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HANS VAIHINGER
(1852-1933)
Die Philosophie des Als Ob
[2/5]

"Der traditionelle Kant, der Kant der historischen Lehrbücher, mit einem Wort: der Schul-Kant ist eben nicht der volle und ganze Kant. Um Kant ganz und voll zu verstehen, bzw. verstehen zu wollen, dazu gehört eben nicht bloß Verstand, sondern auch Mut. Und Kant selbst hat es vorhergesagt:  Ich bin mit meinen Schriften um ein Jahrhundert zu früh gekommen; nach hundert Jahren wird man sie erst recht verstehen." 

Vorbemerkungen zur Einführung

Ein Problem zum ersten Mal richtig und scharf zu stellen, das ist bekanntlich in der Geschichte der Wissenschaften oft von größerem Nutzen gewesen, als immer neue Lösungsversuche alter Probleme vorzunehmen. KANTs Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? hat mehr geistige Arbeit ausgelöst, als die systematischen Lehrbücher vieler seiner heute vergessenen Zeitgenossen. So sei denn auch hier gleich zum Eingang die Frage klar und scharf formuliert, welche in diesem Buch aufgeworfen wird:  Wie  kommt es, daß wir mit bewußtfalschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen?

Wir operieren mit "Atomen", obgleich wir wissen, daß unser Atombegriff willkürlich und falsch ist, und, was eben das Merkwürdige ist, wir operieren glücklich und erfolgreiche mit diesem falschen Begriff: wir kämen ohne ihn nicht so gut, ja überhaupt nicht zum Ziel. Wir rechnen mit dem "Unendlich-Kleinen" in der Mathematik, obgleich wir wissen, daß dies ein widerspruchsvoller, also gänzlich falscher Begriff ist. Aber wir wissen auch, daß wir ohne diesen falschen Begriff in der höheren Mathematik überhaupt nicht vorwärts kommen könnten, ja wir finden, daß er selbst in der Elementar-Mathematik unentbehrlich ist, wie gerade in diesem Buch nachgewiesen werden soll. Wir machen in den verschiedensten Wissenschaften sehr viele derartiger bewußtfalscher Annahmen und rechtfertigen sie damit, daß sie nützlich sind. Auch im praktischen Leben verfahren wir so: die Annahme der Willensfreiheit ist die notwendige Grundlage unserer sozialen und juristischen Ordnungen und doch sagt uns unser logisches Gewissen, daß die Annahme der Willensfreiheit ein logischer Nonsens ist. Aber darum geben wir jene Vorstellungen doch nicht auf: denn sie ist nützlich, ja unentbehrlich. Und in der Religion verfahren wir ebenso: logisch unhaltbare, ja unbedingt falsche Vorstellungsweisen behalten wir bei, obgleich wir ihre Falschheit durchschauen. Wir behalten sie bei, nicht etwa, weil sie uns "lieb" sind, nein, weil wir ihre Nützlichkeit und Unentbehrlichkeit zum richtigen Handeln erkennen. Wir kommen im theoretischen, im praktischen und im religiösen Gebiet zum Richtigen auf Grundlage und mit Hilfe des Falschen.

Daß dem so ist, das fiel dem Verfasser vor vielen Jahren zuerst im Gebiet der Mathematik, Physik und Chemie auf; er fand dann dasselbe Verfahren im Gebiet der Jurisprudenz und bald zeigte sich, daß auch vielfach in der Religion so verfahren werde: so kam die Synthese zustande, welche nun hier vorliegt, eine Synthese, welche im Verfahren des Mathematikers und des Theologen, des Physikers und des Juristen denselben Grundzug wieder erkennt.

Früh schon war dem Verfasser auch die Partikelverbindung "als ob" aufgefallen, deren geheimnisvolle Gedankenverschränkung ihn reizte; oft fand er da, wo eben jenes Operieren mit bewußtfalschen aber nützlichen Vorstellungen stattfand, gerade diesen oder einen ähnlichen Partikelkomplex, dessen grammatisch-logische Analyse dann gleichzeitig mit jener Synthese sich verband.

