tb-4cr-4PetschkoFriedellBernoulliMauthnerMarx/Engels    
 
ROBERT SCHELLWIEN
Max Stirner
und Friedrich Nietzsche

[Erscheinungen des modernen Geistes
und das Wesen des Menschen]

[ 2/3 ]

"Nietzsche lehnt eine Verwandtschaft mit dem Darwinismus ab: er nennt zumindest Darwin (neben John Stuart Mill und Herbert Spencer) einen mittelmäßigen Engländer und blickt geringschätzig herunter auf die Anpassung, eine Aktivität zweiten Ranges, die man auf Kosten der eigentlichen Aktivität, nämlich des Willens zur Macht, in den Vordergrund schiebt."

"Die Fachgelehrten nahmen die darwinistische Kausalitätshypothese unbesehen an, weil sie ihnen die erwünschte Alleinherrschaft der Naturwissenschaft und die absolute Bedeutung des mechanistischen Naturprozesses zu sichern schien, und behandelten diese Hypothese mit unerschütterlicher Naivität gerade so, als ob sie auf exakter Forschung beruhen würde. Für einen großen Teil der Laien genügte dieses Verdikt der Naturwissenschaft, um sich gleichfalls zum Darwinismus zu bekennen, zumindest für diejenigen, die, wenn zu ihnen im Namen der Naturwissenschaft geredet wird, sogleich hypnotisiert werden, auf die Knie fallen und anbeten, denn nachdem sie den Glauben an eine göttliche Weltordnung verloren haben, stillen sie ihr Autoritätsbedürfnis durch einen blinden Glauben an die Naturwissenschaft."

"Nietzsche hat den Mut seiner Meinung. Man hört jetzt schon manche, die so zu pfeifen versuchen, wie er gesungen hat, und in seiner Sprache, wenn auch etwas schüchtern, von Werten, neuen Werten und Umwertungen reden; wenn man aber an diese Nachbeter und Bewunderer die Frage richten würde, wer von ihnen der Naturgesetzlichkeit absagen wollte, so weiß ich nicht, ob überhaupt der ein oder andere von ihnen mit einem solchen Bekenntnis hervortreten würde."


II. Friedrich Nietzsche

So deutlich und bestimmt STIRNERs Denkweise wiedergegeben werden konnte, so schwierig ist es, die "Philosophie" NIETZSCHEs in einen klaren Ausdruck zu fassen: er spricht fast nur in Aphorismen oder pathetischen, von Zorn und Verachtung reichlich durchtränkten Ergüssen, er liebt es, seine Gedanken zu maskieren oder hypothetisch auszudrücken und aufgeworfene Probleme mit einem abgebrochenen Satz oder einem Fragezeichen abzuschließen, er ergeht sich gern in volltönenden Akkorden darauf angewiesen, den Zusammenhang der Ideen zu erraten oder zu kombinieren, und läuft dabei immer Gefahr, des Mißverständnisses bezichtigt zu werden. Fast nur solche einzelnen Gedanken, die immer bei ihm wiederkehren, geben einen festen Anhalt, auf diese also müssen wir uns beinahe ganz beschränken.

Der große Unterschied zwischen den beiden Denkern ist dieser: STIRNER ist - kritisch; NIETZSCHE ist - dogmatisch. NIETZSCHE selbst freilich will kein Dogmatiker sein und protestiert dagegen mit dem Satz: "mein Urteil ist mein Urteil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht." Indessen darin spricht sich nur der Individualist aus; wenn man aber, wie er, all sein Denken auf ein objektives Kausalgesetz gründet, das nicht zuvor selbst aus dem Denken abgeleitet worden ist, nämlich auf eine nach darwinistischem Muster zugeschnittene Entwicklungstheorie, so ist man eben doch dogmatisch.

NIETZSCHE ist Individualist aus Gesinnung, Trieb, Temperament, und dies bestimmt auch all sein Denken, aber die Begründung für letzteres findet er nicht in Sich, sondern in einem objektiven Weltprozeß, er ist sich selbst nur Resultat dieses Prozesses, "es denkt" in ihm, und ein Gedanke kommt, wenn "er" will.

Gerade umgekehrt STIRNER. Er ist der Selbstbeherrscher, der Schöpfer, seiner Gedanken, und seine Kraft, wie die Triebe zu beherrschen, so auch die Gedanken aufzulösen, sie zu hindern, Dogmen und fixe Ideen zu werden, läßt ihn als Sieger, als den "Einzigen" hervorgehen. Alle seine Beweise sind Beweise der Kraft: er beweist Sich als absolut, indem er seine Macht betätigt, alle dogmatischen Einbildungen zu zerstören. Er denkt nicht daran, eine objektive Weltanschauung zu konstruieren, und, wenn er die Wirklichkeit freilich anerkennt, so geschieht dies doch nur insofern, als sie sich dem Subjekt unzweideutig fühlbar macht.

