p-4 F. StaudingerMFKG. W. CampbellM. PalágyiH. Ruin    
 
WILHELM ENOCH
Der Begriff der Wahrnehmung
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"Wenn der Zweck und das Ziel der Erkenntnis ist, die Dinge so aufzufassen, wie sie sind, so wird dieses Ziel eben dadurch erreicht werden, daß vermöge der Erkenntnisorgane die Gegenstände der Erkenntnis abgebildet werden. Hieraus ergibt sich als eine einfache Folgerung, daß auch die Produkte des Denkvermögens, die Begriffe, Abbilder von denkbaren oder Begriffsgegenständen sind. Somit gibt es nach dieser Auffassung keine Art von Erkenntnis, die nicht in einer Abbildung besteht, natürlich in einer psychischen Abbildung. Die Wahrnehmung würde also, als psychische Abbildung definiert, der Erkenntnis nicht untergeordnet, sondern dasselbe wie diese sein; der Ausdruck Erkenntnis würde überflüssig oder höchstens geeignet sein, eine der Arten der Wahrnehmung zu bezeichnen."

"Ob eine psychische Wahrnehmung noch als Abbildung gelten kann, das wäre nur zu entscheiden, wenn man sie mit der optischen, aus der sie abstrahiert wurde, vergleichen könnte. Da das nicht möglich ist, so sind all die Folgerungen, welche man aus dem Begriff der Idee, als eines psychischen Abbildes zieht, nichts als leere Vernünfteleien, denen schwerlich ein sachlicher Wert zukommt."


Kapitel 2
Der Begriff der Wahrnehmung und die Begriffe
der Erkenntnis, Vorstellung, Anschauung,
Erinnerung, Empfindung

§ 13. Wie schon erwähnt wurde, haben viele von der Wahrnehmung einen solchen Begriff, daß sie nicht wie in dem von uns vorausgesetzten System eine Art der Erkenntnis ist, sondern mit ihr zusammenfällt. Diese Ansicht beruth auf einer eigentümlichen Auffassung vom Wesen der Wahrnehmung. Man erklärt dieselbe nämlich als eine Art von Spiegelung oder Abbildung. Die wahrgenommenen Gegenstände spiegeln sich in der Seele oder drücken sich gleich Münzen in Wachs in sie ein; die Bilder der Gegenstände werden von der Seele aufgenommen und festgehalten. Die Wahrnehmung so zu erklären, wird man leicht veranlaßt dadurch, daß beim Sehen in der Tat im Auge eine Spiegelung und Abbildung der gesehenen Gegenstände stattfindet. Man kommt dann leicht dazu, als das wesentliche an den Funktionen der übrigen Sinne wie beim Auge eine Art von Nachbildung der Erscheinungen, deren Wahrnehmung sie vermitteln, anzusehen. Von hier aus schließt man entsprechend weiter, daß die Wahrnehmungstätigkeit der Seele in einer getreuen Aufnahme der ihr durch die Sinne vermittelten Eindrücke, welche Bilder der äußeren Dinge und Vorgänge sind, besteht. Wenn nun der Zweck und das Ziel der Erkenntnis ist, die Dinge so aufzufassen, wie sie sind, so wird dieses Ziel eben dadurch erreicht werden, daß vermöge der Erkenntnisorgane die Gegenstände der Erkenntnis abgebildet werden. Hieraus ergibt sich als eine einfache Folgerung, daß auch die Produkte des Denkvermögens, die Begriffe, Abbilder von denkbaren oder Begriffsgegenständen sind. Somit gibt es nach dieser Auffassung keine Art von Erkenntnis, die nicht in einer Abbildung besteht, natürlich in einer psychischen Abbildung. Die Wahrnehmung würde also, als psychische Abbildung definiert, der Erkenntnis nicht untergeordnet, sondern dasselbe wie diese sein; der Ausdruck Erkenntnis würde überflüssig oder höchstens geeignet sein, eine der Arten der Wahrnehmung zu bezeichnen.

§ 14. Diese Ansicht hat eine sehr alte Geschichte. Schon die frühesten griechischen Naturphilosophen faßten die Tätigkeit der Sinnesorgane als eine Reproduktion der durch sie wahrgenommenen Dinge und Vorgänge auf, und es läßt sich deutlich erkennen, daß sie zu dieser Ansicht vorzüglich durch die Beobachtung kamen, daß sich im Auge äußere Gegenstände spiegeln. Man wußte natürlich nicht von einem Netzhautbild; aber ein jeder sah in der Pupille einen verkleinernden Spiegel. Das Sehen, meinte man, kommt dadurch zustande, daß sich Bildchen (die Idole des DEMOKRIT) von den Gegenständen ablösen und ins Auge fliegen. Und indem man diesen Vorgang verallgemeinerte, nahm man an, daß auch die unsichtbaren Gegenstände ihre Bildchen aussenden, die aber nicht das Auge, sondern der Geist aufnimmt oder sieht. Das Denken wird infolgedessen als ein geistiges Schauen erklärt; seine Gegenstände sind die Ideen, die intelligiblen Urbilder der Dinge, als Inhalte des Geistes aber deren Abbilder. Sowohl die Metaphysik DEMOKRITs wie auch die PLATONs führten darauf, den psychologischen Vorgang der Erkenntnis als Wahrnehmung zu denken. Die neuere Philosophie begründet diese Lehre noch fester, indem sie eine psychologische Ideenlehre an die Stelle der alten metaphysischen setzt. Dieselbe wurde besonders von der sensualistischen Richtung der neueren Philosophie ausgebildet. Für LOCKE und seine Nachfolger sind alle Inhalte des Geistes Ideen oder Abbilder, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Gegenstände, deren Abbilder sie sind, sondern auch hinsichtlich der psychologischen Tätigkeiten, durch welche sie entstehen. Ein Bild ist nämlich einerseits insofern ein Bild, als es etwas von einem anderen ähnliches ist; den Begriff der Wahrheit aber veranschaulicht man sich stets durch den der Ähnlichkeit. Soll daher in unseren Erkenntnissen Wahrheit sein, so müssen sie, nach der alten Erklärung der Wahrheit, ihren Gegenständen ähnlich sein. Die Natur der Erkenntnis wird daher als etwas Bildhaftes angesehen und jede einzelne Erkenntnis als Idee, das heißt als Abbild [schaff4], bezeichnet. Ein Bild ist aber sodann auch ein Bild, sofern es etwas Sichtbares, Anschauliches, Wahrnehmbares ist, und deshalb kann man aus dem Begriff der Idee folgern, daß sie ein Objekt der Wahrnehmung sein muß. Wer an KANTs kritisches Denken gewöhnt ist, der wird zwar dieser Folgerung keinen großen Wert beilegen, weil sie nur etwas entwickelt, was im Begriff der Idee bereits liegt. Nun ist aber die Idee, wohlgemerkt, ein psychisches Bild, dessen Wahrnehmbarkeit daher auch nur eine psychische sein kann. Ob aber eine psychische Wahrnehmung noch als Abbildung gelten kann, das wäre nur zu entscheiden, wenn man sie mit der optischen, aus der sie abstrahiert wurde, vergleichen könnte. Da das nicht möglich ist, so sind all die Folgerungen, welche man aus dem Begriff der Idee, als eines psychischen Abbildes zieht, nichts als leere Vernünfteleien, denen schwerlich ein sachlicher Wert zukommt.