Da es sich um ein methodologisches Problem handelte, sah sich der Verfasser in den Lehrbüchern der Logik um, die ihn aber fast alle im Stich ließen. Nur bei  einem  fand er, nachdem er sich selbst schon durchgeholfen hatte, eine aufklärende, aufmunternde Bestätigung seiner eigenen Auffassung über die Fiktion, denn um eine solche handelt es sich bei den Als-Ob-Annahmen, und über ihren Wesensunterschied von der Hypothese. Es war LOTZE, dessen Namen daher hier auch dankbar erwähnt sei.

Aber wenn ein Name hier dankbar genannt werden muß, so ist es vor allem derjenige F. A. LANGEs, dessen "Geschichte des Materialismus" dem Verfasser den letzten Aufschluß und den höchsten Abschluß gab. Bei LANGE fand der Verfasser auch völliges Verständnis. Denn LANGE, dem der Verfasser seine Gedankengänge ausführlich brieflich entwickelt hatte, erwiderte ihm am 16. Mai 1875 (ein halbes Jahr vor seinem qualvollen Tod): "Wiewohl mich eine schwere Krankheit fast an jeder Korrespondenz verhindert, möchte ich Ihnen doch mit wenigen Worten meine volle Zustimmung zu dem von Ihnen ergriffenen Gedanken aussprechen. Ich bin sogar überzeugt, daß der von Ihnen hervorgehobene Punkt einmal ein Eckstein der philosophischen Erkenntnistheorie werden wird."


Gründe verschiedener Art sind dafür entscheiden gewesen, daß die so der Hauptsache nach schon vor einem Menschenalter entstandene Schrift erst jetzt noch zur Veröffentlichung gelangt: ja am Ende liegt eine Art Geschichtsteleologie darin, daß das Werk gerade jetzt erscheint, wo es vielleicht eher gehört wird und eher wirken kann, als wenn es in früheren Jahren ans Licht getreten wäre. Denn heute liegen vier wichtige Momente vor, welche sein Verständnis erleichtern, ja seine Einführung überhaupt wohl erst ermöglichen, Momente, die damals, im Jahre 1877, noch völlig fehlten.

Das eine Moment ist der  Voluntarismus,  der erst in den 80er und 90er Jahren um sich gegriffen und insbesondere durch PAULSENs und WUNDTs Wirksamkeit Verbreitung gefunden hat; andere voluntaristische Strömungen mehr FICHTEscher Art sind von EUCKEN einerseits, von WINDELBAND und RICKERT andererseits seitdem ins Leben gerufen worden. In den 70er Jahren, als das vorliegende Werk entstand, war von alldem noch nicht die Rede. Der Verfasser stand mit seinem Voluntarismus, den er außer FICHTE besonders SCHOPENHAUER sowie der Kampf-ums-Dasein-Lehre DARWINs verdankt, ganz isoliert. Seitdem ist der Primat des Willens (man kann auch sagen: der Wille der Primaten) immer mehr in den Vordergrund des Interesses getreten. Was also damals die Anerkennung dieses Werkes gehindert hätte, seine Fundierung auf den Willen, das kann ihm heute den Weg ebnen.

Das zweite ist  die biologische Erkenntnistheorie,  wie sie durch MACHs "Analyse der Empfindungen" (1886) und durch AVENARIUS "Kritik der reinen Erfahrung" (1888) begründet worden ist. Was an dieser Richtung von wirklich dauerndem Wert ist, das findet sich, wenigstens dem Prinzip nach, auch schon in dieser Schrift: einerseits die Erfassung der Erkenntnisprozesse als Lebensfunktionen und damit die Unterstellung der Denkprozesse unter die Gesetze der Lebensvorgänge und andererseits die Reduktion alles Seins und Geschehens auf Empfindungselemente als letztes uns Gegebenes. Die feinen, bedeutsamen Schriften MACHs, welche das Erkennen als eine ökonomische, dem Leben dienende Verarbeitung des Empfindungsmaterials analytisch betrachten, waren damals noch nicht erschienen; von AVENARIUS, der in seiner "Kritik der reinen Erfahrung" leider in Deduzieren und Schematisieren verfiel, war damals eben nur seine kleine Schrift erschienen: "Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes" (1876). Diese Schrift, deren eindringende Gedankengänge noch durch persönliche Unterredungen verstärkt wurden, konnte noch dankbar benutzt werden. Doch standen die Grundgedanken des vorliegenden Buches schon lange vorher fest und entstammen, wie schon vermeldet, ganz anderen Anregungen.

