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AGNES SCHWARZE
Mainländers Philosophie
der Erlösung


"Wie leicht fällt der Stein aus der Hand auf das Grab des Selbstmörders, wie schwer dagegen war der Kampf des armen Menschen, der sich so gut gebettet hat. Erst warf er aus der Ferne einen ängstlichen Blick auf den Tod und wandte sich entsetzt ab, dann umging er ihn zitternd in weiten Kreisen; aber mit jedem Tag wurden sie enger miteinander und zuletzt schlang er die müden Arme um den Hals des Todes und blickte ihm in die Augen, und da war Friede, süßer Friede ..."

"Ich möchte ferner alle windigen Motive zerstören, welche den Menschen abhalten können, die stille Nacht des Todes zu suchen, und wenn mein Bekenntnis, daß ich ruhig das Dasein abschütteln würde, wenn die Todessehnsucht in mir um ein weniges noch zunimmt, die Kraft haben kann, den einen oder anderen meiner Nächsten im Kampf mit dem Leben zu unterstützen, so mache ich es hiermit."

Mit dem im Jahr 1886 erschienenen zweiten Band der "Philosophie der Erlösung" liegt uns jetzt ein System in seiner Abgeschlossenheit vor, in dem wir allem Anschein nach den letzten Ausläufer des pessimistischen Idealismus sehen dürfen. Schon von diesem Standpunkt aus dürfte ein nähere Eingehen auf diesen neuen Ausdruck unseres Zeitgeistes gerechtfertigt erscheinen, derselbe ist aber auch, abgesehen von einem eigenartigen und bei aller Verkehrtheit doch stets fesselnden Inhalt, dadurch lehrreich, daß er uns zeigt, wie bitter sich zuletzt das völlige Absehen vom HERBARTschen Realismus rächen muß.

Der große Umfang sowohl, welchen die beiden Bände der "Philosophie der Erlösung" einnehmen (623 und 653 Seiten), als auch der reiche Inhalt, den sie in einer ganzen Anzahl längerer und kürzerer Aufsätze und in meist knapper Sprache bringen, gestattet freilich nur ein Hervorheben der Hauptpunkte, wobei teils MAINLÄNDERs Werk selbst, teils die daraus gemachten Zusammenstellungen von MAX SEILING (Mainländer, ein neuer Messias. Eine frohe Botschaft inmitten der herrschenden Geistesverwirrung, München 1888) zugrunde gelegt werden sollen, es wird das aber auch vollständig genügen, um uns mit dieser Philosophie bekannt zu machen und uns ein Urteil über dieselbe zu ermöglichen.

Der erste Band, das eigentliche Hauptwerk, bringt nacheinander die Analytik des Erkenntnisvermögens, die Physik, Ästhetik, Ethik, Politik und Metaphysik, woran sich eine Kritik der Lehren KANTs und SCHOPENHAUERs schließt, während im zweiten Band zwölf kürzere Essays enthalten sind: 1. der Realismus, 2. der Pantheismus, 3. der Idealismus, 4. der Buddhismus, 5. das Dogma der Dreieinigkeit, 6. die Philosophie der Erlösung, 7. das wahre Vertrauen, 8. der theoretische Sozialismus, 11. Ährenlese, 12. Kritik der Hartmannschen Philosophie des Unbewußten.

Den Anfang macht MAINLÄNDER ganz richtig mit der Untersuchung des Erkenntnisvermögens und behandelt darin, nachdem er die Grenzen seiner immanenten Philosophie bestimmt hat, hauptsächlich die alten Probleme der Kausalität, des Raumes, der Zeit, der Materie und der Substanz, sowie die verschiedenen Tätigkeiten des Geistes.

Seine Philosophie bestimmt er gleich im ersten Satz als eine rein immanente:
    "Die wahre Philosophie muß rein immanent sein, d. h. ihr Stoff sowohl als ihre Grenze muß die Welt sein. Sie muß die Welt aus Prinzipien, welche in derselben von jedem Menschen erkannt werden können, erklären und darf weder außerweltliche Mächte, von denen man absolut nichts wissen kann, noch Mächte in der Welt, welche jedoch ihrem Wesen nach nicht zu erkennen wären, zu Hilfe rufen."
Mit großer Entschiedenheit wird die Ansicht von den reinen Raum- und Zeitanschauungen als Anschauungen a priori bekämpft.
    "In der Welt sind nur Kräfte, reine Räumlichkeiten gibt es in derselben überhaupt nicht, und der unendliche Raum existiert so wenig, wie die allerkleinste Räumlichkeit, will man eine solche erhalten, so muß man die sie erfüllende Kraft weg denken. Der Raum als Verstandesform ist ein Punkt, d. h. der Raum als Verstandesform ist nur unter dem Bild eines Punktes zu denken. Dieser Punkt hat die Fähigkeit (oder ist [sic!] geradezu die Fähigkeit des Subjektes), die Dinge-ansich, welche auf die betreffenden Sinnesorgane wirken, nach drei Richtungen hin zu begrenzen. Das Wesen des Raumes ist demnach die Fähigkeit, nach drei Dimensionen in unbestimmte Weite (in indefinitum) auseinander zu treten." (Seite 6)
Dies erscheint aber doch nicht ganz widerspruchsfrei, weil dadurch das erkennende Subjekt mit dem erkannten Objekt vermischt wird. Richtiger würde man sagen: Das Subjekt hat die Fähigkeit, die Dinge-ansich räumlich, d. h. in der Form des Nebeneinander und in bestimmter Begrenzung nach drei Richtungen hin anzuschauen, sowie mit dem Wegdenken des erfüllenden Inhalts die reinen Raumformen vorzustellen.