Das Denken ist allemal dogmatisch, so weit der Gedanke nicht durchaus seine Tat ist, und somit das Gedachte allein aus dem Denkenden, als dem zureichenden Grund, hergeleitet, vielmehr ohne solche Begründung angenommen, geglaubt wird; es ist prinzipiell dogmatisch, wenn das Denken selbst nicht als spontane Tat des Denkenden, sondern lediglich als Resultat vorausgegangener Ereignisse, als Wirkung anderer Kräfte, und das Bewußtsein als Funktion des Unbewußten verstanden wird.

So aber ist es bei NIETZSCHE.

Man höhre z. B. folgende Stelle, die seine ganze Denkweise charakterisiert (1):
    "Gesetzt, daß nichts Anderes als real gegeben ist als unsere Welt der Begierden und Leidenschaften, daß wir zu keiner anderen Realität hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unserer Triebe - denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zueinander - ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dieses Gegebene nicht ausreicht, um aus Seines Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder materielle) Welt zu verstehen? Ich meine nicht als eine Täuschung, einen Schein, eine Vorstellung (im Berkeleyschen und schopenhauerischen Sinn), sondern als von gleichem Realitäts-Rang, welchen unser Affekt selbst hat, - als eine primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozeß abzweigt und ausgestaltet (auch, wie billig, verzärtelt und abgeschwächt -), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämtliche organische Funktionen, mit Selbstregulierung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden ineinander sind, - als eine Vorform des Lebens? - Zuletzt ist es nicht nur erlaubt, diesen Versuch zu machen: es ist, vom Gewissen der Methode aus, geboten. Nicht mehrere Arten von Kausalität annehmen, solange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äußerste Grenze getrieben ist (- bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen): das ist eine Moral der Methode, der man sich heute nicht entziehen darf; - es folgt aus ihrer Definition, wie ein Mathematiker sagen würde. Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen, ob wir an die Kausalität des Willens glauben: tun wir das - und im Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an die Kausalität selbst -, so müssen wir den Versuch machen, die Willenskausalität hypothetisch als die einzige zu setzen. Wille kann natürlich nur auf Wille wirken - und nicht auf Stoffe (nicht auf Nerven zum Beispiel -): genug, man muß die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo Wirkungen anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt - und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin tätig wird, eben Willenskraft, Willenswirkung ist. - Gesetzt endlich, daß es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären - nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist -; gesetzt, daß man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es ist ein Problem - fände, so hätte man sich damit das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren intelligiblen Charakter hin bestimmt und bezeichnet - sie wäre eben Wille zur Macht und nichts außerdem." -
Der Anfang der Stelle, der freilich hypothetisch ausgedrückt wird, klingt wie ein Anerkenntnis unserer inneren Erfahrung als einziger Quelle unseres Wissens und alleiniger Offenbarung von "Realität". Allein diese innere Erfahrung wird zugleich beschränkt auf "unsere Welt der Begierden und Leidenschaften", und das ist keineswegs ihr ganzer Inhalt. Es fehlt zunächst die tatsächlich sich bewährende Kraft, den Begierden und Leidenschaften zu gebieten, der Wille. Aus einer anderen Stelle ist ersichtlich, daß NIETZSCHE die Erscheinung des Willens als herrschenden Trieb und Überlegenheitsaffekt deutet, dem die anderen Affekte, es sei dauernd oder im einzelnen Fall, gehorchen müssen, das aber widerspricht der inneren Erfahrung: nach dieser stehen alle Affekte unter der freilich nicht immer wirksamen Herrschaft des Willens, und, wer will, ist insoweit gerade nicht affiziert [berührt - wp]. Es fehlt ferner unsere ganze innere Welt der objektiven Wahrnehmung, der freien Vorstellung und des Denkens, und dafür findet sich sogleich die Erklärung in dem zwischen geschobenen Satz: "Denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zueinander." Davon aber kann weder NIETZSCHE, noch irgendein anderer Mensch, jemals eine innere Erfahrung gemacht haben. Im Gegenteil: die Triebe beeinflussen das Denken störend, und, wenn wir etwas Rechtes denken wollen, müssen wir allererst die Triebe zum Schweigen bringen. Man sieht: NIETZSCHEs Fundamentalsatz ist, daß es in uns nur Affekte gibt, und unser ganzes Geistesleben eine Wirkung der Affekte und des Verhaltens derselben zueinander ist. Dieser Satz ist unwahr, denn er widerspricht der inneren Erfahrung; zumindest aber ist er, weil es unmöglich ist, Wollen und Denken als eine Mitwirkung der Affekte nachzuweisen, dogmatisch. Folglich ist auch Alles dogmatisch, was auf diesen Satz gebaut wird, speziell die Erhebung des Triebes zum Weltprinzip unter dem Namen "Wille" oder "Wille zur Macht", und dies würde auch dann noch der Fall sein, wenn der Fundamentalsatz wahr wäre, wie NIETZSCHE selbst anerkennt, indem er sein Kausalitätsprinzip ausdrücklich auf Glauben gründet, der zu dem Versuch drängt, "die Willenskausalität hypothetisch als die einzige zu setzen." Da sonach NIETZSCHEs Denken durch und durch dogmatisch ist, so ist es kein Gegenstand für die Diskussion. Wer ebenso glaubt, mag es annehmen; wer es nicht glaubt, braucht sich nicht weiter darüber zu beunruhigen. Hier erübrigt nur, NIETZSCHEs Weltanschauung in ihren wesentlichen Zügen darzustellen. Diese Weltanschauung stammt aus zwei Quellen, aus der SCHOPENHAUERschen Philosophie und dem Darwinismus, aus beiden jedoch nur den Grundzügen nach, die weitere Entwicklung aus denselben ist eine eigenartige, und dies klar zu stellen, ist von umso größerem Interesse, als dadurch zugleich neues Licht auf jene Quellen fällt.

