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WILHELM WINDELBAND
Über die verschiedenen Phasen
der Kantischen Lehre vom Ding-an-sich

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"Die Kategorien gelten  a priori  für alle Erfahrung, weil sie dieselbe machen. Wenn dies das entscheidende ist, so hängt auch hier die kantische Lehre in den Angeln einer psychologischen Einsicht: denn daß die Erfahrung durch die Kategorien zustande kommt, kann eben nur durch psychologische Analyse erkannt werden."

"Woher - mußte sich Kant selbst fragen - kommen wir denn überhaupt zur Annahme von Dingen ansich? Wenn wir sie nicht erkennen können, wie kommen wir dazu, uns das Unerkennbare auch nur vorzustellen?"

"Mit der Unterscheidung von Ding ansich und Erscheinung fielen nämlich auch die psychologischen Voraussetzungen seiner Untersuchungen zusammen. Der Gegensatz von Verstand und Sinnlichkeit als derjenige von Spontaneität und Rezeptivität setzt den "naiven Realismus" voraus, die Meinung, daß es für das erfahrende Subjekt zu rezipierende Objekte gibt. Die Erkenntnis, daß diese Meinung eine imaginäre ist, zerstört somit die Grundlagen der ganzen Untersuchung."

"Dieser Gedanke nun, daß außerhalb der Vorstellung nichts sei, worum sich die Wissenschaft zu kümmern habe, ist das Göttergeschenk Kants an die Menschheit: allein der gemeinen Vorstellungsweise, welcher der Unterschied von Ding ansich und Vorstellung der allergeläufigste ist, mußte dieser Gedanke als  das  erscheinen, als was ihn Jacobi, der Vertreter derselben, bezeichnet: als Nihilismus."


An diesem Problem hat sich die kantische Philosophie zu ihrer weltbewegenden Bedeutung emporgearbeitet und es gibt keine Stelle der Entwicklung KANTs, welche die erleuchtende Energie seines Denkens so überwältigend hervortreten ließe, als diese. Aus der psychologischen Parallelstellung der reinen Anschauungen und der reinen Begriffe, welche schon in der Inauguraldissertation unter den gemeinsamen Begriff der Gesetze von Vernunftfunktionen fielen, hat er hier ein durchgreifendes Kriterium gefunden, welches für die folgende Entwicklung entscheidend bleibt. Die apriorische Gültigkeit der mathematischen Gesetze für alle Erscheinungen beruth darauf, daß wir die Erscheinungen durch die reinen Anschauungen Raum und Zeit erzeugen: die apriorische Gültigkeit der reinen Verstandeserkenntnisse für die Dinge ansich wäre nur möglich, wenn der Verstand durch seine reinen Begriffe die Dinge ansich erzeugte. Unser Verstand tut das nicht: er besitzt keine apriorische Erkenntnis der Dinge an sich. In abstrakter Allgemeinheit lautet dieses Kriterium: Wir können eine Erkenntnis  a priori  nur davon haben, was wir durch die gesetzmäßigen Formen unserer Vernunfthandlungen erzeugen. (1)

KANT hat dieses Prinzip seiner Untersuchungen in dieser reinen Form nie ausgesprochen. Gleichwohl liegt es nicht nur den Bemerkungen des besprochenen Briefes, sondern den gesamten Entscheidungen der Kritik der reinen Vernunft zugrunde: am klarsten tritt es an der Stelle der Prolegomena (§ 9) hervor, wo aus eben diesem Prinzip konsequenterweise geschlossen wird, daß alles apriorische Wissen auf Erscheinungen beschränkt sein muß, eben weil unser Verstand nur Erscheinungen und nicht Dinge ansich erzeugt. Besonders klar ist dieser Grundgedanke ferner in seiner Lehre vom  intellectus archetypus  [ schöpferischer, göttlicher Verstand - wp]. Wir Menschen besitzen ihn jedenfalls nicht: doch deutet KANT schon im Brief an HERZ an, daß man sich den göttlichen Verstand so vorstelle. Da nun bei uns nur die Anschauungen ihre Objekte auch erzeugen, so müßte ein Verstand, der die Ursache von Dingen ansich wäre, ein anschauender Verstand oder eine intellektuelle Anschauung sein. Nach kantischem Begriff ist also eine  intellektuelle  Anschauung ein Verstand, der sich zu den Dingen ansich ebenso verhält, wie unsere sinnliche Anschauung zu den Erscheinungen, nämlich erzeugend' und der Mangel derselben verschließt uns deshalb die apriorische Erkenntnis der Dinge ansich. Eine solche könnte nur der Schöpfer derselben besitzen - Gott. Nur in diesem Sinne kann anerkannt werden, was jüngst THIELE ("Kants intellektuelle Anschauung") zu erweisen gesucht hat, (2) daß die intellektuelle Anschauung den idealen Richtbegriff der kritischen Erkenntnislehre bildet.

Den besten Beweis jedoch für dieses Kriterium liefert derjenige Abschnitt der Vernunftkritik, welcher das im Brief an HERZ angeregte Problem löst und von dem wir deshalb annehmen müssen, daß er seinem wesentlichen Inhalt nach zur Zeit, als KANT jenen Brief schrieb oder doch nicht allzu lange nachher entstanden ist - die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Ihren Grundgedanken hat KUNO FISCHER, dessen Reproduktion dieses Teils eine der Glanzpartien seines Werkes ist, präzise dahin formuliert: die Kategorien gelten  a priori  für alle Erfahrung, weil sie dieselbe machen. Wenn dies genau dem eben entwickelten Prinzip analoge Argument das entscheidende ist, so hängt auch hier die kantische Lehre in den Angeln einer psychologischen Einsicht: denn daß die Erfahrung durch die Kategorien zustande kommt, kann eben nur durch psychologische Analyse erkannt werden. In der Tat ist denn auch der psychologische Charakter dieser Deduktion unverkennbar; sie konstruiert nicht nur mit vollem Bewußtsein (vgl. Anfang des dritten Abschnitts) zu den drei empirischen Vermögen - Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption - die transzendentalen Korrelate, sondern sie hat überhaupt keinen anderen Zweck als nachzuweisen, daß unsere Erfahrungswelt nicht aus der sinnlichen Funktion allein, sondern als eine Welt der Objekte aus den synthetischen Funktionen des reinen Verstandes stammt: und es gipfelt diese Lehre bekanntlich darin, die Kategorien als die Formen der transzendentalen Synthesis, als die gesetzmäßigen Funktionen des Reinen, nicht empirischen Selbstbewußtseins, d. h. der absoluten, überindividuellen Vernunft, zu begreifen. Je mehr der psychologische Ursprung dieser Lehre in neuerer Zeit erkannt worden ist, umso mehr mußte man daran Anstoß nehmen, daß gerade der Eingang der transzendentalen Deduktion sich gegen die psychologische Theorie besonders zu sperren scheint. Der Gegensatz gegen den Psychologismus ist eben vermutlich späteren Datums und wir werden an die Stelle gelangen, wo der Ursprung desselben begreiflich und wahrscheinlich ist: hier könnte man also geneigt sein, die überarbeitende Hand zu erblicken und zu meinen, der ganze Anfang der transzendentalen Deduktion (Seite 82 - 85 in der ROSENKRANZschen Ausgabe) sei später eingeschoben, (3) während vielleicht der erste Entwurf direkt mit der Darstellung des Problems, wie subjektive Denkbedingungen objektive Gültigkeit haben können, begonnen haben mag. Trotzdem war KANT sich wohl bewußt, daß er den psychologischen Charakter des Ganzen nicht verwischt habe: denn die Vorrede entschuldigt in ziemlich gewundener Weise die psychologische "Hypothese", die in diesem Teil vorgetragen werde.