§ 15. Als ob DESCARTES, der doch die psychologischen Ideen eigentlich eingeführt hat, geahnt hätte, in welche leeren Folgerungen dieser Begriff führt, enthielt er sich derselben mit genialer Vorsicht. Dem Sensualismus blieb es vorbehalten, das psychologische Labyrinth, dessen Prinzip der Begriff der Idee als Abbild ist, zu errichten. DESCARTES dagegen unterscheidet scharf zwischen Imagination und Intellekt oder mit unseren Ausdrücken: zwischen Anschauung und Denken. Daß aber auch für DESCARTES das Wesen der Erkenntnis zum Teil noch durch optische Analogien erklärt wird, erhellt sich daraus, daß er die fundamentalen Verstandeserkenntnisse als Intuitionen bezeichnet, ebenso daraus, daß er die fundamentalen Merkmale der Richtigkeit der Erkenntnis Klarheit und Deutlicheit nennt, Merkmale, die gleichfalls auf optischen Analogien beruhen. Andererseits freilich legt er dadurch, daß er im Hinblick auf die Wahrheit eines Urteils dem Willen einen Einfluß einräumt, den Grund zu einer anderen Erklärung der Erkenntnis, die nicht bloß eine Folgerung aus dem Begriff der Idee als Abbild ist, sondern weiter entwickelt zu einer durchaus neuen Ansicht vom Wesen der Erkenntnis führt.

Der Sensualismus hingegen kennzeichnet sich als das Bestreben, die optische Analogie bis zum äußersten für die Erklärung der Erkenntnis durchzuführen. Durch LOCKE wird der Begriff der Reflexion eingeführt, dessen Name die optische Analogie ganz deutlich erkennen läßt. Aber auch als Begriff genommen unterscheidet sich die Reflexion durch nichts von der Imagination, wenn nicht dadurch, daß ihre Ideen nicht nur Abbilder sind, sondern sogar bloße Abbilder von Abbildern. Bekanntlich hat HUME dies durch seine Bezeichnung noch deutlicher gemacht. Ich muß es mir an dieser Stelle versagen, auf die sensualistischen Lehren von der Wahrnehmung näher einzugehen, weil sie nicht, ohne das Problem der inneren Wahrnehmung zu berühren, erörtert werden können. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, daß der sensualistischen Psychologie, rein in formaler Hinsicht beurteilt, die Tendenz zugrunde liegt, den Begriff der Erkenntnis dem der Wahrnehmung unterzuordnen und die psychologische Ideenlehre oder Ideologie zu vollenden.

§ 16. Im Vorbeigehen möge noch darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Bemühungen, die Unterschiede der Erkenntniskräfte durch die Begriffe der Klarheit und Dunkelheit zu erklären, was besonders LEIBNIZ im Anschluß an DESCARTES eingeführt hat, natürlich gleichfalls immer von der optischen Analogie ausgehen. Erst KANT verläßt ganz entschieden die optische Analogie, was man, wenn man auch weiter nichts anführen will, schon allein aus seinen Namen für die verschiedenen Arten der Verstandeserkenntnis erkennen kann. Da ist keine Rede mehr von Intuitionen des Verstandes, sondern nur von Grundsätzen, und wenn er den Verstand als ein Vermögen der Begriffe erklärt, so will er dadurch die Anschauung ganz entschieden von ihm ausschließen, wie er überhaupt den Unterschied von Anschauung und Denken überall streng betont und nichts so sehr verwirft, wie den Begriff einer intellektuellen Anschauung. Den Begriff der Erkenntnis streng zu unterscheiden von dem der Intuition oder der Anschauung und dem der Imagination oder Abbildung, dazu dient KANT auch die Annahme der beiden Grundkräfte der Erkenntnis, welche er Rezeptivität und Spontaneität nennt. Es wird sich im Folgenden zeigen, daß man in diesen beiden Ausdrücken die passenden Namen besitzt für zwei Begriffe, die dem größten Teil der psychologischen Spekulationen, welche seit KANT angestellt worden sind, zugrunde liegen.

Das Ergebnis unserer Untersuchung über das Verhältnis des Begriffs der Wahrnehmung zu dem der Erkenntnis ist, daß die Möglichkeit besteht, das in unserem System vorausgesetzte Verhältnis der Unterordnung jener unter diese umzukehren und die Wahrnehmung als den allgemeineren Begriff anzusehen. Dies wird dadurch möglich, daß die Wahrnehmung nach einer optischen Analogie als Abbildung aufgefaßt und keine andere Eigenschaft der Erkenntnis als die Abbildlichkeit zugelassen wird. Damit ist nun erklärt, wodurch der Ausdruck Wahrnehmung einen so ausgedehnten Gebrauch erhalten konnte.

§ 17. Es ist jetzt das Verhältnis des Begriffs der "Wahrnehmung" zu dem der Vorstellung zu erörtern. Dieser Ausdruck fehlt in unserem vorausgesetzten System, weil er für verschiedene in demselben vorkommende Begriffe gebraucht wird. Nach BENNO ERDMANN (Zur Theorie der Apperzeption, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1886, Seite 307f) bezeichnet man mit dem Namen der "Vorstellung" bald das, was wir Erkenntnis nannten, bald die Anschauung, bald die Erinnerung, endlich aber in weitester Bedeutung nennt man so jeden Bewußtseinsakt überhaupt. Nur für diesen letzteren Sinn des Wortes ist hier einiges über das Verhältnis der Wahrnehmung zu diesem Begriff zu sagen, da über Erkenntnis und Wahrnehmung bereits gesprochen wurde, über Vorstellung=Anschauung und Vorstellung=Erinnerung im Folgenden gehandelt werden wird.

