tb-1AffolterF. J. Neumann    
 
WILHELM WINDELBAND
Normen und Naturgesetze
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"Wer will denn genau die Bahn des Schiffes bestimmen, welches wir dem wogenden Meer übergeben, - wer will die räumliche Verteilung ausrechnen, in der die Glasperlen aus dem gefüllten Becher auslaufen? Und doch nehmen wir für diese physischen Prozesse die durchgängige Abhängigkeit von denselben Gesetzen an, deren Wirksamkeit wir an gröberen, isolierten Vorgängen konstatiert haben, und schreiben die Unmöglichkeit ihrer vollständigen Erklärung nur der großen Mannigfaltigkeit der Bedingungen zu, welche wir nicht zu übersehen vermögen."

"Die sittliche Wirkung intellektueller und ästhetischer Bildung besteht im wesentlichen darin, daß der Mensch eine Norm über sich hat, sowie darin, daß er dieselbe als um ihrer selbst willen geltend anzuerkennen lernt und nicht mehr nach den Vorteilen und Nachteilen schielt, die ihm aus der Erfüllung oder Nichterfüllung eines Gebots erwachsen werden."

"Das Prinzip der kausalen Gesetzmäßigkeit ist nichts anderes [...] als ein Ausfluß unseres Bedürfnisses, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten und in diesem Allgemeinen die bestimmende Macht für das Einzelne zu sehen."

"Man muß sich durchaus klar machen, daß sittlich zu handeln kein Mittel ist, um glücklich und mächtig zu werden; es gibt kein törichteres Unternehmen als das der Moralisten, die dem Menschen einreden wollen, daß er am klügsten daran tut, sich der sittlichen Norm zu unterwerfen: sie werden von der Erfahrung alle Tage widerlegt."


Die Freiheit - die Freiheit des Willens! das ist das große Grübelproblem der Menschheit, daran sich das Denken der Besten abgequält hat, - das populärste Problem, dasjenige, welches irgendwie einmal in einem jeden auftaucht und ihn mit innerster Beunruhigung in die Betrachtungen der Philosophie treibt.

Kann ich, was ich soll? - das ist die Frage! Einen Zwang fühl' ich in mir, wonach, wie der Stein dem Gesetz der Schwere folgt, notwendig und unabänderlich mein Vorstellen, mein Fühlen, mein Wollen sich gestaltet: und das Bewußtsein eines Gebotes trage ich in mir, nach dem ich denken, fühlen, wollen soll. Wie verhaltens sich zueinander jener Zwang und dieses Gebot, - wie sind sie vereinbar und welchen Sinn hat ihr Nebeneinanderbestehen? Wenn ales in mir ebenso, wie es geschieht, geschehen muß, - was will ein Gebot? Verlangt es dasselbe, wie jener Zwang. - wozu erst verlangen, was sowieso von selbst geschieht? Verlangt es etwas anderes, - welch einen Sinn hat es, zu verlangen, was nicht geschehen kann?

Wenn es demnach ebenso sinnlos ist, dasjenige zu gebieten, was auch ohnehin geschähe, wie dasjenige, was doch nicht geschieht, so folgert man zunächst, von einer Geltung des Gebots, von einer begreiflichen Bedeutung eines solchen sei nur unter der Voraussetzung die Rede, daß es ein die naturnotwendigen Funktionen des psychischen Lebens durchbrechendes Vermögen gebe, welches zur Erfüllung des Gebots berufen sei. Dies nennt man dann Freiheit, und nachdem man dieses Postulat aufgrund dieses oder eines ähnlichen Gedankenganges gewonnen hat, müht man sich natürlich vergebens, es mit den sonstigen Voraussetzungen unseres wissenschaftlichen Weltverständnisses in Einklang zu bringen.

Überall, in seinen tausend Variationen, wächst das Freiheitsproblem aus diesem Bewußtsein einer doppelten Gesetzgebung hervor, der wir unser geistiges Leben unterstellt finden: einer Gesetzgebung des Müssens und des natürlichen Geschehens, einer anderen des Sollens und der idealen Bestimmung. Erst deshalb, als ein göttliches Gebot, als das Bewußtsein der Sünde, d. h. der Verletzung des Gebots, als dieser Gegensatz der natürlichen und der göttlichen "Ordnung" zum Bewußtsein gekommen war, erst da ist auch das Problem der Freiheit, von dem die Philosophie in ihren Anfängen nichts wußte, mit allen seinen zahlreichen Auszweigungen emporgesprossen, und seitdem ist es nicht wieder aus dem Gesichtskreis der europäischen Völker entschwunden. (1)

