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ERNST von ASTER
Kants Kritizismus

"In dem Maß nun, wie die Verstandesbegriffe zu rein formalen Begriffen werden, deren Hauptbedeutung nicht darin besteht, daß sie selbst die wirklichen Dinge und ihre Beziehungen zueinander bezeichnen, sondern vielmehr in ihrer Anwendung auf die Gegenstände der Erfahrung, mußte sich Kant das Problem aufdrängen, das in der Inauguraldissertation noch fehlt, dem aber Kant dann zuerst in dem bekannten Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 Ausdruck gibt: wie kommt es, daß die aus unserem Verstand stammenden Begriffe Bedeutung und Geltung für die gegenständliche, in unseren Empfindungen uns gegebene Welt haben? Kürzer: was gibt unseren Vorstellungen die Beziehung auf den Gegenstand?"


I. Kants erkenntnistheoretische Entwicklung
von 1766 bis zur Problemstellung der Kr. d. r. V.

Von der Veränderung, die die Lehre vom Urteil bei KANT in den Schriften aus dem Mitte der 60er Jahre erfahren hat, war schon die Rede gewesen; die weitere Entwicklung, die diese Veränderung erfährt, bedarf indessen noch einer genaueren Besprechung. Für LEIBNIZ und WOLFF, auf deren Standpunkt wir noch die nova dilucidatio ["Neue Beleuchtung der ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis"] finden, sind alle Urteile "analytisch", d. h. das Prädikat ist ein Teilbegriff des Subjekts, jedes Urteil "a ist b" muß, um wahr (= identisch) sein zu können, den Sinn haben "c + b ist b", ihm muß die Definition "a = c + b" zugrunde liegen. Wir sahen, wie diese Urteilslehre in der "falschen Spitzfindigkeit" lehrt: Urteilen heiße "etwas als ein Merkmal mit einem Ding vergleichen" - das Ding selbst sei das Subjekt, das Merkmal das Prädikat, die Vergleichung werde durch das Verbindungszeichen "ist" oder "ist nicht" ausgedrückt, so liegt in diesen Sätzen eine veränderte Auffassung vom Wesen des Urteils, die in ihren Konsequenzen KANT immer weiter von LEIBNIZ und WOLFF entfernt. Wir sehen das am deutlichsten an den Reflexionen 438 und 439 (1). Hier wird zunächst der Begriff des Merkmals genauer bestimmt: "Wenn irgenden X durch eine Vorstellung a erkannt werden kann, so ist a ein Merkmal von X." Fällen wir dann weiter ein Urteil "a ist b", so bedeutet dieses Urteil: der Gegenstand X, der durch a erkannt wird, schließt mit dem anderen Begriff b verglichen, diesen ein; oder: X, das durch a erkannt (begriffen) wird, kann auch durch b erkannt (begriffen) werden. Das Urteil "a ist b" bezieht sich also nicht auf den Begriff a, sondern auf den Gegenstand X, der als a begriffen wurde, oder jedem Urteil als "mittelbarer" Erkenntnis geht eine unmittelbare Erkenntnis des beurteilten Gegenstandes in Gestalt eines "Begriffs" vorher: "die Erkenntnis von X durch a ist ein Begriff" (man sieht hier am deutlichsten, daß, was KANT in den Schriften von 1762-1764 "Begriff" nennt - die Erkenntnis des Realgrundes geschieht nicht durch ein Urteil, sondern durch einen Begriff - im Grund zusammenfällt mit dem, was er als "unerweisliches Urteil" bezeichnet). Noch schärfer heißt es in Reflexion 439: "das Prädikat ist kein Teilbegriff des Subjekts, sondern eine Vorstellung des Subjekts durch einen Teilbegriff".
    "Durch ein Prädikat stelle ich mir nicht einen Teil von der Sache vor oder habe einen Begriff vom Teil, sondern stelle mir das Objekt selbst vor und habe von ihm einen Teilbegriff."
Hier ist der Gegensatz gegen die Auffassung von LEIBNIZ zum vollen Bewußtsein erhoben (wie sich übrigens auch aus der folgenden Polemik gegen die Charakteristik der Urteile durch mathematische Zeichen erhellt. Der Ausdruck: jedes Merkmal, das wir dem Gegenstand X beilegen, sei ein "Teilbegriff", durch den wir das Ding X erkennen, weist hin auf die kantische Lehre von der Definition in dieser Zeit: die Definition geht nicht der Erkenntnis vorher, sondern schließt sie ab, aus den unerweislichen Urteilen, in denen wir ihn erkennen, erwächst schließlich die Definition oder der vollständige Begriff des Gegenstandes. Habe ich einen Begriff von einem Gegenstand, sei er unvollständig oder vollständig, so kann ich nun natürlich aus diesem Begriff Urteile ableiten oder erweisen, den Begriff a in seine Teilbegriffe zerlegen und so analytisch zu Prädikaten von X gelangen, die wirklich Teilbegriffe des Subjektbegriffs, nämlich des vorausgesetzten Begriffs a sind. Diese analytischen Urteile (deren Einführung jetzt nur noch ein terminologischer Schritt ist) erweitern meine Erkenntnis des X nicht, sondern erläutern lediglich die uns bereits bekannte Erkenntnis desselben.

Noch anders gesagt: Jedes Urteil "a ist b" denkt die Prädikate a und b als in demselben Subjekt oder Ding X miteinander verknüpft. Im analytischen Urteil wird das Prädikat als Merkmal von a, in den synthetischen als Merkmal von X vorgestellt (Reflexion 295; man sieht an dieser Reflexion am besten, wie aus dem, was die "falsche Spitzfindigkeit" als "Vernunftschluß" definiert, das analytische Urteil wird, dem die unerweislichen Urteile oder die "Begriffe", die unmittelbaren Erkenntnisse nun als synthetische Urteile gegenübertreten). Der analytische Begriff vom Ding enthält, was darin liegt, der synthetische, was ihm beigelegt werden muß, sofern es ein gewisses Ding sein soll(Reflexion 294); der Sinn des synthetischen Urteils "a ist b" drückt aus, daß a und b eben demselben Ding X angehören. Demselben Gedanken dient nun die vollzogene Unterscheidung zwischen logischem und realem Grund: der Zusammenhang zwischen a und b, der in dem Urteil "a ist b" zum Ausdruck gebracht wird, kann ein logischer sein, ein Zusammenhang logischer Identität, dann besteht er zwischen den Begriffen a und b, oder er kann ein realer sein, dann sind a und b in demselben realen Ding oder demselben Realgrund verknüpft. Die analytischen Urteile sind damit Urteile, in denen Begriffe miteinander verglichen werden - der Begriff, den ich in A denke, den denke ich auch in B - die synthetischen Urteile sind solche, in denen Begriffe in Bezug auf dasselbe Ding verknüpft werden - das Ding, das ich durch den Begriff A denke, ebendasselbe denke ich auch durch den Begriff B (Reflexion 462).

In jedem Urteil werden zwei in eins gesetzt, diese Einheit aber ist entweder die der Vergleichung oder der Verknüpfung, d. h. entweder die Identität, die zwischen 2 Begriffen, die zwischen dem Allgemeinen und dem unter das Allgemeine fallenden Besonderen besteht, zwischen dem Enthaltenden und dem Enthaltenen, oder die Einheit der Verbindung einer Mehrheit von Bestimmungen in demselben Ding = demselben Realgrund (Reflexion 461). Die analytischen Urteile werden also zu Urteilen über Begriffe und ihr logisches Verhältnis der Einerleiheit und Verschiedenheit; die synthetischen Urteile zu Urteilen über Dinge ("reale Subjekte") und den Realzusammenhang der Ursache und Wirkung, der zwischen dem einen Ding oder Realgrund und der Vielheit seiner Akzidenzen [Merkmale - wp] besteht (Reflexion 289).