Wenn man jeden Bewußtseinsvorgang, mag er nun dem Erkenntnisvermögen oder dem Gefühl oder dem Willen angehören, als Vorstellung bestimmt, so ist somit auch die Wahrnehmung Vorstellung und es wäre hier zu zeigen, welche besonderen Merkmale man sich durch den Begriff der Vorstellung denkt. Dieselben werden am leichtesten deutlich, wenn man die Vorstellung oder die Repräsentation der cogitation des DESCARTES gegenüberstellt. Dieser nannte alle Inhalte des Geistes cogitationes, weil man zu allem, was man erkennt, fühlt oder will, sein cogito - ich denke - hinzusetzen kann. LEIBNIZ nannte diesen Vorgang, durch welchen man einen Inhalt des Bewußtseins als seinen eigenen anerkennt oder auffaßt, die Apperzeption. Dieses Vermögen nun verleiht allen Inhalten des Geistes einen gemeinsamen Charakter und erklärt, weshalb überhaupt von einer Einheit des Bewußtseins gesprochen werden kann, zumal in rein logischer Hinsicht. Denn wenn es möglich ist, jeden Inhalt des Geistes, wie er auch immer beschaffen ist, zu apperzipieren, so sind somit alle Geistesinhalte apperzipierbar. Dies ist ihr gemeinsames Merkmal, vermöge welches sie alle zu einer Gattung gehören. Durch den Begriff der Apperzeption wird also der des Bewußtseins und der Bewußtheit erläutert und man kann geradezu sagen, daß die Bewußtheit insofern das gemeinsame Merkmal aller psychischen Inhalte ist, da alle apperzipiert werden können. Wenn nun alle Bewußtseinsinhalte Vorstellungen genannt werden, so soll ihnen damit natürlich nicht bloß zu den Namen, die sie bereits haben, ein weiterer hinzugefügt werden, sondern es soll dadurch ihre Natur genauer bezeichnet werden.

§ 18. Hinsichtlich des Begriffs der Vorstellung kann hier nur ganz kurz darauf hingewiesen werden, daß derselbe einerseits ein analytischer oder dialektischer ist, welche aus dem der Apperzeption folgt und nur im Zusammenhang mit ihr gehörig begriffen werden kann, daß andererseits aber ihm eine optische Analogie zugrunde liegt. Nämlich das, was apperzipiert wird, ist nach LEIBNIZ die Perzeption, ein Akt oder Zustand der Monade oder für uns der Seele, es ist das Objekt für das apperzipierende Subjekt; in ein solches und in das apperzipierte Objekt zerfällt die perzipierende Seele im Moment der Apperzeption. Wenn aber dieser Vorgang genauer erklärt oder geschildert werden soll, so bleibt nichts übrig, als etwa Folgendes zu sagen: Das Objekt tritt dem Subjekt entgegen, stellt sich vor es hin als Vorstellung, als Vertretung irgendeines in ihm enthaltenen Dings oder Zustandes, irgendeines Inhaltes; oder auch: das Subjekt verwandelt den Inhalt der Seele in etwas ihm gegenüberstehendes, in eine Vorstellung, es stellt sich den Gegenstand, das Objekt, vor. Man mag hiervon nun denken, was man will, man muß in jedem Fall die metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Folgerungen, welche sich an die Spekulationen eines LEIBNIZ knüpfen, unterscheiden von ihrer psychologischen Bedeutung. Diese aber besteht darin, daß, wie bereits bemerkt wurde, jetzt sämtliche Geistesvorgänge ein gemeinsames Merkmal erhalten, nämlich dasjenige, apperzipierbar zu sein, und daß diese ihre Eigentümlichkeit genauer als Vorstellung erklärt wird. Der Begriff der Vorstellung bleibt jedoch im erläuterten Sinn solange noch ziemlich leer, wie man nicht die optische Analogie zu Hilfe nimmt, welche er enthält. Denn es genügt nicht zu einer vollständigen Einsicht in das Wesen der Vorstellung, daß man einsieht, daß durch diesen Akt oder Vorgang ein Objekt einem Subjekt gegenübertritt. Das wäre eine bloß räumliche Analogie und würde keine kausale Beziehung zwischen Objekt und Subjekt ausdrücken. Eine solche aber ist sogleich vorhanden, sobald man zu der räumlichen die optische Analogie hinzunimmt. Alsdann verhält sich das Subjekt zum Objekt wie das Auge zum Bild des Gegenstandes in ihm. Aber die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt erlaubt gerade vermöge des Begriffs der Vorstellung noch eine andere Deutung. Denn indem das Subjekt sich sozusagen vom Objekt trennt, sich diesem gegenüberstellt oder dieses vor sich hinstellt, übt es eine Art von Tätigkeit aus, scheint es selbsttätig eingreifend, den Gegenstand erfassend, ihn zu erzeugen, ihn zu schaffen. Der Begriff der Vorstellung enthält also auch die Analogie einer Tätigkeit, einer aktiven Bewegung. Man könnte dieses Merkmal im Begriff der Vorstellung die aktive oder praktische Analogie nennen, wenn solche ungewohnte Benennungen nicht leicht zu Mißverständnissen und zu leichtsinnigen Ausdeutungen führen könnten. Deshalb sind die kantischen Bezeichnungen dieser beiden analogischen Merkmale im Begriff der Vorstellung, obwohl sie gleichfalls ungewohnt und obendrein gespreizt klingen, vorzuziehen, weil sie durch ihn ihren bestimmten Sinn erhalten haben, ich meine die Ausdrücke Rezeptivität und Spontaneität. Jene ist die Verallgemeinerung dessen, was oben optische Analogie genannt wurde, diese die Verallgemeinerung der aktiven Analogie. Schon DESCARTES deutet in seinem Begriff der cogitation vorwiegend auf das Merkmal der Spontaneität hin; er meint ja damit nicht die reine intellektuelle Spontaneität, als welche KANT später das Denken gekennzeichnet hat, sondern jene Seelenzustände, die sowohl Rezeptivität wie Spontaneität enthalten, das ist die gemeinsame Gattung aller Seelenzustände überhaupt oder die Vorstellung. Es wird sich nachher zeigen, zu welchen psychologischen Spekulationen das Merkmal der Spontaneität im Begriff der Vorstellung führt. Hier aber ist nur noch kurz anzugeben, was für den Begriff der Wahrnehmung daraus folgt, daß man sie der Vorstellung im allgemeinsten Sinn des Wortes unterordnet.

