p-4 R. SemonTh. ZiehenA. Lasson    
 
MAX OFFNER
Das Gedächtnis
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"Zum allermindesten verliert man das  Interesse,  empfindet diese sich völlig gleichbleibende Tätigkeit allmählich als langweilig, unangenehm - kurz wird, wie man zu sagen pflegt, ihrer müde, obwohl man sich eigentlich noch nicht müde fühlt und merkt nicht mehr auf sei. Man mag nicht mehr, obwohl man noch kann. Dieses Gleichgültig-werden eines Gegenstandes kann schließlich so weit gehen, daß wir ihn nicht mehr beachten, ja gar nicht mehr bemerken."

V. Die Stärke der Dispositionen

C. Bedingungen der Stärke einer Disposition

1. Intensität des psychischen Vorgangs


a) Wiederholungszahl und Dispositionsstärke

Die Dauer kann wiederum ersetzt werden durch  Wiederholung  desselben Eindruckes. Wenn das flüchtig gezeigte Wort auch auf das erste Mal nicht wiedererkannt, d. h. gelesen wird, so gelingt es vielleicht nach dem zweiten, dritten oder vierten Mal. Und wenn uns ein Vers nach einmaligem Durchlesen nicht im Gedächtnis bleibt, so bleibt er es nach mehrmaligem Durchlesen, nach mehrmaligem Hersagen. Das ist eine uralte Schulerfahrung. So lernte schon der indische Student das Rig-Veda auswendig, indem ihm die heiligen Strophen immer wieder vorgesprochen und von ihm so lange nachgesprochen wurden, bis er sie intus hatte, so der junge Druide seine 20 000 ehrwürdigen Verse, so der heranwachsende Israeli im Studienhas die geheiligte Tradition, die davon geradezu den Namen  Mischnah,  d. h. Wiederholung bekommen hat. Auch die Reklame, die uns wieder und wieder in Wort und Bild dasselbe vorführt, weiß, daß ein Gedanke umso fester sitzt, je öfter wir ihn zu hören bekommen, so gut wie der Erzieher, der seinem Zögling wichtige Verhaltensregeln und Maximen nicht oft genug sagen zu können glaubt und der Drillmeister, der die Soldaten einen Griff oder eine Reihe von Griffen, Bewegungen und Übungen so lange wiederholen läßt, bis sie "gehen". Und wer sich ein Bild gut einprägen will, schaut es zu wiederholten Malen an, weshalb auch ein Gegenstand oder ein Bild den Schülern länger, als bloß während der Besprechung, zu wiederholtem Betrachten ausgestellt bleiben muß.

Aufgrund dieser Alltagserfahrungen können wir zunächst ganz allgemein sagen:  Eine Disposition wird umso stärker, je öfter sich der sie begründende psychische Vorgang wiederholt.  Zunächst; denn dieser Satz bedarf einer Korrektur. Wie schon öfter, muß auch hier daran erinnert werden, daß sich genau genommen in der Welt nichts wiederholt, nichts wiederkehrt. Jeder Vorgang ist nur einmal vorhanden und jeder Vorgang ist ein neuer, auch jeder psychische Vorgang. Aber Vorgänge, die früheren qualitativ identisch sind, an denen wir, wenn wir von ihrer zeitlichen oder räumlichen Verschiedenheit absehen, keinerlei Unterschied zu statuieren vermögen, treten oft genug ein. Dann reden wir ungenauer, aber bequemer Weise von einer Wiederholung des Vorganges. Ganz exakt müssen wir also sagen:  Eine psychische Disposition wird ceteris paribus  [unter vergleichbaren Umständen - wp]  umso stärker, je öfter sich ein dem sie begründenden qualitativ identischer psychischer Vorgang in uns abspielt. 

Diese qualitative Identität wird nicht in Frage gestellt durch Unterschiede der Intensität und ähnliche. Wir tragen keine Bedenken, von einem und demselben Ton zu reden, der bald stark bald schwach wiederholt wurde.