Das Resultat dieser Untersuchungen war nun für KANT dies, daß die Kategorien die Arten der Synthesis sind, vermöge deren die Gegenstände der Erfahrung aus dem Material der Empfindungen in Vermittlung durch den räumlich-zeitlichen Schematismus entstehen. Daraus erwuchst ihm im Gegensatz zu den Ansichten der vorkritischen Schriften die wichtige Einsicht, daß  auch die Funktionen des reinen Verstandes  so gut wie diejenigen der reinen Sinnlichkeit  synthetisch  sind. Der Parallelismus war nun vollständig: und ebenso wie aus den reinen Anschauungen sich die  a priori  für alle Erfahrung geltenden synthetischen Sätze der Mathematik ergeben, so mußten nun auch aus den reinen Begriffen synthetische Grundsätze von apriorischer Geltung für alle Erfahrung sich ableiten lassen. Reine Begriffe geben ebenso gut, aber auch mit der gleichen Einschränkung auf die Erfahrung,  synthetische Urteile a priori.  Aus dieser Zeitfolge der kantischen Untersuchungen ergibt sich, daß die an der Spitze der Kritik und der Prolegomena stehende Frage nach der Möglichkeit synthetischer  a priori  nicht das ursprüngliche Problem des kantischen Denkens sondern vielmehr nur der systematische Rahmen ist, in welchem die Resultate desselben sich später anordneten. Diese Problemstellung war geradezu unmöglich, so lange er am früher so vielfach gewendeten Gedanken festhielt, daß mathematische (sinnliche) Erkenntnis synthetisch, philosophische (begriffliche) analytisch sei. Erst die Untersuchung über die Genesis des Gegenstandes, wie sie in der transzendentalen Deduktion niedergelegt ist, lehrte ihn, daß auch der reine Verstand synthetisch verfährt und erst so wurde die gemeinschaftliche Fragestellung für die transzendentale Ästhetik und die Analytik möglich.

Auf dieser Grundlage entwarf nun KANT das System der Grundsätze als der allgemeinen apriorischen Naturgesetze. Er hatte die Natur als das aus den synthetischen Funktionen des reinen Verstandes entspringende System der Anschauungsgegenstände begriffen und brauchte deshalb nur die Kategorien in Sätze zu verwandeln, um die allgemeine gesetzmäßige Form der gesamten Natur zu konstruieren. Damit hatte er  das  begründet, was er die reine Naturwissenschaft nannte und nun von der eigentlichen Metaphysik zu scheiden begann. Auch diese Bezeichnung und diese Scheidung kann erst aus diesen Untersuchungen selbst hervorgegangen sein und deshalb nicht die Problemgliederung der Kritik von vornherein bedingt haben, wie das in der Einleitung zu den Prolegomenen den Anschein gewonnen hat. Wenn es dort heißt, die Aufgabe dieser ganzen Untersuchungen sei gewesen, die Möglichkeit synthetischer Urteile  a priori  zu begreifen, wie sie in den drei Wissenschaften, der Mathematik, der reinen Naturwissenschaft und der Metaphysik, tatsächlich vorliegen, so könnte das für die Entstehungsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft nur dann gedeutet werden, wenn diese drei Wissenschaften faktisch so vorgelegen hätten, wie sie KANT nachher kritisch behandelt hat. Bei der Mathematik und der Metaphysik ist das nun wirklich der Fall: aber wo - muß man fragen - existierte denn vorher diese "reine Naturwissenschaft", nach deren Berechtigung KANT wie nach derjenigen der Mathematik und der Metaphysik hätte forschen können? Die Antwort auf diese Frage ist - Schweigen. Von den Sätzen, welche KANT als den Inhalt derselben entwickelt, pflegte ein Teil in der allgemeinen Metaphysik oder in der Ontologie vorgetragen zu werden; andere kamen in der Naturphilosophie wohl gelegentlich vor; noch andere waren in dieser Fassung überhaupt nie ausgesprochen worden. Woran man bei dieser tatsächlichen "reinen Naturwissenschaft" gerade bei KANTs Entwicklung am ehesten denken möchte, die NEWTONschen Principia, zeigen doch nur eine sehr entfernte Verwandtschaft mit diesen Grundsätzen: und so muß man zugestehen, daß die "reine Naturwissenschaft" in der Gestalt, wie sie von den Prolegomenen als eine tatsächlich bestehende und zu erklärende besondere Wissenschaft in der Parallele mit Mathematik und Metaphysik vorausgesetzt wird, erst geschaffen worden war durch die transzendentale Analytik. Sie konnte also keins der Probleme sein, durch welche KANT auf die Kritik der reinen Vernunft geführt wurde.