Das dritte Moment ist die  Philosophie von  FRIEDRICH NIETZSCHE, die in den 90er Jahren ihren Siegeslauf um die Welt begann. Als ich Ende der 90er Jahre NIETZSCHE las, dem ich bis dahin, durch falsche sekundäre Darstellungen abgeschreckt, fern geblieben war, erkannte ich zu meinem freudigen Erstaunen eine tiefe Verwandtschaft der ganzen Lebens- und Weltauffassung, die teilweise auf dieselben Quellen zurückgeht: SCHOPENHAUER und F. A. LANGE. Damals, als ich NIETZSCHE, diesen großen Befreier, kennen lernte, faßte ich den Entschluß, mein im Pult liegendes Werk, dem die Rolle eines Opus Postumum zugedacht war, doch noch bei Lebzeiten erscheinen zu lassen. Denn ich durfte nun hoffen, daß der Punkt, auf den es mir ankam, die Lehre von den bewußtfalschen, aber doch notwendigen Vorstellungen, eher Verständnis finden werde, da er auch bei NIETZSCHE sich findet: freilich bei ihm nur als  einer  der vielen Töne seiner reichen, polyphonen [mehrstimmigen - wp] Natur, bei mir als ausschließliches Hautprinzip, aber vielleicht darum auch klarer, konsequenter, systematischer. Ein besonderer Anhang (Seite 771-790) legt die Koinzidenzen [Übereinstimmungen - wp] in diesem Punkt dar. Die meisten Ausführungen NIETZSCHEs über dieses Problem stammen aus seiner späteren Zeit; aber es ist bemerkenswert, daß NIETZSCHEs grundlegende Äußerungen hierüber aus derselben Zeit stammen, aus den 70er Jahren, in denen auch die vorliegende Schrift entstanden ist.

Das vierte Moment ist der  Pragmatismus der erst seit einigen Jahren aufgekommen ist. Beim Pragmatismus muß man scharf die unkritischen Übertreibungen vom Wertvollen scheiden. Das Wertvolle des kritischen Pragmatismus, das besonders isolierten Denken allein Wert und Wahrheit zuschreibt. Der unkritische Pragmatismus dagegen ist ein erkenntnistheoretischer Utilitarismus schlimmster Art: was uns nützt, was uns hilft, das Leben zu ertragen, ist wahr, also sind die abergläubischsten Dogmen wahr, weil sie sich als Lebensstützen "bewährt" haben. Damit wird die Philosophie wieder zur  ancilla theologiae  [Magd der Theologie - wp], ja das Verhältnis ist sogar noch schlimmer: denn damit wird die Philosophie geradezu zur  meretrix theologorum  [Theologennutte - wp]. Aber es ist nun einmal so in der Welt, daß das Beste auch am schlimmsten mißbraucht werden kann. So hat der unkritische Pragmatismus einen richtigen Gedanken mißbrauch, der dem System von KANT angehört, was in dieser Schrift ebenfalls nachgewiesen worden ist (Seite 613 - 733). Es ist das der Gedanke, daß es Vorstellungen gibt, welche vom theoretischen Standpunkt aus direkt als falsch erkannt werden, die aber dadurch gerechtfertigt sind und darum als "praktisch wahr" bezeichnet werden können, weil sie uns gewisse Dienste leisten. Dies war wohl auch der Grundgedanke, der dem eigentlichen Vater des Pragmatismus, CHARLES SANDERS PEIRCE, im Jahr 1878 vorschwebte, als er die ersten Grundlinien dieser Richtung kurz skizzierte, also wieder genau um dieselbe Zeit, als das vorliegende Werk entstand, in welchem derselbe Grundgedanke zur Grundlage eines ganzen Systems der Erkenntnistheorie gemacht worden ist.