Man beachte nun noch einmal, wie sich die Auffassung des Urteils gewandelt hat. Ursprünglich gab es nur Urteile, die eine logische Beziehung zwischen Subjekt- und Prädikatbegriff zum Ausdruck brachten und nach dem Satz des Widerspruchs und der Identität als wahr erkannt werden konnten. Dann traten neben diese logisch erweisbaren oder mittelbaren die unmittelbaren Erkenntnisse "X ist a", "X ist b", die einen Gegenstand X durch den "Teilbegriff" a oder b erkennen. Auf die Frage nach der Begründung dieser gegenständlichen Erkenntnis kann einfach auf Erfahrung hingewiesen werden, die Erfahrung lehrt mich die Realverhältnisse oder die letzten Grundbegriffe kennen, in die ich die Dinge zu fassen habe. "Alle unsere Begriffe sind aus der Empfindung gezogene Merkmale" (Reflexion 439). Nun tritt aber jetzt immer stärker ein Drittes in den Vordergrund: in den Urteilen (Begriffen) "X ist a" und "X ist b" steckt das Urteil "a und b sind in demselben X notwendig verbunden", sie gehören in demselben X untrennbar zueinander. In dem synthetischen Urteil "ein Körper ist träge", so drückt KANT das in der Reflexion 503 aus, wird, wenn wir den Begriff des Körpers durch den der Undurchdringlichkeit definieren, die Trägheit als "compars" [Vergleich - wp] desjenigen, was unter dem Begriff Körper gedacht wird (also der Undurchdringlichkeit) zu einem ganzen Begriff gedacht, der notwendigerweise mit denjenigen Teilbegriffen verbunden ist, die in die Notion [Vorstellung - wp] des Körpers gehören. Die synthetischen Urteile werden zu Urteilen, die bestimmte, der Erfahrung entnommenen Inhalte zu notwendigen Einheiten verbinden, indem sie sie auf dasselbe Ding beziehen; sie werden zu Urteilen über diese Erfahrungsinhalte, bzw. ihren Zusammenhang, hinter dem das Ding selbst als eigener Gegenstand der Erkenntnis verschwindet: das Ding selbst können wir ja gar nicht erkennen, wenn wir es nicht durch dieses oder jenes Prädikat erkennen (mit einer einzigen Ausnahme allerdings - dem eigenen Subjekt, dem Ich, nach dessen Analogie wir uns daher alles absolute Subjekt notwendigerweise vorstellen. Vgl. Reflexion 439, aber auch 289: "Wir finden endlich alles am Objekt akzidentia [zufälliges Merkmal - wp] zu sein"). Wie dieser Gedanke in fast wörtlicher Übereinstimmung in der kritischen Zeit wiederkehrt oder sich erhält, zeigt Reflexion 942:
    "Wir kennen einen jeden Gegenstand nur durch Prädikate, die wir von ihm sagen oder gedenken. ... Daher ist ein Gegenstand nur ein Etwas überhaupt, was durch gewisse Prädikate, die seinen Begriff ausmachen, uns gedenken. In jedem Urteil sind demnach 2 Prädikate, die wir miteinander vergleichen, davon das eine, welches die gegebene Erkenntnis des Gegenstandes ausmacht, das logische Subjekt, das zweite, welches damit verglichen wird, das logische Prädikat heißt. Wenn ich sage: ein Körper ist teilbar, so bedeutet das soviel wie: Etwas, X, welches ich unter den Prädikaten kenne, die zusammen einen Begriff vom Körper ausmachen, denke ich auch durch das Prädikat der Teilbarkeit Xa ist einerlei mit Xb. Nun gehört a sowohl als B zu X; allein auf verschiedene Art. Entweder, daß b in demjenigen schon liegt, was den Begriff a ausmacht, und also durch Zergliederung desselben gefunden werden, oder daß b zu X gehört, ohne in a eingeschlossen und mitbegriffen zu sein. Im ersten Fall ist das Urteil analytisch, im zweiten synthetisch . . . Nun können alle analytischen Urteile a priori eingesehen werden; und war nur a posteriori kann erkannt werden, ist synthetisch. Daher sind die eigentlichen empirischen Urteile synthetisch."
Fasse ich nun aber die Urteile der Form a ist b in dieser Weise als empirische Urteile auf, die zwischen den beiden Erfahrungsinhalten a und b eine notwendige Verknüpfung behaupten, indem sie sie auf denselben realen Grund beziehen, so taucht hier mit Notwendigkeit das Problem auf: "Wie werden synthetische und empirische Urteile allgemein?" (Reflexion 490) Erfahrung gibt keine wahre Allgemeinheit, weil sie keine Notwendigkeit gibt (Reflexion 726), alles Empirische lehrt uns nur, was mit- oder nacheinander gewöhnlicherweise zu sein pflegt (Reflexion 727). Mit anderen Worten: Erfahrung zeigt nur, daß die Inhalte a und b hier und jetzt an demselben Ding zusammen sind - wie komme ich aber zu der Behauptung (wie in dem Urteil "Körper sind träge"), daß sie im Begriff desselben Dings zusammengehören, notwendig zusammengehören, wenn doch b nicht im Begriff a selbst enthalten ist? Wie ist es möglich, auf empirischem Weg zum synthetischen Begriff eines Dings zu kommen? Der Gedanke, daß es synthetische Urteile gibt, die eine allgemeine und notwendige Verknüpfung von Erfahrungsdaten aussprechen, ist offenbar die Bedingung für das Erwachen dieses Problems. Das Problem nimmt nun zugleich eine bestimmte Form an: Es muß Formalprinzipien der synthetisch-empirischen Sätze geben (Reflexion 490), "Grundsätze, welche den Gebrauch der Vernunft in der Synthesis überhaupt angehen" (Reflexion 504), unter denen alle empirisch-synthetischen Sätze ebenso stehen, wie die analytischen unter den Prinzipien der Identität und des Widerspruchs. Der Satz der Identität und des Widerspruchs geben allgemein die Art des Zusammenhangs, der zwischen 2 Begriffen bestehen muß, damit sie in einem bejahenden oder verneinenden analytischen Urteil verbunden werden können, sie dienen damit als Regel und Prüfstein für die Gewinnung wahrer analytischer Urteile oder als Regeln für den Verstand in seinem logischen Gebrauch. Entsprechende Regeln fordert KANT hier für den realen Gebrauch des Verstandes oder für die Gewinnung empirisch-synthetischer Urteile. In Reflexion 503 gibt KANT den "Prinzipien der Form synthetischer Urteile" den Ausdruck: "Was jederzeit mit einem bekannten Teil des möglichen Begriff eines Dings verbunden ist, gehört mit als ein Teil zu diesem Begriff." Man versteht den Satz: das beständige zusammen Auftreten von a und b, das uns die Erfahrung zeigt, dient uns als Grund, auch b als Teilbegriff von X, das durch den Begriff a erkannt wurde, aufzufassen. In derselben Reflexion wird dann der Satz vom determinierenden Grund als das Prinzip der Form aller unserer Vernunfturteile über die Realverknüpfung bezeichnet, dem die Erfahrung als materiales Prinzip derselben gegenübergestellt wird.
    "Die Natur unserer Vernunft hat dieses Gesetz, daß sie nicht unmittelbar, sondern mittelbar die Dinge erkennt; daher sie alles, was geschieht, nur nach eine Grund erwarten kann, und was durch keinen anderen Grund bestimmt wird, ihr unvernünftig ist." (Reflexion 504)
Die Form der Frage: "Wie werden empirische und synthetische Urteile allgemein?" zeigt, daß für KANT zunächst die Allgemeinheit gewisser, aus der Erfahrung stammender Sätze ("alle Körper sind schwer") zum Problem wird, nicht die Geltung oder der Ursprung ganz von der Erfahrung unabhängiger "synthetischer Sätze a priori". Vielmehr wird, wie wir sehen, jenes Problem der Allgemeinheit empirischer Sätze durch die Berufung auf Gesetze der Vernunft, die nicht empirisch sind und doch synthetisch, beantwortet. Blickte KANT jetzt auf HUMEs Skepsis, auf seine Auflösung aller empirisch-allgemeinen Urteile in bloße assoziative Gewohnheit, so konnte er von jetzt an den Fehler HUMEs in dem suchen, worin er ihn in der Kr. d. r. V. findet (Meth. I, 2): daß er auch das allgemeine Kausalgesetz als eine nur auf Erfahrung beruhende, ansich zufällige Regel betrachtet - was KANT selbst noch in Reflexion 726 getan hatte. Den Übergang zu der neuen Überzeugung dürfen wir vielleicht in Reflexion 501 erblicken, in der die Gewißheit der metaphysischen Axiome darauf begründet wird, daß sie in allen empirischen Fällen vorausgesetzt werden, und daß man "mit demselben Recht, als man sie leugnen wollte, die Gewißheit aller übrigen Erkenntnis müsse schwinden lassen." Sachlich sind offenbar auf diesem Standpunkt für KANT jene metaphysischen Axiome, wie das allgemeine Kausalgesetz, angeborene Prinzipien des Verstandes. Aber schon bezüglich dieser Prinzipien regt sich nun bei KANT gelegentlich ein Zweifel. In Reflexion 503 werden als synthetische formale Prinzipien der Erkenntnis des nexus realis [der realen Verknüpfung - wp] die beiden Sätze hingestellt: "Alles, was geschieht, hat einen determinierenden Grund" und "Alles hat einen ersten Grund", jenes ist zum Gebrauch unserer Vernunft, dieses zum termino [beenden - wp] dieses Gebrauchs.

Den Satz von der Notwendigkeit eines ersten Grundes aber führt er darauf zurück, daß es uns unmöglich ist, eine Reihe subordinierter Gründe vorzustellen, die keinen Anfang hat; er fügt jedoch hinzu, es sei ebenso unmöglich, sich zu konzipieren, wie sie anfängt. Daher ist der Satz ein synthetischer Satz, der mehr von den Grenzen unseres Verstandes, als vom Objekt der Erkenntnis abstrahiert ist. Die Antinomien und mit ihnen die Unterscheidung objektiv und subjektiv gültiger Prinzipien macht sich hier bereits geltend. (2)

Nach den Schriften von 1762-66 war es die erste Aufgabe der Metaphysik, von den gegebenen Daten der Wahrnehmung ausgehend die letzten einfachen Grundbegriffe heraus zu analysieren, die wir unserer Welterklärung zugrunde zu legen haben. Die letzten, nicht weiter zurückführbaren "Grundbegriffe der Dinge als Ursachen, die der Kräfte und Handlungen", wie es in den "Träumen eines Geistersehers" heißt. Aus dieser Ausdrucksweise spricht die selbstverständliche Voraussetzung, daß alles Wirkliche, das wir zu denken vermögen, eben entweder Substanz oder Akzidenz oder Beziehung sein muß, wie es KANT auch in Reflexion 506 ausspricht. In dieser letzteren Reflexion fügt KANT dann hinzu: Jede Beziehung ist dreifach; die Beziehung der Substanzen zueinander ergibt den Raum, die der Akzidenzen die Zeit, die der Substanzen zu den Akzidenzen die Kraft. Daß die Substanz in der Fortentwicklung der kantischen Gedanken mit dem Realgrund der Akzidenzen zusammenfällt, die einfachen Begriffe der "Realgründe" und damit der Realverhältnisse zu den Grundbegriffen, die die Dinge als solche bestimmen, wurden, wissen wir bereits. Ganz aus dem Geist der leibniz-wolffischen Philosophie heraus ist noch der Gedanke geboren, daß alles Wirkliche entweder Substanz oder Akzidenz oder Beziehung sein muß und der Versuch, die Realität von Raum und Zeit zu sichern, indem man sie als solche Beziehungen begreift. Diese Begriffe des Raumes und der Zeit aber werden nun zum Ausgangspunkt eines besonderen Problems im Laufe der 60er Jahre, eines Problems, dessen Verfolgung zur Inauguraldissertation führt.

Für LEIBNIZ und WOLFF wird das Verhältnis der Dinge zueinander verworren vorgestellt, d. h. sinnlich wahrgenommen zum Raum. Zwischen der leibniz-wolffischen Philosophie einerseits, der newtonschen Naturwissenschaft und ihren Anhängern andererseits bestand hier der bekannte Gegensatz, der seinen schärfsten Ausdruck im Briefwechsel zwischen LEIBNIZ und CLARKE gefunden hat: NEWTON lehrt das Dasein des absoluten Raums, der eine Bedingung für die Möglichkeit der körperlichen Dinge, nicht eine von ihnen abhängende Bestimmung ist. Die Dinge sind im Raum, der Raum ist also als existierend vorausgesetzt, wenn Dinge, körperliche Substanzen existieren sollen. Dagegen ergab sich für LEIBNIZ und WOLFF die Konsequenz, daß wir nicht den Raum als vorhanden denken können, ohne die Dinge, die Substanzen, deren bloßes Verhältnis zueinander er ausdrückt, vorauszusetzen. Ein absoluter Raum, ein Raum ohne Dinge, die in räumlicher Beziehung stehen, ist auch für WOLFF noch wie für DESCARTES ein logischer Widerspruch, wenn auch der Raum nicht mehr ein Attribut der körperlichen Substanz, sondern ein Verhältnis, eine Beziehung oder Ordnung der Substanzen geworden ist.