Daß der Schwerpunkt des kantischen Interesses in dieser reinen Naturwissenschaft auf die aus den Kategorien der Relation entwickelten "Analogien der Erfahrung" fällt, ist offenbar: FRIES und SCHOPENHAUER, in neuester Zeit LAAS ("Kants Analogien der Erfahrung") haben darauf hingewiesen. Und es ist auch in der Tat das wichtigste Resultat, diese apriorische Erkenntnis, in welche man dieselben zusammenfassen kann,  daß alle Erfahrung sich als ein System von Substanzen darstellen muß, deren Zustände im Verhältnis wechselseitiger Kausalität stehen.  Den Umstand, daß innerhalb der "Analogien" von KANT wieder speziell die Kausalität bevorzugt wird, bezieht man allgemein auf sein Verhältnis zu HUME. Das setzt voraus, daß er von seinem großen Vorgänger nur die Essays, als deren zweiter Band der Enquiry erschienen war, nicht aber das geniale Erstlingswerk, den Treatise, kannte: (4) denn in letzterem würde er den gleich intensiven Angriff gegen die Substantialität gefunden haben, (5) welcher im Enquiry aus bekannten Gründen fortgelassen worden war. Es ist das durchaus zu bedauern: denn die Kategorie der Substantialität steht, wie noch jüngst AVENARIUS nachgewiesen hat ("Philosophie als Denken der Welt etc. § 112f), zur Lehre vom Ding ansich in einem außerordentlich innigen Verhältnis, auf welches KANT hätte aufmerksam werden müssen, wenn er den HUMEschen Zweifel in dieser Richtung gekannt und bekämpft hätte.

Ist nun dies das zweite Stadium der kantischen Ding-ansich-Lehre so faßt es sich etwa in folgende Lehrsätze zusammen: "es gibt Dinge ansich, unabhängig von unserer Erkenntnistätigkeit; sie affizieren in derselben das sinnlich rezeptive Element und die so erzeugten Empfindungen werden zwar durch die reinen Formen von Raum und Zeit zu Anschauungen, aber erst durch die synthetische Funktion der Kategorien zu Gegenständen der Erfahrung. Da also die Erfahrung durch die gemeinschaftliche Wirkung der reinen Anschauungen und der reinen Begriffe zustande kommt, so gelten beide als apriorische Erkenntnis für die gesamte Erfahrung bleiben jedoch auf diese beschränkt und gestatten keine Ausdehnung auf die Dinge ansich, welche somit unerkennbar sind.

An dieser Wendung der der kantischen Gedanken fällt es wohl hie und da auf, daß die Möglichkeit einer aposteriorischen Erkenntnis der Dinge ansich gar nicht in Betracht gezogen zu sein scheint. Doch erklärt sich dies sehr einfach. Nach der Unterscheidung der Inauguraldissertationi war die Erkenntnis der Dinge ansich nur möglich durch den reinen Verstand und da dieser für KANT als durchaus nicht rezeptiv gilt, so ist in ihm aposteriorische Erkenntnis überhaupt unmöglich. Das rezeptive Element der Sinnlichkeit aber, die Materie der Empfindung, galt für KANT ebenso wie für die ganze Philosophie seit DESCARTES und LOCKE so sehr als lediglich subjektiv und den Dingen ansich so sehr inadäquat, daß er dies nur gelegentlich berührte und sonst als selbstverständlich voraussetzte. Aposteriorische Erkenntnis der Dinge ansich wäre für KANT nur möglich gewesen durch ein rezeptives Vermögen des Verstandes, welches er verneinte: in diese Stelle schob bekanntlich JACOBI seine "Vernunft" als "Wahrnehmungsvermögen des Übersinnlichen" ein.

Das war nun also das Resultat: "die Dinge ansich sind unerkennbar." Es war weder neu noch fruchtbar: sein Wert lag diesmal nur im Weg, auf dem es erreicht war. Die These von der Unerkennbarkeit der absoluten Wirklichkeit geht durch die ganze Geschichte des menschlichen Denkens: was bedeutet sie? Das Ding ansich ist kein Gegenstand des erfahrenden Wissens, es ist ein Begriff zur Erklärung der Erfahrung: es ist nicht nur einer dieser Erklärungsbegriffe, sondern es ist der konzentrierte Ausdruck des Erklärungsbedürfnisses selbst.  Die Einsicht in die Unerkennbarkeit des Dinges ansich ist der Verzicht auf die Erklärung in einem Atem ausgesprochen mit dem Bedürfnis derselben.  Es gibt in der Geschichte des menschlichen Denkens eine ewig wiederkehrende Tragödie: es werden Begriffe gebildet zur Erklärung der Erfahrung und je energischer sie durchdacht werden, umso mehr zeigt sich, daß sie die Erfahrung nicht erklären. Vom parmenideischen Sein, das nur eine "hypothetische Physik" zuläßt, bis zur HEGELschen Idee, aus der die "Zufälligkeit" nicht begriffen wird - es ist immer derselbe Widerspruch, mit sinnlicher Anschaulichkeit niedergelegt in der Platonischen Ideenlehre, in tiefsinniger Abstraktion ausgesprochen im Dogma von der Unerkennbarkeit des Dinges ansich.

Wir dürfen nicht annehmen, daß dem größten der Philosophen dies entgangen sei: aus ihm allein vielmehr haben wir es gelernt. Denn er blieb auf diesem Standpunkt der Ding-ansich-Lehre nicht stehen. Was ihn weiter trieb, war, wie teilweise schon die transzendentale Deduktion zeigt, eben das Problem von der Beziehung der Vorstellungen auf Gegenstände und die Lösung, welche er zunächst dafür gefunden hatte. Wir wissen - das hatte er bewiesen - und wissen  a priori  von Gegenständen der Erfahrung, weil wir sie durch reine Anschauungen und reine Begriffe erzeugen: daß wir Dinge ansich nicht erkennen, weil wir sie nicht erzeugen, war die negativste Kehrseite dieser Lehre; daß wir  a posteriori  nichts von ihnen wissen, nahm er als selbstverständlich an. Woher - mußte er sich selbst fragen - kommen wir denn überhaupt zur Annahme von Dingen ansich? Wenn wir sie nicht erkennen können, wie kommen wir dazu, uns das Unerkennbare auch nur vorzustellen?

Diese Folgerung ist der Schlüssel zu allen Widersprüchen, welche man in der Kritik der reinen Vernunft nachzuweisen vermocht hat. KANT hat sie gezogen in der Abhandlung "vom Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in  Phaenomena  und  Noumena"  nebst dem Anhang "von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe": denn in der ursprünglichen Form dieser Abhandlung hat zweifellos gestanden,  Daß diese Unterscheidung keinen Grund habe. 