NIETZSCHE lehnt ebenso, wie SCHOPENHAUER, den Begriff oder vielmehr die verworrene Vorstellung einer äußerlichen Kausalität, wie sie in den Naturwissenschaften herrscht, "die mechanistische Unsinnigkeit allen Geschehens" entschieden ab und fordert ein immanentes Lebensprinzip, eine Lebensgrundmacht, die sich kraft ihres eigenen Wesens aus sich selbst regt und betätigt. Diese Lebensgrundmacht heißt bei beiden Philosophen "Wille", bei SCHOPENHAUER, "Wille zum Leben", bei NIETZSCHE "Wille zur Macht", und das ist, wie sich zeigen wird, nicht nur ein Wortunterschied, sondern bedeutet eine wesentliche Differenz. Zunächst verstehen beide unter "Willen" dasselbe, nämlich: den blinden Trieb. Beide sind auch darin einverstanden, daß wir dieses Lebensprinzip nur in uns selbst entdecken können, denn kein Ding kennen wir von innen her, außer uns selbst, und beide verstehen unter dem in uns zum Bewußtsein gelangenden "Willen" den Affekt, die auf ein äußeres Motiv gerichtete innere Regung oder Begierde, die "Leidenschaft", welches der zutreffende Ausdruck ist, weil alle diese Regungen in Abhängigkeit von einem Anderen, Äußeren, stehen.

Hier zeigt sich nun im Weltprinzip beider Philosophen von vornherein ein innerer Widerspruch. Gewiß, der Affekt, insofern er die Bewegung eines Lebenden von sich aus ist, offenbart sich als Ausfluß der Urquelle allen Lebens, aber, da er andererseits Anderes, auf daß er sich notwendig bezieht, voraussetzt, so kann er nicht der schöpferische Grund des Individuellen, sondern eben nur die Funktion eines Individuums sein. Der eine Wille aber, den beide Philosophen als Lebensgrundmacht annehmen, der Urwille, muß dagegen affektlos sein, denn er hat nichts außerhalb seiner, was ihn zum Affekt erregen könnte, weil die individuellen Vereinzelungen und Entgegensetzungen erst aus ihm hervorgehen.

Das widerspruchsvolle Prinzip ist beiden Philosophen gemeinsam, aber sie gelangen von ihm aus zu völlig entgegengesetzten Resultaten, SCHOPENHAUER zur Selbstverneinung des Willens zum Leben, NIETZSCHE zu einer aufsteigenden und wachsenden Konzentration des Invidualwillens. Wie dies zugeht, kann nur verständlich werden, wenn wir auf die Quelle zurückgehen, aus der beide ihr Weltprinzip geschöpft haben, unsere innere Erfahrung. Sie haben beide diese Quelle unvollständig benutzt, SCHOPENHAUER aber doch mehr darin gefunden, als NIETZSCHE.