Dieses System,  die Philosophie des Als-Ob,  trifft somit jetzt mit günstigen Strömungen zusammen, und so ist es nicht verwunderlich, daß seit der Ausarbeitung dieses Werkes, aber eben natürlich ganz unbeeinflußt von demselben, verwandte Gedanken sich vielfach gezeigt haben, die nun in demselben ihre systematische Vereinigung und prinzipielle Begründung finden.

Schon im großen Werk von ERNST LAAS, "Idealismus und Positivismus" finden sich mannigfach zerstreut ähnliche Gedankengänge; überhaupt sei hier dieses trefflichen Mannes dankbarst gedacht, welcher diesem Werk, das ihm im Jahre 1877 im Manuskript vorgelegt wurde, lebhaftes Interesse und förderndes Verständnis entgegenbrachte. Auch in WUNDTs Logik findet sich Verwandtes, sowie auch in der "Einleitung in die Geisteswissenschaften" von DILTHEY, der auch in seinen Vorlesungen die Bedeutung der "Hilfsbegriffe" erörtert hat; Verwandtes findet sich ferner in MEINONGs Theorie der "Annahmen", in MARTYs Theorie des "Nichtrealen", bei HEINRICH MAIER, ("irreale Annahmen", "Jllusionsurteil" und ähnliches), in der von MACH beeinflußten "Einleitung in die Philosophie" von CORNELIUS, in den verschiedenen Schriften des hochverdienten Wiener Philosophen JERUSALEM, in der "Philosophie des Metaphorischen" von ALFRED BIESE, in der "Theorie der Grenzbegriffe" von B. KERRY, in der Abhandlung über kritischen "Anthropomorphismus der Wissenschaft" von ARTHUR LIEBERT, in J. M. BALDWINs Werk: "Das Denken und die Dinge" (Lehre von den "Schein- und Spielobjekten"); ferner in BENEDETTO CROCEs Lehre von den "Finzioni dell' anima", sowie bei P. CARUS, welcher mehrfach klar auf die Bedeutung des "as if" hingewiesen hat, außerdem bei BERGSON, CONTA, SPIR, SIMMEL, CASSIRER, L. STEIN, MAUTHNER, KONSTANTIN BRUNNER, SCHLESINGER, G. JACOBY, R. HAMANN u. a.

Auch in Schriften und Abhandlungen über naturwissenschaftliche Methodik finden sich vielfach analoge Gedankengänge, so besonders in THEODOR LIPPS' Abhandlungen über "Naturphilosophie" und "Poesie und Prosa in der Naturwissenschaft", in verschiedenen Schriften von JULIUS SCHULTZ, besonders in dessen Buch: "Die Bilder von der Materie", in FR. DREYERs "Studien zur Methodenlehre und Erkenntniskritik", (vgl. meine Rezension dieser Schrift in den "Kantstudien", Bd. X, Seite 190f), ferner auch besonders in verschiedenen Publikationen von P. VOLKMANN, speziell in der Rede über "Die Subjektivität der physikalischen Erkenntnis und die psychologische Berechtigung ihrer Darstellung", in HUGO DINGLERs Grenzen und Ziele der Wissenschaft". Für ihre speziellen Gebiete haben der Physiker HERTZ und der Chemiker O. LEHMANN die Methode des "Als-Ob" in Anspruch genommen, sowie der diese beiden Gebiete vereinigende OSTWALD. An erster Stelle ist aber natürlich hier MACH zu nennen, sowie die von ihm beeinflussten CORNELIUS, KLEINPETER, PETZOLD u. a. Zwei hochbedeutende Namen schließen diese Reihe, an deren Anfang sie ihrer Qualifikation nach zu setzen gewesen wären: POINCARÉ, dessen Werk "La Science et l'Hypothése" grundlegend geworden ist und ENRIQUES, dessen ebenfalls ins Deutsche übersetzte "Probleme der Wissenschaft" das Recht und den Nutzen der Phantasiegebilde in den exakten Wissenschaften überzeugend dartun.