§ 19. Wenn jede Wahrnehmung Vorstellung ist, so bedeutet das wegen der Rezeptivität oder der optischen Analogie, daß die Wahrnehmung in einer Art von Nachbildung oder Abbildung besteht. Unterscheidet man nun nicht gehörig den Begriff der Vorstellung von dem der Wahrnehmung, so fallen beide leicht völlig zusammen und es wird sogar leicht der letztere Begriff der allgemeinere; die Vorstellung erscheint dann als eine Art der Wahrnehmung und wird dieser untergeordnet. Es findet dann dieselbe Umkehrung des Gattungsverhältnisses statt wie vorher zwischen Erkenntnis und Wahrnehmung. Die Verwirrung wird in diesem Fall noch umso größer, weil der Begriff der Vorstellung nicht nur Erkenntnis, sondern auch Gefühl und Willen umfaßt, deren Funktionen als Wahrnehmung oder psychische Abbildung zu deuten nicht ohne die größten Gewaltsamkeiten und Verwicklungen möglich ist.

Erklärt man aber die Wahrnehmung durch den richtigen Begriff der Vorstellung, vernachlässigt man also nicht das Merkmal der Spontaneität, so bereichert man dadurch den Begriff der Wahrnehmung in einer vielleicht durchaus berechtigten Weise. Man erkennt nämlich dann an, daß die Wahrnehmung in gewisser Weise ihren Gegenstand ergreift oder umschreibt oder bestimmt, ja vielleicht ihn geradezu schafft, oder, wie man auch sagt, setzt. Es ist jedoch auch möglich, daß man, die Spontaneität zu sehr betonend, den richtigen Begriff der Wahrnehmung nach dieser Richtung hin verfehlt. Dies ist besonders dadurch nahegelegt, daß der Begriff der Vorstellung auch das Fühlen und Wollen umfaßt. Wenn nun die Spontaneität diesem Letzteren gleichgesetzt wird, so wird die Wahrnehmung leicht eine Funktion des Willens und dadurch das von uns vorausgesetzte System der psychologischen Begriffe aufgehoben oder zumindest wesentlich umgestaltet.

§ 20. Hierüber ist jedoch nachher genauer zu handeln. Jetzt aber ist das Verhältnis des Begriffs der Anschauung zu dem der Wahrnehmung zu erörtern, womit zugleich auch denjenigen genug geschieht, welche für das, was wir "Anschauung" nennen, den Ausdruck "Vorstellung" gebrauchen.

Anschauung ist nach KANT die unmittelbare Vorstellung oder Erkenntnis eines Gegenstandes. Ihr Begriff oder das Denken gegenüber als die mittelbare Erkenntnis, welche sich nur mittels Anschauungen auf Gegenstände beziehen kann. Die Art, wie durch die Anschauung etwas erkannt wird, ist im Wort "Anschauung" angedeutet, welches eine Tätigkeit des Gesichts ausdrückt. Der Begriff der Anschauung enthält also als Merkmal eine optische Analogie. Wer die Wahrnehmung als Anschauung gegenwärtiger Gegenstände bestimmt, erklärt sie mit Hilfe jener optischen Analogie, die in der Psychologie von so großer Bedeutung ist. Im Übrigen ist zu bemerken, daß Anschauung und Wahrnehmung häufig nicht genau voneinander unterschieden werden, was bei so benachbarten Begriffen nicht verwundert. Vielfach fehlt der Ausdruck Anschauung in den Darstellungen der Psychologie, umso häufiger wird er in erkenntnistheoretischen Werken gebraucht. Sehr seltsam ist ein Sprachgebrauch STEINTHALs, welcher (Abriß der Sprachwissenschaft I, Seite 442) einmal von einem Inhalt spricht, der "als erinnerte Wahrnehmung, als als Anschauung gegeben ist."

§ 21. Anstatt mich so auszudrücken, würde ich es vorziehen, mit HEGEL, ROSENKRANZ, FECHNER und HELMHOLTZ Erinnerungen Vorstellungen zu nennen. Dieselben sind nach dem von mir angenommenen System als erinnerte Anschauungen oder als Anschauungen nicht gegenwärtiger, abwesender Gegenstände zu bestimmen.

Wie verhält sich zu diesem Begriff der der Wahrnehmung? Man sollte meinen, daß dieselbe mit der von ihr spezifisch unterschiedenen Erinnerung nicht verwechselt werden kann. Aber wenn auch ein Gegenstand, der abwesend ist, nicht anwesend oder gegenwärtig sein kann, so ist doch die Beurteilung, ob der Gegenstand einer Anschauung abwesend oder gegenwärtig ist, häufig sehr schwierig, nämlich, wenn sich jemand im Zustand der Jllusion oder der Vision oder der Halluzination befindet. Es gibt also zwischen Wahrnehmung und Erinnerung noch die genannten anderen Arten der Anschauung. Hierdurch jedoch werden die Begriffe von Erinnerung und Wahrnehmung nicht miteinander vermischt, sondern vielmehr dadurch, daß man die Erinnerung bisweilen als eine Art der Wahrnehmung glaubt erklären zu können. Diese Erklärung drängt sich notwendig auf, wenn als die Ursache der Erinnerung die Reproduktion oder das Wiederauftauchen vergessener oder im Gedächtnis aufbewahrter Inhalte angesehen wird. Dies geschieht aber allgemein. Denn wenn neuere sich dagegen sträuben, das Gedächtnis wie einen Behälter anzusehen, aus dem Mnemosyne [griech. Göttin des Gedächtnisses - wp] die Erinnerungen herausreicht, so tauchen dieselben doch für viele gleich Luftblasen aus dem Grund des Wassers empor und erheben sich über die Oberfläche desselben oder über eine andere Schwelle, unter die sie gedrückt sind. Andere betrachten die Erinnerung als ein Wiedererwachen von Dispositionen, als eine Erneuerung schwach gewordener Spuren. Bei ihnen schreibt die Wahrnehmung gleichsam mit sympathetischer Tinte ihre Züge auf das weiße Blatt der Seele, Züge, welche bald verlöschen, aber nicht verschwinden, sondern bei passender Veranlassung wieder sichtbar und deutlich werden. Doch ob nun die Abbilder der Gegenstände selbst im Grunde der Seele schlummern oder nur deren Spuren, es genügt nicht, daß sie erwachen, sie müssen bemerkt oder wahrgenommen werden. Erinnerung beruth nach all diesen Auffassungen notwendig auf Wahrnehmung, freilich auf einer inneren,, auf einer Wahrnehmung besonderer Art. Da man aber diese nicht genauer beschreiben kann, so erscheint schließlich der Unterschied zwischen ihr und der eigentlichen Wahrnehmung als ganz unbestimmt, und nachdem man sich in die psychologischen Theorien über die Erinnerung vertieft hat, ist man eher geneigt, sie mit der Wahrnehmung völlig zu verwechseln, als daß man imstande wäre, jetzt beide besser voneinander zu unterscheiden. Hierüber darf man sich nicht wundern, da ja, wie sich bereits öfters zeigte, die Wahrnehmung nach einer optischen Analogie zur Erklärung aller psychologischen Vorgänge benutzt wird.