Die Prämissen dazu lagen in der transzendentalen Deduktion. Hier war nachgewiesen, daß die reinen Verstandesbegriffe nicht anderes sind, als unser Wissen von den ursprünglichen synthetischen Akten, vermöge deren die sinnlichen Anschauungen zu Gegenständen der Erfahrung werden. Die Grundform des reinen Verstandesaktes war danach die Konstruktion des Gegenstandes (oder die transzendentale Apperzeption). Nun wies die transzendentale Deduktion nach, daß alle jene synthetischen Funktionen keinen anderen als empirischen Gebrauch haben, d. h. daß sie als gesetzliche Formen nur für die Erfahrung gelten: folglich durfte auch jene Grundform der Gegenständlichkeit nur für die Erfahrung anerkannt werden. Wie alle anderen reinen Verstandesbegriffe, so gilt auch der höchste und einheitliche, das "Etwas", nur für die Erfahrung.  Die Erkenntnis der Dinge ansich,  welche der dogmatische Rationalismus beanspruchte, bestand darin, daß die  einzelnen Kategorien  als metaphysische Wahrheit betrachtet wurden: die  Annahme der Dinge ansich  besteht darin, daß man die  allgemeine Form des synthetischen Verstandesaktes  als etwas von der Erfahrung unabhängig Bestehendes ansieht. Dies wird in der Abhandlung "von dem Grunde etc.", jenes im Anhang "von der Amphibolie etc." entwickelt. Das "transzendentale Objekt", schreibt KANT, "bedeutet ein Etwas = X ..., welches nur als ein Korrelatum der Einheit der Apperzeption zur Einheit des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung dienen kann, vermittels deren der Verstand dasselbe in den Begriff eines Gegenstandes vereinigt." Wenn somit die Metaphysik z. B. den Satz der Kausalität dahin ausspricht, daß alles Geschehen seine Ursache habe, so tut sie Nichts, als eine der Formen, unter denen die Verknüpfung der Vorstellungen geschieht, zu einem Weltgesetz umzudeuten: wenn aber das menschliche Denken überhaupt Dinge ansich in Unterschiedenheit vom System der Vorstellungen voraussetzt, so tut es nichts, als die allgemeine Form der Vorstellungsverknüpfung überhaupt als etwas von den Vorstellungen noch Unterschiedenes zu betrachten. Die Lehren der alten Metaphysik bestanden in der Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] der Denkformen: die Annahme von Dinge ansich überhaupt ist die Hypostasierung der Grundform aller Vorstellungen. (6)

An dieser Stelle seiner Entwicklung ist KANT der Riese, der den Dogmatismus zertrümmert. Denn Hypostasierung der Denkformen ist das Wesen allen Dogmatismus. So wie er von jeher aus den Begriffen, mit denen er die Welt unserer Vorstellungen erklären wollte, eine zweite Welt hinter der ersten konstruiert hat, so hat er - als den schärfsten Ausdruck dieses Bestrebens - eine Welt von Dingen ansich angenommen, selbst wenn er sie für unerkennbar hielt, nur weil er die Erklärung der Vorstellungswelt außerhalb ihrer selbst suchen mußte, um sie - überhaupt zu erklären. Diese Hypostasierung der Denkformen hatte gerade bei LEIBNIZ ihren charakteristischsten Ausdruck gefunden: für ihn galt mit vollem Bewußtsein die "Möglichkeit", dieser blasse Abglanz, womit unser Denken um den Inhalt unserer Vorstellungen spielt, als der Urgrund aller Wirklichkeit. Diesen Dogmatismus hat KANT überwunden - die spätere deutsche Philosophie hat das zweifelhafte Verdienst, ihn von neuem "postuliert" zu haben. (7)

Der Begriff des "Dinges ansich" fällt damit in sich selbst zusammen und KANT erklärt: "Die Einteilung der Gegenstände in  Phaenomena  und  Noumena  und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt kann daher (8) gar nicht zugelassen werden." Denn die Annahme der Dinge ansich ist eine Fiktion, entstanden aus dem Versuch des Verstandes, die Grundform seiner eigenen Tätigkeit als Objekt der Vorstellung und der Erkenntnis zu betrachten: hier wie bei den Kategorien hat er nur die hohle Form der Funktion in reine Abstraktion vor sich, welche in Wahrheit nur Sinn hat, wenn sie sich im Material der Wahrnehmungsvorstellungen betätigt. Die Erkenntnistheorie hat deshalb mit Dingen ansich gar nichts zu tun: das Ding ansich ist das absolute Unding, "von welchem wir uns nicht die geringst Vorstellung seiner Möglichkeit machen können", "von welchem wir weder sagen können, daß es möglich, noch daß es unmöglich ist." Denn - hier begegnen wir dem alten Kriterium - das Ding ansich wäre nur denkbar in einer intellektuellen Anschauung, von deren Möglichkeit wir uns auch nicht die geringste Vorstellung machen können.

