cr-3 
 
HANNA DELF
Fritz Mauthner
und Gustav Landauer

- I I -

"Ich bin schon tüchtig an Mauthners Riesenwerk. Es gibt auch eine Riesenarbeit für mich; aber ich tue sie sehr gern. Es steckt Wucht und Größe in diesem Sokrates-Werk."

Das Projekt Sprachkritik tritt in dem Moment ins Zentrum ihrer Kommunikation, da LANDAUER wie auch ihr Autor selbst sich in einer umfassenden existenziellen Krise befinden. Jetzt beginnt MAUTHNER systematisch an sprachphilosophischen Überlegungen zu arbeiten, um damit "zu mir selber zu kommen und zu einer Klarheit über die Neugestaltung meines Lebens."

Der plötzliche Tod seiner Frau JENNY, die zunächst doch wieder begonnene Arbeit für das  Berliner Tageblatt halten ihn nicht davon ab. Doch Mauthner verliert sich in die ungeheure Stoffülle seines Themas, er findet kein Ende, seine alten Symptome, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit werden zur Marter, bis eine Netzhautblutung die Fertigstellung des Werkes gänzlich zu vereiteln droht.

Auch für LANDAUER zeichnet sich in den Jahren nach 1897 eine Krise ab. Politische Niederlagen, etwa beim Berliner Schneiderstreik 1896, oder der Ausschluß der Anarchisten aus der 2. Internationale und vor allem die massiven Konflikte um die Redaktionsführung des  Sozialist, die 1897 zu seinem Rücktritt als verantwortlicher Redakteur führen, spiegeln das allgemeine Klima in der anarchistischen Opposition wider. Der revolutionäre Enthusiasmus des Zwanzigjährigen, der Glaube ans Proletariat als revolutinäre Klasse war einer nüchternen Skepsis über die Bewußtseinslage der Massen gewichen. "Wir, die ihr Geschick freiwillig an das des Proletariats gekettet haben, haben auch etwas anderes zu tun, als ewig nur bereit zu sein und abzuwarten", schreibt er in der programmatischen Ankündigung eines  Vortragszyklus zur Geschichte der deutschen Literatur.

Mit der Redaktion des  Sozialist hat er auch die Existenzgrundlage verloren; dies in einer Situation, da der Gesundheitszustand seiner schwer nierenkranken Frau GRETE LEUSCHNER sich permanent verschlechtert, ihre zweite Tochter Anna zweijährig stirbt, die längst zerrüttete Ehe im Frühjahr 1899 zerbricht. Das mit dem Tod des Freundes MORITZ von EGIDY fehlgeschlagene Engagement für die Wiederaufnahme des Mordfalles ZIETHEN endet für LANDAUER mit einer halbjährigen Haftstrafe.

LANDAUER hat wie MAUTHNER das Zerfallen einer für ihn mit Prestige verbundenen sozialen Rolle, der des Revolutionärs, dem die Zukunft gehört, und damit den Verlust sozialer Bindungen, zu verarbeiten. Die Merkmale des sozialen Sterbens weist auch seine Situation auf, die ihren adäquaten Ausdruck in der selbstprovozierten Haftstrafe findet. Diese wird es ihm erlauben, dem Freund Mauthner "ganz und gar zur Verfügung zu stehen".

"Meine Gedanken fließen vorerst so ziemlich alle in das große Sammelbecken MAUTHNER", schreibt er zwei Wochen nach seinem Haftantritt in Tegel an HEDWIG LACHMANN und weiter:
"Ich bin schon tüchtig an Mauthners Riesenwerk. Es gibt auch eine Riesenarbeit für mich; aber ich tue sie sehr gern. Es steckt Wucht und Größe in diesem Sokrates-Werk. Nur daß SOKRATES wohl kaum so an seiner Erkenntnis gelitten hat, wie dieser furchtbare Skeptiker. Sokrates-Ahasver. Ein Zertrümmerer, dem jedes Stück der Welt, die er zerschlägt, aufs Haupt und aufs Herz fällt. Ich übertreibe nicht; Sie werden schon sehen, was unser Freund für ein Prachtkerl ist."

Die Briefe aus dem Tegeler Gefängnis bezeugen, mit welcher Emphase sich Landauer an die Redaktion und Kommentierung der Manuskripte macht. Er schreibt detaillierte Memoranden, macht Hunderte von Anmerkungen, läßt sich Stapel von Büchern aus der Königlichen Bibliothek beschaffen und arbeitet sich in kürzester Zeit in die ungeheure Stoffülle der MAUTHNERschen Materie ein.

"Meine Arbeitsstimmung ist gut; das tut auch not, sonst werde ich in den sechs Monaten mit dem Riesenwerk nicht fertig und muß um Verlängerung meines klösterlichen Daseins bitten ... Von dem Werk selbst erzähle ich ihnen vielleicht ein andermal, ich habe in den letzten Tagen ein nicht ganz kurzes Schriftstück für MAUTHNER verfasst und darf mich nicht zu intensiv in diese letzten Fragen versenken."