Die beiden letztgenannten, besonders POINCARÉ, haben auch den Nutzen und das Recht fiktiver (und dabei widerspruchsvoller) Begriffe in der Mathematik erörtert; hierbei sind auch noch zu erwähnen die Franzosen COUTURAT und TARRY, der Italiener BELLAVITIS, der Engländer RUSSELL, der frühverstorbenes Deutsche HARNACK. Ich schließe diese Reihe mit einem der bedeutendsten, F. KLEIN.

In einem ganz heterogenen Gebiet, in der Ästhetik hat die "Philosophie des Als Ob" ebenfalls schon ihre Vertretung. Denn die Ästhetik hat das Glück, ein grundlegendes Werk zu besitzen, in welchem die Fiktion, die Als-Ob-Betrachtung unter dem Namen der "bewußten Selbsttäuschung" als Prinzip des künstlerischen Schaffens und Genießens dargestellt worden ist: es ist dies KONRAD LANGEs "Wesen der Kunst", eine mustergültige Darstellung des Als Ob in der Ästhetik, oder der Ästhetik des Als Ob. In demselben Sinne arbeiten GROOS, SAURIAU, PAULHAN und LALO.

In der Ethik, in welcher schon KANT, speziell in Bezug auf den Kategorischen Imperativ, die bedeutsame Rolle des "Als Ob" erkannt hat, ist jetzt vor allem ein Name zu nennen: G. MARCHESINI, dessen wichtiges Werk: Le Finzionie dell' anima" schon oben erwähnt worden ist.

Von Ästhetik und Ethik führen Verbindungslinien zur Religionsphilosophie, in der die Als-Ob-Betrachtung nun vollends ihre Triumphe feiert. Verschiedene Strömungen sind hier zu unterscheiden, so zunächst die Erneuerung des "symbolischen Anthropomorphismus" KANTs bei PAULSEN und seinen Schüler, besonders bei KONSTANTIN ÖSTERREICH, der den treffenden Ausdruck "bewußter Subjektivismus" dafür geprägt hat, die ebenfalls an KANT anknüpfende "Religion innerhalb der Grenzen der Humanität" bei NATORP und KINKEL, denen wohl auch SIMMEL anzureihen ist, ferner wohl HÖFFDING, sowie BONUS und ELIOT, die von NELSON begründete, mit KANT verwandte Neu-Fries'sche Richtung, z. B. bei RUDOLF OTTO, dem auch BOUSSET nahesteht, die an KALTHOFF sich anschließende liberale Theorie eines STEUDEL, TRAUB u. a. Diesen steht FR. LIPSIUS nahe mit seiner "Kritik der theologischen Erkenntnis", sowie CHRISTLIEB, auch die von STEINMANN begründete Zeitschrift "Religion und Geisteskultur". Wie sich in diesen eben genannten Bestrebungen überall Kantischer Einfluß zeigt, so ist dies in ganz besonders ausgesprochenm Maße der in dem von SABATIER begründeten "Symbolo-Fideismus" oder "Fideo-Symbolismus", der herrschenden Richtung des Protestantismus in Frankreich und in der Westschweiz: sie pflegt "le gout et l'intelligence de symboles" (SABATIER). Anhänger dieser sogenannten "Pariser Schule" sind unter anderem: E. STAPFER, CH. WAGNER, ROBERTY, MONNIER, FULLIQUET, CHAPONNIÉRE, vor allem aber M. MÉNÉGOZ. Ähnliche Ideen finden sich auch im sogenannten "Modernismus", der ja ebenfalls aus Kantischen Quellen gespeist ist und mit Kantischen Begriffen arbeitet; ausdrücklich wendet sich daher auch gegen diese Lehre von den "Fiktionen" der sogenannte "Antimodernisteneid". Hauptvertreter dieses modernistischen Symbolismus sind LE ROY und TYRELL, sowie Abbé HÉBERT.