Auch die Zeit ist nicht etwas a priori Gegebenes und Reales, sie ist aber auch keine Verstandesform, wie der Raum, denn der Verstand hat nur eine Funktion, nämlich den Übergang von der Wirkung im Sinnesorgan zur Ursache, sie ist vielmehr eine Verbindung a posteriori der Vernunft, aber wie der Raum ein Punkt. Wie wir den Zeitbegriff durch eine Verbindung der Punktzeiten sowohl nach rückwärts wie nach vorne zu gewinnen, darüber spricht sich MAINLÄNDER in charakteristischer Weise wie folgt aus:
    "Lösen wir uns von der Außenwelt ab und verstecken wir uns in unser Inneres, so finden wir uns in einer kontinuierlichen Hebung und Senkung, kurz in einer unaufhörlichen Bewegung begriffen. Die Stelle, wo diese Bewegung unser Bewußtsein berührt, will ich den Punkt der Bewegung nennen. Auf ihm schwimmt (oder sitzt wie angeschraubt) die Form der Vernunft, d. h. der Punkt der Gegenwart. Wo der Punkt der Bewegung ist, da ist auch der Punkt der Gegenwart und dieser steht immer genau über jenem. Er kann ihm nicht voraneilen und er kann nicht zurückbleiben. Beide sind untrennbar verbunden. Prüfen wir nun mit Aufmerksamkeit den Vorgang, so finden wir, daß wir zwar immer in der Gegenwart sind, aber stets auf Kosten oder durch den Tod der Gegenwart; mit anderen Worten: wir bewegen uns von Gegenwart zu Gegenwart. Indem sich nun die Vernunft dieses Übergangs bewußt wird, läßt sie durch die Einbildungskraft die entschwindende Gegenwart festhalten und verbindet sie mit der entstehenden. Sie schiebt gleichsam unter die fortrollenden, fließenden, innigst verbundenen Punkte der Bewegung und der Gegenwart eine feste Fläche, an welcher sie den durchlaufenden Weg abliest und gewinnt eine Reihe erfüllter Momente, d. h. eine Reihe erfüllter Übergänge von Gegenwart zu Gegenwart. Auf diese Weise erlangt sie das Wesen und den Begriff der Vergangenheit. Eilt sie dann, in der Gegenwart verbleibend - denn diese kann sie nicht vom Punkt der Bewegung ablösen und vorschieben - der Bewegung voraus und verbindet die kommende Gegenwart mit der ihr folgenden, so gewinnt sie eine Reihe von Momenten, die erfüllt sein werden, d. h. sie gewinnt das Wesen und den Begriff der Zukunft. Verbindet sie jetzt die Vergangenheit mit der Zukunft zu einer idealen festen Linie von unbestimmter Länge, auf welcher der Punkt der Gegenwart weiterrollt, so hat sie die Zeit. Wie die Gegenwart nichts ist ohne den Punkt der Bewegung, auf dem sie schwimmt, so ist auch die Zeit nichts ohne die Unterlage der realen Bewegung. Die reale Bewegung ist vollkommen unabhängig von der Zeit, oder mit anderen Worten: Die reale Sukzession würde auch stattfinden ohne die ideale Sukzession. Wären keine erkennenden Wesen in der Welt, so würden die vorhandenen erkenntnislosen Dinge ansich doch in rastloser Bewegung sein. Tritt die Erkenntnis auf, so ist die Zeit nur eine Bedingung der Möglichkeit, die Bewegung zu erkennen oder auch: die Zeit ist der subjektive Maßstab der Bewegung." (Seite 14f)
So werden also Raum- und Zeitvorstellungen von MAINLÄNDER als etwas ganz Verschiedenes behandelt und die einen dem Verstand, die anderen der Vernunft zugeteilt, mit welchem Grund, läßt sich nicht recht einsehen, da den beiden wesentlich doch nur eine verschiedenartige Anordnung zugrunde liegt, nämlich die Form des Nebeneinander oder die des Nacheinander. Am richtigsten ist meines Erachtens noch die Erklärung der Zeit weggekommen, doch erscheint es mir nicht statthaft, den Begriff der Zukunft auf die Weise, wie es hier geschieht, entstehen zu lassen. Die Vernunft, die nur eine verbindende Tätigkeit haben soll, kann nicht ohne Weiteres in der Gegenwart bleibend der Bewegung vorauseilen, sie kann die Zukunft allererst auch nur aus der Verbindung der schon vorhandenen Punkte gewinnen, indem sie in der Erinnerung bis zu einem Punkt der Vergangenheit zurückgeht und diesen mit denjenigen, welche darauf folgten, verbindet. So gewinnt offenbar das Kind den Begriff der Zukunft, zunächst des Morgen, nachdem es mehrere Male mit der Erfüllung eines Wunsches von einem auf den anderen Tag vertröstet worden ist. Ist so aus der Erfahrung der Begriff der Zukunft gewonnen worden, dann erst kann er auch von der Gegenwart aus in Anwendung gebracht werden. Eine unendliche Zeit gibt es nach MAINLÄNDER ebensowenig außerhalb unseres Kopfes, wie als reine Anschauung a priori in unserem Kopf. Das gegen die reinen Raum- und Zeitanschauungen Gesagte ist ja allerdings vollständig richtig, nur ist es durchaus nichts Neues, da bekanntlich gerade hierin längst von HERBART und seinen Nachfolgern an KANT Kritik geübt worden ist und die reinen Raum- und Zeitanschauungen a priori, sowie die reinen Räume und Zeiten als Realitäten für hinfällig erkannt worden sind. Es ist deshalb ein Zeichen eigentümlicher Bekanntschaft in der Geschichte der neueren Philosophie, wenn SEILING Seite 21 sagt:
    "Die Erforschung der wahren Natur des Raumes und der Zeit, insbesondere die damit verbundene Vernichtung der Hirngespinste  unendlicher Raum  und  unendliche Zeit  muß allein schon als eine erlösende Tat MAINLÄNDERs bezeichnet werden."
Als eine zweite Form des Verstandes wird die Materie erkannt.
    "Ihr steht vollkommen unabhängig die Summe der Wirksamkeiten eines Dings-ansich oder mit einem Wort die Kraft gegenüber. Insofern eine Kraft Gegenstand der Wahrnehmung eines Subjekts wird, ist sie Stoff, hingegen ist jede Kraft unabhängig von einem wahrnehmenden Subjekt, frei von Stoff und nur Kraft."
Der Begriff der Materie erhält dann seine weitere Erklärung und seine Ergänzung durch den hinzutretenden Begriff der Substanz, wenn es heißt:
    "Jede Wirkungsart eines Dings ansich wird, insofern sie die Sinne für die Anschauung, Gesichts- und Tastsinn, affiziert, von der Verstandesform Materie objektiviert, d. h. sie wird für uns materiell ... und ist deshalb die Materie das ideelle Substrat aller sichtbaren Objekte, welches an und für sich qualitätslos ist, an welchem aber alle Qualitäten erscheinen müssen, ähnlich wie der Raum ausdehnungslos ist, aber alle Kraftsphären umzeichnet. Infolge dieser Qualitätslosigkeit des idealen Substrates aller sichtbaren Objekte wird der Vernunft ein gleichartiges Mannigfaltiges dargereicht, welches sie zur Einheit der Substanz verknüpft. Die Substanz ist mithin, wie die Zeit, eine Verbindung a posteriori der Vernunft aufgrund einer apriorischen Form." (nämlich der Materie)
Besonderen Wert sehen wir auf die Untersuchung der kausalen Verhältnisse gelegt. Als solche werden gefunden das Kausalitätsgesetz, die allgemeine Kausalität und die Gemeinschaft oder Wechselwirkung. Im Anschluß an das Kausalitätsgesetz, die alleinige Funktion des Verstandes, wird auch die Realität der Außenwelt behauptet.
    "So gewiß das Kausalitätsgesetz in uns und zwar vor aller Erfahrung liegt, so gewiß ist auf der anderen Seite die vom Subjekt unabhängige Existenz von Dingen ansich, deren Wirksamkeit den Verstand allererst in Funktion setzt."
Damit ist freilich die Realität der Außenwelt wohl behauptet, aber nicht bewiesen, denn wer sagt uns, daß die Dinge, welche den Verstand in Tätigkeit setzen, außer uns und nicht irgendwie in uns liegen. Die Realität der Außenwelt läßt sich, wie wir wissen, nur auf dem Weg der realistischen Metaphysik beweisen, von der aber hat unser Philosoph, wie das namentlich aus dem Essay über den Realismus und aus manchen anderen Stellen hervorgeht, auch nicht die geringste Ahnung. Er kennt nur den plumpen Realismus, der alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, für Wirklichkeit hält. Von den Kausalitätsreihen, welche die Verknüpfung der Wirklichkeit der Dinge-ansich sind, werden die mit Hilfe der Zeit gewonnenen Entwicklungsreihen unterschieden, welche es mit dem Sein eines Dings-ansich und seinen Modifikationen zu tun haben.

Für die Erkenntnisvermögen, deren Zusammenfassung der menschliche Geist ist, wird folgendes Schema aufgestellt.

Geist
|
Vernunft
Urteilskraft Gedächtnis Einbildungskraft
Verstand
|
Sinne

und dabei ausdrücklich erklärt, daß alle Formen und Funktionen des Erkenntnisvermögens nur für die Erkennbarkeit, nicht für die Erzeugung der Außenwelt aus nichts da sind.