Dennoch scheint in dieser klösterlichen Abgeschiedenheit die Wirkung der Mauthnerschen Gedanken auf Landauer immens gewesen zu sein. Daß mit der Sprache weder Wahrheit auszusagen sei, noch Wirklichkeit erfaßt werden könne, schein bei dem verunsicherten und nach theoretischer Orientierung suchenden Landauer auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Auf Mauthners Wunsch übersetzt er einige Stellen aus MEISTER ECKHART und ist von den Predigten des Mystikers derart angetan, daß er eine Übersetzung in Angriff nimmt und auch in wenigen Wochen fertigstellt. Das Studium der Mystiker, wohl auch die Einsamkeit der Gefängniszelle, eröffnet ihm die Dimension der mystischen Versenkung. Nicht auf religiös-christliche Symbol- und Bildwelten kommt es ihm an, sondern auf die methodischen Implikationen. Welt- und Selbstverlust hatten ihn die Erfahrungen der letzten Jahre schmerzlich gelehrt, hier wurden sie zu einer Dimension der Selbsterfahrung. Das mystische Loslassen alles Weltlichen im Hinblick auf Gott wird ihm methodisches Vorbild für die Erweiterung des Bewußtseins um die Dimension des Unbewußten; und - ganz anarchistisch - subjektive Bedingung für die Befreiung von "Hirngespinsten der Vergangenheit".

Die Befreiung von "morschen Weltanschauungsresten" ist nicht allein Sache des kritischen Denkens, sondern auch mystisch-meditative Selbstreflexion als lebenspraktischer Prozeß, heißt Offenheit für Widersprüchliches, für Träume, Phantasien, meint die Suche nach neuen Ausdrucks- und Gesellungsformen, hat das Plädoyer für Außenseiter, Ketzer, Sonderlinge und Phantasten, wie wir sie aus LANDAUERs Publizistik kennen, zur Folge und letztlich auch die Lektüre von Literatur, Philosophie, den Künsten und der Musik unter den neuen Vorzeichen des utopischen Denkens. Theorie der Revolution, das war die Erkenntnis der mönchischen Tegeler Zelle, ist im Grunde großangelegte Psychologie, - "alle Befreiung ist Loslösung und Absonderung", Erkenntnis der Gesellschaft nur über den Umweg des eigenen Selbst möglich. In diesem Sinne verstand sich Landauer als Erbe: "Die großen Geister, KANT und all die andern, die uns unsre Psychologie enthüllt haben, sollen nicht umsonst gewirkt haben. Unsere Aufgabe bleibt, unser Weltbild zu vervollständigen, mit unseren Sinnen und unsern gestaltenden Phantasien; mit Forschung und mystischer Versenkung, aber dabei das Bewußtsein zu bewahren, daß es nur ein Menschenbild ist."

In der Beziehung der beiden Männer führen die erstaunlichen Einsichten Landauers zu einer fast symbiotischen Annäherung. Das freundschaftliche Du stellt sich ein. Landauers hymnische Bewunderung wirkt heilsam auf die geschundene Seele des Freundes, wie seine Besprechungen ihm wohltun. Die Eigenständigkeit LANDAUERs zeigt sich nicht zuletzt in gleichbleibender ungetrübter Dankbarkeit; "Nehmen wir's als ein Echo, das so selbständig ist, daß das Ganze ein Doppelecho wird", kann MAUTHNER im März 1903 schreiben. Auch wenn später, nach MAUTHNERs Weggang aus Berlin Andere - zunächst ein verbummelter Student, dann, was durchaus LANDAUERs Eifersucht provoziert, die sprachbegabte Harriet (Hedwig) Straub, Mauthners zweite Frau - LANDAUERs Rolle übernehmen, so bleibt doch die Sprachkritik die gemeinsame verbindende Sache.

Die Wege des mystischen Psychologen und des Sprachphilosophen indessen haben sich unmerklich getrennt. Fritz Mauthner wird zum Historiker seiner eigenen sprachkritischen Idee. Sein  Wörterbuch der Philosophie, seine  Geschichte des Atheismus kommen in den Briefen nur am Rande vor. Gustav Landauer sucht in dem Essay  Die Revolution mystische Psychologie und revolutionäre Geschichtsphilosophie zu verbinden; theoretische Voraussetzung des "Sprachkritikers der Praxis" und neuerlichen Herausgebers des  Sozialist.

Die Differenz zeigt sich auch in ihrem Verhältnis zum Judentum. Wenn MAUTHNER in seinen  Erinnerungen seine Sprachskepsis mit der Tatsache seiner jüdischen Herkunft in Beziehung setzt, so ist das der Sprachkritik und nicht zuletzt auch dem Einfluß Landauers und Martin Bubers, der MAUTHNER sehr schätzte, zu verdanken. Letztlich aber bleibt Mauthners Verhältnis zur eigene jüdischen Herkunft zwiespältig.

GUSTAV LANDAUER bezeichnet sich in seinem berühmten Essay  Sind das Ketzergedanken? als bewußten Juden. In diesem Sinne versteht LANDAUER sein Judentum als sozialistische und menschheitliche Vision; und widerspricht sowohl der Verabsolutierung des jüdischen Nationalgedankens und der Idealisierung des Ostjudentums, wie sie manche zionistische Intellektuelle damals betrieben, als auch der Verabsolutierung des Deutschtums, wie sie Mauthners gebrochenem Verhältnis zu allem Jüdischen zugrundeliegt.