KANT nimmt von Anfang an (schon in der Erstlingsschrift "Über die Schätzung der lebendigen Kräfte") eine Mittelstellung ein, er versucht LEIBNIZ mit NEWTON zu verbinden. In der "nova dilucidatio" ist der Raum für ihn ein Phänomen, dem, wenn wir die Verworrenheit der sinnlichen Wahrnehmung durch die klare und deutliche Vorstellung des reinen Denkens überwinden und ersetzen, ein Verhältnis der Substanzen realiter zugrunde liegt. Soweit steht er ganz auf dem Boden von LEIBNIZ. Aber dieses gedachte Verhältnis der Substanzen ist genauer ihr Wirkungszusammenhang; nicht eine rein qualitative, mit ihrem Wesen selbst gegebene sachliche Ordnung der Substanzen, sondern ihre kausale Abhängigkeit voneinander spiegelt sich in dem sichtbaren und tastbaren Nebeneinander ihrer Erscheinungen wieder. Damit ist eine Unabhängigkeit des Raumes von den Dingen, wie sie NEWTON lehrt, gesichert, denn die kausale Abhängigkeit war etwas, das von Gott den Dingen besonders anerschaffen war und sich aus ihrem Wesen selbst nicht ergeben hat. Die Substanzen gehen also logisch dem Raum vorher, aber der Raum geht den aufeinander wirkenden Substanzen vorher. Ich kann die Dinge denken, ohne den Raum hinzuzudenken, ja ich kann mir verschiedene Räume, nämlich verschiedene voneinander unabhängige Wirkungszusammenhänge von Dingen denken, aber sobald ich die Dinge in einem commercium [Gemeinschaft - wp] aufeinander wirkend denke, denke ich sie auch als für meine Wahrnehmung, ein räumliches Ganzes ausmachend. (Vorher hatte KANT schon, noch einen Schritt weitergehend, in der "Schätzung der lebendigen Kräfte" die Dreidimensionalität des Raumes aus dem allgemeinen Wirkungsgesetz der Substanzen abzuleiten versucht - würde ein anderes Anziehungsgesetz als das von NEWTON gelten, so würde ein Raum von anderer Dimensionszahl entstehen.) Ein Jahr nach der "Nova dilucidatio" erscheint die "Monadologia physica", in der dasselbe Bestreben zutage tritt, die leibniz-wolffische Metaphysik mit NEWTONs Physik zu vereinigen. Mit Recht beweist der Metaphysiker, daß alles substanziell Wirkliche aus letzten einfachen Teilen bestehen muß, mit Recht behauptet und beweist der Mathematiker die unendliche Teilbarkeit des Raumes, legt der Physiker den nicht aus einfachen Teilen bestehenden Raum seiner Betrachtung der Materie zugrunde. Beide Sätze sind vereinbar, wenn wir daran festhalten, daß der Raum keine Substanz, sondern das Phaenomenon der äußeren Beziehung der Substanzen ist, die Substanzen selbst aber Kraftzentren sind, die durch ihre Kräfte in Beziehung zueinander stehen. Eine einfache Substanz kann einen größeren oder kleineren Raum "erfüllen", denn sie erfüllt ihn nicht durch die Menge ihrer substanziellen Teile, sondern durch die abstoßende Kraft, vermöge deren sie die benachbarte Monade hindert, sich ihr noch weiter zu nähern, d. h. die Größe des Raumes drückt nicht eine Anzahl von Teilen, sondern die Intensität der Wirksamkeit der Substanz aus. Auch hier ist dabei, wie man sieht, festgehalten, daß der Raum nicht aus dem bloßen Dasein, sondern aus dem Wirkungszusammenhang der Substanzen ergibt. Die gleiche Grundanschauung liegt offenbar auch in dem "Neuen Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe" (1757) vor - aber während die polemische Absicht der physischen Monadologie sehr viel mehr gegen WOLFF, als gegen NEWTON, und seine Anhänger ging, kämpft KANT hier vor allem, vom Gedanken der Relativität aller Bewegung ausgehend, gegen den absoluten Raum der Mathematiker und Physiker, unbeschadet seiner treuen Anhängerschaft an NEWTON selbst:
    "Wenn ich mir auch gleich einen mathematischen Raum leer von allen Geschöpfen als ein Behältnis der Körper einbilden wollte ... wodurch soll ich die Teile desselben und die verschiedenen Plätze unterscheiden, die von nichts Körperlichem eingenommen sind?"
Eine völlige Wandlung aber zeigt nun in diesem Punkt die kleine Schrift vom Jahr 1768 - unmittelbar vor der Wendung, die zur Inauguraldissertation führt - "Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raum". Hier glaubt KANT einen Beweis dafür zu besitzen,
    "daß der absolute Raum unabhängig vom Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität hat."
Der Beweis stützt sich auf den in der Anschauung gegebenen Unterschied von rechts und links. Betrachten wir die rechte und die linke Hand, so ist das Verhältnis, der Zusammenhang der einzelnen Teile der Hand zueinander bei beiden Händen vollständig das Gleiche, trotzdem bleibt evidentermaßen zwischen beiden Händen ein unüberbrückbarer Unterschied, rechte und linke Hand können nicht eine an die Stelle der anderen gesetzt werden. Wenn aber dieser Unterschied nicht als Erscheinung eines verschiedenen Verhältnisses in der Anordnung der Dinge zueinander aufgefaßt werden kann, so bleibt nur übrig, daß diesem "Phänomen" ein verschiedenes Verhältnis der gleichen, auch in den Beziehungen ihrer Teile gleichen Gegenstände zum absoluten Raum realiter zugrunde liegt. Damit aber wird der absolute und ursprüngliche Raum selbst ein metaphysischer Grundbegriff, einer der "rationalen Grundbegriffe, worin sich einzig und allein die empfundenen Eigenschaften der Dinge erklären lassen" (Reflexion 502) und eine metaphysische Realität.

Zum Beweis für die Ursprünglichkeit des absoluten Raums und die Notwendigkeit, ihn von einem bloßen Durcheinander der Dinge zu unterscheiden, beruft sich KANT auf die anschaulich evidente Gewißheit, daß rechte und linke Hand, Gegenstand und Spiegelbild trotz absoluter Gleichheit der Teile und ihrer Relationen untereinander doch nicht zur Deckung gebracht werden können;
    "in den anschauenden Urteilen, dergleichen die Meßkunst enthält, ist der Beweis zu finden, daß der absolute Raum unabhängig vom Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität hat."
In diesem Gedanken, daß der Mathematik anschaulich gewisse Urteile zugrunde liegen, kommen wir zu einem weiteren Punkt, in dem sich KANT schon sehr frühzeitig von der Auffassung der leibniz-wolffischen Philosophie entfernt. Für LEIBNIZ und WOLFF beruth die ganze Mathematik auf dem Satz der Identität; wir sahen, wie bei WOLFF die "mathematische Methode" zur rein logischen Deduktion wird. Dagegen unterscheidet KANT schon in einer Reflexion, die nach ADICKES' Bestimmung aus der Mitte der 50er Jahre stammt (3), die "Philosophie im eigentlichen Verstand" und die Mathematik dahin, daß die erstere die Dinge durch den intellectus purus [reinen Verstand - wp] erkennt, während die Mathematik die einzige Wissenschaft ist, in der
    "eine deutliche Einsicht der Gründe unmittelbar von den Sinnen oder der Vertreterin, der Einbildungskraft abhängt."
Genauer: die Mathematik hat es mit den Ideen der Größen und ihren Verhältnissen zu tun, sie kann aber diese Ideen der Größe restlos in die Sinnlichkeit übersetzen, sie sinnlich vorstellig machen und damit die Abhängigkeit der Größenverhältnisse von ihren Gründen aus einer Reihe sinnlicher Vergleichungen herleiten. An anderer Stelle (4) drückt KANT das dahin aus: in der Mathematik gehe die praktische, die "ausübende" Logik, der theoretischen voraus. Es ist derselbe Gedanke, dem er in der Abhandlung über die "Deutlichkeit" von 1764 die Wendung gibt, die Mathematik betrachte ihre Gegenstände an Zeichen in concreto, die Geometrie etwa an ihren Figuren. Dessen ungeachtet bleibt es für ihn doch dabei, wie er gerade ebenfalls in dieser Schrift über die Deutlichkeit lehrt, daß die Mathematik wesentlich nach "synthetischer Methode" zu verfahren fähig ist, d. h. aus vorausgeschickten Definitionen ihre Sätze herleitet und beweist. Die Mathematik "erdichtet" ihre Gegenstände, sie setzt sie durch einfache Wiederholung aus denselben einfachen Elementen (die Zahlen aus den Einheiten, die räumlichen Figuren aus geraden Linien) zusammen, aber sie vollzieht diese Zusammensetzung zugleich in der Anschauung, so daß also in ihr die Definition - das Bildungsgesetz - dem Gegenstand voraufgeht und ihm zugleich völlig entspricht, da ja der Gegenstand durch die Definition und ihr gemäß entsteht.

Die Metaphysik handelt von realen Gegenständen, die ihr aber vorher gegeben sein müssen und deren Grundbegriffe und Grundverhältnisse sie nur auf dem Weg der Analysis erkennen kann, die Mathematik von nicht gegebenen, sondern durch den Verstand gedichteten Gegenständen, deren Realität aber durch die Anschauung verbürgt ist, so daß sie nicht in Gefahr ist, zu einer bloßen logischen Begriffskonstruktion zu werden.

Nun bleibt hier noch eine Schwierigkeit. Alle "Erdichtung" mathematischer Gegenstände durch "Wiederholung" setzt doch eben einfache Elemente voraus: das Einfache als solches kann nicht erdichtet werden, es muß gegeben sein (5). Die letzten Elemente, mit denen die Mathematik arbeitet: die Einheiten, aus denen sie die Zahlen zusammensetzt, die geometrischen Liniengebilde und die für sie geltenden unerweislichen Sätze, die Axiome der Geometrie, müssen als materiale "Data", der Anschauung entnommen, aller mathematischen Definition und Konstruktion zugrunde liegen. Die Axiome der Mathematik werden daher für KANT, nachdem der Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile eingeführt ist, zu synthetischen Sätzen, bezeichnenderweise aber zu materialen Prinzipien der Erkenntnis, die KANT als solche den früher erwähnten Formalprinzipien der synthetischen Erfahrungserkenntnis (wie dem Satz vom Grunde) ausdrücklich gegenüberstellt (Reflexion 504, ferner 496 und 498). (6)

Nun waren zuerst alle synthetischen Sätze für KANT auch empirisch; neben der logischen Überlegung stand nur die Erfahrung als Erkenntnis- und Beweismittel, wie auch alle "Data" der Erkenntnis nur durch Erfahrung gegeben werden konnten - es war das, wie man sich erinnert, der Standpunkt der "Träume", sowie der Reflexionen 292, 499, 500 usw. Mindestens auf die rein geometrischen Axiome der Mathematik scheint KANT diesen Gedanken dann auch eine Zeitlang übertragen zu haben, wenn er in Reflexion 303 (und 506 und ähnlich) die Synthesis der "Koordination nach Raum und Zeit" als empirische oder als "Synthesis der Erfahrung" bezeichnet. Aber schon hier wird dem die rationale oder Synthesis der Vernunft gegenübergestellt, der die Begriffe Ganzes und Teil, Zahl und Einheit entspringen. InReflexion 504 werden dann die arithmetischen, geometrischen und chronologischen Axiome neben den empirischen als synthetische Urteile. Die strenge Notwendigkeit und Allgemeinheit der mathematischen Axiome, auf die als unbezweifelbare Tatsache KANT sich seit der Inauguraldissertation stets mit Vorliebe beruft, ist ihm offenbar zu vollem Bewußtsein gekommen und hat sich von der bloß komparativen Allgemeinheit der empirischen Sätze (Reflexion 490: "Wie werden empirische und synthetische Urteile allgemein?") unterschieden. Als solche evidenten und synthetischen Urteile erscheinen die geometrischen Axiome offenbar auch in der Schrift von 1768, die geometrischen Axiome, die uns die Eigenschaften des Raumes erkennen lassen, mit einer durch keine logische Überlegung aufhebbaren Evidenz.