Es ist schon bemerkt worden, daß der Wille, wie er als Affekt funktioniert, unmöglich als schöpferisches Welt- und Lebensprinzip gedacht werden kann, weil er in dieser Gestalt eine schon vorhandene Welt und die nur in einer solchen denkbaren äußeren Beziehung von Ding zu Ding voraussetzt. Dies ist ein logisches Argument, aber es ist der in unserer inneren Erfahrung sich offenbarende Wille selbst, der dieses Argument bestätigt. Nennen wir, dem Sprachgebrauch von SCHOPENHAUER und NIETZSCHE folgend, alle Regungen in uns, die sich nach einer inneren Erfahrung als Trieb von innen her kundgeben, "Wille" - und dazu gehören dann in erster Reihe die Affekte -, so ist doch nicht richtig, daß die Affekte unsere einzigen Willensregungen und noch weniger, daß sie die höchsten sind. Es gibt einen Willen in uns, der allen Affekten Maß und Ziel vorschreibt und selber nicht Affekt ist. Dieser Wille setzt sich dem Affektwillen in uns entgegen und beansprucht nicht nur, sondern vermag auch, den Affektwillen zu beherrschen; er ist derselbe Wille, wie der Affektwille, aber in einer anderen und höheren Funktion: der Affektwille hat sein Motiv außerhalb seiner selbst; der erstere regt sich nur auf ein äußeres Motiv, der letztere rein aus sich selbst; der erstere muß sich regen entsprechend einem äußeren Motiv, der letztere will sich regen aus einem spontanen Antrieb; der erstere gehorcht einem äußeren Zwang und ist unfrei, der letztere gehorcht nur sich selbst und ist frei; oder vielmehr: er ist der Trieb und die Kraft der Befreiung von äußerem Zwang und von der Leidenschaft, und diese Befreiung ist im Einzelnen und in der Menschheit, weil in uns der Affekt immer das Erste ist und das Erste bleibt, ein unendlich fortschreitender, nie zu vollendender Prozeß. Dieser reine Wille ist es, der im Vorstellen und Denken die vorhandene Welt nachschöpferisch gestaltet und das Individuum in den Dienst des Weltganzen stellt; der im Recht die Gewalt sich unterwirft und die Freiheit verwirklicht; der in der Kunst die Leidenschaftenn darstellt in einer zugleich über ihnen erhabenen und von ihnen befreienden Weise. Erst in diesem reinen Willen, der bloß aus sich selbst sich regt, offenbart sich in uns der Wille als Weltprinzip, als der Urwille, der in uns erst an zweiter Stelle, als gesetzgebende Macht für die Affekte, in Funktion tritt, um in das Leben zurückzuströmen und darin den Urwillen mittels der von ihm geleiteten individuellen Kräfte zu verwirklichen.

Es ist also der Wille selbst, der sich in uns dem Affekt entgegensetzt und ihn vielfach verneint, beschränkt und stets maßgebend bestimmt, der ihm die Bedeutung eines Weltprinzips versagt und den Primat für sich in der Gestalt des reinen Willens in Anspruch nimmt.

Wenn SCHOPENHAUER dies im ganzen Umfang erkannt und anerkannt hätte, so hätte er sein System ändern müse. Wenn er aber auch, wie er es getan hat, an seinem Prinzip, dem Affektwillen als Weltwillen festhielt, so war doch damit nicht ausgeschlossen, daß innere Erfahrung vom Umschlagen des Willens in uns, von seiner Umwendung gegen den Affekt und der Verneinung desselben einen tiefen Eindruck auf ihn ausübte, einen umso tieferen, als das grundlose Treiben des Affektwillens, der nach seiner Auffassung das Leben allein beherrscht, ihn mit der stärksten Weltverachtung erfüllte. Eine positive Kraft, das Elend des Lebens zu überwinden, konnte er dem Affektwillen - und einen anderen erkannte er nicht an - nicht zuschreiben, und so blieb ihm nur die Deutung und der Ausweg übrigt, daß der Wille, der durch das Bewußtsein über seine eigene Nichtigkeit klar wird, sich selbst, den Willen zum Leben, aufhebt und in den Hafen indischer und christlicher Askese Weltverneinung einläuft.

NIETZSCHE dagegen hält am Affektwillen bis zum Ende fest, indem der den Affekt-beherrschenden Willen in uns wiederum als Affekt, als herrschenden Affekt, deutet; und, was SCHOPENHAUER Grauen erregte, der nackste Individualismus, ist bei ihm gerade die Seele des Denkens.

Bei SCHOPENHAUER bringt der Wille zum Leben immer das gleiche Elend hervor, und das Leben liegt vor ihm als ein zielloses Getriebe, hervorgerufen durch den in immer neuen Individuationen zwecklos sich betätigenden Willen zum Leben.

NIETZSCHE aber trägt in den Willen zum Leben ein neues Moment hinein, das der fortschreitenden Entwicklung, in der der Wille mittels einer fortlaufenden Reihe von Überwältigungen, in denen immer Stärkeres über Schwächeres siegt, sein Wesen entfaltet und aufsteigend verwirklicht.

Sein Wesen aber ist - Macht, die im Individuum zutage tritt, die vermöge dessen berufen und befähigt ind, die Schwächeren zu beherrschen. Immer von Neuem Überwältigen und Herrwerden ist Leben und das Wesen des Willens, der demgemäß bei NIETZSCHE auch seinen Namen ändert in "Wille zur Macht".

Diese Entwicklungstheorie stammt ersichtlich aus dem Darwinismus, von dem auch die Momente der Zuchtwahl und der Vererbung entlehnt werden, indem NIETZSCHE die Erscheinungen durchweg auf "Züchtung", "Anzüchtung", z. B. "Anzüchtung höherer Geistigkeit und Mächtigkeit", "Artzüchtung", "Herkunft, Vererbung, Forterbung und Einverleibung" zurückführt, und daß ihm auch das Höchste nur aus diesem Weg entsteht, darüber läßt er keinen Zweifel, wenn er sagt: "Für jede hohe Welt muß man geboren sein; deutlicher gesagt: man muß für sie gezüchtet sein."