Als besonders tiefsinnig erscheinen SEILING (Seite 27) die Schlüsse MAINLÄNDERs, daß der einzige Weg, der in die Vergangenheit der Dinge führt, nämlich die Aufstellung von Entwicklungsreihen, alle organischen Kräfte auf die einfachen chemischen Kräfte zurückführt, daß man jedoch auf immanentem Gebiet niemals über die Vielheit hinauskommt, andererseits weist die Vernunft auf die Notwendigkeit einer einfachen Einheit hin, daß sie ihre Funktion, das mannigfaltige Gleichartige zu verbinden, auf die verschiedenartige Wirksamkeit der im tiefsten Grund wesensgleichen Kräfte anwendet. Hier ist die Anerkenntnis richtig, die aber nicht MAINLÄNDERs Entdeckung ist, daß man auf immanentem Gebiet nicht über die Vielheit hinauskommt. Ebenso ist richtig, daß vom erkennenden Subjekt das mannigfaltige Gleichartige zur Einheit verbunden wird; alles andere aber ist falsch. Zunächst darf man doch nicht daraus, daß wir gewohnt sind, das mannigfaltige Gleichartige zur Einheit zusammenzufassen, den Schluß machen, daß nun alles in Wirklichkeit auch eins ist oder eins gewesen ist. Diesen Schluß aber macht MAINLÄNDER ganz unbegründet, wenn er sagt:
    "In diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg: In der Vergangenheit befinden wir uns bereits. So lassen wir dann die Kräfte, die wir nicht anrühren dürfen, wenn wir nicht Phantasten werden wollen, auf transzendentem Gebiet zusammenfließen. Es ist ein vergangenes, gewesenes, untergegangenes Gebiet, und mit ihm ist auch die einfache Einheit vergangen und untergegangen."
Der letzte Satz bringt das eigentlich Neue in der "Philosophie der Erlösung" und bildet mit dem individuellen Willen zum Leben, bzw. zum Tod, die beiden Grundpfeiler, welche das ganze übrige System tragen. MAINLÄNDER ist sich auch der Bedeutung jenes Satzes für seine Lehre sehr wohl bewußt und legt darauf den größten Wert, indem er sagt:
    "Die Scheidung des immanenten vom transzendenten Gebiet ist meine Tat und mein Trost im Leben und Sterben."
Ich lasse zunächst diesen Fundamentalsatz von der untergegangenen Einheit, welchen nach MAINLÄNDER kein anderes Prädikat als das der Existenz zuzuschreiben ist, auf sich beruhen und mache nur darauf aufmerksam, daß man in die Vergangenheit der Dinge nicht, wie das hier getan wird, durch Entwicklungsreihen, sondern nur durch Kausalitätsreihen und der Untersuchung der metaphysischen Grundbegriffe des Seins, der Inhärenz und der Veränderung gelangen kann. Dazu ist das Dilemma, welches MAINLÄNDER in der auf immanentem Gebiet bestehenden Vielheit und der von der Vernunft geforderten einfachen Einheit sieht, gar nicht vorhanden, denn abgesehen davon, daß die Vernunft kraft ihrer verbindenden Tätigkeit nur das wirklich Gleichartige zur Einheit des Gattungsbegriffs zusammenfaßt, kommen wir ja nach unserem Verfasser selbst gar nicht über das immanente Gebiet hinaus. Hat man aber doch das Bedürfnis, über die bestehende Vielheit und das immanente Gebiet hinaus zu einer letzten Einheit als Ursache alles Seienden zu gelangen, so ist dies jedenfalls auf dem Weg einer Entwicklungsreihe metaphysisch unmöglich, da aus einer wirklichen einfachen Einheit sich keine Vielheit entwickeln kann.

Ehe wir zur Metaphysik übergehen, möge ein Überblick über die Physik, mit welcher sich der zweite Abschnitt beschäftigt, folgen.

Den Ausgang nimmt dieselbe von dem in der Analytik gewonnenen realen individuellen Willen zum Leben. In Bezug auf denselbe sagt MAINLÄNDER:
    "Wir haben ihn im innersten Kern unseres Wesens erfaßt als das der Kraft zugrunde Liegende, und da alles in der Natur ohne Unterlaß wirkt, Wirksamkeit aber Kraft ist, so sind wir zu schließen berechtigt, daß jedes Ding ansich ein individueller Wille zum Leben ist."
Diese Gleichsetzung eines Zustandes (nämlich des Begehrens, Strebens, Wollens), in welchem sich unser Inneres befindet, mit unserem Wesen selbst, sowie der Übergang vom menschlichen Innenleben auf die vielen anderen von demselben gänzlich sich unterscheidenden Gegenstände der Natur, z. B. ein Tier, eine Pflanze, ein Mineral, ist zwar ein durchaus willkürlicher und unberechtigter, wer sich aber völlig auf SCHOPENHAUERschen Boden stellt, im Willen zum Leben das Ding-ansich sieht und den Willen mit der Bewegung gleichstellt, während doch beide auf verschiedene Weise in einem Kausalverhältnis stehen, indem teils der Wille von etwas anderem, teils etwas anderes durch den Willen in Bewegung gesetzt wird, dem muß sich freilich alles in der Natur auf eine verschiedenartige Bewegung zurückführen lassen. Auf diese Weise erhält MAINLÄNDER vier sogenannte Ideen im allgemeinen, nämlich
    1. die chemische Idee (ungeteilte Bewegung),

    2. die Idee der Pflanze (Wille gespalten, der ausgeschiedene Teil, das Organ, hat nur Irritabilität),

    3. die Idee des Tieres (weitere Spaltung in Irritabilität und Sensibilität),

    4. die Idee des Menschen (durch weitere Spaltung ist das Denken in Begriffen entstanden).
Jedes einzelne Ding ist, insofern von seinem besonderen Wesen die Rede ist, eine Idee schlechthin, und gibt es also so viele Ideen, als es überhaupt Individuen gibt.

Hier ist der Punkt, an welchem sich auch MAINLÄNDERs Psychologie, der keine besondere Abhandlung gewidmet ist, in sein System einreiht. Wie der menschliche Leib selbst nur die durch die Erkenntnisformen gegangene Idee  Mensch  ist, so sind auch die Organe desselben nur Objektivationen einer bestimmten Willensbestrebung.
    "So ist das Gehirn die Objektivation der Bestrebung des Willens, die Außenwelt zu erkennen, zu fühlen und zu denken; so sind die Verdauungs- und Zeugungsorgane die Objektivationen seines Strebens, sich im Dasein zu erhalten."
Die Haltlosigkeit dieser das tatsächliche Verhältnis geradezu umkehrenden Lehre, insofern ja die Organe das betreffende Streben erst ermöglichen, ist schon von THILO (Über Schopenhauers ethischen Atheismus, Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. VII, Seite 321) hinreichend besprochen worden, daß ich mich mit dem Hinweis darauf begnügen kann.

Ein Weiterleben des Individuums, eine neue Bewegung desselben kann nur durch die Nachkommenschaft stattfinden, so daß, wenn sich dasselbe nicht durch die Zeugung verjüngt hat, mit dem Tod die Idee vernichtet ist. Dieser Satz widerspricht jedoch der Lehre, daß der Leib nur die Objektivation der Idee ist, denn eine völlige Vernichtung der Idee könnte folgerichtigerweise nur mit der völligen Vernichtung des Leibes stattfinden. Nun denke man an die ägyptischen Mumien, und selbst bei vollständigem Zerfall bleibt doch der Staub, auch wenn er in alle vier Winde getragen wird. Aber MAINLÄNDER macht dergleichen keine Bedenken, ja nach seine Auffassung, wonach das Sein nur Wille, d. h. Bewegung ist, muß selbst der folgende Satz noch vernünftig erscheinen:
    "In demselben Augenblick, wo ein Stück Eisen z. B. seine innere Bewegung, die doch das einzige Merkmal des Lebens ist, verlöre, würde es nicht etwa zerfallen, sondern tatsächlich zu Nichts werden!?"
In einen schroffen und unversöhnlichen Widerspruch gegen den Fundamentalsatz der Physik wie der Metaphysik stellt sich unser Philosoph durch seine Lehre von der Schwächung der Kraft. Ist nämlich im Kampf der Ideen eine derselben geschwächt,
    "so ist die im Weltall objektivierte Kraftsumme geschwächt, und für diesen Ausfall gibt es keinen Ersatz, weil eben (?) die Welt endlich ist und mit einer bestimmten Kraft ins Dasein trat."
Nachdem MAINLÄNDER noch auf die Trennung des vorweltlich allein existierenden Gebietes vom jetzigen hingewiesen hat, wodurch der Atheismus von ihm zuerst wissenschaftlich begründet worden ist, bestimmt er die ehemalige transzendente Einheit wie folgt:
    "Jetzt haben wir das Recht, diesem Wesen den bekannten Namen zu geben, der von jeher das bezeichnete, was keine Vorstellungskraft, kein Flug der kühnsten Phantasie, kein abstraktes noch so tiefes Denken, kein gesammeltes, andachtsvolles Gemüt, kein entzückter, erdenentrückter Geist je erreicht hat: Gott. Aber diese einfache Einheit ist gewesen, sie ist nicht mehr. Sie hat sich, ihr Wesen verändernd, voll und ganz zu einer Welt der Vielheit zersplittert. Gott ist gestorben, und sein Tod war das Leben der Welt."
Aus dieser ursprünglichen Einheit und ihrem Zerfall in die Vielheit wird zuletzt auch noch die Zweckmäßigkeit in der Welt abgeleitet:
    "Jeder gegenwärtige Wille erhielt Wesen und Bewegung in dieser einheitlichen Tat, und deshalb greift alles in der Welt ineinander: sie ist durchgängig zweckmäßig veranlagt."
So richtig nun die Anerkennung der durchgängigen Zweckmäßigkeit ist, so unmöglich und verkehrt ist die Ableitung derselben von einer zersplitterten Einheit, daraus würde höchstens die Gleichartigkeit der einzelnen Teile und die Möglichkeit ihrer Vereinigung folgen.