Damit ist zweierlei gesagt. Zum einen, daß auch solche psychische Vorgänge, die wir nicht als Empfindungen oder Wahrnehmungen, sondern nur als  Vorstellungen  bezeichnen,  die Disposition stärker;  auch die wiederholte, nur innerliche Vergegenwärtigung eines Bildes prägt es uns tiefer ein. Zum zweiten kann eine Disposition auch gestärkt werden durch einen qualitativ identischen Vorgang von solch geringer Intensität, daß der zugehörige Bewußtseinsinhalt ausbleibt, daß also eine  unbewußte oder unterschwellige Dispositionsstärkung oder Mitübung möglich ist.  Daß sie ab und zu auch wirklich ist und dabei stärkere Dispositionen mehr gestärkt werden als schwache, zeigte sich bei Experimenten von MÜLLER und PILZECKER. Es besteht also ein direktes Verhältnis zwischen Dispositionsstärke und Wiederholungszahl als der Zahl der Darbietungen eines Eindruckes bzw. der Anzahl der diese Dispositionen begründenden und stärkenden qualitativ identischen Vorgänge.

Das Experiment hat sich mit der Feststellung dieses Verhältnisses vornehmlich bei Assoziationen beschäftigt. Denn die Stärkung der Vorstellungsdispositionen der dabei verwendeten Silben, Wörter und Zahlen kann außer Rechnung bleiben, da diese von Kindheit auf gestifteten und geübten Vorstellungsdispositionen bereits so stark sind, daß auch eine öftere Wiederbetätigung sie nicht namhaft verstärken könnte.

Den ersten Einblick in das Verhältnis zwischen Wiederholungszahl und Stärke der Weiterleitungsdispositionen eröffnete EBBINGHAUS mit Hilfe der Ersparnismethode. Je 6 Reihen von je 16 sinnlosen Silben las er je 8 mal, 16, 24, 32, 42, 53, 64 mal aufmerksam durch und 24 Stunden darauf lernte er sie bis zum ersten fehlerfreien Hersagen auswendig. Als durchschnittlich zum Erlernen einer noch unbekannten 16 silbigen Reihe nötige Zeit hatte er 1270 Sekunden (= 20 Minuten) gefunden. Durch Vergleich mit den Lernzeiten solcher Reihen, die schon vor dem eigentlichen Lernen 8, 16 mal usf. gelesen waren, ergaben sich dann die Ersparnisse. Bei den 8 mal gelesenen Reihen stellte er eine Lernzeit von 1167 Sekunden fest, also eine Ersparnis von 103 Sekunden; bei den 16 mal gelesenen 1078 Sekunden, ersparte als 192; bei den 24 mal gelesenen ersparte er 295, weiterhin 407, 573, 685 und schließlich bei den 64 mal gelesenen betrug die Gesamt-Ersparnis 816 Sekunden. Über die relative Abnahme der Ersparnis wird unten noch zu reden sein.

Diese Wiederholungen fanden alle unmittelbar hintereinander (kumuliert) statt. Eine Steigerung der Dispositionsstärke ergibt sich aber auch, wenn die Wiederholungen nicht alle sofort nacheinander stattfinden, sondern in  Gruppen, auf mehrere Tage verteilt,  vorgenommen werden. So wurden von EBBINGHAUS 12-silbige Reihen an 6 aufeinanderfolgenden Tagen bis zum fehlerlosen Hersagen mit 158, 109, 75, 56, 37 und 31 Wiederholungen gelernt. Die Ergebnisse der EBBINGHAUSschen Versuche stellen sich graphisch als eine ziemlich gradlinig verlaufende Kurve dar; EPHRUSSIs Ergebnisse dagegen erscheinen als eine treppenartig verlaufende Kurve. Immerhin erwiesen beide Versuche, daß  die durch Wiederholung herbeigeführte innere Festigkeit (Einprägungsgrad) dieser Assoziationen, die Assoziationsstärke, gemessen an der Präsenzstärke nach 24 Stunden, die sich sowohl in der Zahl der richtig gelieferten Reproduktionen (Treffer) kundgibt, wie auch in der beim Neulernen erzielten Ersparnis, im großen und ganzen proportional der Anzahl der Wiederholungen wächst. 