NIETZSCHE lehnt eine Verwandtschaft mit dem Darwinismus ab: er nennt zumindest DARWIN (neben JOHN STUART MILL und HERBERT SPENCER) einen "mittelmäßigen Engländer" und blickt geringschätzig herunter auf die "Anpassung", eine Aktivität zweiten Ranges, die man auf Kosten der eigentlichen Aktivität, nämlich "des Willens zur Macht", in den Vordergrund schiebt. Er hat auch zweifellos darin recht, daß er ein Prinzip besitzt, welches dem vulgären Darwinismus, sowohl dem naturwissenschaftlichen, als auch dem populären, sowohl dem buchmäßigen, wie auch dem journalistischen, gebricht, nämlich eine innere, treibende, spontan aufstrebende Grundkraft, den Willen zur Macht. Allein, was er vom Darwinismus angenommen hat, ist gerade das, was dem Darwinismus überhaupt, bei Gelehrten und Ungelehrten, Gunst und Verbreitung geschafft hat, nämlich die Lehre einer von unten aufsteigenden Entwicklung, der Entstehung des Vollkommeneren aus dem Unvollkommeneren, der höheren Potenz aus der geringeren, im Weg des Naturprozesses, der Wirkung von Ding zu Ding. Diese Lehre ist ein neues Kausalitätsgesetz, das, wie jedes Kausalitätsgesetz, nicht empirisch ist, sondern allein aus dem Denken abgeleitet und begründet werden könnte, denn die empirischen Tatsachen sind nicht der Grund, sondern die Folge. Daß die Fachgelehrten sich darüber einfach hinweggesetzt haben, begreift sich leicht aus dem in diesen Kreisen weit verbreiteten Mangel an philosophischer Erkenntnis und Bildung; sie nahmen die darwinistische Kausalitätshypothese unbesehen an, weil sie ihnen die erwünschte Alleinherrschaft der Naturwissenschaft und die absolute Bedeutung des mechanistischen Naturprozesses zu sichern schien, und behandelten diese Hypothese mit unerschütterlicher Naivität gerade so, als ob sie auf exakter Forschung beruhen würde. Für einen großen Teil der Laien genügte dieses Verdikt [Urteil - wp] der Naturwissenschaft, um sich gleichfalls zum Darwinismus zu bekennen, zumindest für diejenigen, die, wenn zu ihnen im Namen der Naturwissenschaft geredet wird, sogleich hypnotisiert werden, auf die Knie fallen und anbeten, denn nachdem sie den Glauben an eine göttliche Weltordnung verloren haben, stillen sie ihr Autoritätsbedürfnis durch einen blinden Glauben an die Naturwissenschaft. Das ist alles leicht verständlich, aber dem Philosophen NIETZSCHE hat es nicht entgehen können, daß ein Kausalitätsgesetz nur aus dem Denken hergeleitet werden kann, aus einem Tun des Geistes, mittels dessen er nachschöpferisch das vorhandene Sein reproduziert. Beim darwinistischen Kausalitätsgesetz ist eine solche Herleitung aber nicht möglich, es kann im Vorstellen und Denken nicht vollzogen, es kann nur in Worten niedergelegt werden. Wenn nun der Philosoph NIETZSCHE es dennoch angenommen hat, so verfährt auch er darin dogmatisch, und nur dies war es, was hier festgestellt werden sollte.