Damit aber wird nun der Begriff des Raumes (und ebenso der der Zeit, wenn wir, wie schon in Reflexion 504 zu den geometrischen die chronologischen Axiome in Parallele setzen) für KANT im Jahre 1769 in mehrfacher Weise zum Problem:
    Wie kann der Raum, der absolute Raum, ein letzter Grundbegriff sein, wie kan ner Realität ansich besitzen, wenn er doch weder Substanz, noch Akzidenz, noch ein Verhältnis, eine Beziehung der Substanzen ist, und wie kann er zudem noch ein reales Objekt sein, von dem wir alles Mögliche a priori, unabhängig von aller Erfahrung in synthetischen Urteilen erkennen können? (vgl. den Schluß der Abhandlung von 1768, ferner Reflexion 331f)
Was ist der Raum - seiner Realitätsstufe, seiner Seinsweise nach, und was ist er als Begriff, d. h. woher stammt unser Wissen von ihm? Der Raum ist keine Substanz und keine von den Substanzen abhängige Bestimmung oder Beziehung: er ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit der Dinge und der Möglichkeit ihrer Beziehungen, des Nebeneinander - der Begriff des Nebeneinander setzt den des Raumes (der Begriff der Zeitfolge den der Zeit) als logisches Prius [Zuerst - wp] voraus (7), denn das Nebeneinander ist ein Nebeneinander im Raum (das Nacheinander eine Folge in der Zeit), im absoluten Raum. Aber dann ist er überhaupt keine metaphysische Realität, es sei denn, daß wir ihn selbst zum ens realissimum [wirklichste Wirklichkeit - wp] stempeln (Reflexion 331, 332); der leere Raum, der übrig bleibt, wenn wir alle Dinge daraus fortdenken, der da sein soll, ohne daß in ihm etwas sein soll, das ihn mit seinem Nebeneinander erfüllt, ist selbst etwas, dessen Existenz wir gar nicht zu denken vermögen. So wird der Raum zu einem "ens imaginarium" [Welt der Einbildungskraft - wp], ist aber doch zugleich ein "wahrer", geltender Begriff. Woher haben wir diesen Begriff und kennen wir seine Eigenschaften? Nicht aus reinen Begriffen und der analytischen Entwicklung dessen, was in diesen Begriffen liegt: die Sätze der Geometrie sind keine analytischen Urteile und die Grundeigenschaften des Raumes sind gegeben, nicht erdichtet. Nicht aus der Erfahrung, denn die Sätze der Geometrie sind keine empirischen Sätze, die durch Erfahrung wieder umgestoßen werden könnten und der Raum - der eine allumfassende, ins Unendliche teilbare und ins Unendliche vergrößerbare Raum, dessen Teile alle einzelnen begrenzten Räume sind - ist kein aus Einzelerfahrungen abstrahierter empirischer Allgemeinbegriff.

Die positive Lösung des Problems, d. h. die einzige Vorstellung vom Wesen von Raum und Zeit, in der diese widersprechenden Eigenschaften von Raum und Zeit miteinander vereinbar erscheinen, bringt nun die Inauguraldissertation "de mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis", deren Grundgedanken offenbar das "große Licht" war, das KANT nach seinem eigenen Ausdruck das Jahr 1769 brachte (Reflexion 4). Raum und Zeit sind, wenn wir nach dem Ursprung unseres Wissens von ihnen fragen, "reine Anschauungen". Das heißt unser Wissen von ihnen baut sich auf Anschauung auf, aber nicht auf empirischer, die anschauliche Vorstellung der geometrischen Gebilde, die zur Unterlage der Geometrie dient, ist nicht das Abbild, die Kopie einer voraufgehenden Wahrnehmung, sondern ist das Erzeugnis einer schöpferischen Einbildungskraft, die vor aller tatsächlichen Erfahrung und unabhängig von ihr, a priori, ihre Gebilde in concreto, anschaulich konstruiert, die Geometrie ist eine Wissenschaft nicht aus Begriffen, sondern "aus der Konstruktion der Begriffe", wie es später heißt. Der Raum - der eine absolute Raum - ist selbst eine solche apriorische Konstruktion der Einbildungskraft: er ist, wie schon gesagt, kein abstrakter oder allgemeiner Begriff, sondern ein einziger individueller Gegenstand, also ein Gegenstand intuitiver Vorstellung, nicht diskursiven und abstrahierenden Denkens, er entsteht, indem wir die gegebene Ausdehnung in der Vorstellung ins Unendliche vergrößern. Seiner realen Wesenheit nach aber ist er wesentlich subjektiv - "wenn der Raum etwas Objektives und Notwendiges wäre, woher würden wir das erkennen?" (Reflexion 344) - er beruth auf der Ordnung, die unsere Seele kraft eines festen und angeborenen Gesetzes den Empfindungen aufprägt. Weil dieses Gesetz unserer Anschauung wesentlich ist, können wir nichts empfinden und wahrnehmen, was nicht den Axiomen der Geometrie und ihren Folgesätzen entspricht, können wir die Begriffe der Geometrie a priori konstruieren, d. h. aus dem Gedanken in die Anschauung ohne Weiteres übersetzen, kann unsere Einbildungskraft hier, in Bezug auf räumliche Formen schöpferisch sein, während sie in Bezug auf Farben, Töne, Gerüche usw. nur reproduktiv sein kann, ist der Raum (und die Zeit) die notwendige Bedingung der Möglichkeit aller sinnlich wahrnehmbaren Dinge - aber freilich auch nur der Gegenstände unserer sinnlichen Wahrnehmung, da die "Notwendigkeit" des Raumes nur auf der Gesetzmäßigkeit der letzteren beruth. Er ist seiner Realität nach betrachtet, die "Form des mundus sensibilis" [der sinnlichen Welt - wp].

Im Zusammenhang mit dem Problem des "Seins" von Zeit und Raum bekommen nun offenbar speziell auch die Antinomien für KANT ihre besondere Bedeutung. Der Gedankengang, aus dem sie entspringen, war ja für KANT schon längst nicht neu: daß eine Schwierigkeit darin lag, die Unendlichkeit der zeitlichen Ordnung der Dinge mit der von der Vernunft geforderten ersten Ursache der Welt und dem absoluten Anfang der Weltschöpfung zu vereinigen wußte er längst, aber er hält zunächst diese Schwierigkeit für keineswegs unlösbar, wie eine bekannte Stelle der "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" zeigt (8). Ebenso kennt er die Schwierigkeit, die der gedanklichen Forderung des Vorhandenseins letzter unteilbarer substanzieller Einheiten die unendliche Teilbarkeit des Raums bereitet, aber er glaubt auch diese Schwierigkeit durch seine dynamische Konstruktion der Materie in der "Physischen Monadologie" lösen zu können. Dagegen werden die Antinomien nun erst durch die Lehre von der Realität des absoluten Raums zu unlösbaren Schwierigkeiten, die prinzipiell im Wesen von Raum und Zeit gründen, in der eigentümlichen Notwendigkeit von Raum und Zeit für die Welt der Dinge. Und die Lösung bringt auch hier allein die Subjektivierung von Raum und Zeit.
    "Die Zeit und der Raum gehen vor den Dingen vorher ... Objektiv genommen würde dieses ungereimt sein. Daher die Schwierigkeit vom Ort der Welt und der Zeit vor der Welt." (Reflexion 1423)

    "Der erste Anfang und die äußerste Grenze der Welt sind gleich unbegreiflich; denn es ist das erste ein Sein und Nichtsein zugleich, und beides scheint eine absolute Zeit und Raum, d. h. etwas, was da begrenzt und doch nichts enthält, anzuzeigen." (Reflexion 1422)
Es sind danach also nicht eigentlich die Antinomien der Ausgangspunkt und gar der einzige Ausgangspunkt der ganzen Wendung von 1769 gewesen, wie mir scheint (9), wohl aber werden sie zu der gleichsam greifbarsten Jllustration der Unzuträglichkeiten und Paradoxien, die sich aus einer absoluten Existenz von Raum und Zeit, die sich ergeben, wenn man ihre "Realität, welche dem inneren Sinn anschauend genug ist, durch Vernunftideen fassen will" (Von dem ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Raum). Dann aber erhalten nun gerade die Antinomien offenbar noch eine besondere Bedeutung: sie werden der Punkt, an dem sich offenbar für KANT intellektuelle und sensitive Begriffe zuerst deutlich voneinander scheiden und in ihrer Verschiedenheit, wie in ihrer Beziehung aufeinander klar werden. Es ist falsch zu meinen, daß, weil die Welt keinen Anfang hat, sie auch keine erste Ursache haben kann, bzw. den Ursprung der Welt aus einem Schöpfungsakt Gottes darum zu leugnen, weil sich dann als Folge scheinbar eine leere Zeit ergibt, die widersinnigerweise der Schöpfung vorhergegangen sein müßte. Es ist falsch, mit dem Begriff der Existenz (wie bei CRUSIUS) den des "irgendwo" schlechthin und unlösbar zu verknüpfen und daraufhin die Frage nach dem Ort der Welt (auch diejenige nach dem "Sitz der Seele" - vgl. "de mundi sensibilis ..." V,26) zu stellen, woraus sich der Widersinn ergibt, daß die Welt irgendwo im Raum, umgeben von einem leeren Raum existiert. Ganz ebenso und aus demselben Grund ist es falsch, den Begriff der Menge ohne weiteres mit dem zählbaren Menge zu identifizieren, woraus sich ergibt, daß jede wirkliche Menge in Zahlen gegeben werden, also endlich sein muß, ist es falsch, das "Unmögliche" mit dem zu identifizieren, was "zugleich" widersprechende Prädikate hat, ist es falsch, das "Zufällige" mit dem irgendwann einmal nicht Existierenden, das "Notwendige" mit dem Immerwährenden in Eins zu setzen (a. a. O., § 28).

In allen diesen Fällen werden offenbar Begriffe, die nur für Gegenstände in Raum und Zeit, für die Dinge, die als wahrnehmbare Dinge gedacht werden, für den mundus sensibilis gelten, identifiziert mit Begriffen allgemeinerer Bedeutung, wird, so würde KANT in seinem späteren Sprachgebrauch sagen, die Kategorie mit ihrem Schema verwechselt. "Ursache und Anfang sind, jenes intellektuell, dieses sensitiv." (Reflexion 1426)
    "Die Welt, intellektualiter betrachtet, hat keinen Anfang; nicht weil sie eine unendliche Zeit gedauert hat, denn alsdann würde sie sensitiv betrachtet werden, sondern weil sie in dieser Hinsicht gar nicht in der Zeit erwogen wird." (Reflexion 1427)

    "Die Welt sinnlich vorgestellt hat kein Erstes, d. h. keinen Anfang, aber wohl durch die Vernunft; d. h. kein Erstes in der Zeit, wohl aber ein Erstes der Ursache. Beides hat miteinander nichts gemein." (Reflexion 1428)

    "Ebenso hat die Welt der Größe nach sinnlich vorgestellt keine Grenzen durch den leeren Raum, aber wohl Schranken der Realität." (ebd.)
Wie die Begriffe "Anfang" und "Ursache", so verhalten sich "Notwendigkeit" und "Ewigkeit, "Menge" und "Zahl", "Zufälligkeit und "zeitliche Nichtexistenz" zueinander. Es gibt neben jenen Raum und Zeit voraussetzenden Begriffen, deren Sinn wir eben nur in den Daten der Anschauung erfassen können, andere, die ihren Ursprung nicht in der Anschauung, sondern im Verstand haben.