Die Beobachtungen des Alltags lassen nun vermuten, daß diese Gesetzmäßigkeit, die an Reihen sinnloser Silben gefunden wurde, auch für andere Lern- und Einprägungsstoffe in ähnlicher Weise gilt, wenn sich auch wahrscheinlich, je nach dem Sinnesgebiet, ungeachtet der individuellen Abweichungen, quantitative Verschiedenheiten herausstellen werden. Das bestätigen im großen die Experimente CALKINS anstellte. Sie zeigte Reihen von Paaren, bestehend aus je einer Farbentafel und einer sofort danach folgenden Ziffer, z. B. grau - 29, blau - 82, violett - 61, rot - 23, violett - 12, hellbrauch - 53, hellgrau - 72. Darin kamen manche Paare dreimal, manche zweimal, manche nur einmal vor, wurden also drei- oder zwei- oder einmal dargeboten. Bei der nachfolgenden Prüfung erwiesen sich nun von den einmal dargebotenen 35 Prozent, von den dreimal gezeigten 63 Prozent. Bei nicht vorgezeigten, sondern vorgesprochenen, also akustisch dargebotenen Paaren ließ sich eine Assoziation nachweisen bei 40 Prozent von den einmal dargebotenen und bei 80 Prozent von den dreimal dargebotenen.

b) Einprägungs- oder Ersparniswert einer einzelnen Wiederholung.

Das Wiederholungsgesetz gilt allerdings  nur innerhalb gewisser Grenzen.  Bei Versuchen mit 7 verschiedenen Anzahlen von unmittelbar aufeinander folgenden Wiederholungen oder Lesungen zeigte sich zwar, daß EBBINGHAUS auf je 3 Lesungen, die er bei der ersten vorläufigen Einprägung einer Reihe  mehr  verwendete, nach 24 Stunden beim Neulernen derselben Reihe durchschnittlich und ungefähr je  eine  Wiederholung ersparte, gleichgültig, wie viele Lesungen im ganzen auf die Reihe verwendet worden waren. Berechnet auf die einzelne Lesung oder Wiederholung ergab sich, als die von einer einzelnen nach 24 Stunden zurückgebliebenen Nachwirkung, als ihr  Ersparniswert,  die Zahl 1/3, d. h. jede Lesung ersparte 1/3 einer Lesung nach 24 Stunden oder ihrer drei zusammen je eine Neulesung (Wiederholung). Man kann diesen Wert auch  Einprägungs-, Lern-, Disponierungs-  oder  Stärkungswert  einer Wiederholung, Lesung oder Darbietung nennen, als das  Quantum,  um welches eine Disoposition durch diese Wiederholung gestärkt wird (EBBINGHAUS).