Was aber trieb ihn gerade in den Darwinismus? Es war das bewegende Prinzip all seines Denkens, der Individualismus, und, daß der Darwinismus durch und durch individualistisch ist, erkannte er besser, als der Darwinismus selbst, nämlich der naturwissenschaftlich rezipierte Darwinismus. Es ist das Verhältnis des Darwinismus zur Naturgesetzlichkeit, das hier in Frage kommt. Die Naturwissenschaft weiß sehr wohl, daß die Naturgesetzlichkeit ihre eigentliche Lebensbedingung und die Eruierung von Naturgesetzen ihr wesentlicher Gehalt ist. Darum kann sie auf die Naturgesetzlichkeit unmöglich verzichten und redet deshalb immer in einem Atem von Naturgesetzen und Darwinismus, als ob beide im schönsten Einklang und Frieden wären. Allein das Gegenteil ist der Fall. Naturgesetzlichkeit kann, da es eine äußere ist, die Befolgung der Gesetze erzwingende Macht in der Natur nicht gibt, nur so gedacht werden, daß jedes einzelne Ding, unbeschadet seines einzigartigen Individualcharakters, nach einer inneren Notwendigkeit einer Kategorie angehört, die all seinen faktischen und äußeren Verhältnissen zu anderen Dingen eine auf keine Wiese zu umgehende oder zu überschreitende Regel vorschreibt, die nicht aus den empirischen Momenten seiner tatsächlichen Geschichte hergeleitet werden kann, sondern vielmehr diese beherrschen und maßgebend durchdringen muß. Nur so kann es Naturgesetzlichkeit geben: es kann ein Ding im Laufe seiner Geschichte oder, wenn es eine solche hat, seiner Entwicklung zum Vorschein bringen, was es vorher, in Ermangelung der erforderlichen äußeren Erregungen, nicht an den Tag gelegt hat, aber es kann niemals etwas werden, was es nicht seinem inneren Wesen, seiner Potenz, nach schon ist (genoi oios essi), es kann seine naturgesetzlich bestimmte Wesenheit nicht ändern, es kann keine Eigenschaften erwerben, die einer anderen naturgesetzlichen Kategorie, als der seinigen, angehören. Nun aber beruth ja die darwinistische Entwicklungstheorie gerade darauf, daß das Letzere möglich ist; sie läßt die Dinge werden, was sie nicht sind, und aus einem bloß tatsächlichen Verlauf, einer äußeren Kausalität, neue Arten entstehen, die aber natürlich auch nur tatsächliche sein, nur bis auf Weiteres, bis zu einer neuen Etappe der Evolution Bestand haben können; stets beginnt die neue Entwicklung von einem rein individuellen Ausgangspunkt, sie verbreitet sich dann wohl durch Zuchtwahl und Vererbung, aber nur auf Zeit, bis zu einem neuen individuellen Anstoß; Alles ist hier bloß ein tatsächlicher Verlauf der Geschichte, die nur empirisch erkannt werden kann, eine naturgesetzliche Grundlage des Lebens und Geschehens gibt es nicht. Wie dem gegenüber die Naturwissenschaft die Naturgesetzlichkeit und den Darwinismus zugleich retten will, können wir füglich ihr selbst überlassen. Hier ist nur hervorzuheben, daß NIETZSCHE konsequenter ist: er gibt die Naturgesetzlichkeit preis und behält einen folgerichtigen, rein individualistischen Darwinismus zurück. Hören wir ihn selbst:
    "Man vergebe es mir als einem alten Philologe, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretationskünste den Finger zu legen: aber jene Gesetzmäßigkeit der Natur", von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob - - besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten Philologie, - sie ist kein Tatbestand, kein Text, vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt! - Überall Gleichheit vor dem Gesetz, - die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir: ein artiger Hintergedanke, in dem noch einmal die pöbelmännische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, insgleichen ein zweiter und feinerer Atheismus verkleidet liegt. Weder Gott, noch Herr! - so wollt auch ihr's: und darum hoch das Naturgesetz! - nicht wahr? Aber, wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es könnte Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde, - ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem Willen zur Macht dermaßen euch vor Augen stellte, daß fast jedes Wort und Selbst das Wort Tyrannei schließlich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde Metapher - als zu menschlich - erschiene; und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, nämlich daß sie einen notwendigen und berechenbaren Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetz in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz zieht. Gesetzt, daß auch dies nur Interpretation ist - und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? - nun, umso besser -"
NIETZSCHE hat den Mut seiner Meinung. Man hört jetzt schon manche, die so zu pfeifen versuchen, wie er gesungen hat, und in seiner Sprache, wenn auch etwas schüchtern, von Werten, neuen Werten und Umwertungen reden; wenn man aber an diese Nachbeter und Bewunderer die Frage richten würde, wer von ihnen der Naturgesetzlichkeit absagen wollte, so weiß ich nicht, ob überhaupt der ein oder andere von ihnen mit einem solchen Bekenntnis hervortreten würde. NIETZSCHE aber zieht die volle Konsequenz. Naturgesetzlichkeit besagt, daß jedes Einzelwesen nur einerseits ein einzigartiges Individuum ist, andererseits aber ein Glied des lebendigen Universums, dessen Wesenheit der seinigen in einem bestimmten Maß eingepflanzt ist, so daß es insoweit allen derselben Kategorien angehörigen Einzelwesen gleich ist und nur gemäß dieser Kategorie und innerhalb der Grenzen derselben leben und wirken kann, somit in allem seinem individuellen Tun immer zugleich auch zu seinem Teil das Ganze, in einer unabänderlichen und gesetzmäßigen Weise, verwirklichen muß. Dies aber ist gerade das, was NIETZSCHE nicht will, er will das völlig ungebundene, gesetzfreie Individuum, und darum muß die Naturgesetzlichkeit fallen. Es scheint zwar, daß er sich seinen "Willen zur Macht" ebenfalls als einen einheitlichen Urgrund des Lebens denkt, aber diese Einheit wirkt nicht als eine die Individuen überragende und zusammenschließende Totalität, sondern erschöpft sich in Individuationen, die sich wiederum selbst zerstören oder doch überwältigen, mit dem steten Ziel, in wenigen Individuen den Willen zur Macht zu immer höherem Ausdruck zu bringen. "Ein Volk", ruft er aus, ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben großen Männern zu kommen", und an einer anderen Stelle:
    "die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert - das wäre ein Fortschritt."
Welcher Art aber die Gipfel der Menschheit sind, zu denen der Machtwille hinstrebt, ersieht man aus den angeführten Beispielen: ALKIBIADES, CÄSAR, NAPOLEON I. Der brutalste Machtwille findet hier rücksichtslose Anerkennung:
    "man mißversteht", heißt es einmal, "das Raubtier und den Raubmenschen (zum Beispiel Cesare Borgia) gründlich, man mißversteht die Natur, solange man noch nach einer Krankhaftigkeit im Grunde dieser gesundesten aller tropischen Untiere und Gewächse sucht";
und an einer anderen Stelle:
    "auf dem Grund all dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen."
Es wird hier der "Natur" angedichtet, daß es ihr Wesen ist, Gewaltmenschen hervorzubringen, und daß nur darauf alle Entwicklung hinausläuft.