MAINLÄNDER Behauptung ist etwa ebenso richtig, wie die, daß ein aus Quadersteinen erbauter Dom darum so zweckmäßig und künstlerisch vollendet ist, weil die einzelnen verwandten Steine durch die Zersplitterung ein und desselben Felsens gewonnen wurden. Die Analogie der menschlichen Verhältnisse läßt uns vielmehr auf einen lebendigen, denkenden und Zwecke setzenden Schöpfer schließen.

Durch den Zerfall der einfachen Einheit werden wir nun aber schon auf das metaphysische Gebiet gewiesen, von welchem auch MAINLÄNDER die Ergänzung seiner Physik ableitet. Hier wird zunächst das Zugeständnis gemacht, daß wir die immanenten Prinzipien, Wille und Geist, nicht als konstitutive, sondern nur als regulative Prinzipien auf das vorweltliche Wesen übertragen können, d. h. daß wir die Entstehung der Welt nur so auffassen dürfen, als ob sie ein motivierter Willensakt war. Von diesem Gesichtspunkt aus werden dann folgende Ergebnisse gewonnen:
    1. Gott wollte das Nichtsein.

    2. Sein Wesen war das Hindernis für den sofortigen Eintritt in das Nichtsein.

    3. Das Wesen mußte zerfallen in eine Welt der Vielheit, deren Einzelwesen alle das Streben nach dem Nichtsein hatten.

    4. In diesem Streben hindern sie sich gegenseitig, sie kämpfen miteinander und schwächen auf diese Weise ihre Kraft.

    5. Das ganze Wesen Gottes ging in die Welt über in veränderter Form, als eine bestimmte Kraftsumme.

    6. Die ganze Welt, das Weltall, hat ein Ziel, das Nichtsein, und erreicht es durch eine kontinuierliche Schwächung seiner Kraftsumme.

    7. Jedes Individuum wird, durch Schwächung seiner Kraft, in seinem Entwicklungsgang bis zu dem Punkt gebracht, wo sein Streben nach Vernichtung erfüllt wird. -
Die eigentliche Triebkraft aller Entwicklung ist also, wie wir sehen, in allen Fällen der Wille zum Tod, der freilich äußerlich meist vom Willen zum Leben, der aber auch nur den Entwicklungsprozeß beschleunigen hilft, verhüllt erscheint. So heißt es bei SEILING Seite 78:
    "Während in der Pflanze noch neben dem Willen zum Tode der Wille zum Leben steht, steht beim Tier der Wille zum Leben vor dem Willen zum Tod und verhüllt ihn ganz: das Mittel ist vor den Zweck getreten. So will auf der Oberfläche das Tier nur das Leben, ist reiner Wille zum Leben und fürchtet den Tod, den es auf dem Grund seines Wesens allein will. Denn frage ich auch hier, könnte das Tier sterben, wenn es nicht sterben wollte?"
Die letzte Frage ist mit einer so verblüffenden Sicherheit getan, daß man im ersten Augenblick in Versuchung kommt, jeden Widerspruch dagegen zu unterdrücken. Wer aber nur etwas darüber nachdenkt, der kommt allerdings sehr bald zum Bewußtsein der hier zutage tretenden Willkür und Phrasenspielerei. Stellt man sich nämlich zunächst auf den Standpunkt des natürlichen gesunden Menschenverstandes, und ich meine, das sollte auch in der Philosophie heute viel mehr geschehen, als es geschieht, dann wird man einfach sagen können, daß es den Tieren, welche z. B. von anderen Tieren oder von Menschen getötet werden sollen, gar nicht einfällt, sterben zu wollen, daß wenigstens durchaus nichts darauf hindeutet; und die Frage: könnte das Tier sterben, wenn es nicht sterben wollte? muß hier jedenfalls ebenso absurd erscheinen, wie mit Rücksicht auf den Menschen. Oder will etwa eine Maus, auch nur auf dem Grund ihres Wesens, den Tod, wenn sie in die Gewalt einer Katze gefallen ist oder ein Schlachttiert, wenn es zum Schlachthaus geleitet wird, ein Vogel, wenn der Schuß des Jägers ereilt? Vermutlich so wenig, wie ein Mensch, einige Ausnahmen abgerechnet, den man zur Richtstätte abzuführen im Begriff steht. Verläßt man dagegen den Standpunkt des natürlichen Menschenverstandes und stellt sich auf den unseres Philosophen, so bekommt man etwas höchst Selbstverständliches und Banales. Denn ist der Wille nichts anderes als Bewegung, so ist eben das Leben eines tierischen Organismus allerdings eine Bewegung zum Tod hin, und je mehr sich scheinbar das Leben entwickelt, desto mehr nähert sich das sterbliche Individuum dem Tod. Diese Bewegung oder Entwicklung hat aber durchaus nichts mit dem zu tun, was die Menschen seit Jahrtausenden mit dem Ausdruck "Wille" zu bezeichnen pflegen, und man kann ihn nicht, wie MAILÄNDER dies beim Übergang zum Menschen tut, mit der Todessehnsucht oder einer Todesfurcht irgendwie in Beziehung setzen. Es ist das freilich ein Unfug, der oft genug von denjenigen begangen wird, welche über philosophische oder theologische Fragen handeln, daß sie Bezeichnungen, welchen ein ganz bestimter Begriffsinhalt eignet, in einem völlig anderen Sinn gebrauchen und auf diese Weise eine heillose Verwirrung namentlich in den Köpfen von Laien anrichten.

Welche Gewalttätigkeiten und Willkürlichkeiten muß sich beispielsweise der höchste aller Begriffe, der Gottesbegriff, wie wir das vorher gesehen haben, gefallen lassen.