Trotz EBBINGHAUS' Beobachtungen kann dieser Wert jedoch nicht als konstante Größe gelten. Er ändert sich mit der Zahl der Wiederholungen. Es ist eine Alltagserfahrung, daß der erste Eindruck, den wir von jemand gewinnen, der nachhaltigste ist. Übereinstimmend zeigen die Experimente, daß die erste Darbietung fast immer die weitaus größte Wirkung hat, insofern man nach ihr mehr Elemente der Reihe wiederzugeben vermag, als durch irgendeine der nachfolgenden Lesungen hinzugewonnen werden, die meisten Treffer und die meisten behaltenen Glieder erzielt. Die auf die erste zunächst folgenden Lesungen ergaben für EBBINGHAUS oft nur eine geringe Steigerung der Gesamtersparnis, dann wieder ein Anwachsen, darauf gleichmäßigere Zunahme, manchmal aber auch Schwankungen, bis endlich überhaupt keine Zunahme der Ersparnis, d. h. keine weitere Stärkung der Dispositionen mehr konstatiert werden konnte. Nach einem Maximum in der ersten Darbietung zeigten also die nächsten einzelnen Wiederholungen einen viel geringeren Stärkungswert; dann stieg dieser etwas oder schwankte, bis er endlich ständig abnahm. Damit stimmen die Ergebnisse von W. G. SMITH überein. HAWKINS glaubt merkwürdigerweise gefunden zu haben, daß die zweite Darbietung die Einrprägung nicht nur nicht verstärke, sondern geradezu schädige; erst die dritte stärke sie wieder. Doch hat POHLMANN an Zahlenreihen zwingend den hohen Stärkungswert auch der zweiten Darbietung nachgewiesen, der, aus seinen nach der Methode der behaltenen Glieder gewonnenen Tabellen berechnet, durchschnittlich 34% von dem der ersten Darbietung betrug, also bedeutend mehr als bei EBBINGHAUS. Und der Stärkungswert der dritten Darbietung (Wiederholung) betrug immer noch 10% von dem der ersten. Von höheren Wiederholungszahlen hat POHLMANN abgesehen. LIPPMANN fand mit dem Trefferverfahren, wie REUTHER mit der Methode der identischen Reihen, ebenfalls eine Abnahme des Trefferzuwachses bzw. des Stärkungswertes der einzelnen Wiederholung schon von der ersten Lesung an, was auch WITASEK an den einübenden Rezitationen bestätigt sah. So hängt also die Größe des Ersparniswertes einer Darbietung (Wiederholung) ab von ihrer Stelle in der ganzen Reihe der Darbietungen solcher, d. h. ob sie die erste, zweite, dritte Wiederholung usf. ist. Aber sie hängt auch noch ab von der Länge der zu lernenden Silbenreihe. Aus den Beobachtungen von EBBINGHAUS u. a., welche eine starke Zunahme der Wiederholungszahl bei Zunahme der Reihenlänge feststellte, muß man annehmen, daß der Einprägungswert einer Darbietung (Lesung, Wiederholung) auch abnimmt, je länger die zu lernende Reihe ist und zwar sehr rasch. Aus WEBERs Beobachtungen jedoch ergibt sich geradezu das Gegenteil. Nach ihm nimmt der Einprägungswert einer Darbietung zu mit der Länge der zu lernenden Silbenreihe! Selbstverständlich nur bis zu einem Maximum, von dem ab die Ermüdung entgegenwirkt. Wie dieser Widerspruch zu erklären ist, davon unten mehr.

Es ist übrigens nicht gleichgültig,  wie  die Darbietungen geschehen. WITASEK hat, was EBBINGHAUS und PILZECKER (bei LOTTIE STEFFENS) schon berührten, an Silbenreihen umständlich gezeigt, daß das bloße Lesen einen geringeren Einprägungswert hat, als das Rezitieren. Unter Rezitation versteht er freies Hersagen der durch eine kleinere oder größere Anzahl von Lesungen gelernten Reihen, wobei im Falle einer Stockung, wenn sich nach 10 Sekunden des Besinnens keine Silbe einstellt, der Versuchsperson die richtige Silbe genannt wird, so daß das Hersagen wieder weiter gehen kann. Die Zahl solcher bis zu völlig freiem fehlerlosen Hersagen nötigen Rezitationen gibt im Vergleich zu der zum gleichen Zweck nötigen Lesungen ein relatives Maß des Einprägungswertes (Rezitationsmethode). Der Vorzug dieses rezitierenden - sich besinnenden, sich selbst überhörenden, der Prüfung gleichenden - Lernens, den KATZAROFF auf etwas anderem Weg erwiesen hat, ist übrigens auch der Schulpraxis nicht entgangen. Vielfach gibt man den Schülern den Rat, beim Memorieren eines Gedichtes, einer Regel u. dgl. auch beim Einüben einer frei wiederzugebenden Erzählung oder eines Vortrages, einer Rede nicht sofort, wenn das Hersagen oder Vortragen nicht glatt von statten gehen will, ins Buch oder ins Konzept zu blicken, sondern sich aufs Folgende oder auf den Zusammenhang zunächst noch zu besinnen und erst, wenn das ohne Erfolg bleibt, nachzusehen. So begreift sich auch, warum das durch eigenes Nachdenken Gewonnene besser haftet, als das rein passiv Hingenommene. Das ist auch einer der Vorteile der fragend entwickelnden (heuristischen) Unterrichtsmethode.