Freilich haben sich die meisten dieser religionsphilosophischen Richtungen an die gemäßigte, nicht an die radikale Richtung in KANT angeschlossen. Sie fassen die Objekte der Kantischen Postulate Gott und Unsterblichkeit als Realitäten und betrachten die Dogmen als phantasievolle Anthropomorphismen jener unumstößlichen Wahrheiten. Aber bei KANT ist - und dies ist im vorliegenden Buch ausführlich bewiesen worden - daneben, bzw. darunter noch eine radikalere Unterströmung vorhanden: Dieser enthüllen sich jene Objekte selbst ebenfalls als Scheindinge, welche aber in der Als-Ob-Betrachtung ihre Wiederherstellung als notwendige Fiktionen finden. Daß dies der eigentliche und letzte Sinn der Kantischen Philosophie sei, haben in neuerer Zeit auch andere zu erkennen begonnen, so FITTBOGEN, E. LEHMANN, B. BAUCH, O. EWALD, SIMMEL, ELSENHANS, CHAMBERLAIN, K. OESTERREICH; sogar die sich unter einander bekämpfenden J. REINKE und H. SCHMIDT-Jena sind hier zu nennen. Der traditionelle KANT, der KANT der historischen Lehrbücher, mit einem Wort: der Schul-KANT ist eben nicht der volle und ganze KANT. Um KANT ganz und voll zu verstehen, bzw. verstehen zu wollen, dazu gehört eben nicht bloß Verstand, sondern auch Mut. Und KANT selbst hat es vorhergesagt: "Ich bin mit meinen Schriften um ein Jahrhundert zu früh gekommen; nach hundert Jahren wird man sie erst recht verstehen." Damit hat er eben seine "Als-Ob-Betrachtung" der Ideen gemeint.

Indem die "Philosophie des Als Ob" diesen radikalen KANT zur Geltung bringt, stellt sie sich auf Grund dieses Radikalismus auf die äußerste Linke, dahin, wo die so verpönten Aufklärer sitzen; aber von der "Aufklärung" im historischen Sinn scheidet sich die "Philosophie des Als Ob" eben als  idealistischer  Positivismus andererseits doch sehr scharf: denn sie erkennt ja eben (neben aller Mahnung zur kritischen Auslese) den hohen ästhetischen und ethischen Wert der religiösen Fiktionen an und tritt für deren Aufrechterhaltung mit Entschiedenheit ein; sie hält die religiösen Vorstellungen als schöne Mythen fest, nach deren "Wahrheit im gewöhnlichen Sinne zu fragen ebenso plebejisch ist, als deren "Wahrheit" in jenem gemeinen Sinn zu behaupten. So kann sie, die "Philosophie des Als Ob", allen jenen Unzähligen eine Lösung und Erlösung bringen, welche, einerseits durch die auflösende Kritik der Aufklärung irregemacht, andererseits scheu gemacht durch die starren Formeln der Orthdoxie, sich äußerlich und innerlich bedrängt fühlen. Die "Als-Ob-Betrachtung" kann ihnen inneren und äußeren Frieden bringen.

In dieser Hinsicht berührt sich die "Philosophie des Als Ob" direkt mit dem sogenannten  Neuidealismus.  Diese neuidealistische, neuromantische Strömung der Gegenwart, die Erneuerung FICHTEs, SCHELLINGs, HEGELs entspricht vor allem darum den Bedürfnissen der jetzigen Menschen, weil eben auch durch sie die religiösen Dogmen als vorstellungsmäßige, bildliche, anthropomorphischte Umhüllungen ethischer Gedanken wieder zur Geltung kommen, also nach unserer Sprache eben als nützliche, darum berechtigte, notwendige Fiktionen der Menschheit.

Den Nutzen und das Recht, ja die Notwendigkeit derartiger Fiktionen erkennt selbst der naturwissenschaftlich fundierte  Monismus  an, indem er z. B. bei BRUNO WILLE in dessen "Christusmythe" im Sinne eines germanischen Heiland zu den religiösen Mythen zurückkehrt: muß er sich doch selbst auch teilweise noch des Atommythus und anderer naturwissenschaftlicher Fiktionen bedienen.