Als das Mittel, zum absoluten Tod und damit zur Erlösung zu gelangen, wird die Virginität empfohlen:
    "Machtvoll lodert die Sehnsucht nach dem Tod auf, und ohne Zaudern ergreift der Wille, in moralischer Begeisterung, das bessere Mittel zum erkannten Zweck, die Virginität. Ein solcher Mensch ist die einzige Idee in der Welt, welche den absoluten Tod, indem sie ihn will, auch erreichen kann."
Es ist nur eine Konsequenz seines Systems, wenn MAILÄNDER schließlich ganz unverblümt den Selbstmord lehrt, worin sein Schüler SEILING, der alles, was sein Meister sagt, als absolute Wahrheit anbetet und alle, welche nicht der gleichen Überzeugung sind, für philosophisch rohe oder böswillige Widersacher erklärt, eine Berichtigung SCHOPENHAUERs erkennt, welcher den Selbstmord noch für zwecklos erklärt hat. "Wie leicht", sagt MAINLÄNDER, "fällt der Stein aus der Hand auf das Grab des Selbstmörders, wie schwer dagegen war der Kampf des armen Menschen, der sich so gut gebettet hat. Erst warf er aus der Ferne einen ängstlichen Blick auf den Tod und wandte sich entsetzt ab, dann umging er ihn zitternd in weiten Kreisen; aber mit jedem Tag wurden sie enger miteinander, und zuletzt schlang er die müden Arme um den Hals des Todes und blickte ihm in die Augen, und da war Friede, süßer Friede ..." Unser Philosoph geht sogar so weit, daß er sich für seine Selbstmordtheorie nicht nur auf BUDDHA, sondern auch auf CHRISTUS stützt, dessen Moral nichts als eine Anbefehlung langsamen Selbstmordes ist, und er schließt dann diesen ganzen Abschnitt mit dem Satz, der sein eigenes nahes Ende vorbereitete: "Ich möchte ferner alle windigen Motive zerstören, welche den Menschen abhalten können, die stille Nacht des Todes zu suchen, und wenn mein Bekenntnis, daß ich ruhig das Dasein abschütteln würde, wenn die Todessehnsucht in mir um ein weniges noch zunimmt, die Kraft haben kann, den einen oder anderen meiner Nächsten im Kampf mit dem Leben zu unterstützen, so mache ich es hiermit." Kurze Zeit darauf zog MAINLÄNDER dann in der Tat die praktischen Folgerungen seiner Lehre, wie SEILING bewundernd ausruft (Seite 85, Anm.):
    "Ein leuchtendes Beispiel in der fernsten Zukunft, erfaßte er verklärt und ruhevoll das von ihm gelehrte Ziel des Weltprozesses,"
oder wie es in der Einleitung (Seite 6) heißt:
    "Gleich Sokrates und Christus drückte er mit dem freiwilligen Tod seiner großen Lehre das Siegel auf!"
Als ob der freiwillige, durch nichts aufgezwungene oder gebotene Selbstmord MAINLÄNDERs, den man im günstigsten Fall doch nur als die Folge einer fixen Idee bezeichnen könnte, mit dem edlen Tod jener beiden Märtyrer auch nur im Entferntesten verglichen werden könnte. -

Im Zusammenhang mit den bisher gewonnenen Lehren vom rein immanenten Gebiet und der Erlösung durch den absoluten Tod stehen auch die ethischen und politischen Anschauungen unseres Philosophen.

Die beiden Hauptsätze seiner Ethik sind: Es gibt nur egoistische Handlungen, und: Tugend kann gelehrt werden. Beim Egoismus wird aber der geläuterte vom natürlichen Egoismus unterschieden, und mit Rücksicht darauf kann man diese Begründung der Ethik zumindest bis zu einem gewissen Teil gelten lassen, muß sich aber bewußt bleiben, daß damit immer nur der hauptsächlichste subjektive Trieb für das ethische Handeln angegeben ist. Obgleich auf dem Standpunkt dieser Philosophie der von Anfang an mit bestimmter Qualität ausgerüstete Wille durch den von ihm selbst geschaffenen Spiegel der Erkenntnis nicht verändert werden kann, so wird doch die Umwandlung des Willens durch die Erkenntnis auf das Bestimmteste behauptet.

Auch der Pessimismus kommt in diesem Zusammenhang zu seinem vollen Ausdruck, und es ist nicht zum geringsten Teil eine persönliche Anmaßung, welche in jener Weltanschauung vom eigenen Unbehagen aus, das noch dazu sehr oft ein selbstverschuldetes ist, den Schluß auf das Allgemeine zu machen pflegt. Zwar wird vom Standpunkt des sogenannten vernünftigen Optimismus die reale Entwicklung immer vollkommenerer Zustände nicht geleugnet, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß das menschliche Leben in seinen jetzigen Formen ein wesentlich unglückliches ist. Zum Beweis dafür werden zwei Aussprüche von GOETHE und von ALEXANDER von HUMBOLDT angeführt, deren Kern die Sätze bilden: Wir leiden alle am Leben, und: Das ganze Leben ist der größte Unsinn. MAINLÄNDER hat damit freilich dem Andenken jener beiden Männer, welche sich in hohem Alter zu solchen und ähnlichen Ausdrücken eines selbstanklagenden Pessimismus hinreißen ließen, keinen sonderlichen Gefallen getan, und er zeigt dadurch nur, welch eine einseitige Auffassung im Grunde er selber vom Leben hat, wenn er ganz naiv gerade mit dem Hinweis auf ALEXANDER von HUMBOLDT triumphierend ausruft:
    "Also im ganzen Leben dieses begabten Mannes Nichts, Nichts, was er als Zweck des Lebens hätte auffassen können. Nicht die Schaffensfreude, nicht die köstlichen Momente genialen Erkennens. Nichts! Und in unserem idealen Staat sollten die Bürger glücklich sein?"
Er ist nämlich überzeugt, daß in seinem idealen Staat, dem sich die Menschheit immer mehr nähert, die von Not und Sorge befreiten Menschen dem schrecklichsten aller Übel, der Langeweile, verfallen und einem solchen Dasein die völlige Vernichtung vorziehen würden. Ich darf hier wohl darauf verzichten, auf diese geistige Modekrankheit unseres Zeitalter, welche leider noch immer ihre Opfer fordert, näher einzugehen, zumal dieselbe wissenschaftlich jetzt ebenso überwunden ist, wie der Materialismus. Der Standpunkt des Pessimismus würde ja auch, wie schon THILO und nach ihm andere gezeigt haben, nicht einmal für den berechtigt sein, der nur ein Leben des Diesseits kennt, eine Beschränkung, die doch aus psychologischen und metaphysischen Gründen als unhaltbar bezeichnet werden muß.

Dieselbe Grundidee der Bewegung aus dem Leben zum absoluten Tod zieht sich auch durch MAINLÄNDERs Politik, welche den Inhalt der sechsten Abhandlung bildet. Zur Beschleunigung des Prozesses dient ihm die Zivilisation, denn "die Zivilisation tötet". Die soziale Frage ist nichts anderes, als eine Bildungsfrage,
    "in ihr handelt es sich lediglich darum, alle Menschen auf diejenige Erkenntnishöhe zu bringen, auf welcher allein das Leben richtig beurteilt werden kann."
Eine weitere Ausführung und Ergänzung der Politik bringen sodann im zweiten Band die drei Essays über den Sozialismus. MAINLÄNDER bekennt sich in diesen Abhandlungen als Anhänger des reinen Sozialismus und der freien Liebe. So sehr nun auch die sozialen Ansichten mit den wirklichen Zuständen und der Verschiedenheit der geistigen Anlagen und Charaktereigenschaften im Widerspruch stehen und so sehr ferner das über die Ehe und die freie Liebe Gesagte uns abstoßen und zum Widerspruch herausfordern muß, zumal wenn er die Liebe zu den eigenen Kindern eine Affenliebe nennt, an deren Stelle etwas Besseres treten muß, so ist doch zu seiner Ehre zuzugestehen, daß die für diese Lehren angeführten Gründe aus edler Sittlichkeit und Menschenliebe geflossen sind, wodurch MAINLÄNDER z. B. weit über einem MAX NORDAU und ähnlichen Aposteln unserer modernen Weltanschauung zu stehen kommt. Ist er doch in seiner schwärmerischen Auffassung der Ehefrage so weit von jeder sittlichen Leichtfertigkeit entfernt, daß er meint, es werde mehr und mehr den Übergang zum idealen Zustand des Zölibats bilden. Aller aber doch noch möglichen falschen Beurteilung und Verdächtigung hält er zuletzt den von ihm gelehrten Standpunkt der Entsagung entgegen: "Meine Ethik", sagt er am Schluß des Essays über den theoretischen Sozialismus, "ist identisch mit der Ethik BUDDHAs und der des Heilandes, welche beide absolute Entsagung verlangen: Armut (oder was dasselbe ist: bloße Befriedigung der Lebensnotdurft auch inmitten der Fülle) und Virginität."