Man könnte sich versucht fühlen, in dieser Denkweise nur eine pathologische Erscheinung, eine Philosophie des Größenwahns, zu erblicken; allein damit würde man ihrer Bedeutung nicht gerecht werden, denn sie ist kein isoliertes Phänomen, sondern die kühne Durchführung einer modernen Geistesrichtung bis zu deren letzten Konsquenzen, die freilich nur dazu dienen können, die Widersinnigkeit der ganzen Richtung an den Tag zu bringen.

Im Grunde ist der "Wille zur Macht" das denkbar langweiligste und leerste: der Machtwille, der nur Macht will und immer von neuem Macht und darum unermüdlich ist im Überwältigen und Unterwerfen, in der fortlaufenden Selbstzerstörung, will eigentlich gar nichts. Man wird es daher nicht überraschend finden, daß der absolute Individualismus in dieser Gestalt sich vollends als Nihilismus erweist und in der Verneinung von Wahrheit, Moral und Recht hinter dem Egoismus STIRNERs nicht zurückbleibt.

Wer von "Wahrheit" spricht, muß annehmen, daß die einzelnen Dinge und Tatsachen vermöge eines allgemeinen lebendigen, alle Möglichkeit im Voraus in sich schließenden Grundes sind, was sie sind, und daß sie vom menschlichen Geist durch eine nachschöpferische Betätigung dieser Lebensgrundmacht in ihrem Wesen und ihrer Notwendigkeit erkannt werden können. Die Wahrheit ist die Erkenntnis der Dinge im Licht des Universums. Wenn man aber das ganze Sein in Einzelnes auflöst, so kann es Wahrheit nicht geben, sondern nur empirische Tatsachen und immer neue Einzelerscheinungen, die ebenso viele neue Offenbarungen sind; der menschliche Geist ist dann aber nichts, als die Funktion eines Individuums, die seinen Affekten oder dem in ihnen herrschenden Affekte dient und seine individuellen Strebungen kund gibt. Daher findet NIETZSCHE auch folgerichtig die Aufgabe seiner "Philosophen" nicht darin, zu erkennen, was ist, sondern als "Befehlende und Gesetzgeber" zu bestimmen, was sein "soll". "Sie bestimmen erst", sagt er, "das Wohin und Wozu des Menschen" und "Ihr Erkennen" ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist - Wille zur Macht. Damit ist die Wahrheit entthront und die individuelle Willkür an ihre Stelle gesetzt; und das geschieht noch deutlicher in Sätzen, wie diesem:
    "Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit",
in dem Zitat des Spruches des Assassinen-Ordens "Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt" und den hinzugefügten Worten: "wohlan, das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube selbst gekündigt."

"Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt", dieser Satz führt in das Gebiet der Moral. Wie der Erkenntniswille im Wahrheitsstreben das Einzelne aus dem Ganzen und das Ganze im Einzelnen zu verstehen trachtet, so ist auch der ethische Wille darauf gerichtet, in allen Handlungen mit der Betätigung der eigenen Individualität zugleich den Bestand des Ganzen zu bejahen und alles fremde Leben nach Kräften zu fördern und niemals ohne Not zu verletzen. Natürlich kann NIETZSCHE, der eine alles Einzelleben begründende und lebendig durchdringende Universalmacht überhaupt nicht anerkennt und darum auch die Naturgesetze verneint, dies nicht gelten lassen: bei ihm gibt es nur Individuelles und darum auch nur individuelle Selbstbejahung, zudem bringt seine Entwicklungstheorie es mit sich, daß das Leben beständig darauf ausgeht, stärkere und vornehmere Spezies und Individuen hervorzubringen, die berufen sind, die Schwachen und Gemeinen auszubeuten und zu unterdrücken.
    "Der Egoismus", heißt es bei ihm, "gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine jenen unverrückbaren Glauben, daß einem Wesen, wie wir sind, andere Wesen von Natur untertan sein müssen, und sich ihm zu opfern haben."
"Alles ist erlaubt:" man darf gegen die Wesen niedrigenren Ranges, gegen alles Fremde nach Gutdünken oder "wie es das Herz will" handeln und jedenfalls "jenseits von Gut und Böse." Es gibt ein Pathos der Distanz,
    "wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Untertänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst."

