshäusern versprachen sie durch angemessene Fütterung und Bewegung des Leibes und Geistes den vollkommenen Menschen zu züchten. Wagners im Laboratorium zustande gebrachter Homunkulus stellt den höchsten Triumph der Absicht über die Natur, des Machens über das Werden dar. In Wagner und Faust, so kann man wohl sagen, ist der Geist des wolffischen Zeitalters mit dem Geist des kommenden Zeitalteers, wie GOETHE es ahnte, zusammengestellt. Wagner ist kein Dummkopf, wie er auf der Bühne dargestellt zu werden pflegt, sondern ein Talent, das in der gelehrten Laufbahn Karriere machen wird; ein großer Professor, eine Kapatzität ersten ranges steckt in ihm, im zweiten Teil wird es aller Welt sichtbar. In methodischer Arbeit bringt er, ein geschulter Philologe, aus alten Pergamenten neue Wahrheiten hervor; mit Hebel und Schrauben zwingt er später, ein geschulter Naturforscher, der Natur ihre letzten Geheimnisse ab. Es ist wahrlich nicht eitles Renommieren, wenn er von sich mit Selbstbewußtsein sagtr, daß er viel weiß, noch nichtiger ein nichtiger Wunsch, wenn er hinzufügt: doch möcht' ich Alles wissen. Faust aber schätzt dieses ganze Wissen der Geschulten, das er auch selbst besitzt, die ganze Wissenschaft nach der Ordnung des 18. Jahrhunderts als ein von außen zusammengelesenes und äußerlich bleibendes gering. Von innen heraus muß das wahre Wissen geschaffen werden, durch Intuition, durch Magie will er die Wirklichkeit ergreifen. Diesem kommenden Zeitalter wurde die kantische Phlosophie Führerin, wenn auch vielleicht im Geist ihres Urhebers eine völlig deutliche Vorstellung von dieser Rolle nicht vorhanden war. Rationalität ist nicht die Form der Weltentstehung; die natürliche Theologie mit ihrer maschinenmäßigen Teleologie, mit ihrer ganzen anthropomorphischen Weltauslegung ist nicht Wissenschaft. Das unendliche Weltall wird mit den kurzen Gedanken des Menschen nicht umspannt; es ist und bleibt im Größten wie im Kleinsten ein staunenswertes Wunder. - Es sind die Gedanken, worin bei KANT die Zeitgenossen das Hereinbrechen einer neuen Welt empfunden haben. MENDELSSOHN, einer der Gläubigen der Rationalität, nannte KANT den alles zermalmenden. HAMANN, der Magus, dessen Gesicht der Zukunft zugewendet war, begrüßte in ihm den Erlöser von der Rationalität; er nennt ihn den preussischen HUME. Wie HUME in den "Dialogen über natürliche Religion" es als unvernünftige Vermessenheit erklärt hatte, die kleine Bewegung im Gehirn eines Uhrmachers zum Modell der Weltschöpfung zu machen, so verwirft KANT das ganze herkömmliche Verfahren, das ohne Bedenken unsere Verstandeskategorien zu Weltkategorien macht. In unendlich mühevoller Form, und durchkreuzt von anderen Absichten entwickelt die Kritik der reinen Vernunft diese Gedanken, welche HUME mit vollendeter Leichtigkeit und Eleganz ausführt. Es scheint fast, daß solche anhängende Schwierigkeiten einen notwendigen Ballast für philosophische Gedanken abgeben: ohne dieselben fahren sie zu leicht durch die Vorstellung der Leser dahin; die Schwierigkeiten nötigen zum Verweilen und Eindringen, sie laden ein zum Auslegen und Umformen, und nach der Mühe der Arbeit schätzt der Leser den Gewinn. Besonders erweisen sich die kantischen Schriften für die Universitäten als eine wahre Fundgrube jener Quästionen [Fragestellungen - wp], wie sie für den schulmäßig-literarischen Betrieb erforderlich zu sein scheinen. Aber noch etwas hat KANT HUME voraus, und das war es, wodurch er zunächst die Führung in der Geschichte des deutschen Geisteslebens gewann: HUME ließ das Schiff seiner Philosophie am Strand des Skeptizismus liegen; KANT rüstete es mit anderen Segeln zu neuer Fahrt: die Anforderungen des Gemüts an die Wirklichkeit werden von ihm zum Aufbau einer Weltanschauung herbeigezogen, die mit den Mitteln der wissenschaftlichen Forschung allein nicht vollendet werden kann. Daß von einem der Zeitgenossen KANT der deutsche ROUSSEAU genannt worden ist, habe ich nicht gefunden. Es hätte mit ähnlichem Recht geschehen mögen. Mit leidenschaftlicher Rhetorik, die doch zuletzt aus tiefer Empfindung geflossen ist, hatte ROUSSEAU gepredigt,