Nun ist jedoch nicht zu leugnen, daß der besprochene Passus der Kritik der reinen Vernunft diese Auffassung durchaus nicht allein zur Darstellung bringt. Durch dieselbe zieht sich vielmehr trotzdem die "problematische" Annahme von Dingen ansich hindurch und kommt an einzelnen Stellen ganz deutlich zum Vorschein. Hier hat KANT offenbar nur geringen "Fleiß auf den Vortrag" verwendet. Denn hier stehen die Widersprüche dicht nebeneinander. Der Redaktor der Kritik nahm eben - aus anderen Gründen - die Dinge ansich wieder an und suchte die Resultate der früheren Untersuchung in dieser Richtung zu verarbeiten. Und so wird man denn in diesem Teil der Kritik fortwährend zwischen drei Auffassungen hin und her geworfen: bald werden die Dinge ansich für etwas erklärt, was wir  nicht einmal denken können,  bald für etwas, was möglicherweise, obwohl uns durchaus unfaßbar, vorausgesetzt werden  kann,  bald für etwas, was wir zur Erklärung der Erscheinungswelt annehmen  müssen,  obwohl wir von ihm selbst nichts wissen können. Die erste dieser Auffassungen ist oben durch Beispiele belegt; es lassen sich zahlreiche anreihen, in denen es sich immer um den Nachweis dreht, daß die bloße Form der Verstandesfunktion, die Gegenständlichkeit, nicht selbst als Gegenstand angesehen werden darf. Die dritte Auffassung tritt und ganz naiv entgegen, wo es am Schluß der Lehre von der "Amphibolie" heißt, der Verstand müsse sich "ein transzendentales Objekt denken, das die Ursache der Erscheinung, mithin selbst nicht Erscheinung ist" und sie ist überhaupt die Gesamtauffassung der Kritik, welche sich auch in diesem Teil sich als durchgehende Grundansicht geltend macht. Den geringsten "Fleiß auf den Vortrag" hat KANT zweifellos bei der in diesem Sinne versuchten Verwendung des Wortes "Erscheinung" gezeigt. Daß aus dem Begriff der "Erscheinung" auf ein erscheinendes Ding ansich zurückgeschlossen werden müsse, findet sich nicht nur an der berüchtigten Stelle, wo erklärt wird, der Erscheinung müsse etwas "entsprechen", was selbst nicht Erscheinung sei, sondern leider noch einmal vorher in der freilich nur als problematisch eingeführten Argumentation im Anfang des in der zweiten Auflage gestrichenen längeren Passus (ROSENKRANZsche Ausgabe, Seite 206f). Wenn demnach JACOBI KANT vorwarf, im Anfang nenne er unter der Voraussetzung von Dingen ansich unsere Vorstellungsgegenstände Erscheinungen und nachher schließe er aus diesem Wort "Erscheinungen", daß ihnen Dinge-ansich entsprechen müßten, so war dieser Vorwurf formell durchaus richtig: aber zu meinen, daß ein KANT so geschlossen habe, wäre dann doch etwas zu ungeheuerlich und wir können deshalb nur annehmen, daß er, zur Annahme von Dingen ansich auf anderem Weg zurückgekehrt, in der Eiligkeit seiner Ausarbeitung dieses momentan plausible Argument nicht verschmähte.

Die zweite jener drei Auffassungen zeigt sich wesentlich in der Lehre vom  Noumenon  als Grenzbegriff. Auch diese hat schließlich ihren Grund im psychologischen Schema der Kritik. Die Einschränkung der Geltung der Kategorien auf die Erfahrung beruth darauf, daß dieselben nur in Verbindung mit Anschauungen Gegenstände produzieren können: da wir nur die sinnliche Anschauung besitzen und uns von einer anderen nicht einmal die Vorstellung ihrer Möglichkeit machen können, so existieren für uns Gegenstände nur in der Erfahrung. Wenn man sich nun aber trotzdem - und dieser Abschnitt verbietet es an ebenso vielen Stellen, als er es an anderen erlaubt findet - eine andere Art von Anschauung imaginiert und zwar eine intellektuelle, nicht sinnlich, so würde aus deren Verbindung mit den Kategorien das  Noumenon,  das Ding ansich, entspringen; und der Begriff des  Noumenon  bedeutet für KANT somit nur unser Bewußtsein davon, daß wir eben nur eine sinnliche Erkenntnis haben können. Sobald aber später KANT die Ansicht von der Notwendigkeit, Dinge ansich anzunehmen, gewonnen hatte, glaubte er in dieser Lehre vom Grenzbegriff wenigstens die theoretische Möglichkeit einer nicht sinnlichen Anschauung hervorheben zu können, ließ nur wiederum die Stellen des früheren Entwurfs stehen, in denen die Möglichkeit einer solchen Annahme bestritten war.

Im ursprünglichen Geist seiner theoretischen Entwicklung konnte das Ding ansich nur noch als  das  erscheinen, was es vom Standpunkt der Erkenntnistheorie in der Tat ist: eine völlig sinn- und nutzlose, deshalb verwirrende und störende Fiktion.  Die Unterscheidung von Ding ansich und Erscheinung ist unhaltbar.  Der Name "Erscheinung", der unter Voraussetzung der Dinge ansich gebildet war, ist zu verwerfen. Diese Konsequenz der Auflösung des Ding-ansich-Begriffes durch die Lehre von der Entstehung des "Gegenstandes" scheint unter den neueren Kantianern am klarsten STADLER gesehen zu haben ("Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie", §§ 64f, 81f), welcher das  Noumenon  als die letzte, aber "ungefährliche Phase der Ding-Jllusion darstellt.

Daß KANT diese radikalste Wendung durchgemacht hat, ist, da er 1780 wieder Dinge ansich annahm, nur indirekt zu erschließen: außer den Andeutungen, welche in dem soeben besprochenen, widerspruchsvollsten Teil der Kritik auftreten, gibt es dafür noch einen prinzipiellen Beweis in der Abwendung KANTs vom Psychologismus. Mit der Unterscheidung von Ding ansich und Erscheinung fielen nämlich auch die psychologischen Voraussetzungen seiner Untersuchungen zusammen. Der Gegensatz von Verstand und Sinnlichkeit als derjenige von Spontaneität und Rezeptivität setzt den "naiven Realismus" voraus, die Meinung, daß es für das erfahrende Subjekt zu rezipierende Objekte gibt. Die Erkenntnis, daß diese Meinung eine imaginäre ist, zerstört somit die Grundlagen der ganzen Untersuchung. Hier stieß KANT auf die fundamentale Einsicht, daß die Annahme von Subjekt und Objekt bereits eine Voraussetzung ist, welche die Erkenntnistheorie zu prüfen, aber nicht zugrunde zu legen hat. Die Beziehung unserer Vorstellungen auf ein vorstellendes Subjekt und auf ein vorzustellendes Objekt sind im reinen Tatbestand des Vorstellungsinhalts nicht enthalten, sondern bereits Deutungsversuche zur Erklärung der Vorstellungen, die eine durch die Kategorie der Kausalität, die andere durch diejenige der Substantialität vermittelt. Es soll nicht behauptet werden (denn es würde entschieden falsch sein), daß sich KANT der Gedanke in dieser Form aufgedrängt hätte: aber in irgendeiner Form muß er aus dieser Wendung der Gedanken den Schluß gezogen haben, daß die Kritik der reinen Vernunft jene psychologischen Voraussetzungen nicht machen dürfe, daß sie vielmehr ohne alle Vorurteile den bloßen Tatbestand des Vorstellungsinhaltes aufzufassen und aus ihm das Notwendige und Allgemeine herauszulösen habe. Hieraus folgte die wichtige Erkenntnis, daß der landläufige Begriff der Wahrheit als der "Übereinstimmung der Vorstellungen mit Gegenständen", da er bereits den naiven Realismus voraussetzt, zum Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie durchaus untauglich ist, daß vielmehr der Richtpunkt derselben in einem immanenten Vorstellungsverhältnis zu suchen ist: und hier trat ihm dann die "Allgemeinheit und Notwendigkeit" als das immanente Kriterium der Wahrheit entgegen und die gewonnene Einsicht in die Funktion der reinen Anschauungen wie der reinen Begriffe gab der Grundfrage der Erkenntnistheorie "Was ist Wahrheit" die Form: "Wie sind synthetische Urteile  a priori  möglich?" Unter diesem Gesichtspunkt mußte KANT den Versuch der psychologischen Methode in der Erkenntnistheorie selbst dann noch verwerfen, als er zur Annahme von Dingen ansich zurückgekehrt war: denn es durfte dieselbe natürlich nicht von vornherein vorausgesetzt werden.