Fragt man nun nach den  mutmaßlichen Ursachen  dieser gesetzmäßigen Abnahme des Einprägungswertes der Wiederholungen, dann liegt es am nächsten, an die  Ermüdung  zu denken, als Aufbrauchen der zur Verfügung stehenden psychischen Kraft ohne genügenden Ersatz. Denn eine Silbenreihe vierzig-, fünfzigmal und öfter nacheinander zu lesen, kann die Versuchspersonen wohl ermüden, wenn auch nicht allgemein, d. h. für jede geistige Arbeit, so doch sicher für diese eine spezielle Lerntätigkeit (spezielle Ermüdung). Das lehren auch die Ermüdungsversuche BETTMANNS. Nach einstündigem Addieren und erst recht nach einem zweistündigen Marsch brauchte die Versuchsperson erheblich mehr Wiederholungen, um eine Reihe von 12 Ziffern auswendig zu lernen, als im Zustand völliger Frische, so daß das Gesamtquantum des in der gleichen Zeit - 1/2 Stunde - Gelernten weit geringer war. Der Einprägungswert einer Wiederholung war also in den Zuständen der Ermüdung geringer und zwar deshalb, weil die Disponibilität, die Empfänglichkeit des Lernenden herabgesetzt war. Dazu gibt eine treffliche Bestätigung die Selbstbeobachtung MOSSOs. Trotz seines guten Gedächtnisses für Gegenden seien ihm, so erzählt er, von anstrengenden Bergbesteigungen die letzten Eindrücke, besonders die Blicke von den Gipfeln, oft ganz entschwunden. "Mein Gedächtnis verließ mich umso mehr, je weiter ich in die höheren Regionen hinaufstieg" (vgl. OFFNER, Ermüdung, Seite 3f). Zum allermindesten verliert man das  Interesse,  empfindet diese sich völlig gleichbleibende Tätigkeit allmählich als langweilig, unangenehm - kurz wird, wie man zu sagen pflegt, ihrer müde, obwohl man sich eigentlich noch nicht müde fühlt und merkt nicht mehr auf sei. Man mag nicht mehr, obwohl man noch kann. Dieses Gleichgültig-werden eines Gegenstandes kann schließlich so weit gehen, daß wir ihn nicht mehr beachten, ja gar nicht mehr bemerken. Da uns der Gegenstand außerdem oft genug etwas verändert entgegentritt und wäre er auch nur von einem anderen Standpunkt aus oder in anderer Beleuchtung erblickt oder in größerem Abstand gesehen oder gehört, so sind auch die Bestandteile der Komplexe nicht alle und jederzeit gleich. Sie hemmen also gegenseitig die Einprägung, die ohnehin schon durch die Abnahme der Aufmerksamkeit sehr zu leiden hat. So kann es schließlich kommen, daß wir von einem Gegenstand ein umso unsicheres Erinnerungsbild in uns tragen, je öfter wir ihn gesehen haben. Dem normalen Abfallen der Dispositionen wirkt keine nachhaltige Auffrischung entgegen. So erklärt sich die Beobachtung CLAPARÉDEs, daß Studenten, welche die Universität Genf mehr als ein Semester besuchten, über bestimmte Örtlichkeiten weniger und fehlerhaftere Angaben machten, als solche, die erst ein Semester da verkehrten.

Langsamer nimmt das Interesse ab, wenn die Wiederholungen in kleineren Gruppen auf mehrere Tage verteilt werden. Aber auch so vermögen die Eindrücke, die Aufmerksamkeit, deren Grad für die Stärke einer Disposition mitbestimmend ist, immer weniger zu wecken. Als Aufmerksamkeit dürfen wir die sich in bestimmten Gefühlen kundgebende innere Zuwendung zu einem Inhalt oder die einem psychischen Vorgang zugewendete verstehen, in ihm zur Wirksamkeit kommende psychische Kraft. Von der Höhe der - zum großen Teil durch diese in ihm wirksam werdende psychische Kraft bedingten - psychischen Erregung ist es abhängig, ob zum jeweiligen psychischen Vorgang der zugehörige Bewußtseinsinhalt hinzutritt oder ausbleibt. Darum erlaubt das Fehlen eines Inhaltes bei einem auf anderem Wege festgestellten psychischen Vorgang den Schluß, daß diesem das nötige Maß von Intensität fehlt, um sich über die Bewußtseinsschwelle zu erheben. Nun beobachten wir, daß ein psychischer Vorgang, der anfangs von deutlichen und lebhaften Inhalten begleitet war, je öfter wiederkehrt, sich nicht nur umso schneller vollzieht, sondern auch umso mehr die Inhalte zurücktreten läßt, bis er schließlich ganz ohne Inhalte abläuft. Man erinnere sich nur, wie beim Lesen die Buchstaben, das Papier und dgl. immer weniger beachtet werden, wie die Bewegungsempfindungen beim Schreiben, beim Klavierspielen, überhaupt bei jeder Fertigkeit mit der Zunahme des Könnens immer mehr in den Hintergrund treten. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß ein psychischer Vorgang, je öfter er sich wiederholt, umso mehr an Energie verliert und umso weniger psychische Kraft beansprucht - wie wir ja auch umso weniger ermüden, je mechanischer, je automatischer eine Tätigkeit ist - und zugleich umso rascher die psychische Kraft wieder weitergibt, je leistungsfähiger durch diese Wiederholungen auch die Weiterleitungsdispositionen, die Assoziationen, geworden sind (vgl. LIPPS' Gesetz der Absorption).