Es ist überliefert, daß KANT von den Schriften ROUSSEAUs den tiefsten Eindruck empfangen hat. Welcher Art derselbe war, hat er selbst ausgesprochen:
Das etwa möchten die Gedanken sein, welche das Zeitalter suchte und bei KANT gefunden hat, und ihm deswegen als Führer willig folgte. Wodurch endlich war HEGEL der herrschende Philosoph seiner Zeit? Die Philosophie HEGELs erschien als die volle Erfüllung jener faustischen Ahnungen; sie versprach nun wirklich zu leisten, was die Hebel und Schrauben der Naturforschung nicht vermocht hatten: zu zeigen, was die Welt im Innersten zusammen hält. Das hatte KANT nicht geleistet. Er hatte die anthropomorphische Metaphysik beseitigt, aber keine neue geschaffen. Er hatte die Unangemessenheit der Kategorie des Absichtlichmachens zur Naturauffassung dargetan, aber keine neue gegeben, vielmehr in gewisser Weise schonend die alte gelassen: man möge an die Natur herantreten nicht mit der Vorstellung "daß", aber mit der Vorstellung "als ob" sie nach Zwecken eingerichtet ist. An der Stelle dieser Metaphysik mit dem Vorzeichen "als ob" unternahm die spekulative Philosophie wieder eine echte Metaphysik mit dem Anspruch vollster und höchster Wahrheit zu setzen. Absicht und Ursache, Sinn und Wirklichkeit, welche die alte wolffische Teleologie äußerlich aneinander zu fügen gesucht hatte, welche in der kantischen Philosophie einander so fremd geworden waren, daß jede sogar ein besonderes Organ der Auffassung bedurfte, diese den Verstand, jene den Glauben: sie begriff die neue Philosophie als innerlich eins. Der Sinn der Dinge ist zugleich ihre Wirklichkeit, Welt und Idee sind dieselbe Sache. Beide sind nicht ursprünglich von einander getrennt, so daß der Sinn, als Absicht vorgestellt, die ihm äußerliche Wirklichkeit durch die äußere Macht eines Beabsichtigenden sich untertan machen müßte. So ist es im dürftigsten Betrieb des menschlichen Tuns, in seiner mechanischen Arbeit; in aller höheren, geistigen Tätigkeit reicht schon diese äußerliche Vermittlung von Zweck und Mitteln nicht aus. Viel weniger in der Tätigkeit Gottes oder der Natur. So hoch die Leistungen der Natur über denen der menschlichen Mechanik, so hoch ihre Verfahrensweise über menschlicher Technik. Die Dinge werden, wachsen; die Worte erklären nichts, aber bezeichnen einen Vorgang, den wir verstehen aus unserem eigenen geistigen Erleben: ein spontanes Zusammenkommen des Vielen zum Ganzen oder umgekehrt Hervorquellen des Mannigfaltigen aus dem Einen, ohne Zwang gegen die Teile, ohne Vorhersein eines unwirklichen Ganzen in der leeren Vorstellung. So entfaltet sich der unendliche Weltinhalt in eine unendliche Mannigfaltigkeit von Bestimmungen, die doch alle im Ganzen bleiben, nirgends der äußerlichen Zurückführung nach der Weise der mechanischen Teleologie bedürfen. Diese objektive Entfaltung des Weltgedankens versprach HEGEL in seiner Philosophie nachzudenken, zum ersten Mal auf subjektive Weise zu denken. Fürwahr ein Unternehmen, dessen Größe die Kühnheit eines faustischen Zeitalters erfordert. Es ist doch auch uns Spätgeborenen wohl noch verständlich, wie sich alle mutigsten und kräftigsten Geister gewaltig hingezogen fühlen mußten, jenes erstmalige Sichbewußtwerden der Weltidee mitzuerleben. Was Faust im Zeichen des Makrokosmos erblickte, das zeigte in wissenschaftlichen Gedanken die neue Philosophie:
Eins in dem Andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen Und sich die gold'nen Eimer reichen, Mit segenduftenden Schwingen Vom Himmel durch die Erde dringen, Harmonisch all' das All durchklingen!