Diese immanente Methode der Erkenntnistheorie wird nun mit Recht für die größte Leistung KANTs angesehen und sie ist eben die Konsequenz nur des Zweifels an der Berechtigung zu der auch nur problematischen Annahme von Dingen ansich. FORTLAGE, welcher ("Genetische Geschichte der Philosophie seit Kant") sie auf die Formel bringt, "alle Erkenntnisse in den Prozeß des Erkennens aufzulösen", bezeichnet sie als "vollendeten Skeptizismus". Sie verdient diesen Namen eben in Beziehung auf ihre radikalste Tendenz, daß sie nämlich  das  bezweifelt, was sonst als das Sicherste gilt, eine Welt jenseits der Vorstellungstätigkeit. Im Übrigen ist sie der volle Gegensatz gegen den Skeptizismus: die Lehre von der apriorischen Wahrheit als solcher. In neuerer Zeit hat RIEHL ("Der philosophische Kritizismus") diesen Charakter der kantischen Philosohie, daß sie eben diese Methode sei, mit besonderer Energie hervorgehoben, - mit Recht, sofern damit die originellste und bedeutendste, die großartigste und sicherste Entdeckung KANTs und der bleibende Grundstein der Erkenntnistheorie herausgeholt werden soll, - mit Unrecht, wenn damit die tatsächliche Entstehung und der Gesamteindruck der Kritik der reinen Vernunft bezeichnet sein soll. Denn diese läßt die entwickelte Methode nur in einer außerordentlich komplizierten Verschmelzung mit dem Psychologismus erscheinen, von welchem KANT ausgegangen war. Wenn man deshalb in der Methode einer metaphysisch und psychologisch voraussetzungslosen Erkenntnistheorie das tiefste Wesen des Kritizismus erblickt - wogegen nach KANTs eigenen Begriffsbestimmungen des Kritischen Nichts einzuwenden ist -, so muß man, da die Inauguraldissertation dieselbe noch nicht, die Kritik sie nicht mehr rein enthält, die paradoxe Behauptung hinnehmen, daß der wahre Kritizismus in keiner der Schriften KANTs zum vollen Austrag kommt, sondern nur einen, wenn auch den wichtigsten, der Übergangspunkte bedeutet, welche er zwischen 1770 und 1780 durchlaufen hat.

In dieser dritten Phase wird also das Ding ansich nur als eine grundlose, in keiner Weise zu realisierende Annahme betrachtet, vermöge deren die reine Form der Vorstellungsverknüpfung für die absolute Wirklichkeit gehalten werde. Selbst die Kategorien der Wirklichkeit des Seins der Realität sind nur Beziehungsformen innerhalb des Vorstellungsinhalts und die erkenntnis-theoretische Kritik hat deshalb die Aufgabe, voraussetzungslos die immanenten Beziehungen der Vorstellungen zu untersuchen und von Etwas, was die dogmatische Denkweise als außer der Vorstellung befindliche Realität etwa ansetzen sollte, ganz und gar zu abstrahieren.

Dieser Gedanke nun, daß außerhalb der Vorstellung nichts sei, worum sich die Wissenschaft zu kümmern habe, ist das Göttergeschenk KANTs an die Menschheit: allein der gemeinen Vorstellungsweise, welcher der Unterschied von Ding ansich und Vorstellung der allergeläufigste ist, mußte dieser Gedanke als  das  erscheinen, als was ihn JACOBI, der Vertreter derselben, bezeichnet: als Nihilismus. Und wenn in KANT selbst noch etwas von diesem allgemein menschlichen "Vorurteil" (wie es LOTZE nennt) vorhanden war, so mußte es sich gegen diese radikale Konsequenz seiner Untersuchungen sträuben. Hierauf scheint es bezogen werden zu müssen, wenn seine Briefe aus den Jahren 1776 und 1777 berichten, es habe sich allen seinen Untersuchungen ein Damm in Gestalt eines "Hauptgegenstandes" vorgeschoben, es liege ihrer Veröffentlichung noch immer die "Kritik der reinen Vernunft" "als ein Stein im Wege." Er mochte seiner eigenen Lehre gegenüber etwas vom Gefühl der GOETHEschen Verse haben:
    "Weh, weh, du hast sie zerstört,
    Die schöne Welt: ...
    Mächtiger der Erdensöhne,
    Prächtiger baue sie wieder,
    In deinem Busen baue sie auf!"
Auf welchem Grundriss hat er sie neu aufgebaut? Zweifellos auf demjenigen der Ethik: und hier scheint es nun, als ob auch in der theoretischen Entwicklung KANTs jenes praktische Bedürfnis entscheidend geworden wäre, welches GÖRING überhaupt der gesamten Entwicklung des kritischen KANT zugrunde legen will. Die vom Standpunkt des naiven Realismus aus als Nihilismus zu betrachtende Phase der Ding-ansich-Lehre stand auch im Widerspruch mit seiner moralphilosophischen Überzeugung, von welcher wir nach den Andeutungen der Inauguraldissertation und der Briefe annehmen müssen, daß sie sich schon im Anfang der siebziger Jahre aufgrund der allgemeinen Gegenüberstellung von Sinnlichkeit und Vernunft im Wesentlichen befestigt hatte. Danach unterschied KANT im Menschen ein sinnliches, in der Erfahrung erscheinendes und ein vernünftiges, über alle Erfahrung erhabenes, sittliches Wesen: und diese Überzeugung glaubte er durch die apriorische Gesetzgebung der praktischen Vernunft für so völlig gesichert ansehen zu dürfen, daß ihm eben im sittlichen Wesen des Menschen ein über alle Erfahrung Hinausragendes sicher gestellt zu sein schien. Wenn er mit dieser Überzeugung seine Untersuchungen über das Ding ansich verglich, so mußte er dem Gedanken nachgehen, ob denn nicht schließlich doch jener "problematische Verstand, der seine Gegenstände anschauend erzeugte" und dessen Denkbarkeit er anfänglich überhaupt geleugnet hatte, sich wenigstens als "möglich" herausstellte. Gelang das, so durfte sich die theoretische Vernunft mit der  Möglichkeit  des Dinges ansich begnügen; die praktische wußte dann wohl, es wirklich zu machen.