Sinnlichkeit und Verstand sind damit zu zwei Quellen der Erkenntnis in dem Sinn geworden, daß durch beide uns Begriffe ihrem Inhalt nach gegeben werden; auf den Verstand im Unterschied von der Erfahrung geht nicht mehr nur die logische Form der Allgemeinheit, sondern auch die Data zu ganz bestimmten Begriffen zurück. Der KANT geläufige Unterschied des logischen und realen Verstandesgebrauchs bekommt damit zugleich einen neuen Sinn: wir gebrauchen den Verstand logisch, indem wir gegebene Tatsachen unter allgemeine Begriffe subsumieren oder aus der Mannigfaltigkeit einzelner Tatsachen allgemeine Begriffe bilden, wir gebrauchen ihn real, indem wir die Begriffe gebrauchen, die ihm selbst entspringen.

Daß hinter den gegebenen Inhalten der sinnlichen Wahrnehmungen eine Welt von realen Dingen steht, daß für diese Dinge die Begriffe des reinen Verstandes reale Bedeutung und Geltung haben, ist für KANT noch in der Inauguraldissertation selbstverständlich. Die Frage, was überhaupt unseren Begriffen die Beziehung auf einen Gegenstand, also objektive Geltung gibt, ist noch nicht gestellt. Die Subjektivität von Raum und Zeit wird auf die relative Geltung alles Sinnlichen gegründet: Alles in der Wahrnehmung Gegebene ist vom Sinn und seiner Organsiation abhängig und wechselt mit dieser Organisation; von Raum und Zeit können wir daher auch, da ihr Ursprung in der Wahrnehmung liegt, nur vom Standpunkt des Menschen und seiner Sinnesorganisation aus sprechen. Aber in einem wichtigen Punkt ist eine Änderung erfolgt: die sinnliche Wahrnehmung ist nicht mehr das "verworrene" Abbild eines durch das Denken "klar und deutlich" erfaßten Objekts, sinnliche Wahrnehmung und Gedanke sind nicht durch den Grad ihrer Deutlichkeit, sondern dem Wesen, der Art nach unterschieden. Es gibt nur auf dem Weg der sinnlichen Wahrnehmung oder Vorstellung erfaßbare Gegenstände, die wir zugleich mit vorbildlicher Klarheit und Deutlichkeit erkennen: die Objekte der Geometrie. In der Naturwissenschaft und Mathematik stützen wir uns auf Wahrnehmung und machen zugleich einen logischen Gebrauch von unserem Verstand, durch den noch so ausgedehnten Gebrauch des Verstandes aber wird hier der sinnliche Charakter dieser Erkenntnis und ihrer Grundbegriffe nicht verändert oder aufgehoben. Es ist derselbe Gegenstand, den wir einmal als "Substanz", einmal als "beharrliches" Ding in der Zeit einmal als "zufällig", einmal als in der Zeit entstehend und auch wieder vergehend, einmal als "existierend", einmal als einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit erfüllend denken, nach dessen Anfang wir einmal, nach dessen Ursache wir das andere Mal fragen. Aber das eine Mal betrachten wir dabei den Gegenstand ebenso, wie er uns und unserer sinnlichen Wahrnehmung erscheint, als Phänomen, das andere Mal so, wie er sich dem reinen, nicht durch Wahrnehmung beeinflußten Denken darstellt, als Noumenon. Das erste Mal erscheint der Gegenstand von gewissen Gesetzen beherrscht, die aber eben bei genauerer Betrachtung nur die Bedingungen darstellen, unter denen der Gegenstand von uns wahrgenommen oder mit anderen wahrnehmbaren Gegenständen verglichen, bzw. unter denen der gedachte Begriff auf einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand angewandt werden kann, die also auch nur in dieser Einschränkung, für sinnlich wahrgenommene Gegenstände als solche gelten. Das andere Mal gelten für ihn Gesetze, deren Geltung nicht an diese einschränkende Bedingung geknüpft ist.

Diese Gesetze und die Begriffe, in denen sie ihren Ausdruck finden - z. B. das Gesetz, daß alles Zufällige eine Ursache und letzten Endes eine notwendig existierende Ursache haben muß, - können nicht empirischen Ursprungs sein, sie werden nicht durch Abstraktion aus der Erfahrung gewonnen, sie sind freilich auch nicht angeboren in dem Sinn, daß wir sie als fertige Begriffe mit auf die Welt bringen, sondern wir gewinnen sie, indem wir auf die Tätigkeit des Verstandes selbst Acht haben. In seiner auf die Erfahrung gerichteten Denktätigkeit - alle Tätigkeit des Verstandes muß ja schließlich durch die Erfahrung angeregt, es muß ihr durch die Erfahrung die Aufgabe, das Problem gestellt sein - erzeugt der Verstand jene Begriffe, bedient sich ihrer, und wir finden sie in der auf diese Tätigkeit des eigenen Verstandes gerichteten inneren Wahrnehmung (de mundi etc. § 8). Die "Tätigkeit" des Verstandes aber gegenüber den in der Erfahrung gegebenen Gegenständen ist stets eine urteilende, also nicht "abstrahendo", sondern "judificando" gewinnen wir die reinen Verstandesbegriffe, indem wir in der urteilenden (das in der sinnlichen Wahrnehmung Gegebene unter allgemeine Begriffe, unter allgemeine "Merkmale" subsumierenden) Tätigkeit des Verstandes von dem der Sinnlichkeit entstammenden Inhalt abstrahieren und so das nur dem Verstand Entstammende übrig behalten.

Eine gewisse Unsicherheit und Unklarheit in der Stellung der reinen Verstandesbegriffe ist in der Inauguraldissertation unverkennbar, und zwar in doppelter Hinsicht. Wir erhalten einmal keine ganz klare Auskunft darüber, ob sie als "Form" = oder als materiale Inhaltsbegriffe anzusprechen sind, und zweitens wie weit mit ihrer Hilfe ganz unabhängig von aller sinnlichen Wahrnehmung eine Erkenntnis der Gegenstände der Wirklichkeit gewonnen werden kann. Einmal sollen uns Data zu jenen Begriffen durch den Verstand gegeben werden, so wie uns die Data zu den empirischen Begriffen durch die Wahrnehmung gegeben werden, die Verstandesbegriffe werden also in Parallele zu den materialen Begriffen der sinnlichen Erkenntnis gestellt. Auf der anderen Seite betont KANT (§ 10), daß es für den Menschen von den intellektualia keine anschauliche, sondern nur eine symbolische Erkenntnis gibt. Alles anschaulich Gegebene muß in einzelnen konkreten Inhalten gegeben sein, sei also an die Formen des Raumes und der Zeit für uns gebunden, d. h. Inhalt sinnlicher Wahrnehmung.
    "Praeterea omnis nostrae cognitionis materia non datur nisi a sensibus, sed noumenon qua tale non concipiendum est per repraesentationibus a sensibus depromptas ; ideo conceptus intelligibilis, qua talis, est destitutus ab omnibus datis intuitus humani."
    [Darüber hinaus wird uns der Inhalt all unseres Wissens nur durch die Sinne vermittelt; das Noumenon als solches aber ist nicht durch sinnliche Vorstellungen zu erfassen; daher ist der intelligible Begriff als solcher frei von allen Gegebenheiten der menschlichen Anschauung. - wp]
Dieser nur symbolische Charakter der Verstandesbegriffe läßt sie also gleichsam als bloße Anweisungen auf Erkenntnisse erscheinen, die erst durch die hinzutretende Anschauung voll erfüllt, zu einer wirklichen Erkenntnis wird. Anders ist das nur beim schöpferischen göttlichen Verstand, bei dem alles passive Moment im Erkennen fehlt und der Begriff das Urbild des Gegenstandes wird. Die Verstandesbegriffe des menschlichen Geistes werden damit ebenso wie die der Sinnlichkeit entstammenden Begriffe des Raumes und der Zeit zu Begriffen, die bloße Form der wirklichen Dinge, die allgemeinen äußeren Bedingungen, unter denen sie stehen, nicht ihr eigentliches inneres Wesen angehen und bezeichnen. Auch Raum und Zeit werden erst durch die erfüllende empirische Anschauung konkret vorstellbar und zugleich zu Vorstellungen wirklicher Dinge ergänzt. Bestimme ich ein Ding als "Substanz", denke ich es durch diesen reinen Verstandesbegriff, so ist damit die Frage nach dem inneren Wesen dieser Substanz noch nicht beantwortet, wenn ich aus reinen Verstande", denke ich es durch diesen reinen Verstandesbegriff, so ist damit die Frage nach dem inneren Wesen dieser Substanz noch nicht beantwortet, wenn ich aus reinen Verstandesbegriffen auf eine letzte einheitliche Ursache der Dinge schließe, ist damit auch das Wesen dieser Ursache noch nicht erkannt oder ein material bestimmter Begriff gefunden, der dieses Wesen ausdrückt; ebenso wie wenn ein sinnlich wahrnehmbares Ding als erfüllter Raum oder erfüllte Zeit angesprochen wird, er damit noch nicht seinem inneren Wesen, sondern nur seiner Daseinsform, seiner Existenzweise nach bestimmt ist. (Es scheint auch, daß der Begriff der "Form" von KANT von den sinnlichen Formen, von Raum und Zeit her, erst auf die Verstandesbegriffe übertragen worden ist - vgl. Reflexion 508: "Da es beim Sinnlichen Materie und Form gibt: soll nicht auch im Intellektuellen Materie und Form sein?" Es wird dann eine zweifache Form der Vernunft unterschieden: die logische Form des Allgemeinen und Besonderen und die reale Form des Grundes und der Folge (Realgrundes). Man sieht, wie hier die Analogie mit den Formen der Sinnlichkeit dazu führt, den bloßen Form-, den bloßen Beziehungscharakter der reinen Verstandesbegriffe zu betonen (10). Die Sätze und Begriffe des reinen Verstandes, die in ihrem realen Gebrauch die Metaphysik im Unterschied und Gegensatz zur Naturwissenschaft begründen sollen, können damit offenbar auch diese metaphysische Wissenschaft von den Dingen ansich, d. h. unabhängig von ihrer sinnlichen Erscheinung, nicht vollenden, sondern nur ihre allgemeine Form festlegen, sie verhalten sich zur Metaphysik selbst etwa wie die Geometrie sich zur Wissenschaft von den den Raum erfüllenden Dingen verhält. Für eine vollendete Wissenschaft der Metaphysik aber fehlen nun die gegebenen Daten der Anschauung, über die die Naturwissenschaft in ihrem sinnlichen Gebiet verfügt, wollen wir sie entwickeln, so müssen wir die Grenzen der apodiktischen [sicheren - wp] Gewißheit, die der Metaphysik eigentlich gesetzt sein müssen, überschreiten und uns in hypothetische Konstruktionen einlassen ("de mundi etc." IV, Anmerkung am Schluß). Daß sich KANT diese hypothetische Privatmetaphysik als eine spiritualistische Monadenlehre dachte, geht aus verschiedenen Äußerungen, die sich von den "Träumen" bis zur Kr. d. r. V. erstrecken, deutlich hervor (11).