§ 22. Viel bedeutsamer ist eine der vorigen entgegengesetzte Betrachtung, durch welche die Wahrnehmung auf Erinnerung zurückgeführt wird. Schon PLATON, dieser unvergleichlich feine Psychologe, stellte die Vermutung auf, daß an der Wahrnehmung die Erinnerung beteiligt ist. Oder wenn er diese Vermutung nicht wirklich ausgesprochen hat, so würde einer gewiß in seinem Sinne sprechen, welcher behauptete, daß die richtige Wahrnehmung der Dinge nicht möglich ist ohne den Besitz ihrer Ideen, und daß man sich dieser bei der Wahrnehmung jener erinnert, oder daß die Wahrnehmung neben der Gegenwart der Dinge für die Sinne auch noch der Ideen für die Seele bedarf. Angeborene Ideen der einzelnen Arten sinnlicher Dinge wollen die Gegenwärtigen nicht gelten lassen; aber nicht wenige gibt es, die zumindest meinen, der Mensch bringt angeborene Anschauungen von Raum und Zeit mit auf die Wet und setzt die Bilder der Dinge in seinem Bewußtsein aus den Eindrücken, welche die Sinne liefern, in den Formen, die in der Seele bereit liegen, zusammen. Sie halten dies für kantische Psychologie, doch wahrscheinlich mit Unrecht. Einfacher und folgerichtiger scheint eine Ansicht zu sein, nach welcher überhaupt alle Eigenschaften der Dinge, nicht nur ihre räumlichen und zeitlichen Formen, sondern auch die sinnlichen Qualitäten, aus dem dunklen Schacht des Bewußtseins emporsteigen bei der Affektion, die von einem unbekannten, vielleicht aus qualitätslosen Atomen bestehenden Objekt ausgeht. Nach all diesen Ansichten würde die Wahrnehmung der Vorgang sein, welcher aus zwei Quellen zusammenströmt, aus einer äußeren, die aus dem Unbewußten stammt, und einer inneren, dem dunklen Schacht des Bewußtseins. Was aber in diesem schlummert, dessen Erwachen oder Emporsteigen kann füglich als Erinnerung bezeichnet werden. Somit würde die Wahrnehmung nach der Hälfte oder gar nach der größeren Hälfte ihrer Bestandteile auf Erinnerung beruhen.

Ernster zu nehmen als diese Spekulationen sind folgende Gedanken über das Verhältnis von Wahrnehmungen und Erinnerung, welche ich mit KANTs Worten (Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe KEHRBACH, Seite 130) anführe:
    "Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz [Bestandteil - wp] der Wahrnehmung selbst ist, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man dieses Vermögen teils nur auf Reproduktionen einschränkte, teils, weil man glaubte, die Sinne liefern uns nicht allein Eindrücke, sondern setzen solche auch sogar zusammen und bringen Bilder der Gegenstände zuwege, wozu außer der Empfänglichkeit für die Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine Synthese derselben erfordert wird."
Diese aber kann nach KANT nur mit Hilfe der Einbildungskraft bewirkt werden, welche zum Mannigfaltigen, was in den einzelnen Empfindungen aufgenommen wird, die Erinnerungen liefert und dadurch die Wahrnehmung zustande bringt. Ohne auf diese Theorie genauer einzugehen, genügt es für unseren Zweck, darauf hinzuweisen, daß sie der Einbildungskraft, also dem Vermögen der Erinnerung, eine so hohe Bedeutung für die Wahrnehmung zuschreibt, daß es nichts Abgeschmacktes sein würde, dieselbe dem Erinnerungsvermögen zuzuordnen. Also bewährt sich auch beim Vergleich der Wahrnehmung mit der Erinnerung, was wir vorausschickten, daß die Grenze der verschiedenen Begriffe des psychologischen Systems ineinander laufen und daß alle miteinander verwechselt werden können.

§ 23. Während bisher die Wahrnehmung mit solchen Begriffen verglichen wurde, die in unserem System ihr über- oder nebengeordnet sind, ist die Empfindung nach unserer Annahme eine Art der Wahrnehmung, also ihr untergeordnet. Daraus folgt, daß alles, was von dieser ausgesagt werden kann, auch von der Empfindung gilt, und in vielen Fällen, nämlich da, wo es nicht auf eine genauere Bestimmung ankommt, ohne einen Fehler zu machen von Wahrnehmung anstatt von Empfindung gesprochen werden kann. Es ist ja überhaupt einleuchtend, daß die Gattungsunterschiede zweier Begriffe immer feiner werden, je spezieller beide sind, und wenn, wie gezeigt wurde, die Wahrnehmung mit der Anschauung, ja mit Erkenntnis vielfach und leicht verwechselt wird, so läßt sich noch viel eher die Verwechslung mit der Empfindung erwarten. Daß dieselbe in der Tat äußerst häufig vorkommt, zugleich aber auch, daß vielfache Bemühungen stattgefunden haben, beide Begriffe voneinander zu unterscheiden, das geht aus einer neuerdings unter dem Titel "Wahrnehmung und Empfindung" veröffentlichten Abhandlung von G. K. UPHUES hervor, in welcher zahlreiche Versuche von Begriffsbestimmungen für einen jeden dieser beiden Begriffe zusammengetragen und miteinander verglichen sind, mit der Absicht, durch diesen Vergleich eine bessere Begriffsbestimmung als die bisherige zu gewinnen und an deren Stelle zu setzen. Man erkennt aus dieser Abhandlung nicht nur, wie unbestimmt diese beiden Begriffe sind, und wie unsicher ihre Unterscheidung ist, sondern auch, wie bunt die Ausdrücke sind, mit denen man sie erörtert, wie abweichend der Wortlaut der Definitionen, wie mannigfaltig die Gesichtspunkte der Untersuchung, und wie mangelhaft der Zusammenhang zwischen denselben ist. Ein jeder Gelehrte benutzt ohne Rücksicht auf andere Ansichten seine eigenen Gesichtspunkte und Ausdrücke, wie wenn es sich nur um die Kundgebung einer persönlichen Meinung oder um Selbstverständliches handeln würde, bei dem die Wahl des Ausdruckes gleichgültig ist.