Die soziale Entwicklung sieht MAINLÄNDER für unsere Zeit in der Versöhnung des Kapitals mit der Arbeit, wie sie ja durch die Teilnahme am Gewinn in der Tat mit gutem Erfolg von einzelnen schon begonnen worden ist. Zur Durchführung dieser Reform ist aber nach ihm keine der vorhandenen Gesellschafts- und Gemeinschaftsformen ausreichend und befähigt, dazu muß ein neuer Orden nach Art des Gralsordens gebildet werden:
    "Was not tut, ist ein Bund der Guten und Gerechten, ein Bund, den nur Gute und Gerechte bilden, und der seine Wirksamkeit auf alle Menschen richtet, oder mit einem Wort: Gralsritter, glutvolle Diener des in der Taube verkörperten göttlichen Gesetzes: Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit, Menschenliebe und Keuschheit."
Und zwar ist dies kein reines Phantasiegemälde, vielmehr tritt MAINLÄNDER im dritten Essay über den Sozialismus selbst als Stifter eines solchen Ordens auf und führt dasselbst das vollständige Statut desselben aus, dessen Hauptzweck darin bestehen soll, durch die Verbreitung wahrer Bildung die Wege zu ebnen, welche zur Erlösung der Menschheit führen. Hierbei ist es nun charakteristisch, daß, obwohl der Orden nur die Guten und Gerechten umfassen soll, in den Motiven zum Statut unter Nr. 4 doch auch den Verbrechern der Zutritt gestattet ist.
    "Der Orden darf nicht den Schlechten und Verbrechern verschlossen werden: die Wissenschaft führt die schwersten Verbrechen nur auf ein Übermaß der rohen Naturkraft zurück, die in allen Menschen lebt. Die heutige Gesellschaft macht den Menschen noch schlechter, als er ist, wenn er aus dem Zuchthaus entlassen wird. Der Orden dagegen sucht mild das Feuer des wilden Blutes zu einer wohltätigen Macht zu gestalten."
Dieselbe Stellung den Verbrechern gegenüber nimmt MAINLÄNDER auch in der Metaphysik ein, da sich nach seiner Lehre alles Geschehen in der Welt mit Notwendigkeit vollzieht und nur ein freier vorweltlicher Akt angenommen wird, wodurch zugleich auch der Weltlauf und das individuelle Schicksal eines jeden entschieden worden ist.
    "Jetzt vereinigt sich", heißt es bei SEILING (Seite 86), "die Freiheit mit der Notwendigkeit. Die Welt ist der freie Akt einer vorweltlichen Einheit; in ihr aber herrscht nur die Notwendigkeit, weil sonst das Ziel nie erreicht werden könnte. Alles greift mit Notwendigkeit ineinander, alles konspiriert nach einem einzigen Ziel. Und jede Handlung des Individuums ist zugleich frei und notwendig: frei, weil sie vor der Welt in einer freien Einheit beschlossen wurde, notwendig, weil der Beschluß in der Welt verwirklicht, zur Tat wird." -
Es bleibt uns jetzt nur noch, auf den vierten und fünften Essay des zweiten Bandes, in welchen der Buddhismus und das Dogma der Dreieinigkeit, d. h. das Christentum behandelt werden, etwas näher einzugehen.

Daß der ganz und Gar auf SCHOPENHAUERs Schultern stehende MAINLÄNDER auch ein begeisterter Anhänger des Buddhismus sein wird, läßt sich von vornherein annehmen. Der Buddhismus ist ihm die blaue Wunderblume Indiens, welche nicht angegriffen, sondern nur bewundert werden darf, ja es ist ihm eine Zeitlang zweifelhaft gewesen, ob im indischen System oder im Christentum die ganze Wahrheit enthalten ist.

Der esoterische Teil der Buddhalehre, welche er vom exoterischen unterscheidet, erinnert sehr an sein eigenes System, und er gesteht auch selber ein, daß er sich zu Anfang ganz und gar auf den Standpunkt BUDDHAs, d. h. des absolutesten Idealismus oder Egoismus gestellt hat, um ihn dann zugunsten seiner zerteilten Einheit zu verlassen. Als der Hauptsatz der esoterischen Buddhalehre erscheint nämlich die Behauptung, daß das einzig Reale das bewußtlose individuelle Karma (das Wesen BUDDHAs) ist. Dies wollte, und das ist das einzige Wunder, so erklärt MAINLÄNDER die Weltschöpfung, durch die Verleiblichung in einer Welt des Scheins die Abtötung, den Übergang aus dem Sein in das Nichtsein.
    "Zunächst erzeugt es sich den Leib und das, was wir Geist nennen (Sinne, Verstand, Urteilskraft, Phantasie, Vernunft). Ist das wunderbar? In keiner Weise, denn Karma hat Allmacht. Dann bringt es Gefühl (die Zustände der Lust und Unlust, körperlichen Schmerz und Wollust) und Vorstellung hervor. Das Gefühl wird einfach im Bewußtsein gespiegelt, die Vorstellung dagegen hat eine komplizierte Entstehung. Die Hauptsache bei der Vorstellung ist der Sinneseindruck. Wer bewirkt ihn nach BUDDHA? Das allmächtige Karma."
Hier ist nun auffallend, mit welcher Weitherzigkeit dem unbewußten, raum- und zeitlosen Karma die Allmacht zugestanden wir, während ein persönlicher und bewußter Gott diese Freiheit nicht genießen soll. Unserem Gott soll es nämlich unmöglich sein, zugleich auf mehrere Seelen einzuwirken, weil die einfache Einheit nicht ganz und ungeteilt zugleich im Hans und in der Grete sein kann. Als ob das zu diesem Zweck nötig wäre, und sich beispielsweise nicht schon ein Punkt mit unzähligen anderen Punkten berühren und wenn als real gedacht, in den anderen Zustände hervorrufen könnte. Eine sonderbare Ansicht hat MAINLÄNDER von der Logik und Folgerichtigkeit. Aufgrund der unumstößlichen Tatsache der inneren Erfahrung soll nämlich der Buddhismus ein fest in sich geschlossenes, fehlerloses, streng konsequentes System sein, und nun höre man, wie es in einem Atem heißt: "Das wunderwirksame Karma ist eine bloße Abstraktion", und gleich darauf:
    "Der Buddhismus ist ein Ding-ansich-Idealismus, weil er aufgrund der unumstößlichen Tatsache der inneren Erfahrung nur dem Ich Realität zuspricht. Und was ist am ganzen esoterischen Buddhismus positiv? Die Erklärung, daß das Karma individuell ist und daß es existiert."
Also die Abstraktion ist positiv, individuell und existiert!? Und der das behauptet, rühmt sich der Entdeckung, daß die reinen Raum- und Zeitanschauungen nur Abstraktionen sind, die in Wirklichkeit nicht existieren. Die äußerste Konsequenz des absoluten Idealismus, wie ihn das esoterische System BUDDHAs darstellt, wird dadurch gezogen, daß jedem Leser das Recht eingeräumt wird, sich allein für real und alles andere, auch ihn, MAINLÄNDER und seine Philosophie, sowie BUDDHA und seine Lehre usw. für eine Phantasmagorie zu halten; es endet somit der absolute Idealismus, wie wir sehen, mit der gleichen Selbstvernichtung, wie der absolute Skeptizismus. Trotzdem MAINLÄNDER eingesteht, daß der, welcher sich auf diesen Standpunkt stellt, nur durch einen schmalen Streifen vom Wahnsinn getrennt ist, wird doch von ihm behauptet, dieser Standpunkt sei der berechtigste, den es geben kann. Jeder andere sei gegen ihn wie Wasser, auf dessen Oberfläche wir uns nur schwimmend mit Anstrengung erhalten können.

Man ist durch das Bisherige einigermaßen neugierig geworden auf das, was MAINLÄNDER nun aus dem Christentum machen wird, dessen Kern und Wahrheit er ja in seiner Philosophie darzubieten behauptet, und doch sollte man darauf nicht mehr neugierig sein, da sich von vornherein annehmen läßt, daß er auch an die christliche Lehre mit seiner fertigen Theorie herantreten und derselben alles dienstbar machen wird. Wie beim Buddhismus, so unterscheidet er auch ein esoterisches und exoterisches Christentum. Das erstere, auf welches es hauptsächlich ankommt, besteht nach ihm wesentlich in dem richtig verstandenen Dogma der Dreieinigkeit.