Es wurzelt im Gefühl der Verantwortlichkeit. Hätten wir dies nicht, so wäre nicht abzusehen, wie wir aus rein theoretischen Gründen jemals zur Annahme einer von der kausalgesetzmäßigen Bedingtheit unserer seelischen Zustände abweichenden Funktion hätten gelangen sollen. Wenden wir doch das schon für alles praktische Denken unumgänglich erforderliche Axiom, daß gleichen Ursachen gleiche Wirkungen folgen werden, fortwährend im gewöhnlichen Leben auch auf die Seelentätigkeiten an. Jede Berechnung, welche voraussetzt, daß unter bestimmten Bedingungen die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, in bestimmter Weise sich verhalten, vorstellen, fühlen, wollen werden, macht von diesem Axiome Gebrauch; es ist allen künstlichen Behauptungen zum Trotz die Grundlage unseres Verkehrs mit den Menschen ganz ebenso wie mit allen anderen Dingen: es ist der Glaube, mit dem auch der verhärtetste Skeptiker dem wütenden Feind ebenso ausweicht, wie dem fallenden Stein. Freilich vermögen wir auch mit der genauesten Kenntnis der Gesetze des Seelenlebens nicht den feinen Ausschlag individueller Lebendigkeit, die leisen Wendungen der inneren Vorgänge zu berechnen: aber wer will denn genau die Bahn des Schiffes bestimmen, welches wir dem wogenden Meer übergeben, - wer will die räumliche Verteilung ausrechnen, in der die Glasperlen aus dem gefüllten Becher auslaufen? Und doch nehmen wir für diese physischen Prozesse die durchgängige Abhängigkeit von denselben Gesetzen an, deren Wirksamkeit wir an gröberen, isolierten Vorgängen konstatiert haben, und schreiben die Unmöglichkeit ihrer vollständigen Erklärung nur der großen Mannigfaltigkeit der Bedingungen zu, welche wir nich zu übersehen vermögen. Theoretisch liegt die Sache genau ebenso auf psychischem Gebiet: auch hier kennen wir, teils in Gestalt der praktischen "Menschenkenntnis", teils in derjenigen wissenschaftlicher Erfahrung, eine Anzahl von Grundgesetzen, die wir durch glückliche Einfachheit beobachteter Fälle oder durch experimentelle Isolation gewonnen haben; sie sind vielleicht nicht ganz so exakt, wie unsere Formulierungen der physikalischen Gesetze, und sie sind vielleicht in noch höherem Maße als diese nur grobe Approximationen [Annäherungen - wp] an den wahren Sachverhalt: aber unsere Unfähigkeit, aus ihnen die ganz besondere Gestaltung der einzelnen seelischen Tätigkeit zu erklären, würde, rein theoretisch betrachtet, ebensowenig wie in den erwähnten Fällen des äußeren Geschehens imstande sein, unseren Glauben an die axiomatische Geltung des Kausalgesetzes, worauf alle Erklärung in der Wissenschaft und alle Erwartung im praktischen Leben beruth, zu erschüttern und zu der Annahme einer geheimnisvollen Unterbrechung des Kausalprozesses führen.

Dies geschieht lediglich aus dem Bedürfnis, die Geltung und Vernünftigkeit eines Gebotes zu retten, dem wir uns unterworfen und verantwortlich fühlen, und das keinen Sinn hätte, wenn es sich nicht von der kausalen Notwendigkeit unterschiede, der die naturgesetzliche Bewegung unseres geistigen Lebens unterliegt. Uns so scheint man also unausweichlich vor einer schweren Alternative zu stehen: entweder am wissenschaftlichen Axiom festzuhalten und dann die Geltung des Gebotes nicht mehr anerkennen zu können, oder das Gebot - und als das ihm korrespondieren Vermögen - die Freiheit anzuerkennen, damit aber die Ausnahmslosigkeit der Geltung des wissenschaftlichen Axioms in Frage zu stellen. Immer tritt jener Widerspruch zwischen den "Bedürfnissen des Gemüts" und den Voraussetzungen und Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung zutage, welcher dem modernen Denken wesentlich zu sein scheint. Selbst ein so vorsichtiger, metaphysisch so keuscher Versuch, wie ihn KANT gemacht hat, durch die Annahme eines intelligiblen Charakters die Schwierigkeiten aufzuheben, verfällt doch derselben Unmöglichkeit, beide Gefahren gleichmäßig zu vermeiden.

Die populäre Betrachtungsweise kennt das Freiheitsproblem fast nur von der moralischen Seite. Auf diesem Gebiet ist sich ein jeder eines Systems von Vorschriften bewußt, welche er erfüllen sollte und von denen der wirkliche Prozeß seines Wollens und Handelns mehr oder weniger abweicht. Vor allem aber ist hervorzuheben, daß für die große Masse auf diesem Gebiet allein das Verantwortlichkeitsgefühl sich in voller Ausdehnung geltend macht: es ist hier vermöge unserer bürgerlichen Institutionen einerseits und vermöge der religiösen Überzeugungen andererseits mit dem Gefühl der Furcht vor den unangenehmen Folgen verwachsen, welche sich als strafende Folgen in der bürgerlichen oder der göttlichen Ordnung an die Übertretung des Gebotes anschließen werden. Deshalb bringt hier die wissenschaftliche Betrachtung, wonach auch des Menschen Willensentschließungen und Handlungen nach festen Gesetzen notwendig sich so vollziehen, wie sie es wirklich tun, das peinliche Gefühl, unbegreiflicher Ungerechtigkeit hervor, mit der jemand für etwas bestraft wird, was er nicht hatte ändern können.

Derselbe Widerspruch jedoch zwischen Gebot und Naturnotwendigkeit, der vermöge dieser bürgerlichen und religiösen Verantwortlichkeit auf ethischem Gebiet jedermann zu Bewußtsein kommt, ist auch auf anderen Gebieten vorhanden; nur wissen da die wenigsten davon. Auch von den Vorstellungen, mit denen wir die Welt zu erkennen glauben, zeigt uns die Psychologie, daß ihre Elemente und deren Verbindungen ebenso wie das Gefühl der Gewißheit, welches sich an einige darunter knüpft, das notwendige Produkt eines psychischen Mechanismus sind: wer aber nach Wahrheit ringt, der fühlt sich für seine Vorstellungen verantwortlich; der weiß, daß es auch in dieser Sphäre ein System von Vorschriften gibt, welche er erfüllen soll und von denen der wirkliche Prozeß seines Denkens mehr oder minder abweicht. Auch hier also steht der naturnotwendig bedingten Wirklichkeit ein Bewußtsein von Regeln gegenüber, welche den Wert dessen, was mit kausaler Notwendigkeit gedacht wurde, bestimmen. Ähnlich verhält es sich auf ästhetischem Gebiet. Die Art, wie unser Gefühl von der umgebenden Welt, mag sie der Natur oder der menschlichen Tätigkeit ihren Ursprung verdanken, zu Beifall oder Verwerfung bestimmt wird, folgt sicher überall aus einem naturgesetzlichen Zusammenhang. Wer aber an ein Ideal der Schönheit glaubt, der weiß, daß nur gewisse Anschauungen ihm gefallen sollten, und daß andere, welche ihm vielleicht vermöge der naturnotwendigen Erregung bestimmter Gefühle wirklich gefallen, dies nicht tun sollten: er stellt auch hier die normale Gefühlsweise der wirklichen gegenüber.