Vor UPHUES hat WILLIAM HAMILTON (Lectures on Metaphysics, 1870, Bd. II, Seite 93f) nachgeforscht, wer zuerst den Unterschied von Wahrnehmung und Empfindung, im Englischen perception und sensation, genauer bestimmt hat. Er sagt, daß der Ausdruck perception vor REID in einer sehr weiten Bedeutung gebraucht wurde. Bei DESCARTES, MALEBRANCHE, LOCKE, LEIBNIZ und anderen hat er fast denselben Umfang wie Bewußtseinsakt überhaupt. Von REID wurde er auf die Wahrnehmung oder Vorstellung der äußeren Welt beschränkt. Dieser schottische Psychologe aber stellt die Theorie auf, daß mit jeder Sinnesaffektion notwendig auch eine subjektive Affektion, oder mit jeder Vorstellung oder Erkenntnis eines äußeren Gegenstandes auch das mehr oder weniger deutliche Gefühl eines angenehmen oder unangenehmen Zustandes verbunden ist. Jede Vorstellung eines äußeren Gegenstandes oder Zustandes führt nach dieser Ansicht die Vorstellung eines inneren mit sich. Diesen letzteren Bewußtseinsinhalt, den wir vielleicht als körperliches Gefühl bezeichnen dürfen, nannte REID Sensation oder "Empfindung" und stellte ihr gegenüber die Perzeption oder die Wahrnehmung des äußeren Gegenstandes. Ein Beispiel wird die Unterscheidung vielleicht deutlicher machen als weitere Erklärungen: Wenn man einen äußerst hohen Ton vernimmt, so nimmt man einerseits einen Ton von bestimmter Höhe und Stärke wahr, oder in REIDs Ausdrucksweise: man hat die Perzeption eines Tons; andererseit aber empfindet man einen mehr oder weniger heftigen Schmerz, welches die durch den Ton hervorgerufene Sensation ist. REID selbst gibt an, daß einen ähnlichen Unterschied bereits MALEBRANCHE zwischen sentiment und idée gemacht hat; jenes ist das, was REID Sensation, dieses, was er Perzeption nennt. HAMILTON teilt ferner mit, daß diese Unterscheidung des MALEBRANCHE von anderen gleichzeitigen Philosophen angenommen wurde, daß aber LOCKE und LEIBNIZ sie nicht bemerkten oder nicht berücksichtigen. Jedoch sei sie schon im Mittelalter von einigen Nominalisten aufgestellt gewesen und geht letzten Endes auf PLOTIN zurück.

Ob diese historischen Behauptungen richtig sind, das hängt davon ab, ob die betreffenden Autoren richtig verstanden sind, und darüber kann man nur urteilen, wenn man über den Gegenstand unterrichtet ist, nach welchem man sie befragt. Wir wollen deshalb, ehe wir die angeführte Unterscheidung REIDs genauer erörtern und anderer Gelehrten Ansichten hinzufügen, den Versuch machen, von unserem vorausgesetzten Begriffssystem ausgehend, die möglichen Unterscheidungen von Wahrnehmung und Empfindung zu entwickeln.

§ 24. Am nächsten liegt es, die Empfindung als elementaren Bestandteil der Wahrnehmung anzusehen. Diese ist aus jenen zusammengesetzt und bildet sich durch eine Verbindung, Verschmelzung, Assoziation von Empfindungen. Derselbe Gesichtspunkt läßt sich auf den Unterschied der Gegenstände anwenden: Die der Empfindungen sind die einfachen Qualitäten, die einzelnen Farben, Töne, Gerüche usw., die der Wahrnehmung die aus den Qualitäten zusammengesetzten Dinge und deren Verbindungen zu Kollektionen von Dingen und schließlich zur Welt. Die Wahrnehmung stellt also aus dem Einfachen und Mannigfalten, welches die Empfindung liefert, das geordnete Ganze her. Dieser Gesichtspunkt der Zusammensetzung eignet sich deshalb sehr gut für die Unterscheidung von Empfindung und Wahrnehmung, weil er ein sehr allgemeiner und ansich zulässiger ist. Infolgedessen kann ihn sowohl eine materialistische wie eine spiritualistische Psychologie gebrauchen. Jene wird ihm entsprechend die Wahrnehmung als eine komplizierte Funktion oder als die Funktion komplizierter Organe erklären, die Empfindung aber als eine einfachere, und ähnliche Unterscheidungen werden auch spiritualistische Spekulationen machen.