Vom Athanasischen Glaubensbekenntnis ausgehend bringt er zunächst, unterstützt von den drei Schriftstellern MATTHÄUS 12,31f, MARKUS 3, 28f, LUKAS 12,10 einen Unterschied in die drei göttlichen Personen zugunsten des Heiligen Geistes, um sodann aufgrund des Satzes: "Der Sohn ist allein vom Vater: nicht gemacht, nicht geschaffen, sondern geboren" und im Hinblick auf Stellen wie JOHANNES 8,58; 10, 30 und 14,9 zu den beiden kühnen Behauptungen zu schreiten: 1. der Sohn ist der Vater, 2. der Sohn kam nach dem Vater.

Da nun das Erzeugte in der Zeit stets nach dem Erzeuger kommt, - ja, aber doch meist noch zu Lebzeiten des Erzeugers - so folgt, da CHRISTUS als Menschensohn sich mit der Menschheit identifiziert, - danach wäre ja auch jeder andere Mensch zugleich die ganze Menschheit - "daß die Menschheit aus Gott geboren ist, ihm folgte und zwar wesensgleich mit ihm ist, d. h. sie enthält nur, was in Gott war."

Eine weitere Handhabe muß sodann das JOHANNES-Wort bieten: "Alle Dinge sind durch das Wort gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist," indem daraus die Identität CHRISTI mit dem Weltall gefolgert wird, allerdings mit derselben Logik, kraft welcher man etwa die Identität eines Baumeisters mit den von ihm erbauten Häusern oder eines Schumachers mit den von ihm angefertigten Stiefeln und Schuhen folgern könnte.
    "Nun kann auf einmal die Hälfte der dunklen, matten, undurchsichtigen Perle durch eine kleine, grammatikalische Änderung (?!) zum durchsichtigen, blitzenden Diamanten werden ... An die Stelle von  Gott ist  ist lediglich zu setzen: Gott war, und Christus, der Sohn, die Welt ist."
Wie gewinnt nun MAINLÄNDER weiter, nachdem so das Wesen des Vaters und des Sohnes bestimmt worden ist, ersteres als vorweltliche Einheit, letzteres als die daraus entstandene Welt, das Wesen des Heiligen Geistes? Er sagt:
    "Der Sohn, die Welt, ist eine werdende, sich nach einem Ziel bewegende Gesamtheit von Individuen, wobei diese Gesamtheit der Ursprung aus einer einfachen Einheit, Gott, fest zusammenhält: die Welt ist eine feste Konjunktur mit einer einzigen Grundbewegung, die eben aus dem Zusammenwirken aller Individuen entsteht. Diese Grundbewegung, der Weg Gottes zu seinem Ziel, ist das Schicksal des Weltalls, oder wie CHRISTUS sagte: der Heilige Geist. Der Heilige Geist ist also kein Wesen, keine Persönlichkeit, kein reales Individuum, sondern etwas Abstraktes, ein einheitlicher Ausfluß aus der Wirksamkeit vieler, die Resultierende aus vielen verschiedenartigen Bestrebungen, die Diagonale des Parallelogramms der Kräfte. Er ist nicht gemacht, nicht geboren, sondern ausgehend."
Einige Seiten weiter wird dann der Heilige Geist als das Gesetz Gottes bezeichnet und als die Gesamtheit der der vier Tugenden: Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit, Menschenliebe, Virginität, bis es zuletzt ganz einfach heißt, und damit auch der Nachweis der Superiorität des Geistes über den Vater und den Sohn geschlossen wird: "Der Heilige Geist ist der Weg Gottes zum Nichtsein." Damit sind die drei Personen so bestimmt definiert, daß über ihr Wesen kein Zweifel mehr walten kann, und das Dogma wird nun kurz wie folgt ausgeführt:
    "Gott war, Christus ist, der Heilige Geist ist, und zwar ist nur Christus real, der Heilige Geist ist etwas Ideales, Abstraktes, ein echter (?) Geist."
MAINLÄNDER ist sogar der Meinung, daß das, was man jetzt unter Gott zu verstehen habe, nämlich den dynamischen Zusammenhang in der Welt, das sei, was sich erleuchtete Gläubige immer unter Gott vorgestellt hätten: "Der Lenker der menschlichen Geschicke und aller Dinge." Hier wird also nicht nur ein Wort, sondern ein ganzer Begriff seines ursprünglichen Inhaltes entleert und trotzdem so gebraucht, als habe er jenen Inhalt noch nach wie vor. Oder ist es nicht eine Zusammenstellung heterogener Elemente, wenn man den dynamischen Zusammenhang in der Welt als den Lenker der menschlichen Geschiche bezeichnet? Das ist nach MAINLÄNDER der Kern des Christentums, welcher vom Apostel JOHANNES am treuesten überliefert wurde, während PAULUS das Christentum verfälschte, - natürlich, denn der Paulinismus mit seiner Fundamentierung durch die Auferstehung CHRISTI und die damit in Verbindung gebrachte persönliche Auferstehung der Gläubigen bietet keine Lücke, durch welche die Philosophie der Erlösung mit ihrem absoluten Tod einschlüpfen kann.

Es möchte nun angesichts solcher biblischen Theologie mancher fragen, was denn MAINLÄNDER mit den unzweideutigen Hinweisen auf das zukünftige ewige Leben, wie sie sich doch auch bei JOHANNES finden, anfängt? Aber die souveräne Freiheit, mit welcher er sich unter fortdauernder Zustimmung SEILINGs in allen Wissenschaften bewegt, ohne die dazu notwendigen positiven Kenntnisse zu besitzen oder besitzen zu können, läßt ihn darüber nicht in Verlegenheit kommen. Was zu seinem fertigen System paßt, das wird einfach aus dem Zusammenhang zu diesem Zweck herausgehoben, was sich nicht ohne weiteres fügen will, wird dazu gezwungen, denn auf eine "kleine grammatikalische Änderung" kommt es hier nicht an, auch wenn dadurch der Sinn von Grund auf verändert wird, was sich aber gar nicht eingliedern läßt, das wird einfach vollständig übersehen oder wird mit kurzem Prozeß aus der esoterischen Lehre in die exoterische verwiesen. So läßt sich freilich ohne viel Mühe aus allem alles machen, aber die Wissenschaft hört dabei auf, wenngleich auch SEILING (Seite 17) behauptet:
    "Wofür Christus von seiner unmündigen Mitwelt den Glauben fordern mußte, das kann mit Mainländer jetzt, da die Menschheit reif geworden ist, gewußt werden und ist somit gefeit gegen die vernichtenden Angriffe unserer glaubenslosen, materialistischen Zeit."
Ähnliches wie in der biblischen Theologie wird auch in der Religionsgeschichte und in der alttestamentlichen Einleitung zutage gefördert. Im ersten Essay des zweiten Bandes, welcher dem Realismus gewidmet ist, findet sich nämlich auch eine Übersicht über die Entwicklung der Religion von der Naturreligion an, deren Kern das außerordentlich lose mit der Welt verknüpfte Individuum ist. Nachdem das Band dann von einzelnen Genialen fester gezogen wurde und die Tätigkeiten der Götter auch auf das menschliche Herz ausgedehnt worden sind, hat ZARATHUSTRA den dynamischen Zusammenhang der Dinge gelehrt, aber auf Kosten der Fundamentalwahrheit, daß die übrige Welt aus Individuen zusammengesetzt ist. Der Dualismus ZARATHUSTRAs ist dann durch den jüdischen Monotheismus und indischen Pantheismus überwunden worden, welche beide, aus der gemeinsamen Wurzel des absoluten Realismus entstanden, die gleiche Spitze hatten: das in den Armen eines allmächtigen Gottes liegende tote Individuum. Den starren Monotheismus soll dann erst DAVID verbessert haben, und es werden dafür, was einem Theologen einigermaßen wunderbar vorkommen dürfte, die Psalme 2, 18, 21, 27, 103, 106, 119 unbedenklich und ohne Unterschied als von DAVID verfaßt aufgeführt.