Für den reifen Kulturmenschen gibt es nicht nur ein sittliches, sondern auch ein logisches und ästhetisches Gewissen. Er macht sich nicht nur für sein Wollen und Handeln, sondern auch für sein Denken und Fühlen verantwortlich; er wirft sich einen Denkfehler und eine Geschmacklosigkeit nicht minder vor, wie eine sittliche Nachlässigkeit; er kennt wie für sein Wollen und Handeln, so auch für sein Denken und Fühlen eine Pflicht, und er weiß, er empfindet mit Schmerz und Beschämung, wie oft der naturnotwendige Lauf seines inneren Lebens diese Pflichten verletzt. Man darf sogar sagen, daß erst in dieser logischen und ästhetischen Form das Verantwortlichkeitsgefühl rein hervortritt: es ist hier nichts weiter als das Bewußtsein, einem Gebot unterworfen zu sein und von dessen Erfüllung den Wert der eigenen Tätigkeit abhängig zu wissen. Die dem moralischen Gewissen bei der großen Masse der Menschen feiner oder gröber anhaftende Verschmelzung mit Furchtgefühlen (oder, was auf dasselbe hinausläuft, mit Belohnungshoffnungen) fällt hier von selbst fort: keine bürgerliche Strafe, keine Drohung des religiösen Glaubens, kein direkt fühlbarer Nachteil folgt auf die Verletzung der logischen oder der ästhetischen Pflicht. Gerade deshalb ist auch für die Veredelung des ethischen Gewissens und für dessen Erziehung zu einem reinen, aller eudämonistischen Rücksichten entkleideten Pflichtgefühl kein pädagogisches Mittel so wirksam, wie die Erweckung des logischen und des ästhetischen Gewissens. Die sittliche Wirkung intellektueller und ästhetischer Bildung besteht im wesentlichen darin, daß der Mensch eine Norm über sich hat, sowie darin, daß er dieselbe als um ihrer selbst willen geltend anzuerkennen lernt und nicht mehr nach den Vorteilen und Nachteilen schielt, die ihm aus der Erfüllung oder Nichterfüllung eines Gebots erwachsen werden: was er so auf anderen Gebieten erfahren hat, das überträgt sich ihm dann von selbst auch auf das moralische Leben.

Jedenfalls aber ist klar, daß der Antagonismus einer natürlichen und einer normativen Gesetzgebung, auf welchem das ethische Freiheitsproblem beruth, in ganz derselben Weise sich auf logischem und ästhetischem Gebiet wiederholt: es ist in allen drei Fällen der Gegensatz eines Gebotes gegen die psychologische Notwendigkeit. In dieser ganzen Ausdehnung also muß man das Problem fassen, um es gut zu behandeln: es muß ganz im allgemeinen gefragt werden, welchen Sinn es hat, die psychischen Funktionen des Menschen unter zwei voneinander differierende Gesetzgebungen zu stellen.

Zunächst empfiehlt es sich, ganz klar die Verschiedenheit der Gesichtspunkte hervorzuheben, unter denen die Geltung beider Systeme behauptet werden darf. Die psychologischen Gesetze sind Naturgesetze, d. h. diejenigen allgemeinen Urteile über die Sukzession seelischer Vorgänge, in denen wir die einzelnen Tatsachen des psychischen Lebens abzuleiten vermögen. Die Aufstellung dieser Gesetze geschieht also aus rein theoretischem Interesse und mir rein theoretischer Berechtigung. Wie überhaupt das Prinzip der kausalen Gesetzmäßigkeit nichts anderes ist als der assertorische [behauptende - wp] Ausdruck für unser Postulat der Erklärung, nichts anderes als das "Axiom der Begreiflichkeit der Natur", so ist auch die besondere Anwendung, welche wir davon - in der Wissenschaft wie im praktischen Leben - innerhalb des Gebietes der Seelentätigkeit machen, nur ein Ausfluß dieses unseres Bedürfnisses, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten und in diesem Allgemeinen die bestimmende Macht für das Einzelne zu sehen. Es ist hier nicht der Ort, und es gehörte ein ganzes System der Erkenntnistheorie dazu, diese oberste Voraussetzung aller wissenschaftlichen Theorie wie des allgemeinen Denkens zu rechtfertigen: der gesamte Apparat, welchen die Logik dafür herbeischaffen müßte, kann immer nur dazu führen, die unmittelbare Evidenz dieses Satzes auch in denjenigen Vorstellungen, die ihm zu widersprechen scheinen, hervortreten zu lassen und zu zeigen, daß mit seiner Aufhebung jede Möglichkeit eines erfolgreichen Nachdenks über den Zusammenhang unserer Erfahrungsurteile ausgeschlossen wäre. Einen anderen "Beweis" des Prinzips der Naturgesetzmäßigkeit gibt es nicht und kann es nicht geben: denn jedes der zahllosen Beispiele, mit denen der allgemeine Satz in jedem Moment unseres Erfahrungslebens bestätigt wird, ist selbst erst durch irgendeine Anwendung des Prinzips begründet. Für die wissenschaftliche Untersuchung braucht deshalb dessen Geltung in der Erkenntnis des Seelenlebens nicht besonders begründet zu werden, sondern sie versteht sich von selbst: denn jenes Prinzip wäre in seiner Allgemeingültigkeit aufgehoben, sobald im Ablauf der erfahrungsmäßigen Tatsachen irgendeine Erscheinung angenommen würde, welche nicht die gesetzlich notwendige Wirkung ihrer Ursachen wäre. Nur darum also kann es sich für die Wissenschaft des Seelenlebens handeln, die besonderen Formen zu konstatieren, nach denen die kausale Gesetzmäßigkeit sich auf diesem Gebiet abspielt.