Ich meine nicht, daß es nicht auch in dieser Zeit echt philosophische Denker gegeben hat; es wird gewiß die Zeit kommen, welche die Gedanken FECHNERs, LOTZEs, STEINTHALs, für den Aufbau einer Weltanschauung verwertet. Ich leugne auch nicht den Wert jener philologisch-historischen Arbeiten, auch für die Philosophie selbst, die Philosophie kann vielleicht mehr als irgendeine Einzelwissenschaft aus ihrer Geschichte lernen; und gewiß ist, daß die Abfassung historischer Monographien, wenn sie zur Vertiefung in die Philosophie großer Denker führt, für den Verfasser und für die Wissenschaft nützlicher ist, als die eilige Entwerfung eines neuen philosophischen Systems oder zumindest Standpunkts. Aber es gab keine Philosophie, die eine ähnliche Stellung eingenommen hätte, wie jene früheren; es gab keine Philosophie, zu der sich in Beziehung, sei es freundliche oder feindliche, zu setzen, für jeden selbständigen Mann selbstverständliche Pflicht gewesen wäre. Philosophie hatte im geistigen Leben während dieser Zeit gar keine anerkannte Stellung. Fragen wir nun wieder: was war die Ursache? Gewiß mit Recht wird als nächste Ursache die Enttäuschung angeführt, mit welcher die Begeisterung für die spekulative Philosophie endete. Mit dem entschiedensten Nachdruck hatte dieselbe den einzigen Wert der Spekulation gegenüber den untergeordneten Bemühungen der empirischen Forschung behauptet. Die letztere biete nur Rohmaterial dar, aus welchem die Spekulation erst durch Erhebung zum Begriff Wissenschaft macht. Die Wissenschaften rächten sich für die erfahrene Geringschätzung umso bitterer, als sie der Verleitung zum Spekulieren selbst nicht immer widerstanden hatten; sie lehnten nun nicht bloß apriorische Philosophie, sondern alle Philosophie schlechthin als Nichtwissenschaft ab, die nur Störungen in der wirklichen wissenschaftlichen Forschung verursacht. Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft weiteiferten eine Zeit lang darin, das Mißtrauen gegen sogenannte Philosophie zu nähren. Es gibt aber, wie mir scheint, noch eine tiefer liegende Ursache. In derselben Zeit, in welcher die spekulative Philosophie eine kleine Anzahl der leitenden Geister beschäftigt hat, hatte sich im Leben des deutschen Volkes eine große Umwandlung vorbereitet und teils schon vollzogen, ich meine jene viel radikalere Reaktion gegen die Aufklärung und Rationalität, welcher endlich seit dem Regierungsantritt FRIEDRICH WILHELMs IV. auch die Staatsgewalt zugefallen ist. Das völlige Abbrechen der bisherigen Entwicklung, die Verwerfung sowohl des vertieften Rationalismus von HEGEL, als der kantischen Philosophie des vernünftigen Glaubens oder der wolffischen Vernunfttheologie, war die Losung dieser Richtung. CLAUS HARMS, eine persönlich ehrwürdige, tapfere und volkstümliche Gestalt, hat in den 95 Thesen, welche er zur Feier des Reformationsjubiläums (1817) denen LUTHERs als zeitgemäße Neuformungen an die Seite stellte, das Programm der Richtung formuliert:
Auf ihre Seite trat nun im führenden deutschen Staat seit 1840 mit wachsender Entschiedenheit die Staatsgewalt. Vor allem wurde das öffentliche Unterrichtswesen aus der Richtung auf Entwicklung des Raisonnements, welche es in den Jahren der Wiedergeburt, die man seltsamerweise heute noch fortfährt die Jahre der tiefsten Erniedrigung zu nennen, da sie vielmehr den Kulminationspunkt des Einflusses von Vernunft und gutem Willen auf das deutsche Staatsleben bezeichnen, erhalten hatte, herausgebracht und in die Bahn der Erziehung zum Respekt vor Autoritäten gewiesen. Der Erfolg dieses politischen Experiments war, außer der äußerlichen Ausbreitung und inneren Korrumpierung der protegierten Richtung, daß sich alle der Reaktion entschieden abgeneigten Elemente zu einer Oppositionspartei sammelten, in welcher sich die Abneigung bis zu grenzenloser Erbitterung steigerte. Es entstand in dieser Zeit das Evangelium der Verneinung, welches die Revolutionsliteratur