§ 25. Bei einem anderen Gesichtspunkt zur Unterscheidung von Empfindung und Wahrnehmung werden die Spiritualisten und die Materialisten aber auseinandergehen. Diese machen keinen Unterschied zwischen der Natur des Geistes und der übrigen Natur und nennen solche, welche dies tun, Metaphysiker, und alle Ansichten, welche sich auf eine Unterscheidung der beiden Naturen gründen, metaphysische. Da aber viele diesen Namen nicht als einen Schimpf-, sonern als einen Ehrennamen ansehen, so dürfen auch wir wohl von einem metaphysischen Unterschied zwischen Empfindung und Wahrnehmung sprechen, welcher darin besteht, daß jene dem Körper, also etwa den Nerven oder dem Gehirn, diese aber dem Geist oder der Seele zugeschrieben werden. Solche, die im materiellen Leib eine Seele von besonderer Substanz annehmen, die Dualisten, werden mit den eben gebrauchten Ausdrücken einverstanden sein; die Monisten aber werden lieber hören, daß man die Empfindung zum Gebiet des Unbewußten, die Wahrnehmung zu dem des Bewußtseins rechnet. Alsdann entsteht Wahrnehmung dadurch, daß der unbewußte Reiz oder die unbewußte Empfindung zum Bewußtsein kommt. Der Vorgang des Bewußtwerdens der Empfindung wird häufig Apperzipieren, auch Unterscheiden, Erfassen, Bemerken genannt. Dieser zweite metaphysische Gesichtspunkt läßt sich nun sehr gut mitm dem ersten, den wir wohl den formalen nennen dürfen, verbinden, und danach erklärt man die Empfindungen als die einfachen, unbewußten Gebilde, welche in der Wahrnehmung zu einem zusammengesetzten, bewußten werden. Man setzt dann noch hinzu, daß aus dieser Bestimmung deutlich hervorgeht, daß wir von Empfindungen keine direkte Kenntnis haben, sondern sie nur erschließen können, eben weil sie unbewußt sind, und daß sie als die Elemente des Bewußtseins den Atomen, den Elementen der physischen Erscheinungen, vergleichbar sind.

§ 26. Mit diesen beiden Gesichtspunkten sind die möglichen Grundlagen zur Unterscheidung von Empfindung und Wahrnehmung noch nicht erschöpft, sondern man findet noch einen neuen und bedeutsamen, wenn man beachtet, daß diese beiden Begriffe zu dem der Erkenntnis gehören, und daß Erkenntnisse sich überhaupt durch ihre Gültigkeit voneinander unterscheiden. Dies ist freilich kein psychologischer Unterschied, aber kann vielleicht dazu dienen, einen solchen aufzufinden. Hinsichtlich der Gültigkeit kann man alle Erkenntnisse in Meinungen und Erfahrungen einteilen. Kennzeichen derselben ist ersichtlich, daß jene nur zu partikularen Sätzen berechtigen, diese aber zu universalen; ferner, daß jene nur für einzelne Urteilende gültig sind, diese aber für alle; endlich, daß jenen nur eine schwankende und zufällige, diesen aber eine sichere und notwendige Evidenz zukommt. Es liegt nun die Frage nahe, ob nicht unter den verschiedenen Arten der Erkenntnis, welche man in psychologischer Hinsicht unterscheiden kann, sich solche finden, die der eben angeführten logischen Unterscheidung von Meinung und Erfahrung und deren Kennzeichen entsprechen. In der Tat veranlaßt schon das Kennzeichen der Evidenz die Überlegung, ob sie nicht ihre psychologischen Gründe hat. Ohne jedoch hierauf genauer einzugehen, genügt es, die beiden Schlagworte anzugeben, mit welchen sowohl der logische wie auch der psychologische Unterschied von Meinung und Erfahrung ausgedrückt wird. Man sagt seit KANT von jener, sie sei eine bloß subjektive Erkenntnis, die Erfahrung aber eine objektive.

Auf die gleiche Weise werden nun auch Empfindung und Wahrnehmung voneinander unterschieden. Jene, sagt man, ist ein Erkenntnisvermögen, das nur zur Meinung berechtigt, diese aber ist die Grundlage der Erfahrung. Den auf diese Weise bestimmten Unterschied von Empfindung und Wahrnehmung dürfte man wohl den transzendentalen nennen.

Somit wären drei Gesichtspunkte aufgestellt, nach welchen diese beiden Begriffe voneinander unterschieden werden können, der formale, der metaphysische und der transzendentale. Dieselben werden in verschiedenster Weise miteinander kombiniert oder auch zerlegt und mit anderen Begriffen verbunden, schließlich mit mannigfachen Ausdrücken dargestellt und auf solche Weise zu den zahlreichen Definitionen und Distinktionen [Bestimmungen - wp] von Empfindung und Wahrnehmung verarbeitet, welche man vorfindet.

§ 27. Dieses Verfahren der Vermischung der Begriffe scheint selbst in der kantischen Psychologie nicht ganz und gar unterlassen zu sein, obwohl ja gerade KANT die oben aufgezählten Gesichtspunkte der Unterscheidung, zumal der transzendentale, verdankt werden. Hierfür ist neben vielen anderen Stellen die folgende aus der "Anthropologie" (Werke, Bd. VII, Ausgabe ROSENKRANZ, B, Seite 45) ein Beleg:
    "Eine Vorstellung durch den Sinn, deren man sich als einer solchen bewußt ist, heißt besonders Sensation, wenn die Empfindung zugleich Aufmerksamkeit auf den Zustand des Subjekts erregt."
Dies stimmt ganz und gar mit REIDs vorher aufgeführter Auffassung überein, nach welcher Empfindung die subjektive Seite eines Sinneseindrucks ist, Wahrnehmung die objektive. Es ist aber klar, daß diese Unterscheidung zweier Seiten, nämlich einer inneren und einer äußeren, sich nicht unter den drei Gesichtspunkten, welche wir aufzählten, findet. Liegt hier nun ein neuer Gesichtspunkt vor, und ist derselbe den aufgezählten hinzuzufügen? Man könnte meinen, die Unterscheidung von innen und außen ist, wie die von einfach und zusammengesetzt, eine formale. Dies ist aber nicht der Fall, da innen und außen nur räumliche Beziehungen ausdrücken, aber nicht allgemein formale. Jede andere Bedeutung, die man diesen Ausdrücken unterlegt, ist eine untergeschobene und wird besser durch ihre eigentliche Bezeichnung ausgedrückt. Meint man nämlich damit den Unterschied des psychischen und des physischen, so sind eben diese die passenden Ausdrücke für denselben. Meint man aber mit dem inneren Zustand den des eigenen Leibes, mit dem äußeren Zustand den eines anderen Gegenstandes, so ist klar, daß diese Unterscheidung keine durchgehende ist, da für das Auge oder die Gesichtswahrnehmung der eigene Leib ein ebenso fremder Gegenstand ist wie alle anderen Gegenstände. Über die Irrtümer und Unklarheiten, welche das Begriffspaar innen und außen veranlaßt, ist aber so viel zu sagen, daß ich mich an dieser Stelle nicht weiter darüber verbreiten kann, ohne zu weitläufig zu werden. Ich muß es mir auf eine andere Gelegenheit versparen, diese Frage zu erörtern, obwohl sie durchaus hierher gehört, weil eine große Zahl der verworrenen Behauptungen über das Wesen der Empfindung und der Wahrnehmung und den Unterschied beider aus einer verkehrten Anwendung jenes Begriffspaares entspringen. Um aber wenigstens die kantische und die Ansicht REIDs zu erläutern, so sei darauf hingewiesen, daß die Begriffe "innen" und "außen" häufig den Begriffen subjektiv und objektiv gleichgesetzt werden. Man versteht dabei unter dem Subjektiven nicht die Erkenntnisse, welche nur eine einzelne und zufällige Geltung haben, sondern diejenigen Zustände oder Eigenschaften, deren Gesamtheit das Ich oder das psychologische Subjekt bilden, welchem dann das Objekt einfach als Nicht-Ich gegenübergestellt wird. Das psychologische Subjekt ist ein ziemlich verworrener Begriff, dessen Ingredenzien die bei einer genaueren Analyse miteinander unverträglichen Begriffe des Inneren, des eigenen Leibes, der Seele, des transzendenten Subjekts oder Individuums bilden. Auf diesem Begriff beruhen die meisten neueren Unterscheidungen von Empfindung und Wahrnehmung.