Die psychologischen Gesetze sind also Prinzipien der erklärenden Wissenschaft, aus denen der Ursprung der einzelnen Tatsachen des Seelenlebens abgeleitet werden muß: sie stellen - der Grundüberzeugung gemäß, ohne welche es keine erklärende Wissenschaft gibt, - die allgemeinen Bestimmtheiten dar, vermöge deren jede einzelne Tatsache des Seelenlebens ebenso, wie sie sich gestaltet, notwendig sich gestalten muß. Die Psychologie erklärt mit ihren Gesetzen, wie wir wirklich denken, wirklich fühlen, wirklich wollen und handeln.

Die "Gesetze" dagegen, welche wir in unserem logischen, ethischen und ästhetischen Gewissen vorfinden, haben mit der theoretischen Erkärung der Tatsachen, auf welche sie sich beziehen, nichts zu tun. Sie sagen nur aus, wie diese Tatsachen beschaffen sein sollen, damit sie in allgemeingültier Weise als wahr, als gut, als schön gebilligt werden können. Sie sind also keine Gesetze, nach denen das Geschehen sich objektiv vollziehen muß oder subjektiv begriffen werden soll, sondern idealen Normen, nach denen der Wert dessen, was naturnotwendig geschieht, beurteilt wird. Diese Normen sind also Regeln der Beurteilung.

Faßt man zunächst den Gegensatz in dieser Weise auf, so zeigt es sich, daß die beiden Gesetzgebungen, denen wir unser psychisches Leben unterstellt finden, diesen ihren gemeinsamen Gegenstand unter zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten betrachten und deshalb einander nicht ins Gehege zu geraten brauchen. Für die psychologische Gesetzgebung ist das Seelenleben ein Objekt der erklärenden Wissenschaft; für die normative Gesetzgebung des logischen, des ethischen und des ästhetischen Bewußtseins ist dasselbe Seelenleben ein Objekt idealer Beurteilung. Aus den Naturgesetzen begreifen wir die Tatsachen, nach den Normen haben wir sie zu billigen oder zu mißbilligen. Die Naturgesetze gehören der urteilenden, die Noren der beurteilenden Vernunft an. Die Norm ist nie ein Prinzip der Erklärung, sowenig wie das Naturgesetz je ein Prinzip der Beurteilung ist.

Hieraus ergibt sich im Zusammenhang mit dem Obigen zweierlei. Auf der einen Seite ist es klar, daß die normative und die psychologische Gesetzgebung nicht miteinader identisch sein können. Das logische Prinzip, das Sittengesetz, die ästhetische Regel sind nicht solche Naturgesetze des Denkens, des Wollens oder des Fühlens, daß nach ihnen der wirkliche Prozeß des Seelenlebens sich wirklich unter allen Umständen vollzöge. Auf der anderen Seite aber ist es auch unmöglich, daß diese beiden Gesetzgebungen, welche sich auf denselben Gegenstand beziehen,  toto coelo  [himmelweit - wp] voneinander verschieden wären und in keiner Hinsicht miteinander übereinkämen. Das Gewissen kann nichts verlangen, was in der naturnotwendigen Bestimmtheit des seelischen Leben unmöglich und von ihr völlig ausgeschlossen wäre. Zwischen diesen beiden Extremen einer vollständigen Identität und einer vollständigen Verschiedenheit muß also das Verhältnis der Normen zu den Naturgesetzen zu suchen sein.

Am leichtesten wird es gefunden werden, wenn wir von dem verwickelteren Vorgang der Selbstbeurteilung des Individuums zu einer einfacheren Erscheinung übergehen, in welcher der einzelne die Tätigkeiten der anderen beurteilt. Eine Anzahl von Vorstellungselementen, z. B. ein bestimmter Umkreis von Erfahrungen sei verschiedenen Menschen gemeinsam. Gleichwohl wird die Verarbeitung dieses Stoffs zu einer zusammenfassenden Ansicht bei den Verschiedenen sehr verschieden ausfallen. Die Reihenfolge, in welcher die einzelnen ihre Erfahrungen gemacht, das Interesse, daß sie an der einen oder der anderen genommen haben, die Sichherheit der Erinnerung, die Vorsicht der Überlegung, die Fähigkeit der Kombination, - all das ist von Individuum zu Individuum verschieden, und daraus erklärt sich hinlänglich, wie bei voller Gleichheit der psychologischen Gesetze der Vorstellungsverbindung aus gleichen Elementen sehr weit voneinander entfernte Resultate hervorgehen. Alle diese Prozesse der Assoziation, welche sich in den einzelnen Menschen vollziehen, sind mit ihren jeweiligen Resultaten naturnotwendig bedingt. Aber nur eine von diesen Verknüpfungsweisen hat den Wert, richtig zu sein: nur eine entspricht der Norm des Denkens. Es ist möglich, daß der naturnotwendige Prozeß diese korrekte Verknüpfungsweise bei mehreren, - es ist auch möglich, daß er sie bei keinem unter jenen Individuen herbeiführt. So wenig also die psychologische Notwendigkeit die normative involviert oder über die Normalität entscheidet, so wenig schließt andererseits die Naturgesetzmäßigkeit die Möglichkeit einer Erfüllung der Norm aus. Unter der ganzen Menge er Vorstellungsassoziationen sind nur wenige, welche den Wert der Normalität haben. Der Naturprozeß kann der Norm entsprechen, aber er braucht es nicht zu tun. Es gibt auch solche Formen der naturnotwendigen Vorstellungsverknüpfung, welche den Irrtum unausweichlich zu ihrem Resultat haben. Mit derselben Naturnotwendigkeit, mit welcher der eine richtig denkt, denkt der andere falsch.