In der Verfolgung dieser Gedanken scheint nun die Lehre vom Grenzbegriff entstanden zu sein. Dabei wird besonders das Argument urgiert, es könne nicht behauptet werden, daß unsere sinnliche Anschauung die einzige überhaupt mögliche Anschauung sei und so könne im  Noumenon  das Objekt einer intellektuellen Anschauung wenigstens problematisch gedacht werden. Dieses Argument hat daher so viel Einleuchtendes, weil es eine Sache nicht nur der menschlichen Bescheidenheit, sondern auch der Erfahrung selbst ist, daß unsere Erfahrung niemals den gesamten Umfang des erfahrbaren Vorstellungsinhaltes umfaßt. Wenn deshalb die transzendentale Dialektik lehrt, daß "die Erfahrung niemals der Vernunft Genüge tun kann" und die Ideen als die Betrachtung der unvollendbaren Reihe des Bedingten unter dem Begriff des Unbedingten darstellt, so erweist sich das "Ding ansich" als ein  Grenzbegriff im quantitativen Sinne,  dabei zu gleicher Zeit bekanntlich als der absolute Begriff aller relativen Aufgaben der Erkenntnistätigkeit und in dieser Form dürfte er aufrechterhaltbar sein, insofern er eben gar keine metaphysische Annahme involviert. Indem aber KANT die Verschmelzung, in welcher sich bei ihm noch von 1770 her die Vorstellung vom Ding ansich als der unerfahrbaren Wirklichkeit mit derjenigen des  Noumenon  als des "Gedankendings" befand, zu der Fiktion eines Gegenstandes unsinnlicher Anschauung verwendete,  nahm ihm der Grenzbegriff einen qualitativen Sinn an,  so daß der Wesensunterschied von Ding ansich und Erscheinung wieder begründet erschien.

So kam es, daß auf diesem neuen Standpunkt sich für KANT der Gegensatz von Erscheinung und Ding ansich mit dem anderen von Sinnlich und Übersinnlich zu decken anfing. Jenes war die theoretische, dieses die praktische Wendung einer gemeinschaftlichen Überzeugung. Die Verschmelzung beider Unterscheidungen zeigt sich in einer bedeutsamen Neuerung der kantischen Terminologie. Früher war ihm immer die Metaphysik im Gegensatz zur Erfahrungswissenschaft die Wissenschaft aus Begriffen  a priori  gewesen; auch jetzt wird diese Bedeutung teilweise festgehalten und zeigt sich z. B. in den Bezeichnungen "Metaphysik der Sitten", "Metaphysik der Natur" etc. Daneben aber tritt eine engere Bedeutung des Wortes auf, wonach Metaphysik die "Lehre vom Übersinnlichen" ist. Die Folgen dieser Neuerung tragen weiter, als man vielleicht glaubt. So lange KANT das Ding ansich der Erfahrung gegenüberstellte, standen ihm innerhalb derselben äußerer und innerer Sinn gleichmäßig nebeneinander: sobald aber das Ding ansich den sittlichen Wert erhielt und als Übersinnliches (Geistiges, Vernünftiges) der Erfahrung als dem Sinnlichen gegenübertrat, wurde der "innere Sinn" gewissermaßen zwischen beiden erdrückt und je mehr sich in der Folgezeit KANT im Gegensatz von sittlicher und natürlicher Welt befestigte, umso mehr neigte er dazu, die Erfahrung ausschließlich als diejenige der äußeren Sinne anzusehen und den früher aufgenommenen inneren Sinn beiseite zu schieben: was ja eine bekannte Tatsache ist.

Es ist aus diesem Grunde nicht zu vermuten, daß KANT sich dieses neuen Standpunktes schon versichert hatte, als er die "Paralogismen" entwarf. Sie enthalten bekanntlich die Fortsetzung der "Amphibolie" und kritisieren die rationale Psychologie ebenso, wie diese die Ontologie. Hier werden nicht nur innerer und äußerer Sinn völlig parallel behandelt und gleichgestellt, sondern es fehlt jede Spur der später so wichtigen Entgegensetzung des Menschen als Sinnenwesen und als Vernunftwesen, welche Lehre doch bei der Kritik der Psychologie am allerersten hätte am Platz sein sollen. Der Grund dieses Fehlens ist leicht ersichtlich: die ganzen Paralogismen arbeiten noch an der Zerstörung des Begriffs der Seele als Ding ansich und stellen in einer Weise, welche der dritten Phase der Ding-ansich-Lehre durchaus entspricht, die Verknüpfung innerer und äußerer Erfahrung als die tiefste Erkenntnis der Psychologie dar. Die spätere Lehre betrachtete den Menschen, sofern er Vernunftwesen sei, als Ding ansich, sofern er Sinnenwesen sei, als Erscheinung: und diese beiden Auffassungen vertrugen sich eben nicht. Daß KANT dies später eingesehen hat. während es ihm 1780 entgangen zu sein scheint, lehrt die Umarbeitung, welche dieser Abschnitt in der zweiten Auflage erfahren hat; wie es denn überhaupt höchst charakteristisch ist, daß die Veränderungen der zweiten Auflage wesentlich die drei Abschnitte betreffen, deren Fassung in der ersten Auflage die Reste jener radikalen Wendung des Kritizismus aufbewahrt hatten: die transzendentale Deduktion, die Unterscheidung der  Phaenomena  und  Noumena,  die Paralogismen.