In Bezug auf die Ästhetik, in der er sich ganz an SCHOPENHAUER anschließt, sei nur bemerkt, daß MAINLÄNDER das Schöne einteilt in dass Subjektiv Schöne, den Grund des Schönen im Ding-ansich und das schöne Objekt; ferner daß er den Grund des Schönen im Ding-ansich in der Harmonie der Bewegung sieht und die Ästhetik, welche den sogenannten Schönheitssinn auszubilden hat, zuletzt in die Ehtik überleiten läßt. Bedeutsam ist auch die Stelle, in welcher vom höchsten Menschheitsideal, dem weisen Helden, die Rede ist:
    "Der erhabenste Charakter ist der weise Held. Er steht auf dem Standpunkt des Weisen, erwartet aber nicht, wie dieser, resigniert den Tod, sondern betrachtet sein Leben als eine wertvolle Waffe, um für das Wohl der Menschheit zu kämpfen. Er stirbt mit dem Schwert in der Hand für die Ideale der Menschheit, und in jeder Minute seines Daseins ist er bereit, Gut und Blut für die Realisierung derselben hinzugeben. Der weise Held ist die reinste Erscheinung auf unserer Erde, sein bloßer Anblick erhebt die anderen Menschen, weil sie in der Täuschung befangen sind, sie hätten, eben weil sie auch Menschen sind, dieselbe Befähigung zu leiden und zu sterben für andere, wie er."
Darauf beruth der tiefergreifende Zauber, den das Christentum auf Atheisten ausübt:
    "Das Bild des Gekreuzigten für die Menschheit willig in den Tod gegangenen Heilands wird strahlen und die Herzen erheben bis an das Ende der Zeit."
Für einen solchen weisen Helden hat MAINLÄNDER offenbar auch sich gehalten, wie das schon aus dem, was er über den Selbstmord und sein eigenes Vorhaben sagte, erhellt. Das ganze die Welt herausfordernde Selbstbewußtsein zeigt sich aber erst im Essay über die Philosophie der Erlösung, wo er seine Philosophie als die Verklärung und Erleuchtung der christlichen Religion der Erlösung bezeichnet und dann (Seite 242) mit folgenden Worten schließt:
    "Mit meiner Philosophie habe ich den Kampf aufgenommen:

      1. mit der jetzt herrschenden Psychologie,

      2. mit der herrschenden Lehrmeinung in den Naturwissenschaften (Newtonsche Farbenlehre und Theorie der Bewegung der Himmelskörper, Materialismus, Atomistik, Gesetz der Erhaltung der Kraft, Lehre von der metaphysischen Gattung und den Naturkräften, Übertragung des Wesens der idealen Formen auf das Ding-ansich),

      3. mit der herrschenden Ästhetik (Theismus oder Hegel'schen Absolutismus als Grundpfeiler der Ästhetik),

      4. mit der herrschenden Ethik (Moraltheologie, ethisches Naturrecht, Pflichtenlehre),

      5. mit der Grundverfassung des Staates

      6. mit der herrschenden Religion und mit sämtlichen philosophischen Lehrmeinungen.

    Ich stehe noch allein da, aber hinter mir steht die erlösungsbedürftige Menschheit, die sich an mich anklammern wird, und vor mir liegt der helle flammende Osten der Zukunft. Ich blicke trunken in die Morgenröte und in die ersten Strahlen des aufgehenden Gestirns einer neuen Zeit, und mich erfüllt die Siegesgewißheit."
Hiermit dürfen auch wir die Übersicht über MAINLÄNDERs philosophisches System schließen, welches, soweit es auf der Philosophie SCHOPENHAUERs beruth, der von THILO in der bereits erwähnten Schrift über SCHOPENHAUERs ethischen Atheismus geübten Kritik verfällt, soweit es aber Eigenartiges bringt, auf den Hauptsatz vom gestorbenen Gott oder der zersplitterten Einheit zurückzuführen ist und in diesem Satz sich selber kritisiert. Oder liegt etwa in einem gestorbenen Gott mehr Sinn, als in einem toten Leben? Beides ist gleich absurd und enthält einen Widerspruch in sich selbst, ebeno wie die Behauptung, daß Gott der Seiende, das Nichtsein wollte, und wie die Ansicht, daß der unbewußte Wille sich erst den Geist schafft, als ob ein solches Schaffen absichtslos geschehen könnte und nicht schon selber eine tüchtige Portion Geist, also das, was erst geschaffen werden soll, voraussetzte. Faßt man aber den etwas poetisch angehauchten und doch nur uneigentlich zu verstehenden Satz vom gestorbenen Gott in eine mehr metaphysische Form und spricht von einer aus einer ursprünglichen Einheit sich entwickelnden Vielheit, so verstößt man gegen das Grundgesetz der Metaphysik, wonach das Viele sich nicht aus einen schlechthin Einfachen entwickeln kann, mit anderen Worten, man verfällt dem absoluten Werden und begeht denselben Fehler wie mit der Behauptung, daß das Sein in das Nichtsein übergehen kann, daß also im entscheidenden Moment Sein und Nichtsein vereint sein können.

In MAINLÄNDER, unter dessen Pseudonym sich, wie SEILING uns berichtet, der am 5. Oktober 1841 geborene Sohn eines Offenbacher Industriellen namens BATZ verbirgt, der vor der Abfassung seines umfangreichen philosophischen Werkes schon 1866 eine dramatische Triloie, die  Hohenstaufen,  veröffentlicht hatte, ist ein jedenfalls begabter und genial veranlagter Geist das Opfer einer falschen Philosophie geworden. Ein Wunder ist das nicht, wenn man hört, daß der erst siebzehnjährige Jüngling, nachdem er nur eine kaufmännische Ausbildung erhalten hatte, sich ausschließlich dem Studium der SCHOPENHAUERschen Philosophie, mit welcher ihn ein Zufall bekannt gemacht hatte, widmete.

Ist das auch um seinetwillen und wegen der unheilvollen Folgen, die seine Philosophie und sein Beispiel auf krankhafte und philosophisch, ich will nicht sagen unreife, aber doch unvorsichtige und überschwängliche Gemüter ausüben werden, sehr zu beklagen, so hat seine Philosophie doch auch ihr Gutes, und kann man ihr deshalb auch die Benennung einer Philosophie der Erlösung zugestehen. Es ist nämlich durch dieselbe nicht nur dem verworrensten Ausläufer des SCHOPENHAUER'schen Pessimismus, der "Hartmännerei", ein arger Stoß versetzt worden, sondern der "Schopenhauerei" überhaupt, ersteres durch die im zwölften Essay enthaltene Kritik der Philosophie des Unbewußten (1), letzteres durch die Weiterentwicklung der SCHOPENHAUERschen Philosophie in MAINLÄNDERs eigenem System. Wem angesichts dieser theoretischen und praktischen Folgerungen nicht die Augen aufgehen, so daß er eilends von dem Abgrund, an dem er ahnungslos und träumend entlang gewandelt ist, zurücktritt und wieder den gesicherten Weg der Erfahrung und Logik beschreitet, dem ist freilich überhaupt nicht mehr zu helfen, der tritt aber damit auch, und darin zeigt sich die vernichtende Selbstironie dieses Systems, der MAINLÄNDERschen Lehre von der Entwicklung zum absoluten Nichtsein entgegen. Denn nach unseres Philosophen und seines Jüngers Ansicht hat in ihm die Philosophie ihre höchste Stufe erreicht, jenseits dieses erreichten Ziels liegt aber für alles, also auch für diese Philosophie, das Nichtsein. So hat die Philosophie der Erlösung einen heilsamen Auflösungsprozeß beschleunigen helfen und ist imstande, den, der noch nicht auf ein klares und widerspruchsfreies Denken verzichtet und sich daneben etwas natürlichen gesunden Menschenverstand erhalten hat, von der pessimistischen und atheistischen Weltanschauung für immer zu erlösen.
LITERATUR - Agnes Schwarze, Über Philipp Mainländers Philosophie der Erlösung, Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. 17, Langensalza 1890
    Anmerkungen
    1) Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. 15, 1887, Seite 390f.