Das ist alles selbstverständlich; aber man muß sich ausdrücklich darauf besinnen, daß es so ist, um das gesuchte Verhältnis richtig zu formulieren. Die vom logischen Bewußtsein aufgestellten Regeln des Denkens sind weder identisch mit den Gesetzen der Vorstellungsassoziation überhaupt, nach denen sich jedes Denken vollziehen muß, noch sind sie etwas gänzlich davon Verschiedenes: sondern sie sind bestimmte Arten der Verknüpfung, welche im naturnotwendigen Prozeß neben den anderen möglich sind und sich von diesen eben durch den Wert der Normalität unterscheiden. Von den besonderen Bedingungen, unter denen jede Funktion des Denkens vonstatten geht, hängt es ab, ob im einzelnen Fall die normale oder eine andere Art der Assoziation eintritt. Ein hervorragendes Beispiel dieses Verhältnisses bildet der Vorgang der Verallgemeinerung. Die Notwendigkeit des assoziativen Prozesses bringt es mit sich, daß zwei Vorstellungen, die nur je miteinander vereinigt im Bewußtsein gewesen sind, sich derartig verbinden, daß sie einander später reproduzieren: hieraus ergibt sich als gesetzmäßige Konsequenz, daß, wer den Inhalt der einen Vorstellung wieder erfährt, daneben, bzw. danach stets auch den anderen erwartet, d. h. daß er die einmalige Koinzidenz oder Sukzession verallgemeinert. Im logischen Gewissen der europäischen Völker hat es erst allmählich zum Bewußtsein kommen müssen, daß diese Naturnotwendigkeit verallgemeinernder Assoziation nur unter ganz bestimmten Bedingungen erlaubt, d. h. normgerecht ist, und die Theorie der Induktion ist nichts weiter als die Besinnung auf diejenige Art der verallgemeinernden Assoziation, welche als allgemeiner Norm für jeden gelten soll.

Es zeigt sich also, daß der unter den psychologischen Gesetzen sich vollziehende Vorstellungsmechanismus, solange in ihm das Bewußtsein der Normen nicht wirksam geworden ist, weit davon entfernt ist, auf Richtigkeit des Denkens angelegt zu sein. Er enthält mindestens ebensoviel Nötigungen zum Irrtum, wie zur Wahrheit; und bedenkte man, daß meisten unter einer Menge von assoziativen Möglichkeiten nur eine der Norm entspricht, so begreift man, weshalb in diesem sich selbst überlassenen Mechanismus das Falsche bei weitem wahrscheinlicher ist als das Richtige. Der Fehlschluß kommt ebenso notwendig zustande, wie der richtige Schluß; aber von denselben Prämissen her ist nur ein korrekter Schluß möglich, Fehlschlüsse dagegen viele. Die Wahrheit ist die einzige weiße Kugel unter vielen schwarzen.

Ganz ebenso steht es auf ethischem und ästhetischem Gebiet. Jede Willensentsceidung mir der daraus resultierenden Handlung ist, von seiten ihrer Entstehung betrachtet, ein nach den Gesetzen der Motivation naturgesetzlich bedingtes Phänomen, und ebenso ist die Präsenz wie die Stärke der einzelnen dabei mitwirkenden Motive jedesmal auch wieder ein im gesamten Lebenslauf des Individuums oder in dessen gegenwärtigem Zustand kausal notwendiges Ergebnis: aber diese Einsicht in die Naturnotwendigkeit jeder Willenstätigkeit steht nicht im geringsten der Beurteilung im Wee, wonach nur diejenigen gebilligt werden, bei denen gewisse Klassen von Motiven den Ausschlag gegeben haben. Unter der ganzen Massen der wirklichen Willensentscheidungen gibt es solche, in denen die sogenannten "moralischen" Motive die Entscheidung bestimmt haben: andere und mehr gibt es, in denen die entgegengesetzten gesiegt haben. Geschehen ist das eine so naturnotwendig wie das andere: die ethische Beurteilung billigt das eine und verurteilt das andere. Ich verstehe sehr gut, wie der eine Mensch durch ein glückliches Naturell, durch richtige Erziehung, durch günstiges Geschick mit Notwendigkeit dazu kommt, sittlich zu handeln, und wie mit der gleichen Naturnotwendigkeit der andere durch eine wilde Veranlagung, durch verderbliche Einflüsse, durch schwere Erlebnisse zum Verbrecher wird: aber diese Einsicht in die Naturnotwendigkeit beider Prozesse hält mich nicht im geringsten ab, Charakter und Handlung bei dem einen als gut, bei dem andern als böse zu bezeichnen. Auch hier zeigt sich also: unter der großen Masse der Willensbetätigungen, welche nach den Motivationsgesetzen möglich sind und wirklich werden, ist nur eine beschränkte Anzahl derer, welche dem normativen Bewußtsein, dem sittlichen Gewissen, entsprechen. Die Gebote des letzteren sind gewisse Formen der Motivation, welche durch den naturgesetzlichen Prozeß hervorgerufen werden können, aber durchaus selten wirklich hervorgerufen werden.

Ebenso selbstverständlich ist es, daß das Wohlgefallen oder Mißfallen, welches wir irgendeinem Gegenstand der Natur oder der Kunst gegenüber empfinden, allemal eine Gesamtwirkung ist, welche aus vielen einzelnen, in der Entwicklung unseres Lebens erzeugten Gefühlen sich naturnotwendig, wenn auch häufig in sehr verwickelter Weise, zusammensetzt: aber ein ästhetisches Bewußtsein gibt es dem hedonistischen gegenüber nur insofern, als einige dieser sämtlich naturnotwendigen Gefühle als normale den zufälligen Bedürfniszuständen der Individuen gegenübergestellt werden. Auch die ästhetische Norm ist also ein unter den vielen Gefühlsweisen, welche durch den naturnotwendigen Prozeß des Seelenlebens möglich gemacht un in den einzelnen Individuen, je nach den Umständen, herbeigeführt oder unterdrückt werden.