Erst in der "kritischen Auflösung der Antinomien" und zwar, wie bekannt, wesentlich der dritten Antinomie bricht die neue Auffassung vollständig durch. Der Mensch als Vernunftwesen ist Ding ansich, frei und die absolute Ursache seiner Erscheinung: als Sinnenwesen ist er Erscheinung, völlig bedingt und in Abhängigkeit von anderen Erscheinungen. Von der "Möglichkeit", welche durch den Grenzbegriff gewonnen werden sollte, wird nun schon der ausgiebigste Gebrauch gemacht; es gibt nicht nur Dinge ansich, sondern sie heißen auch die Ursachen der Erscheinung und sie sind sehr bekannt: es sind die "freien Charaktere" der Menschen. So glaubt KANT die Prämissen in der Hand zu haben, um den platonischen Mythos in begriffliche Form zu übersetzen und die Lehre vom intelligiblen und empirischen Charakter ist da. Weil es sich aber in diesem Lehrstück für KANT wesentlich um die Rettung der sittlichen Freiheit handelt, so wird man gut tun, diese vierte Physe seiner Ding-ansich-Lehre als seine "Freiheitslehre" zu charakterisieren, wie man es ja auch bei der entsprechenden, auf KANT fußenden Wendung SCHELLINGs zu tun pflegt. Diese nun genauer zu entwickeln, liegt keine Veranlassung vor: ihre Grundzüge sind nicht kontrovers und sie findet sich in jedem Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Sie ist der Standpunkt, von welchem KANT die Kritik der reinen Vernunft "zustande gebracht" hat, sie ist derjenige, welchen er im Wesentlichen nicht mehr geändert, sondern nur noch schroffer und einseitiger auszuprägen gewußt hat.

Wenn dieser Standpunkt darum der Schlußbearbeitung der Kritik der reinen Vernunft die Annahme der Dinge ansich nicht mehr anzweifelte und wenn trotzdem in das Werk alle die Gedankengänge hineingearbeitet wurden, deren Konsequenz zur Zertrümmerung des Ding-ansich-Begriffes geführt hatte, so begreift es sich, weshalb um dieses Grundbuch der deutschen Philosophie der Streit der Parteien sich gerade an der Lehre vom Ding ansich entzünden mußte. Denn ebensogut, wie JACOBI sagte, daß man ohne die Voraussetzung des Realismus nicht in die Kritik hineinkommen und mit derselben nicht darin bleiben könne, ebensogut hätte sich umgekehrt erwidern lassen, daß man ohne die Voraussetzung des Idealismus in die kritische Methode nicht eindrüngen, mit derselben aber in der Kritik der reinen Vernunft nicht bleiben könne. -

Was hier vorgetragen wurde, ist natürlich nicht mehr allein eine Hypothese, aber anderes besitzen wir überhaupt nicht über diese wichtigste Wendung in der Geschichte der neueren Philosophie und je mehr die Arbeit der wissenschaftlichen Philosophie der Gegenwart ihren Grund neu in KANT zu nehmen betrachtet, umso bedeutsamer mochte die Aufgabe erscheinen, sich der Wandlung seiner Gedanken bewußt zu werden. Es mag einer umfassenderen Darstellung vorbehalten bleiben, zu zeigen, wie der Prozeß, den KANT im entscheidenden Jahrzehnt seines Lebens durchgemacht zu haben scheint, typisch war für die Entwicklung der auf ihn folgenden philosophischen Bewegung. Auch eine eingehende Abschätzung des Wertes der vier Phasen seine Ding-ansich-Lehre ist nicht mehr dieses Orts: nur soviel möchte aus dem Obigen hervorgehen, daß die Vorzüge der Originalität und der Konsequenz sich gleichmäßig auf die dritte Phase vereinigen: auf die Lehre, wonach jenseits des Systems der Erfahrung nur, wie KANT sagt, der "leere Raum ist, den wir weder mit Anschauungen, noch mit Begriffen auszufüllen vermögen" und in welchem deshalb das Weltprinzip nur - die Phantasie sein kann.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Über die verschiedenen Phasen der Kantischen Lehre vom Ding-an-sich, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1877
    Anmerkungen
    1) Es würde hier zu weit führen, nachzuweisen, daß das Grundprinzip in KANTs praktischer Philosophie ein genau paralleler Gedanke ist. - F. A. LANGE hat das so formuliert: das Apriori ist das in der menschlichen Organisation Begründete.
    2) Der Nachweis des historischen Tatbestandes ist jedoch bei THIELE durch das Bestreben, die identitätsphilosophische Lehre von der intellektuellen Anschauung als die tiefste Wahrheit des Kritizismus nachzuweisen, nicht zu seinem Vorteil alteriert.
    3) Es muß übrigens hervorgehoben werden, daß, wo KANT in der Kritik die psychologische Methode ablehnt, er immer nur den Gedanken LOCKEs im Auge hat, die reinen Vernunftformen als Abstraktionsprodukte aus den sinnlichen Elementen der Seelentätigkeit zu begreifen: dem gegenüber will KANT diese reinen Formen als die ursprünglichen, aller Erfahrung vorhergehenden Bedingungen derselben nachweisen. Und daß dieser Nachweis nicht gleichfalls psychologischer Natur sei, hat er niemals ausdrücklich gesagt.
    4) Es ist das auch äußerlich höchst wahrscheinlich, da der Treatise von HUME bekanntlich ein völliges literarisches Fiasco machte, während erst die Essays seinen Ruhm begründeten. So war denn auch der Enquiry schon 1755 ins Deutsche übersetzt, während dies dem Treatise erst 1790 geschah.
    5) Daß KANT diesen Angriff nicht gekannt hat, geht zweifellos aus seinen Bemerkungen zur ersten Analogie der Erfahrung hervor, wo er, der Bewunderer HUMEs, ihn nicht hätte vergessen dürfen und wo er ausdrücklich sagt, daß zu allen Zeiten die Philosophen den Grundsatz von der Beharrlichkeit der Substanz behauptet, vorausgesetzt, aber nicht bewiesen hätten.
    6) Da die Substantialität die Grundform unserer sinnlichen Vorstellungswelt ist, so erklärt sich hieraus die oben erwähnte, auch im Ausdruck (Ding) hervortretende nahe Beziehung derselben zur Ding-ansich-Lehre.
    7) Am klarsten hat das wohl CHRISTIAN WEISSE ausgesprochen: bei ihm ist "Möglichkeit der tiefste metaphysische Begriff.
    8) Es ist offenbar ein wunderbar glückliches Versehen KANTs, daß dieser Satz in der Überarbeitung stehen geblieben ist. Die zweite Auflage hat sich denn auch beeilt, an der Stelle, wo die Note steht, einzuschieben "in positiver Bedeutung".