Allen diesen verschiedenen Bestrebungen kann die  Philosophie des Als Ob  als Konzentrationspunkt dienen; denn hier wird, was dort zerstreut erkannt worden ist, auf ein gemeinsames Prinzip zurückgeführt. So findet die "Philosophie des Als Ob" eine günstige Lage vor; sie braucht ihr Prinzip nicht erst in die einzelnen Konsequenzen hinein zu erfolgen, sondern, sondern diese letzteren sind zum guten Teil schon vorhanden: so die Ästhetik des Als Ob, die Ethik des Als Ob, die Religion des Als Ob. Und so erkennt man denn auch, daß ein gemeinsames Band die Differentiale der Mathematik, die Atome der Naturwissenschaft, die Ideen der Philosophie uns sogar die Dogmen der Religion umschlingt - die Einsicht in die Notwendigkeit bewußter Fiktionen als unentbehrlicher Grundlagen unseres wissenschaftlichen Forschens, unseres ästhetischen Genießens, unseres praktischen Handelns.

Dieses gemeinsame Prinzip, diese zusammenfassende Erkenntnis nimmt den Namen eines  idealistischen Positivismus  für sich in Anspruch, in welchem die beiden Dinge, auf welche es überhaupt ankommt, gleichermaßen zur Geltung kommen:  Tatsachen und Ideale.  Insofern dieser Standpunkt bereits auch bei KANT sich findet und insofern die Darstellung der "Philosophie des Als Ob" durch eine ausführliche Darstellung des Kantischen Systems sich rechtfertigt, könnte sie sich nach KANT nennen; sie ist aber nicht von KANT selbst ausgegangen und zieht den ihrer Entstehung mehr entsprechenden Namen eines "idealistischen Positivismus" vor: sie ist  Positivismus,  indem sie mit aller Entschiedenheit und Offenheit einzig und allein im Gegebenen fußt, in den empirischen Empfindungsinhalten und bewußt und bestimmt alles nicht etwa bezweifelt (sie ist darum auch nicht Skeptizismus), sondern direkt leugnet, was darüber hinaus noch etwa auf Grund angeblicher intellektueller oder ethischer Bedürfnisse als "real" angenommen werden mag; aber die "Philosophie des Als Ob" ist andererseits doch  Idealismus,  indem sie die aus jenen intellektuellen und ethischen Bedürfnissen entstandenen "Ideen" anerkennt und herübernimmt als nützliche, wertvolle Fiktionen der Menschheit, ohne deren "Annahme" das menschliche Denken, Fühlen und Handeln verdorren müßte; in diesem Sinne ist sie eine "Phänomenologie" des ideenbildenden, fingierenden Bewußtseins. In so einem "idealistischen Positivismus" sind ja auch die beiden Richtungen vertreten, welche KANT in seinem Kritizismus vereinigen wollte. Hier treten diese aber in einer etwas anderen Kombination auf, welche den Anspruch erhebt, mindestens ebenso berechtigt zu sein, wie die anderen philosophischen Richtungen der Gegenwart. Ja, man wird ohne Überhebung sagen dürfen, daß ein solcher idealistischer Positivismus (oder wenn man lieber will: ein solcher positivistischer Idealismus) darum auch die Zukunft für sich hat, weil er  eben Tatsachen und Ideale in sich  vereinigt und zwar nicht nur derart, daß hier ein System der Erkenntnistheorie geboten wird, sondern derart, daß hierin auch die Keime zu einer vollbefriedigenden Welt- und Lebensanschauung enthalten sind. Diese Ansätze zur Entfaltung und zum Ausdruck zu bringen, muß der Verfasser denjenigen seiner Leser überlassen, in denen seine Ausführungen mit gleichgearteten und verwandten Gedankengängen, Gefühlslagen und Willenstendenzen zusammenzustoßen.
LITERATUR - Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob - System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig 1922