Die Normen sind daher von den Naturgesetzen allerdings verschieden; aber sie stehen ihnen auch nicht als ein Fremdes und Fernes gegenüber; jede Norm ist vielmehr eine solche Verbindungsweise psychischer Elemente, welch durch den naturnotwendigen, gesetzlich bestimmten Prozeß des Seelenlebens unter geeigneten Umständen ebenso wie viele andere und wie auch die entgegengesetzten hervorgerufen werden kann. Eine Norm ist eine bestimmte, durch die Naturgesetze des Seelenlebens herbeizuführende Form der psychischen Bewegung. So ist ein Denkgesetz (in der Sprache der Logik) eine bestimmte Verbindungsweise der Vorstellungselemente, welche durch den natürlichen Verlauf des Denkens, je nach den im Individuum gegebenen Bedingungen, herbeigeführt, aber auch verfehlt werden kann. So ist jedes Sittengesetz eine bestimmte Form der Motivation, welche, je nach dem gesamten Triebzustand der Individuen, durch den natürlichen Verlauf der Willenstätigkeiten realisiert, aber auch verletzt werden kann. So ist jede ästhetische Regel eine bestimmte Art zu fühlen, welche, je nach der Reizfähigkeit der einzelnen Menschen, eintreten, aber auch ausbleiben und durch andere verdrängt werden kann.

Alle Normen sind also besondere Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen. Das System der Normen stellt eine  Auswahl  aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit er Kombinationsformen dar, unter denen, je nach den individuellen Verhältnissen, die Naturgesetze des psychischen Lebens sich entfalten können. Die Gesetze der Logik sind eine Auswahl aus den möglichen Formen der Vorstellungsassoziation, die Gesetze der Ethik sind eine Auswahl aus den möglichen Formen der Motivation, die Gesetze der Ästhetik sind eine Auswahl aus den möglichen Formen der Gefühlstätigkeit.

Es ist auch nicht schwer, sogleich das Prinzip aufzustellen, wonach in allen drei Fällen diese Auswahl aus der Mannigfaltigkeit der naturnotwendigen Entwicklungsformen zu geschehen hat. Die logische Normalität wird nur insofern von der Vorstellungstätigkeit verlangt, als sie den Zweck erfüllen soll, wahr zu sein. Beim kombinativen Vorstellungsspiel der Phantasie verlangt niemand einen logischen Zusammenhang; und wem es im allgemeinen oder bei besonderer Gelegenheit gleichgültig ist, ob er wahr denkt, für den kommt die logische Gesetzgebung nicht in Betracht. Mit den Capricen [Launen - wp] eines Denkens, das sich der Norm nicht fügen will, hat vielleicht die Psychologie, niemals aber die Logik zu tun. Die logische Gesetzgebung besteht also für uns nur unter der Voraussetzung des Zwecks der Wahrheit: es ist die Allgemeingültigkeit, d. h. der Wert, von allen anerkannt werden zu sollen, welcher die logischen Formen des Denkens von den übrigen, im naturgesetzlichen Prozeß möglichen Assoziationen unterscheidet. Dasselbe wiederholt sich bei der ethischen und ästhetischen Gesetzgebung: auch hier liegt in der Norm, sofern sie uns einleuchten soll, der Sinn eines Maßstabes für die Beurteilung, welche den Zweck der Allgemeingültigkeit zugrunde legt. Das Sittengesetz verlangt diejenige Motivation, welche mit dem Anspruch auf Allgemeingültikeit gebilligt werden kann; die ästhetische Regel verlangt diejenige Gefühlserregung, welche unter der Voraussetzung allgemeiner Geltung ihren Gegenstand als  schön  charakterisieren darf.

Was also die Norm in allen Fällen für uns zur Norm macht, ist die Beziehung auf den Zweck der Allgemeingültigkeit. Nicht um faktische Allgemeingültigkeit handelt es sich - das wäre ein Fall von naturgesetzlicher Notwendigkeit -, sondern um das Verlangen der allgemeinen Geltung.  Normen  sind diejenigen Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen, welche unter der Voraussetzung des Zwecks der Allgemeingültikeit gebilligt werden sollen.' Normen sind diejenigen Formen der Verwirklichung der Naturgesetze des Seelenlebens, welche in unmittelbarer Evidenz mit der Überzeugung verbunden sind, daß sie und sie allein realisiert werden sollen, und daß alle anderen Arten, in denen die naturgesetzliche Notwendigkeit des Seelenlebens zu individuell bestimmten Kombinationen führt, wegen ihrer Abweichung von den Norm zu mißbilligen sind.

Das normative Bewußtsein nimmt also unter den Bewegungen des naturnotwendigen Seelenlebens eine Auswahl vor, um die einen zu billigen und die anderen zu verwerfen. Die Normalgesetzgebung ist mit der Naturgesetzgebug weder identisch, noch im Widerspruch; sie ist eine Selektion aus den durch die Naturgesetzgebung bestimmten Möglichkeiten. Das Normalbewußtsein des logischen, des ethischen, des ästhetischen Gewissens verlangt weder, was auch immer sowieso geschieht, noch, was gar nicht geschehen kann: es billigt einiges von dem, was geschieht, um das übrige zu verwerfen.

Stellen so die Normen eine Auswahl aus der Menge des naturgesetzlich Möglichen dar, so liegt es nahe, diese Einsicht mit einer in der erklärenden Wissenschaft der Gegenwart zu glänzender Bedeutung gelangten Betrachtungsweise in Verbindung zu bringen. Daß die Normen gelten  sollen,  stellt sich im empirischen Bewußtsein als unmittelbare Evidenz dar, die absolut nicht erklärt, sondern einfach nur zu Bewußtsein gebracht und damit zur Anerkennung erhoben werden kann: daß aber die Normen  faktisch  gelten, daß sie anerkannt und der wirklichen Beurteilungstätigkeit zugrunde gelegt werden, ist eine Tatsache des empirischen Seelenlebens. Diese Tatsache muß so gut wie jede andere erklärt werden: und es wäre deshalb möglich, die faktische Anerkennung der Normen als das Produkt eines  Selektionsprozessen  anzusehen.