§ 28. Wenn jene also als eine subjektive, diese als eine objektive Erkenntnis bestimmt wird, so versucht nun die psychologische Spekulation genauer zu sagen, worin dieser Unterschied besteht, und wie aus einer Empfindung, die immer als das Elementare gilt, eine Wahrnehmung wird. Der Grundzug aller derartigen Spekulationen ist stets, daß die hergebrachten Begriffe des psychologischen Systems in neue Verbindungen gebracht werden, wobei es freilich zumeist fraglich bleibt, ob durch die neuen Kombinationen wahrhaft neue Einsichten erlangt werden. Als Beispiel eines solchen Verfahrens kann dasjenige SCHOPENHAUERs gelten, welcher in seiner sogenannten Erkenntnistheorie viel mehr psychologisiert, als er sich vielleicht selbst eingestehen würde. Das Problem, wie aus einer Empfindung eine Wahrnehmung werden kann, hat er aus KANT aufgenommen, und er faßt es in der vorher dargestellten Weise auf, indem ihm die Empfindung etwas inneres und subjektives, zugleich aber das ursprüngliche ist, und er sucht es zu lösen, indem er sich fragt, wie die Empfindung, dieser Zustand des Subjekts, des Ichs, objektiviert, das heißt zur Eigenschaft eines äußeren Objekts werden kann. Seine Lösung lautet, der Verstand ist die Funktion, durch welche die Empfindung objektiviert wird; er benutzt also einfach einen der hergebrachten Begriffe des psychologischen Systems. Indem der Verstand oder das Denken sich auf die subjektive Empfindung richtet, setzt er dieser einen äußeren Gegenstand als die Ursache des inneren Zustandes. Wahrnehmen ist hiernach, einen Gegenstand als Ursache einer Empfindung setzen oder anerkennen. SCHOPENHAUER glaubt, diese Erklärung ist im Sinne eines besser zu verstehenden KANT, während sie doch nur eine psychologistisch einseitige Ausdeutung kantischer Lehren ist. Allein so berührt er eine wahrhaft kantische, der Erkenntnistheorie oder Transzendentalphilosophie zugehörige Ansicht, indem er den Verstand für die Erklärung der Wahrnehmung in Anspruch nimmt, als es KANTs Meinung jedenfalls war, daß an jeder Erkenntnis von objektiver, daß heißt von erfahrungsgemäß allgemeiner und notwendiger Geltung, die Spontaneität, als deren Äußerung der Verstand mit seinen Grundsätzen a priori gilt, einen wesentlichen Anteil hat. Aber wie die Spontaneität näher zu erklären ist, welches ihre psychologische Wirksamkeit ist, also wie sie an der Wahrnehmung als einer objektiven Erkenntnis beteiligt ist, das ist eine zweite, von der erkenntnistheoretischen Ansicht verschiedene und zwar eine sehr verwickelte Frage. Ihre Lösung durch SCHOPENHAUER entspricht vielleicht einigermaßen dem genialen Verfahren, welches, wie bekannt, der große ALEXANDER zur Auflösung des gordischen Knoten anwendete.

§ 29. Ferner kann man auch auf den Gedanken kommen, daß alles Subjektive überhaupt nicht in den Bereich der Erkenntnis, sondern in den des Gefühls gehört. Dies ist die Ansicht HAMILTONs, welche (am angeführten Ort) ausspricht, daß die Sensation eine mehr oder weniger starke und deutliche Unlust oder Lust darstellt, die mit Sinneserregungen verbunden, also ein sinnliches Gefühl ist. Er setzt hinzu, daß zwischen diesem Gefühl, welches er Sensation nennt, und der zugehörigen Wahrnehmung ein gesetzliches Stärkeverhältnis besteht; je stärker die eine ist, umso schwächer ist die andere und umgekehrt. Diese Bemerkung ist übrigens nicht neu, sondern bereits von KANT, dem HAMILTON überall folgt, in der Anthropologie ausgesprochen und gehört wahrscheinlich zum alten Erbgut der Psychologie.

Das Ergebnis unseres Vergleichs des Begriffs der Wahrnehmung mit dem der Empfindung ist, daß zu ihrer Unterscheidung vorzüglich drei Gesichtspunkte, ein formaler, ein metaphysischer und ein transzendentaler angewendet werden können, daß sich aber durch die Verbindung der drei und die Anwendung verschiedener Ausdrücke jene beiden Begriffe auf sehr mannigfaltige Weise bestimmen lassen. Am bedeutendsten erscheint der von KANT ausgehende transzendentale Gesichtspunkt, aber auch die beiden anderen scheinen unentbehrlich zu sein. In Verwirrung und dialektische Gespinste führen alle, der wahre Sinn und Wert dieser Begriffe aber ist schwer festzustellen; das Wesen der Wahrnehmung bleibt auch nach einem Vergleich mit dem, was als ihre Unterart und ihr elementarer Bestandteil gilt, schwierig zu bestimmen.
LITERATUR - Wilhelm Enoch, Der Begriff der Wahrnehmung, [Inaugural-Dissertation] Hamburg 1890