der 40er und die materialistische Literatur der 50er Jahre gepredigt hat. So viel Wahrheit schien Vielen in einer Schrift, als Haß gegen die die gutgesinnten Ansichten. Eine krankhafte Furcht, belogen zu werden, bemächtigte sich der Gemüter, eine Wahrheit schient nicht ganz wahr, wenn sie nicht beleidigt. Fürwahr ein schlimmer Dienst war es, welchen die Regierung der Religion und der Philosophie, oder vielmehr dem deutschen Volk erwiesen hatte. Es verlor in diesem Treiben beide, es verlor den Boden einer gemeinsamen Welt- und Lebensanschauung. Die extremen Richtungen zerrten es hierhin und dorthin, Alles war strittig und schien nur da zu sein, um Gegenstand des Streits zu werden. Der alte unreflektierte Glaube kam nicht wieder; der vernünftige Glaube ging verloren, er schien den Einen zu wenig und nun den Andern zuviel, beide Seiten erblickten in ihm eine Transaktion mit der Lüge. In dieser großen Störung ist auch der Grund davon zu suchen, daß es in diesem Zeitalter keine herrschende Philosophie gegeben hat. Das deutsche Volk hatte in den widrigen Kämpfen seine Idee verloren. Es konnte daher keine Auslegerin derselben, d. h. keine führende Philosophie geben. Wird es wieder eine solche geben? Dann, wenn unser Volk wieder einen gemeinsamen Boden seiner Welt- und Lebensanschauung anerkennen wird; wenn es wieder aufgrund des gemeinsamen Glaubens einem gemeinsamen Ziel seiner Entwicklung zustreben wird. Dann wird die Philosophie wieder in ihre alte Aufgabe eintreten, durch die jeweilig bestmögliche Formulierung des von Allen empfundenen Ideals Führerin des Volkes zu sein. Noch ist eine solche Idee nicht vorhanden. Ja, es möchte jemand behaupten, niemals sei das deutsche Volk von einer Idee dessen, was es sein und werden soll, ferner gewesen als in diesem Augenblick, wie dann auch niemals vom deutschen Idealismus mehr geredet und geschrieben worden ist als in unseren Tagen; ein deutliches Anzeichen von der Abwesenheit eines solchen Dings, denn nach alter Wahrnehmung wird am meisten von den Tugenden geredet, die man nicht hat. So fern sind wir davon entfernt, daß in den weitesten Kreisen der Mangel nicht einmal empfunden wird; man lebt, als ob es möglich wäre, daß ein Volk ohne Glauben und ohne Ideal überhaupt dauern leben kann. Oder sollten wir etwa für die unsere Zeit beherrschende Idee ansehen das hin und wieder hervortretende Bestreben, immer mehr Volksgenossen zu sogenannten Gebildeten zu machen? Fürwahr, deren sind übergenug, und das deutsche Volk hat an ihrer Menge schwer genut zu tragen; nicht solcher bedarf es, die sich bedienen lassen und genießen wollen, sondern solcher, die arbeiten wollen und opferwillig entbehren. Ein Hoffnungsvoller möchte doch sagen, über den Punkt der tiefsten Depression ist das deutsche Volksleben schon hinaus. Eine rätselhafte Erscheinung beschäftigt gegenwärtig berufene und unberufene Pfleger des deutschen Volkes. Eine seltsame Unruhe, begleitet von einer Empfindung des Mißbehagens, gibt sich in vielen Äußerungen kund. Man redet dem Volk zu, glücklich zu sein, jetzt, wo Alles erreicht, ein deutsches Reich, Parlamente genug, Kriegstaten und Ruhm in Fülle vorhanden sind. Aber das deutsche Volk fühlt sich nicht glücklich. Man schilt es: es sei seine alte Unart, sich die Freude, an dem was es besitzt, durch Kritisieren und Querulieren zu verderben. Oder man sucht nach Ursachen der Mißempfindung: die Deutschen wollen alle hoch hinaus, sagt Einer, jeder Schuster will Millionär werden. Ein anderer meint: im letzten Krieg habe man mit einer feineren Kultur Bekanntschaft gemacht und empfinde die Armut und Barbarei des heimischen Lebens nun mit bitterem Neid. Ich zweifle nicht, daß diese Diagnosen für die Kreise Recht haben, aus denen sie stammen. Aber ich glaube nicht, daß sie Recht haben für alle Kreise, in welchen jene Unruhe gefühlt wird. Wenn LAGARDE (6) die gegenwärtige Gestaltung des deutschen Lebens herb verurteilt, so ist der Grund