Es ist nämlich nach den psychologischen Gesetzen des Vorstellungs- und Gefühlsverlaufs selbstverständlich, daß diejenigen Tätigkeitsformen, welche durch eine naturnotwendige Wiederholung und Gewöhnung häufiger eintreten und eine umfassendere Bedeutung erlangen als andere, zu Objekten der Billigung werden. Eine unmerkliche Anhäufung der Eindrücke macht uns als stillwirkende Gewöhnung die eine oder die andere unserer Verrichtungen lieb. Wenn sich nun herausstellte, daß die Gewöhnung an das normale Denken, Wollen und Fühlen ein Vorteil im Kampf ums Dasein wäre, daß somit dasjenige Individuum, welches durch eine naturnotwendige Gewöhnung in einem höheren Maß der logischen, ethischen und ästhetischen Norm entspräche, die größere Aussicht auf das Überlegeb, auf die Übertragung und Vererbung seiner Gewöhnung hätte, so ließe sich auf diese Weise erklären, daß die Entwicklung des Menschen immer mehr zur Beschränkung der naturnotwendigen Prozesse auf die normalen Formen und damit zu ihrer faktischen Anerkennung führen muß. Darüber kann kein Zweifel bestehen, daß der reife Kulturmensch die Normens des logischen, ethischen und ästhetischen Gewissens in ganz anderer Weise versteht und anerkennt, als der Wilde oder das Kind, welche der ganzen Mannigfaltigkeit des Naturprozesses, oft fast noch ohne jedes Bewußtsein einer Norm überhaupt, widerstandslos anheimgegeben sind: und es fragt sich, da die Normen eine Selektion aus den naturgesetzlichen Möglichkeiten darstellen, ob dieser Unterschied durch die Selektionstheorie in der Weise zu erklären ist, daß sich die Gewöhnung an die Norm als Vorteil im Kampf ums Dasen erweist. (2)

Für die logische Form scheint dieser Nachweis möglich. Das richtige Denken ist zweifellos ein Vorteil im Wettstreit der Individuen. Ein Schlußfehler, eine aus vorschneller Verallgemeinerung geschehene falsche Erwartung kann im praktischen Leben von den bedenklichsten Konsequenzen sein. Unsere Macht über die Menschen so gut wie über die Natur ist, wie man oft ausgeführt hat, viel weniger auf die physische Krat, als auf das Wissen gestützt: und, wer richtig zu denken gewöhnt ist, der wird im Kampf der Gesellschaft der Überlegene, der Überlebende sein; er wird seine Art zu denken, durch Vererbung und Nachahmung in seinen Nachfolgern sich fortpflanzen sehen, und so ließe sich  a priori  eine Entwicklung der Gesellschaft denken, vermöge deren sich in ihr immer mehr die Gewöhnung an ein normales Denken durch natürliche Auswahl festsetzte. Offenbar freilich ist das normale Denken im gesellschaftlichen Wettkampf neben anderen Eigenschaften, die hauptsächlich auf den Gebieten des Willens und der Arbeitskraft zu suchen sind, nur von untergeordneter Bedeutung: aber es ist doch ein, wenn auch geringer Vorteil, der unter Umständen den Ausschlag geben kann. Auch im Kampf der Völker ist die Intelligenz, d. h. die Fähigkeit richtigen Denkens, ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung der Machtfrage. Dennoch würde man fehlgehen, wenn man darin den wichtigsten sehen wollte. Umgekehrt zeigt vielmehr die Geschichte sehr oft die Tatsache, daß gerade die gebildetsten Völker dem Anprall der intellektuell unerzogenen unterliegen, und daß erst nachher der Sieer in die Schule des Besiegten geht. Das intellektuelle Element ist eben als Chance im Lebenskampf doch nicht bedeutend genug, um stetig das Entscheidende zu sein. Im allgemeinen jedoch zeigt der historische Prozeß einen entschiedenen Fortschritt in der Ausscheidung der falschen und in der Anerkennung der richtigen Denkformen. Als auffälligstes Beispiel ist hier wiederum die Verfeinerung des induktorischen Verfahrens anzuführen, welche sich schon in der kurzen Geschichte des logischen Gewissens der europäischen Völker vollzogen hat: es kann kein Zweifel darüber sein, daß wir in dieser Hinsicht durchschnittlich viel korrekter denken, als der Grieche.

Während der intellektuelle Fortschritt in der uns übersehbaren Geschichte des Menschengeschlechts kaum je angezweifelt werden kann, ist bekanntlich der ethische Fortschritt vielfach bestritten, und keinesfalls liegt er so auf der Hand wie jener. Damit stimmt es überein, daß einer Erklärung des ethischen Fortschritts auf dem Weg der Selektionstheorie nicht möglich wäre. Denn Moralität ist kein Vorteil im Kampf ums Dasein, im Gegenteil, sie ist ein Nachteil, - wenigstens soweit es sich um den Kampf der Individuen handelt. Wohlmeinende Sprichwörter, wie "Ehrlich währt am längsten" und ähnliche, entsprechen doch nicht der Wirklichkeit. Moralität ist Einschränkung der Motivation; der sittliche Mensch kann einen großen Teil der Mittel nicht anwenden, die dem unsittlichen skrupellos zur Verfügung stehen. Kein naturnotwendiger Prozeß knüpft an die Unsittlichkeit als notwendige Folge eine Schwächung der übrigen, der intellektuellen oder der physischen Machtmittel. Wo der sittliche Mensch mit den Mitteln zu Ende ist, die der unsittliche ganz ebenso wie jener anzuwenden vermag, da hat der unsittliche immer noch eine große Anzahl von Mitteln zur Verfügung, die dem anderen durch das Gewissen verboten sind. Wo deshalb der sittliche und der unsittliche Mensch in Kampf geraten, da hat  ceteris paribus  [unter den gleichen Voraussetzungen - wp] - der unsittliche die größere Chance des Sieges. Man muß sich durchaus klar machen, daß sittlich zu handeln kein Mittel ist, um glücklich und mächtig zu werden; es gibt kein törichteres Unternehmen als das der Moralisten, die dem Menschen einreden wollen, daß er am klügsten daran tut, sich der sittlichen Norm zu unterwerfen: sie werden von der Erfahrung alle Tage widerlegt. Darum kann man aber auch nicht davon sprechen, daß die Anerkennung der Normen des sittlichen Bewußtseins durch die natürliche Auswahl herbeigeführt werde: umgekehrt vielmehr zeigt die historische Erfahrung - ganz der obigen Betrachtung gemäß -, daß jede in sich geschlossene Gesellschaft um so mehr sittlich verwildert, je älter sie wird; und die geschichtliche Menschheit wäre längst dem ethischen Gewissen ganz entfremdet, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit durch das unverdorbene Bewußtsein frischer Völker regeneriert worden wäre. Wie von den Individuen, so gilt es auch aus gleichen Gründen von den einzelnen politischen und sozialen Mächten, daß die sittliche Gesinnung für sie kein Vorteil im Kampf ums Dasein ist; und an der Geschichte brennender Kämpfe der Gegenwart ließe sich dieses Verhältnis sehr einleuchtend machen. Wo dagegen ganze Völker miteinander ringen, da ist diejenige Nation im entschiedensten Vorteil welche sich die ethischen Tuenden, die Hingebung des Einzelnen an das Ganze, die Selbstlosigkeit, die Unterordnung, den Gehorsam, das Pflichtgefühl und die Selbstbeherrschung bewahrt hat. Im Kampf ums Dasein der Völker ist die Moralität die stärkste aller ausschlaggebenden Kräfte. Dadurch wird im Laufe der Jahrtausende der umgekehrte Vorgang, der sich zwischen den Individuen abspielt, immer wieder ausgeglichen und das Gewissen wieder in seine Rechte eingesetzt.