Und so kommen wir zu dem Schluß:  Je häufiger eine Reihe wiederholt wird, je stärker also die zugehörigen Dispositionen sind, umso weniger intensiv und umso kürzer dauernd sind bei jeder neuen Wiederholung die entsprechenden psychischen Vorgänge und umso geringer ist infolge davon die Wirkung, die sie jeweils hinterlassen, der Zuwachs an Stärke, den sie den einzelnen Dispositionen bringen, d. h. umso mehr nimmt ihr Stärkungs-, Ersparnis- oder Einprägungswert ab  oder wie wir mit MÜLLER und PILZECKER sagen können, die  Suszeptibilität  der Dispositionen (Assoziationen) nimmt ab, d. h. die Leichtigkeit, mit welcher diese bei eintretenden Neuwiederholungen der betreffenden Silbenfolgen eine bestimmte Erhöhung ihrer Stärke erfahren, sagen wir lieber deutsch: ihre  Verstärkbarkeit  nimmt ab.

c) Reihenlänge, Wiederholungszahl und Dispositionsstärke

Eine andere Beobachtung ist es, daß  längere  Reihen, gleichviel welcher Inhalte, auch längere Lernzeiten oder, was auf dasselbe hinauskommt,  größere  Anzahlen von Wiederholungen bis zum erstmaligen  Hersagen erfordern, aber  nicht  in einem gleichbleibenden Verhältnis,  etwa so, daß Reihen doppelter Länge doppelte Zeit bzw. Wiederholungszahl, dreifacher Länge dreifache Zeit usf. bedürfen.  Vielmehr steigt die nötige Zeit bzw. die Wiederholungszahl viel rascher, dann etwas weniger schnell, also nicht proportional, sondern in einem wechselnden Verhältnis.  Den experimentellen Nachweis lieferte erstmals wiederum EBBINGHAUS. Er fand, daß für ihn ein einmaliges Durchlesen genügte, um ihm das sofortige fehlerfreie Hersagen einer Reihe von 7 sinnlosen Silben zu ermöglichen. 12 Silben - also noch nicht zweimal so viel - erforderten 16 Wiederholungen, 16 Silben 30 Wiederholungen, 24 Silben 44 Wiederholungen, 36 Silben 55 Wiederholungen. Diese Versuche wurden durch Beobachtungen bei früheren Versuchen bestätigt. Ein noch gewaltigeres Ansteigen der Lernarbeit gemessen durch die Lernzeit konstatierte BINET. Seine Versuchspersonen von Durchschnittsbegabung benötigten für Reihen von 4 - 7 Ziffern 2 Sekunden, für 8 -10 Ziffern 3 Sekunden, für 11 Ziffern 4 Sekunden, für 13 Ziffern aber auf einmal 38 Sekunden und für 14 sogar 75 Sekunden. Von diesem Gesetz des raschen Ansteigen der Lernarbeit machen die abnormen Kopfrechner keine Ausnahme.