"Du willst der Sprachkritiker sein und denkst an Deutschland", hatte LANDAUER in den ersten Monaten des Weltkrieges geschrieben. Den Chauvinismus, der jetzt die Öffentlichkeit beherrschte und die meisten der Intellektuellen ergreift, erlebt LANDAUER als Niederlage und Bestätigung seiner Einsichten zugleich. Sein Freund und Meister, der Sprachkritiker FRITZ MAUTHNER indeß enttäuscht ihn mehr als andere. Die Briefe dieser Jahre sind das beredte Zeugnis.

MAUTHNER dagegen wird zerissen von der "Todesangst um Deutschland", die ihn seit Kriegsbeginn nicht mehr losläßt, und den heftigen und treffenden Vorwürfen des Freundes. In seinem geheimen Kriegstagebuch, in dem er sich Klarheit zu verschaffen sucht, vermerkt er: "Habe brav gearbeitet und über der Arbeit für einige Stunden die Todesangst um Deutschland vergessen. Nachher dringt sie wieder vor. Und ich bin so dumm abergläubisch, daß mich der Wunsch überschleicht, die Arbeit des letzten Monats zu verbrennen, um dem Vaterlande ein Opfer zu bringen, um irgend ein Unheil von Deutschland abzuwenden."

Er begleitet seine Frau Hedwig, die in einem Überlinger Lazarett freiwillig Dienst tut, spricht Tag um Tag mit den verwundeten Soldaten, di er um ihren Dienst fürs Vaterland beneidet. Im  Berliner Tageblatt schreibt er, obwohl er die massensuggestive Funktion der Kriegspresse im Tagebuch fast täglich kommentiert, haßerfüllte Artikel, die nicht nur LANDAUER, sondern auch MAXIMILIAN HARDEN und AUGUSTE HAUSCHNER entsetzen. LANDAUERs Kritik hingegen mag er nicht verstehen: "Was hat dieser Krieg, den ich nicht verschuldet, mit meiner Erkenntnistheorie zu tun?" fragt er sich im Tagebuch. Seine Empfindungen bewegen sich zwischen der Todesangst um Deutschland, mit dem er alles verbindet, was ihm lieb ist, und der Verachtung des "Stubenhockers", als den er sich selbst wahrnimmt.

Gerade im emotional aufgeheizten politischen Urteil der Kriegszeit zeigt sich, daß Mauthner mit dem Wechsel vom schriftstellerischen in den philosophischen Diskurs der Sprachkritik, dem subjektiven Problemkomplex, den er selbst als Motiv für seine Sprachskepsis reklamiert hat, eigentlich ausgewichen ist. Über sich selbst hatte ihm die Sprachkritik wenig mehr Klarheit verschafft.

GUSTAV LANDAUER mag das Scheitern von Mauthners Sprachkritik an ihm selber geahnt haben, wenn er ihm dazu schreibt: "Wenn man sich im übrigen erst auf Deinen Standpunkt stellt, empfindet man mit Dir, was Dir das Wichtige ist und was mehr unserem Leben als irgendwelcher Literaturtatsache gilt." LANDAUER selbst folgte dem Ruf KURT EISNERs nach München, wohl wissend, in welche Gefahr er sich begab. Er sah vielleicht, nicht zuletzt durch die sprachkritische Einsicht, deutlicher als die meisten seiner Zeitgenossen die Gefährdung seiner Existenz als deutscher Jude. Sein Engagement in jüdischen Fragen mag eher hier als in einer zionistischen Option ihren Grund haben; wohl auch die Radikalität seines Traums vom ewigen Frieden. Daß die Selbsterkenntnis der Gefängniszelle bis hierher gewirkt hatte, zeigen seine Worte an MAUTHNER:
    "Habe ich schon keinen Boden, auf dem ich stehe, und ist das gleich schmerzlich, so stehe ich doch nicht in der Luft; ich stehe auf mir. Daß ich, was die Nationen angeht, nicht die leiseste Ungerechtigkeit in mir spüre; daß ich in Trauer weiß, wie dieser Wahnsinn entstanden ist, daß ich mich ganz Deutscher weiß und doch nicht die Spur eines Mitgehens mit der Politik und Aktion des deutschen Reichs in mir finde, und daß ich die innige und erhabene Begleitmusik, die die echten Völker allesamt zum Tanz der Staaten machen, bei den Fremden so gut mitempfinde wie bei den Deutschen; daß ich das Menschengeschlecht in mir lebendig weiß, und nichts aufzugeben brauchte, sondern nur in meinem Wesen weiter wachse, das läßt mich wünschen, weiterzuleben." LANDAUER scheiterte nicht an inneren Widerständen.

LITERATUR - Hanna Delf / Julius H. Schoepps (Hrsg), Gustav Landauer - Fritz Mauthner (Briefwechsel 1890-1919), München 1994