In dem Maß nun, wie die Verstandesbegriffe zu rein formalen Begriffen werden, deren Hauptbedeutung nicht darin, daß sie selbst die wirklichen Dinge und ihre Beziehungen zueinander bezeichnen, sondern vielmehr in ihrer Anwendung auf die Gegenstände der Erfahrung besteht, mußte sich KANT das Problem aufdrängen, das in der Inauguraldissertation noch fehlt, dem aber KANT dann zuerst in dem bekannten Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 Ausdruck gibt: wie kommt es, daß die aus unserem Verstand stammenden Begriffe Bedeutung und Geltung für die gegenständliche, in unseren Empfindungen uns gegebene Welt haben? Kürzer: was gibt unseren Vorstellungen die Beziehung auf den Gegenstand?


II. Die kritische Problemstellung

Es sind vor allem drei Punkte prinzipieller Bedeutung, in denen dieKritik der reinen Vernunft über die vorkantische Philosophie hinausgeht. Erstens die gänzliche und bewußte Überwindung der Auffassung, daß das Wahrnehmen ein verworrenes Denken ist, die grundsätzlich andere Bestimmung des Verhältnisses von Sinnlichkeit (gegebene Materie) und Verstand (gedachte Form der Erkenntnis). Zweitens der Begriff des Apriori der Sinnlichkeit, der Anschauungsform. Drittens die Idee der transzendentalen Methode, das Prinzip der Deduktion oder was dasselbe ist, der Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis, für uns gegenständlicher Erfahrungserkenntnis.

Der erste Punkt betrifft im Grunde nur eine Konsequenz der Entwicklung, die die Philosophie schon in der kritischen Reaktion gegen die wolffische Ontologie genommen hatte. Schon in dieser Kritik spielte, wie man sich erinnert, die Unterscheidung formaler und materialer Denkprinzipien eine bedeutende Rolle. Es ist unmöglich aus dem Satz vom Widerspruch allein Wesen, Eigenschaften und Existenz der Dinge herzuleiten, denn der Satz vom Widerspruch ist ein rein formales Denkgesetz, das uns sagt ob vorgegebene Gedanken miteinander vereinbar sind, das über die formale Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Gedankensystems entscheiden kann, aus dem aber nicht ein inhaltlich bestimmtes Gedankensystem abgeleitet oder als gültig, als richtiges Abbild der Wirklichkeit nachgewiesen werden kann. Erkenntnisse können nicht "dem Inhalt nach analytisch entspringen" und ebenso kann kein Existenzialurteil ein analytischer Satz sein, um KANTs Ausdruck zu gebrauchen. So treten den nur formalen die materialen Grundsätze der Erkenntnis gegenüber, die aus jenen nicht ableitbar sind. Das Denken selbst bedarf solcher materialer Grundsätze, es bedarf gegebener Begriffe, aus denen es jene Grundsätze herleitet, es setzt ein Material, eine anderswoher gegebene Materie voraus, die durch das Denken lediglich geformt wird. Das Denken schafft nicht spontan Inhalte und Begriffe, sondern es verknüpft nur und verarbeitet gegebene Inhalte - mit dieser Trennung von gegebener Materie und durch den Verstand geschaffener Form dieser Materie näher sich die Gegner WOLFFs zugleich der Erkenntnistheorie LOCKEs, die natürlich auch nicht ohne Einfluß auf diese Entwicklung geblieben ist. Gehen wir nicht vom Denken, sondern von der Wahrnehmung aus: Die Inhalte der Wahrnehmung sind ihrer Materie nach stets gegeben, nicht durch Denken erschaffen. Wenn ich daher auch das gegebene Wahrnehmungsmaterial bis in seine letzten unterscheidbaren Elemente zerlege und auflöse, "Klarheit und Deutlichkeit" an die Stelle der Verworrenheit setze, so komme ich damit über die Sphäre des sinnlich Gegebenen, des Phänomenalen niemals hinaus, ich komme durch die Zerlegung, die Klärung und Verdeutlichung niemals zu einem Punkt, wo ich das sinnlich Gegebene als solches los werde und an die Stelle der sinnlich gegebenen Inhalte (oder nach Analogie des sinnlich Gegebenen vorstellbarer Inhalte) etwas ganz anderes, seiner Natur nach Unvorstellbares, der Sphäre des reinen Gedankens Angehöriges tritt. Es gibt klare und deutlich - in ihre letzten Elemente zerlegbar und durch definierbare - Phänomene und verworrene Phänomene, aber die klaren und deutlichen Phänomene sind keine Noumena, keine Gegenstände, die der reine Verstand ohne Zuhilfenahme der sinnlichen Vorstellung erdenken und erkennen könnte. Man beachte jedoch, wie schon innerhalb von LEIBNIZ' Schule diese Scheidung des Phänomenalen und Noumenalen mit vollster Schärfe von GOTTFRIED PLOUCQUET gegenüber WOLFF (dessen Rationalismus er sonst so nahe steht) betont wird: Die Phänomena, so lehrt PLOUCQUET, "non erunt resolubilia in monades, sed in perceptiones sen ideas partiales" [lassen sich nicht in Monaden auflösen, sondern werden zu Wahrnehmungen oder Teilideen - wp] (12), die vorstellenden und kraftbegabten Monaden sind für den Leibnizianer PLOUCQUET das substanziell Wirkliche, während die ins Unendliche teilbare, der wahren Einheit entbehrende Materie keine substanzielle Wirklichkeit besitzt, sondern nur phänomenaler Natur ist, aber das kann nicht heißen, daß die körperlichen Phänomene verworren wahrgenommene Monaden, daß die Monaden die klar und deutlich erfaßten Elemente der Körperwelt wären. Zwischen der phänomenalen Körperwelt und der noumenalen Welt der Dinge-ansich, der substanziellen Monaden besteht ein Unterschied des Wesens, nicht des Grades, beide bleiben ebenso wie ihre Erkenntnis, unverbunden einander gegenüber stehen. (13)

Gerade die scharfe Trennung von Form und Materie in der Erkenntnis, von formalen und materialen Grundsätzen, von denen die letzteren dann notwendigerweise das überwiegende Interesse in Anspruch nehmen, führt zu einer gewissen Grenze der kantischen Philosophie; zur Vernachlässigung der reinen Logik und ihrer Probleme, die hinter der Erkenntnistheorie weit zurücktritt. Die Logik ist die Wissenschaft, die im Grunde seit ARISTOTELES vollendet und im Wesentlichen abgeschlossen ist. Die analytischen Sätze und der Satz vom Widerspruch, auf dem sie beruhen, schließen kein Problem mehr in sich. Die Frage nach dem Grund der Gültigkeit beginnt erst bei den synthetischen Sätzen, bei den materialen Prinzipien der Erkenntnis, oder was nun für KANT dasselbe bedeutet: bei den Sätzen, die nicht bloß für die von uns gedachten Begriffe, sondern für die Gegenstände der Wirklichkeit Geltung beanspruchen. Das Problem der objektiv gültigen Wahrheit, des objektiven "Seins im allgemeinsten Sinn des Wortes, verschwindet hinter dem allein übrig bleibenden Problem der objektiven Wirklichkeit. Man beachte indessen, wie KANT hier übereinstimmt mit LOCKE und den englischen Philosophen (ebenso wie mit den Gegnern der wolffischen Ontologie in der deutschen Philosophie), für die gleichfalls das eigentliche Problem erst mit der Erkenntnis der Wirklichkeit außerhalb des Bewußtseins beginnt, die reine Logik und ihre Prinzipien es nur mit den Begriffen in unserem Geist mit bloßen Schöpfungen des Verstandes zu tun hat. Die entgegengesetzte Richtung nimmt in der kontinentalen Philosophie die Entwicklung vor allem in MALEBRANCHE und in in LEIBNIZ, dann auch auch in SPINOZA und in CHRISTIAN WOLFF, hier tritt überall der Versuch zutage, die Wirklichkeit in der Wahrheit (im Sein) und dementsprechend die Erkenntnistheorie in der reinen Logik zu verankern. Wir werden später sehen, wie diese letztere Tendenz verstärkt in der nachkantischen Philosophie wiederkehrt. (Am sichtbarsten tritt diese Voraussetzung der Logik natürlich in der Art zutage, wie die Tafel der Urteilsformen in der Kr. d. r. V. einfach der formalen Logik entnommen wird.)

Der als prinzipiell, nicht mehr nur als graduell gefaßte Unterschied von Wahrnehmung und Denken fällt zusammen mit dem Unterschied des "Gegeben" - und "Gedacht"seins, der Rezeptivität und Spontaneität. In der Wahrnehmung werden uns Inhalte gegeben, die als solche niemals Gegenstände des reinen Denkens sein oder werden können, umgekehrt die gedanklichen Formen, deren sich das jene Inhalte formende und gestaltende Denken bedient, können nie Inhalte der Wahrnehmung sein. Es war der Fehler der leibniz-wolffischen Philosophie, daß sie die Erscheinungen "intellektuierte", der Fehler LOCKEs, daß er die reinen Begriffe "sensifizierte". Damit ergibt sich ein schroffen Dualismus von Wahrnehmung und Denken: Die Rezeptivität des inhaltlich bestimmten Wahrnehmens und die Spontaneität des gedanklichen Formens sind die zwei in der Wurzel verschiedenen Arten oder Quellen der Erkenntnis. Die Termini "Rezeptiv" und "Spontan", Gegeben und Gedacht, charakterisieren sie in ihrer verschiedenen Eigenart als "Arten", die Redeweise, die gedankliche Form und gegebene Materie in der Erkenntnis unterscheidet, bezeichnet sie als verschiedene Quellen der Erkenntnis.

Die Art des Dualismus schließt nicht aus, sondern hat im Gegenteil die Konsequenz, daß die beiden Arten oder Quellen aufeinander angewiesen sind, nur miteinander vereinigt vollständige, fertige Erkenntnis, oder, wie wir dafür auch sagen können: das fertige Urteil erzeugen können. Denn für KANT ist es ebenso selbstverständlich, wie für die ganze kontinentale Philosophie seit LEIBNIZ, daß alles Erkennen sich letztenendes in Urteilen vollziehen muß ("Wir können alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann." (Kr. d. r. V. Analytik I, 1) Sie gehören zusammen eben wie Form und Materie: "Anschauungen ohne Begriffe sind blind", d. h. sie gewähren oder sind noch keine Erkenntnis eines Gegenstandes, noch keine Urteile, die wahr oder falsch sein können, sie müssen im Urteil auf einen Gegenstand bezogen, in diesem Sinn "gedacht", unter Begriffe gebracht werden, um zu Erkenntnis zu führen. "Begriffe ohne Anschauungen sind leer" - eine Form ohne Inhalt, Weisen oder Arten der Verknüpfung ohne das Material, das in ihnen verknüpft werden soll, "Prädikate möglicher Urteile", aus denen erst durch Anwendung auf gegebene Gegenstände wirkliche Urteile werden.