Noch anders fällt schließlich die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung des ästhetischen Lebens aus. Eine aufsteigende Entwicklung ist auf diesem Gebiet zweifellos zu konstatieren. Die Nerven der Menschheit sind feinfühliger geworden. Den Gebilden der Natur steht der moderne Mensch mit reinerem Gefühl als der frühere gegenüber, und auch die Geschichte der Kunst zeigt, wen sie auch Jahrhunderte des Rückschritts zu verzeichnen und in der Vervollkommnung der einzelnen Künste keineswegs überall gleichen Schritt zu beobachten hat, doch im Ganzen selbst in der Zeit von den Griechen bis zu uns eine entschiedene Verfeinerung: vor allem aber tritt in der Auffassung und Einrichtung des alltäglichen Lebens eine große Steigerung des ästhetischen Bedürfnisses und der ästhetischen Empfänglichkeit zweifellos hervor. Die Menschheit hat geschmackvoller zu fühlen gelernt. Indessen ist es kaum zu denken, daß diese Gewöhnung an feineres Fühlen, diese Abstreifung ursprünglicher Geschmacklosigkeit ein Produkt der natürlichen Selektion sein sollte: denn auch hier ist durchaus nicht abzusehen, wie die bessere Reizbarkeit des ästhetischen Gefühls als solche auch nur den geringsten Vorteil im Kampf ums Dasein gewähren sollte. Wer Rohheit und Gemeinheit nicht empfindet und nicht fürchtet, der ist im alltäglichen Leben darum nicht schlechter dran als der andere; wer ihn aber kennt,
    " - den unsäglichen Augenschmerz,
    Den das Verwerfliche, ewig Unselige
    Schönheitliebenden rege macht - "
der ist verletzt und zurückgescheucht, wo die Verständnislosigkeit sich unbekümmert breit machen kann. Selbst im Verhältnis der Völker sind ästhetische Neigungen keine Waffen des Lebenskampfes: denn bekannt ist die Erfahrung, daß die Feinheit der Sitten und geschmackvolle Kunstbetätigung mit der Zeit die Gefahr der Verweichlichung mit sich führen.

So ist es durch die bloße natürliche Auswahl nicht zu erklären, daß sich die Mannigfaltigkeit der naturgemäßen Funktionen des menschlichen Seelenlebens mehr und mehr auf diejenigen zu beschränken scheint, welche als Normen den Wert idealer Allgemeingültigkeit besitzen. Bei den rein organischen Gebilden mag es begreiflich sein, daß der naturnotwendige Prozeß selber im Laufe der Zeit zwischen seinen Produkten die Auswahl trifft, vermöge deren nur die lebensfähigen und in diesem Sinne zweckmäßigen Typen bestehen bleiben. Auf dem psychischen Gebiet fallen Normalität und Existenzfähigkeit nicht im gleichen Maß zusammen; hier ist das, was dem Zweck der Allgemeingültikeit entspricht, nicht zugleich dasjenige, was seinen Träger vor anderen im Kampf ums Dasein zu erhalten und zu fördern geeignet ist.

Wenn sich also trotzdem das Bewußtsein der Normen, ohne die empirische Lebensfähigkeit und Selbsterhaltungskraft seiner Träger zu steigern, in der historischen Bewegung der Menschheit nicht nur erhält, sondern in einzelnen Hinsichten steigert, vertieft und verfeinert, so muß das auf einer direkten und selbständigen, von allen Nebenwirkungen unabhängigen Kraft beruhen, welche dem Bewußtsein der Normen als solchem innewohnt, und welche das Gewissen, wenn es erst einmal in Kraft getreten ist, zu einer psychologischen Macht erhebt, die als neuer Faktor in die Bewegung des Seelenlebens eintritt. Erst so wird man das wahre Wesen und die psychologische Bedeutung der Normen zu verstehen haben.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Präludien - Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1907
    Anmerkungen
    1) Vgl. meine Vorlesungen "Über Willensfreiheit", Tübingen und Leipzig 1904.
    2) In der Tat ist diese Erklärungsweise vielfach von denjenigen Theorien versucht worden, welche, besonders in der neueren Erkenntnislehre und Moral, die Tatsache "apriorischer" Bestimmungen für das individuelle Bewußtsein anerkennen, aber sie durch "Erwerbung" im Leben der Gattung entwicklungsgeschichtlich erklären wollen.