wohl nicht der Mangel an Nationalreichtum und Kunstindustrie. Vielleicht würde er eher sagen, der Nationalreichtum sei eben der Notstand: Gier und schamlose Üppigkeit und proletarisches Elend seien die beiden Seiten derselben Sache. Ob nicht LAGARDE doch ein besserer Interpret dessen ist, was das deutsche Volk, ihm selber noch kaum verständlich, im Innersten bewegt? Er scheint es freilich nicht zu glauben, er gibt seinem Gefühl der Vereinsamung in der Gegenwart einen beweglichen Ausdruck. Vielleicht ist die Zahl derer, die ihre Knie vor Baal nicht gebeugt haben, doch größer als er denkt. Vielleicht ist in manchen Herzen, wenn sie auch vorübergehend in den Strom mit hinein geraten, ein Rest von Ehrfurcht vor dem wahrhaft Verehrungswürdigen zurückgeblieben, der ihnen nun jene Unruhe erregt. Darf auch in dem Umstand, daß SCHOPENHAUER in dieser Zeit nicht wenig Freunde gewonnen hat, ein Anzeichen davon erblickt werden? Mir will es fast scheinen. Man sagt, daß es die Blasierten sind, die Ausgelebten, die sich um ihn sammeln. Das gilt zumindest nicht von allen. Manche - man muß nicht bloß an solche Leser denken, die lesen, um über das Gelesene wieder etwas drucken zu lassen - sind ihm dankbar, nicht für den Rat, die Welt überhaupt für nichts zu achten, sondern dafür, daß er ihnen die Augen über die Nichtigkeit und Wertlosigkeit vieler Dinge geöffnet hat, die sich auf der Oberfläche des Lebens mit dem lauten Anspruch auf Beachtung und Verehrung bewegen. Verachtung des Scheinbaren ist aber die Kehrseite der Verehrung des Wirklichen. Darf also in jener Unruhe der Anfang einer Besinnung des deutschen Volkes auf sein Selbst erblickt werden? Beginnt es zu empfinden, daß äußere Ziele das Leben nicht erfüllen können, das Leben des Volkes so wenig, als das des Einzelnen? Daß Macht und Kriegsruhm, Nationalreichtum und Kunstindustrie, Einjährigfreiwilligen - und höhere Töchterschulbildung doch nicht eben das ist, was den Vorfahren etwa im Zeitalter der kantischen Philosophie vorschwebte, wenn sie von der einstigen Herrlichkeit ihres Volkes träumten? Daß dazu ganz andere Dinge gehören: Gerechtigkeit der öffentlichen Ordnungen, Friede mit den Nachbarvölkern, Ernst und Treue im Beruf, Freiheit und Schönheit im Spiel, Wahrheit, Kraft und Eigentümlichkeit der geistigen Bildung, endlich vor Allem und über Allem der Haussegen, wie PESTALOZZI die Grundbedingung allen wahrhaft lebenswerten Lebens nennt? Ist es die Sehnsucht nach einem Ideal, die in jener unbestimmten Unruhe ausbricht? Dann wohl dem deutschen Volk! Dann hat es die Verheißung: "Selig sind, die da hungert und dürstet, denn sie sollen satt werden." Dann wird es auch wieder eine Philosophie haben, eine lebendige und belebende, die alle Kräfte weckt und sammelt, sich nach diesem hohen Ziel zu strecken. Anmerkungen 1) Heinrich Wuttke, Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, Seite 70 2) Clemens Theodor Perthes, Politische Personen und Zustände zur Zeit der französischen Herrschaft, Bd. II, Seite 90. 3) Fragmente aus dem Nachlaß, in Hartensteins Ausgabe, Bd. VIII, Seite 624 4) Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, am Anfang. 5) Claus Harms Lebensbeschreibung von ihm selbst verfaßt, Seite 230. Die Thesen sind eigentlich gegen die rationalistische Theologie gerichtet, sie wollten die Mysterien vor der Profanierung durch eine "vernünftige" Erklärung retten; und darin liegt ihr gesunder Sinn, den Kant ganz und gar anerkannt hätte; Symbole werden platt oder unsinnig, wenn man sie rationalisiert. Aber sich selbst mißverstehend gehen sie weit über das Ziel hinaus, beinahe bis zu der Behauptung, Vernunft habe überhaupt keine Aufgabe in der Welt, weder in der Gestaltung der Weltanschauung noch des Lebens. Es ist im Grunde dieselbe unglückliche Verwechslung, wenn die heutige sogenannte Reaktion statt gegen die Bildung gegen die Wissenschaft Krieg führt. 6) Paul de Lagarde, Deutsche Schriften, Göttingen 1878 |