MEUMANN indessen und WEBER, der unter seiner Leitung die EBBINGHAUSschen Versuche nachprüfte, kommen zu einem ganz entgegengesetzten Ergebnis. Sie fanden, daß z. B. 8 Silben mit 5,2 Wiederholungen, 12 Silben mit 10,4, 16 Silben mit 17 Wiederholungen, 18 mit 21,5, 24 mit 30, 36 mit 32,5 im Durchschnitt gelernt wurden. Sie meinen, daß die EBBINGHAUSschen Zahlen nur für geübte Lerner gelten. Ob wir EBBINGHAUS für einen ungeübten Lerner halten dürfen? MEUMANN erklärt dieses langsame Anwachsen der Wiederholungszahlen aus der wachsenden Anpassung der Aufmerksamkeit oder der besseren Einstellung auf Stoff und Arbeit, aus der Überwindung der anfänglichen Unlust, endlich aus der gegenseitigen Unterstützung der Assoziationen und der ganzen Summe der Konstellationsmomente. Und es ist der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß der Mensch an eine größere Aufgabe gleich von vornherein mit einem höheren Maß von Aufmerksamkeit, einem festeren Willen zum Lernen herantritt, mehr Energie bereitstellt. "Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zielen." Dieses Sich-bereit-setzen geschieht meist unbewußt. So pflegen wir unsere Muskeln völlig unbewußt für das Heben von Gewichten einzustellen je nach der Schwere, die wir aufgrund der Größe bei ihnen erwarten. Jedenfalls verlangt aber der hier festgestellte Widerspruch erneute Untersuchungen.

Die  mutmaßliche Ursache  der von EBBINGHAUS und BINET festgestellten Tatsache liegt nicht nur in der Verteilung der Aufmerksamkeit. Je größer zwar die Zahl der Glieder ist, umso kleiner ist das Maß von Aufmerksamkeit, das auf ein einzelnes Glied fällt oder umso kleiner ist das Maß an psychischer Kraft, das bei der Begrenztheit des Vorrates vom einzelnen Vorgang angeeignet werden kann. Und je geringer dadurch die Intensität des Erregungszustandes wird, umso geringer ist die an der Erregungsstelle zurückbleibende Nachwirkung, die Disposition. Deshalb muß der Vorgang, die Lesung der längeren Reihe, öfter wiederholt werden, damit die zurückbleibende Disposition bei der sofortigen Prüfung dieselbe Stärke aufweisen kann, wie die kürzere Reihe. Das gäbe aber nur eine einfach proportionale Abnahme des Einprägungswertes. Es kommt noch dazu, daß bei einer langen Reihe die Dispositionen, wenn die sofortige Prüfung beginnt, dank der am Anfang besonders raschen Abnahme schon mehr abgefallen sind, als bei den kurzen, also auch minder leistungsfähig sind. Deshalb muß ihnen, um das größere Abfallsquantum auszugleichen und bei der Prüfung doch gleiche Ergebnisse - fehlerloses freies Hersagen - zu erzielen, eine höhere Anfangs- oder Initialstärke als den kurzen Reihen durch eine größere Zahl von Wiederholungen gegeben werden. Endlich ist auch die dispositionsstärkende Perseveration bei längeren Reihen mehr beeinträchtigt, als bei kürzeren. Und noch mehr ihre Mitwirkung bei der sofortigen Reproduktion, aber davon später!

Ein Vorteil aber macht die Ungunst der größeren Lernarbeit etwas wett. Es ist nämlich eine gleichfalls experimentell festgestellte Tatsache, daß die  mühsamer gelernten längeren Reihen fester sitzen,  daß die  Ersparnis an Wiederholungen beim Neulernen für die längeren Reihen relativ größer ist, als für die rascher gelernten kürzeren.  Bei 12-silbigen Reihen fand EBBINGHAUS nach 24 Stunden beim Wiederlernen 33 Prozent Ersparunis an Wiederholungen gegenüber dem erstmaligen Lernen, bei 24-silbigen 49 Prozent, bei 36-silbigen sogar 58 Prozent. Übereinstimmend fand RADOSSAWLJEWITSCH, daß kürzere Reihen nach den zwei kleinsten Zeitintervallen von 5 und 20 Minuten ein geringeres Vergessen zeigten, als die längeren, und daß entsprechend längere Reihen in der Regel leichter erkannt wurden, als kürzere. Und mit dem Trefferverfahren bei 10-, 14-, und 20-silbigen Reihen kam WEBER zu ähnlichen Resultaten.
LITERATUR - Max Offner, Das Gedächtnis, Berlin 1911