    "Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, daß sie sich nicht als Funktion (sei es des Königtums sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt, - daß sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl von Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muß eben sein, daß die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen da sein darf, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sie eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe "und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag."

    "Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem des Andern gleichsetzen, dies ist, als Grundprinzip der Gesellschaft genommen, Wille zur Verneinung des Lebens, Auflösungs- und Verfallsprinzip."
Es gibt eine Sklavenmoral und eine Herrenmoral. Die erstere hält hoch, was geeignet ist. Leidenden das Dasein zu erleichtern, das Gutsein gegen Andere und das Verlangen nach Freiheit. Die Pflege dieser Moral ist die Sache der Schwachen und Gedrückten, weil sie dieselbe nützlich finden. Die Herrenmoral dagegen hat zu ihrem Gehalt das Handeln "wie es das Herz will". Ihr bedeutet "gut" und "schlecht" so viel wie "vornehm" und "verächtlich".
    "Die vornehme Art Mensch fühlt sich als wertbestimmend sie hat nicht nötig, sich gutheißen zu lassen, sie urteilt: was mir schädlich ist, das ist ansich schädlich, sie weiß sich als das was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist wertbeschaffend."
Es scheint nicht, daß NIETZSCHE auf seinen Lebensweg einem jener Freien, die weder herrschen wollen, noch jemals sich einer anderen Herrschaft, als ihrer eigenen, unterwerfen, denen die Herrschlustigen ebenso verächtlich sind, als die Servilen, die sich feige unterordnen, schon begegnet ist oder einen solchen erkannt hat. Sollte er aber einmal den Versuch machen, einem solchen mit seiner angezüchteten Vornehmheit zu imponieren, so wird er auf ein ironisches Lächeln stoßen und einen Mißerfolg erleben; er wird finden, daß seine papiernen Zuchwahl-Aristokraten und europäischen Zukunftsbilder nicht einmal ernst genommen werden.

Es ist selbstverständlich, daß NIETZSCHE vom Recht so wenig wissen will, wie von der Moral, denn das Recht ist die Lebensregel einer Gesellschaft, die ihre organisierte Gesamtkraft zu dem Zweck verwendet, alle Privatgewalt zu unterdrücken und einen Jeden vor Verletzung seiner Freiheit zu schützen, dies aber ist der vollkommene Gegensatz zu NIETZSCHEs Welt- und Lebensordnung. Wo er vom zähen Widerstand der Demokraten "gegen jeden Sonderanspruch, jedes Sonderrecht und Vorrecht" spricht, fügt er hinzu: d. h. im letzten Grund gegen jedes Recht: denn dann, wenn alle gleich sind, braucht keiner mehr "Rechte". Das ist sehr naiv. Die Gleichheit, natürlich nicht die individuelle, die es nicht geben kann noch soll, sondern die Gleichheit in der Freiheit, die jeder Individualität einen vor Unterdrückung geschützten Raum gewährt, entsteht ja erst durch das Recht und wird durch dasselbe aufrecht erhalten, ist sein eigentlicher Gehalt, das Vorrecht aber ist lediglich Unrecht und, sofern es durch die gesellschaftliche Gesamtkraft durchgesetzt wird, ein Mißbrauch der letzteren. Gerade auf diesem Gebiet des Rechts ist von den Römern her bis auf unsere Tage eine so große und erfolgreiche Geistesarbeit geleistet worden, daß enem jeden, und wäre er auch der wohlgezüchtetste Zukunftsphilosoph, anzuraten ist, sich damit bekannt zu machen, wenn er mitreden will.


Wenden wir uns nun von NIETZSCHE zu STIRNER, vom dogmatischen zum kritischen Individualismus zurück. Wir müssen STIRNER darin recht geben, daß Ich nichts annehmen kann, was nicht aus meinem Wesen stammt und keinem Willen mich unterwerfen darf, außer meinem eigenen. Wäre ich also nichts, als Individuum, so müßten alle STIRNERschen Konsequenzen zugestanden werden. Die Frage aber ist: ob Ich nicht mehr bin, als Individuum, und mein Wille nicht weiter geht, als auf individuelle Bejahung. Darauf ist nun die Untersuchung zu richten.
LITERATUR - Robert Schellwien, Max Stirner und Friedrich Nietzsche, Leipzig 1892
    1) Jenseits von Gut und Böse, Seite 50.