Unser menschliches Erkennen ist auf dieses Zusammenwirken jener beiden Erkenntnisquellen angewiesen. Wir sind angewiesen auf der einen Seite auf eine Mannigfaltigkeit gegebener einzelner Inhalte - alle Anschauung ist für uns eine Anschauung von Einzelnem und Gegebenem - auf der anderen Seite auf ein Denken, das diese gegebenen Inhalte unter allgemeine Begriffe bringt und so zu Prädikaten möglicher Urteile macht ("Begriffe sind Prädikate möglicher Urteile.") - alles Denken ist bei uns ein diskursives oder allgemeines Denken, das das intuitiv gegebene Einzelne (Mannigfaltige) unter allgemeine Begriffe zu fassen und mit ihrer Hilfe zu beurteilen sucht. Wir verfügen über keinen "intuitiven Verstand" und über keine "intellektuelle Anschauung", sondern nur über einen diskursiven (logischen) Verstand und eine Anschauung, die ihren Gegenstand in concreto, im einzelnen Beispiel darstellt, eben darum nur über ein Erkennen, bei dem das Denken sich auf vorangegangene Anschauung bezieht und nicht selbst Gegenstände schafft, einen intellectus ectypus [menschlicher Verstand - wp], nicht archetypus [göttlicher Verstand - wp]. Von der Möglichkeit eines solchen nicht diskursiven Verstandes oder einer intellektuellen Anschauung können wir uns nicht einmal eine Vorstellung machen - ebenso wie von der möglichen "gemeinsamen Wurzel", aus der die zwei Stämme unserer Erkenntnis: Sinnlichkeit und Verstand, vielleicht entspringen mögen. In beiden Fällen bleibt diese "Möglichkeit" für uns etwas rein Negatives.

Untersuchen wir nun den Ursprung der in unsere Erkenntnis überhaupt eingehenden "Begriffe", so kann dieser Ursprung in der einen und in der anderen Quelle, in der Wahrnehmung und im Denken zu suchen, die Elemente unserer Erkenntnis können "ästhetisch" und "logisch" sein. Das Wort "Begriff" ist dabei in jenem allerallgemeinsten Sinn genommen, in dem einfach jedes sinnvolle Wort als solches ein Begriff für uns ist, jenem Sinn, dessen sich auch KANT unbedenklich bedient, wenn er z. B. Raum und Zeit "Begriffe" nennt, obgleich die Absicht der transzendentalen Ästhetik dahin geht, zu beweisen, daß Raum und Zeit "Anschauungen" und eben nicht "Begriffe" nämlich im engeren Sinn des Wortes - Erkenntniselemente, die dem Verstand entspringen - sind. Dem Verstand, dem reinen Denken entspringt nun zunächst, wie wir bereits wissen, die Form der Allgemeinheit in unserer Erkenntnis: Allgemeines und nur Allgemeines kann gedacht, Einzelnes und nur Einzelnes kann angeschaut werden. Alle unsere Begriffe, sofern sie allgemeine Begriffe sind, entstammen der Quelle des Verstandes. Mit dem Allgemeinen als solchem, den Verhältnissen des Allgemeinen und Besonderen hat es daher die reine Logik zu tun. Allgemein aber sind nur die Begriffe in unserem Verstand, die Schöpfungen unseres Denkens als solche, nicht die Gegenstände, die Objekte, auf die unser Erkennen letzten Endes abzweckt. Der allgemeine Begriff als solcher gibt sich nicht als Abbild eines objektiv Existierenden, er erhebt keinen Anspruch auf objektive Geltung; oder die allgemeine Logik, die es mit dem allgemeinen Begriff als solchem zu tun hat, scheidet sich von der transzendentalen Logik, die die dem reinen Denken entstammenden Elemente unserer Erkenntnis untersucht, sofern sie den Anspruch erheben, gegenständliche Geltung zu haben. Die Frage der Transzendentalphilosophie, der Kr. d. r. V. geht ausschließlich auf diese objektiv gültigen, auf die dem reinen Denken entspringenden Erkenntniselemente, in denen wir zugleich Eigenschaften der Gegenstände zu erkennen meinen. Ihnen gegenüber ergibt sich von selbst die dreifache Frage:
    1. Gibt es überhaupt dergleichen Begriffe des reinen Verstandes?

    2. Wie können wir sie in systematischer Vollständigkeit darstellen?

    3. Wie können wir unser Recht erweisen, diese Begriffe, die unserem Denken entstammen, also subjektiven Ursprungs sind, als objektiv gültig zu betrachten - das Problem der Deduktion.
Die erste Frage kann durch Beispiele beantwortet werden, von denen das nächstliegende das Beispiel der Kausalität ist - Kausalität kann nur gedacht, nicht angeschaut werden, gleichwohl behaupten wir, daß es so etwas wie Ursache und Wirkung in der Welt der Dinge gibt. Diese Schwierigkeit hatte schon HUME gesehen, aber er hatte das Problem der Deduktion nicht lösen kann, sondern die objektive Gültigkeit des Kausalbegriffs zu einer Art Jllusion erklärt. Bei KANT setzt die Lösung des Deduktionsproblems die Ableitung der reinen Verstandesbegriffe aus den Urteilsformen, also die Beantwortung der zweiten Frage voraus: Erst das allgemein gestellte HUME-Problem weist uns den Weg zur Begründung der objektiven Gültigkeit der Kategorien und damit zur Überwindung von HUMEs Skeptizismus.

Wenden wir uns von den Elementen unserer Erkenntnis zu den Erkenntnissen selbst, von den Begriffen zu den Urteilen, so wiederholt sich dieselbe Unterscheidung und Fragestellung. Der "Ursprung" unserer Urteile, jetzt genauer gesprochen: nicht der Ursprung der in sie eingehenden Begriffe, sondern der Ursprung des Urteils selbst, der Verknüpfung der Begriffe im Urteil, kann ebenfalls in der einen und der anderen Quelle unserer Erkenntnis, in der Wahrnehmung und im Denken liegen. In der Wahrnehmung liegt der Ursprung aller empirischen Urteile, im reinen Denken der Grund der logischen Axiome, d. h. des Satzes vom Widerspruch, und dann mit dem Satz vom Widerspruch aller analytischen Urteile als solcher. Der Geltungsbereich dieser logischen Axiome und der auf sie gegründeten analytischen Sätze aber erstreckt sich wiederum nur auf unsere Begriffe, nicht auf die Welt der Objekte, bzw. auf diese Objekte nur, sofern sie unter unseren allgemeinen Begriffen stehen. Drei Momente kennzeichnen den analytischen Satz, aber diese drei Momente bedingen sich gegenseitig: daß seine Begründung rein durch die Berufung auf den Satz des Widerspruchs gegeben werden kann - daß er nur für Begriffe, nicht für Gegenstände gilt - daß er unsere Erkenntnis nicht erweitert, sondern nur wiederholt, was in unseren Begriffen schon gedacht und enthalten ist; der Satz vom Widerspruch sagt im Grunde nur aus, daß was von einem allgemeinen Begriff, auch von den Gegenständen gilt, die unter diesen allgemeinen Begriff fallen. Man beachte, daß die Einteilung der Urteile in analytische und synthetische nicht eigentlich die fertigen Urteile ihrem Inhalt, sondern der Art ihrer Begründung nach betrifft. Daraus ergibt sich von selbst, daß ein und dasselbe "Urteil" - wir werden besser sagen: ein und derselbe Satz - analytisch und synthetisch sein kann, je nach der Art, wie ich es begründe. Bediene ich mich nur der alten Definition, die den Körper als res extensa bezeichnet, so ist der Satz, daß alle Körper schwer sind, synthetisch, nehme ich dagegen die Eigenschaft der Schwere als Merkmal in die Definition des Körpers auf, so wird "derselbe" Satz analytisch. Er ist aber freilich auch nicht mehr dem Sinn nach "dasselbe" Urteil wie vorher, denn er enthält jetzt nur noch eine Aussage über das, was ich definitorisch in den Begriff des Körpers hineingelegt habe und fordert, um zu einem Urteil über die Wirklichkeit zu werden, noch einen weiteren Nachweis: daß es Dinge, wie ich sie jetzt durch meinen Begriff des Körpers definiert habe, wirklich gibt und andererseits, daß es ausgedehnte und nicht schwere Dinge in der realen Welt der Objekte nicht gibt. Der bekannte Vorwurf, der Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile sei ein fließender, trifft daher KANT nicht, bzw. über das, was an dieser Unterscheidung fließend ist, ist sich KANT zweifelsohne klar gewesen. (14)

Der eigentliche Gegenstand der kritischen Untersuchung sind danach die "synthetischen Urteile a priori des reinen Verstandes", die für die gegenständlich-wirkliche Welt, nicht bloß für unsere Begriffe geltenden Urteile, deren Ursprung nicht in der Erfahrung, sondern im Denken, in unserem Verstand liegt. Bezüglich ihrer wiederholen sich die drei Fragen, die gegenüber den reinen Begriffen gestellt waren: Gibt es überhaupt solche Urteile? Wie versichern wir uns des Systems ihrer vollständigen Ableitung und Darstellung? Wie erweisen wir unser Recht, Sätze, deren Ursprung in unserem Verstand liegt, als gültig für die Welt der Dinge hinzustellen - oder kürzer: Wie beweisen wir die Gültigkeit jener Urteile? Beispiele wie das des Kausal- oder Substanzgesetzes beantworten die erste Frage, das an die Kategorientafel sich anlehnende System der Grundsätze des reinen Verstandes die zweite. Was endlich die Deduktion, den Beweis der Grundsätze angeht, so kann dieser zwar freilich, da es sich um "Grundsätze" handelt, nicht weiter "objektiv" geführt werden, d. h. die zu beweisenden können nicht aus noch höheren und allgemeineren Urteilen hergeleitet werden. Aber jener Charakter als virtuell, wenn auch nicht aktuell angeborener Grundsätze enthebt uns darum doch nicht der Notwendigkeit, überhaupt einen Beweis, eine Begründung ihrer Gültigkeit zu fordern und zu suchen: auch angeborene Sätze können erschlichen, irrtümlich sein, das Angeborensein, das durch den Verstand Geschaffensein ist ansich kein Wahrheitsbeweis. Mit diesem Gedanken scheidet KANT seinen Weg ebensowohl von der metaphysischen Begründung der Erkenntnistheorie, die die letzten Prinzipien der Erkenntnis schließlich in der Wahrhaftigkeit Gottes, der sie unserem Verstand anerschaffen hat, verankerte, wie er von der psychologischen Begründung, die Evidenz und den in der Natur unseres Verstandes liegenden Zwang an die Wahrheit eines Satzes zu glauben ohne weiteres einander gleichgesetzt hat. Der Beweisgrund jener synthetischen Sätze des reinen Verstandes aber kann weder in den rein logischen Prinzipien des Satzes vom Widerspruch und der Identität (sonst wären sie analytisch) noch in der Erfahrung liegen, er muß ein "Drittes" sein, wir bedürfen eines Dritten, auf das wir uns in jenem Beweis berufen müssen. Dieses "Dritte" müssen wir suchen.

Endlich aber schiebt sich nun zwischen die empirischen Begriffe und die Begriffe des reinen Verstandes oder die begrifflichen Formen, die zugleich den Anspruch erheben, Formen der Dinge zu sein, eine dritte Gruppe ein: die reinen Anschauungsformen, die apriorischen Begriffe der Anschauung, und ebenso zwischen die empirischen Urteile und die Grundsätze des reinen Verstandes die "synthetischen Sätze a priori der Anschauung". Wir wissen bereits welchem gedanklichen Motiv diese dem kantischen Denken eigentümliche dritte Gruppe von Urteilen und Begriffen - Erkenntnisse und Erkenntniselemente, deren Ursprung in der Anschauung liegt, in der Rezeptivität, nicht in der Spontaneität, im Gegebenen, nicht im Denken, und die doch a priori, keine Erfahrungsbegriff und Erfahrungsurteile sind - entspringt: Es ist die Einsicht in die Sonderstellung der Begriffe des Raumes und der Zeit und der Urteile der Mathematik, von der im vorigen Abschnitte die Rede war. Raum und Zeit sind keine "diskursiven" Begriffe, sondern - der eine Raum und die eine Zeit - individuelle Gegenstände: schon dadurch zeigt sich, daß sie der anschaulichen, nicht der begrifflichen Seite unseres Erkenntnisvermögens zugehören, was durch die genauere Analyse der Eigenschaften des Raumes (rechts und links, Urteile der Geometrie) und unserer Erkenntnis derselben bestätigt wird. Auf der anderen Seite sind Raum und Zeit keine empirischen Begriffe, denn Raum und Zeit sind keine von den auf empirischem Weg erkannten Dingen abhängige Bestimmungen, sondern - der absolute Raum und die absolute Zeit NEWTONs - notwendige Bedingungen, die der Existenz der Dinge zugrunde liegen, apriorische Formen, deren Erkenntnis der Dinge logisch vorausgeht, was wiederum durch die strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit der geometrischen Sätze bestätigt wird. Von einem Begriff zu reden, der der Rezeptivität der Anschauung, dem Gegebenen entstammt und doch ein Begriff a priori ist, der allem einzelnen Gegebenen, allem empirisch Wahrgenommenen vorhergeht, das scheint zunächst ein Widerspruch zu sein, aber dieser Widerspruch löst sich durch den Gedanken, daß es ein anschauliches Vorstellen gibt, das allem mit bestimmtem, wechselndem, empirisch bestimmten Inhalt erfüllten Wahrnehmen vorhergeht und dem alles Wahrnehmen gemäß sein muß, daß wir mit Hilfe des Vorstellens Begriffe a priori, d. h. ohne uns auf vorangegangene Wahrnehmung stützen zu müssen, in der Anschauung realisieren oder "konstruieren" können. Aus diesen in der Anschauung realisierten, aus der Konstruktion der Begriffe fließt die mathematische Erkenntnis. Indem KANT so durch die Lehre vom Apriori der Anschauung der eigenartigen Stellung des Raumes und der Zeit und der mathematischen Erkenntnis gerecht zu werden sucht, zerstört er die Idee der "mathematischen Methode", wie sie seit DESCARTES in der kontinentalen Philosophie angestrebt wurde: Es ist unmöglich Gegenstände, die nicht, wie die Begriffe der Mathematik, anschaulich konstruierbar sind, nach mathematischer Methode zu erkennen; auf der anderen Seite sichert er aller Skepsis gegenüber die Geltung der Mathematik nicht nur für eine Welt willkürlich geschaffener Begriffe, sondern für die Gegenstände der gegebenen Wirklichkeit, die sich der Form der Anschauung gemäß erweisen müssen.

Den synthetischen Urteilen und den Begriffen a priori der Anschauung gegenüber müßten sich nun dieselben Fragen wiederholen, die gegenüber den Begriffen und Urteilen des reinen Denkens gegenüber gestellt waren: die Frage nach der systematisch vollständigen Darstellung und nach der Deduktion. Allein eben der Umstand, daß der Ursprung dieser apriorischen Faktoren der Erkenntnis im Gegebenen liegt, macht hier eine systematische Ableitung und Deduktion unmöglich. Nur als tatsächliche Form unserer Anschauung lassen sich Raum und Zeit an den von uns allein vorstellbaren Inhalten aufweisen, ebenso wie sich ja auch die Gültigkeit der mathematischen Sätze nur mit Hilfe der anschaulichen Konstruktion der betreffenden Begriffe beweisen läßt. Dieses Haften des Beweises und Nachweises am Gegebenen (wenn auch in der reinen Vorstellung, nicht in der empirisch-wirklichen Wahrnehmung Gegebenen) gibt Raum und Zeit und ihrer Geltung, ihrer Realität jene bloße Tatsächlichkeit, die sie für KANT zu spezifisch menschlichen Anschauungsformen macht: Es bleibt eine Anschauung, auch bei unserer diskursiven Art der Verstandeserkenntnis, denkbar, die von diesen Formen frei wäre. Damit sind auch Raum und Zeit nicht im eigentlichen Sinn deduzierbar, wie die Kategorien. (Umgekehrt: die in der Philosophie nach KANT sofort geforderte Deduktion von Raum und Zeit bringt sie in die Nähe der Kategorien und hebt den spezifischen Unterschied von Anschauungs- und Denkformen auf - wie uns auch besonders das Beispiel des Neukantianismus in unserer Zeit zeigt.)

LITERATUR: Ernst von Aster, Geschichte der neueren Erkenntnistheorie, Berlin und Leipzig 1921
    Anmerkungen
    1) Vgl. auch Reflexion 3127 in Kants handschriftlichem Nachlaß zur Logik, Werke 16, Akademie-Ausgabe.
    2) Vgl. auch Reflexon 2718 in den Nachgelassenen Schriften zur Logik, Kants Werke, Bd. 16, Akademie-Ausgabe.
    3) Reflexion 1634 in Bd. 16 der Werke Kants, Akademie-Ausgabe.
    4) ebd. Reflexion 1670.
    5) Reflexion 482, 492, 520 bei Erdmann.
    6) Man muß sich dabei immer daran erinnern, daß der Unterschied der synthetischen und analytischen Urteile, den aufgestellt zu haben, Kant sich selbst zum besonderen Verdienst anrechnet (eine Unterscheidung, die verdient, klassisch genannt zu werden), in keiner Weise zusammenfällt mit der übernommenen Unterscheidung synthetischer und analytischer Methode. Im Gegenteil: die synthetische Methode der Mathematik macht ihre Urteile zu analytischen. Man vergleiche hierzu Kants eigene treffende Bemerkungen in den Prolegomenen (§ 5, Anmerkung).
    7) Man beachte, wie das erste Raumargument der transzendentalen Ästhetik: "Damit ich gewisse Empfindungen ... als außer- und nebeneinander ... vorstellen kann, muß die Vorstellung des Raumes schon zugrunde liegen", sich in genau demselben Sinn schon in der Abhandlung von 1768 findet: "Es ist hieraus klar, daß nicht die Bestimmungen des Raumes Folgen von den Lagen der Teile der Materie gegeneinander, sondern diese Folgen von jenen sind."
    8) zweiter Teil, 7. Hauptstück, Anmerkung.
    9) Auf die Bedeutung der Antinomien für Kant zuerst mit Nachdruck hingewiesen zu haben ist bekanntlich Benno Erdmanns Verdienst. Indessen betont Adickes (a. a. O., Seite 117) meiner Meinung nach mit Recht, daß die eigenen Äußerungen Kants in dieser Hinsicht mit Vorsicht aufzunehmen sind: sie zeigen mehr, daß Kant in den Antinomien eine vortreffliche Einführung in den transzendentalen Idealismus sieht, als sie direkt auf seine eigene Entwicklung zu beziehen sind.
    10) In den Reflexionen der Zeit werden zum Teil die absoluten Verstandesbegriffe der Möglichkeit und Existenz (man denke auch an die "absolute Position" des einzig möglichen Beweisgrundes) von den Verhältnisbegriffen unterschieden (Reflexion 470 und 528), an anderen Stellen aber werden die Verstandesbegriffe als reine Verhältnisbegriffe bezeichnet (Reflexion 513). Vgl. auch Adickes, a. a. O., Seite 111.
    11) Vgl. hierzu Benno Erdmann, Einleitung zur Ausgabe der Reflexionen.
    12) Ploucquet, Principia de substantis et phaenomenis, § 259.
    13) Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, Seite 492f) zieht eine nicht uninteressante Parallele zwischen Ploucquet und Maupertuis. Sie zeigt, wie die Unterscheidung zwischen der bloßen Erscheinungswelt des Körperlichen und der von dieser Körperwelt wesensverschiedenen, von der Naturwissenschaft nie erreichbaren Welt der Dinge-ansich in der Philosophie des 18. Jahrhunderts vor Kant sich an den verschiedensten Stellen einbürgert: bei Ploucquet in konsequenter Fortbildung im Anschluß an Locke und die idealistische Philosophie seiner Nachfolger, sowie an den von Newton ausgehenden Positivismus. Nur daß für den positivistisch beeinflußten Maupertuis die Welt der Dinge-ansich im Wesentlichen zu einer unerkennbaren Welt wird, während für den der Schule Leibniz' anhängenden Ploucquet eine rationale Metaphysik der Dinge-ansich, der Monaden möglich bleibt. In der Metaphysik findet auch Ploucquet den gesuchten Halt gegen die drohende Konsequenz aus Berkeleys Idealismus, zu der ihn sein phänomenalistischer Standpunkt gegenüber der Körperwelt zu führen droht: Ist der Körper ein bloßes Phänomen, kein ens per se existens [aus sich selbst heraus existierendes Sein - wp], sondern ein ens, das einer vorstellenden einheitlichen Substanz zur Möglichkeit seiner Existenz bedarf, so ist er darum nicht ein bloßes Phantasma, denn die letzte Quelle der Phänomene liegt nicht in einer schöpferischen vorstellenden Kraft der endlichen vorstellenden Wesen, der individuellen Seelen, sondern in den "realen und schöpferischen" Vorstellungen Gottes. Denken wir uns die vorstellenden endlichen Wesen mit ihren Perzeptionen vernichtet, so bleibt darum doch die Körperwelt, denn es bleiben die entsprechenden Vorstellungen im Geiste Gottes bestehen. So kehrt Ploucquet von Leibniz in gewisser Weise zu Malebranche zurück, nur daß die ansich reale res extensa [ausgedehnte Materie - wp] Malebranches, der die Vorstellungen im göttlichen Geist entsprechen sollen, in Wegfall kommt und als "reale" Körperwelt außerhalb unseres Bewußtseins nur die Ideen im göttlichen Geist übrig bleiben.
    14) Dem Vorwurf entspricht der andere, den gleichfalls namentlich Paulsen gegen Kant erhebt: er habe nur die synthetischen Urteile a priori, nicht auch die a posteriori, deren, wenn auch nur wahrscheinliche Geltung doch auch ein Problem einschließt, zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Das Problem der relativen Allgemeinheit der empirischen Sätze ist gelöst, wenn das der absoluten Geltung der Grundsätze des reinen Verstandes gelöst ist: Das Kausalgesetz ist der Obersatz jedes einzelnen Kausalurteils in einem Schluß, dessen Untersatz in einer Erfahrungstatsache besteht.