p-4T. K. OesterreichA. LasurskiJ. VolkeltMüller-FreienfelsO. Weidenbach    
 
AUGUST FROHNE
Der Begriff der
Eigentümlichkeit oder Individualität

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"Ziel des Lebens ist nichts anderes als die Ausbildung der Eigentümlichkeit. Immer mehr zu werden, was er ist, immer fester durch Geben und Empfangen das eigene Wesen zu bestimmen, sein mit Eigentümlichkeit gebildetes Wesen durch gleichförmiges Handeln nach allen Seiten mit der ganzen Einheit und Fülle seiner Kraft zu erhalten, wenn Schleiermacher und mit ihm jeder Mensch, nur dies erreicht, was kümmert ihn dann glücklich zu sein? Wird er dies erreichen? Wird er überhaupt danach streben?"


II. Die erklärende Theorie des
Begriffs der Eigentümlichkeit


A. Metaphysische Erklärung

Die Eigentümlichkeit entspringt 1) nach den "Reden" einer Vermählung des Unendlichen mit dem Endlichen, 2) nach den "Monologen" einer freien Tat, einem ersten Willen des Menschen. Die näheren Aussagen darüber sind folgende:

Wo SCHLEIERMACHER in der fünften Rede "Über die Religionen" von den Individuen der Religion spricht, da vergleicht er die Entstehung dder religiösen Individualität mit der der Individualität überhaupt. Letztere, so heißt es, entsteht dadurch, daß "ein Teil des unendlichen Bewußtseins sich losreißt und sich als ein endliches an einen bestimmten Moment in der Reihe organischer Evolutionen anknüpft". Diesen Vorgang nennt er dann eine Vermählung des Unendlichen mit dem Endlichen und findet in ihm ein unbegreifliches Faktum. In der dritten Auflage lautet dieselbe Stelle: "indem der lebendige Geist der Erde gleichsam von sich selbst sich losreißend als ein endliches" usw. wie oben.

Nehmen wir dazu schließlich noch eine Stelle aus der zweiten Rede, so
    "ist die ewige Menschheit unermüdlich damit beschäftigt, sich selbst zu erschaffen und sich in der vorübergehenden Erscheinung des endlichen Lebens auf das Mannigfaltigste darzustellen." (1)
Ganz anders in den "Monologen". Im zweiten "Prüfungen" überschriebenen Abschnitt derselben ist es die freie Tat, welche zu einem eigentümlichen Dasein die Elemente der menschlichen Natur versammelt und innig verbunden hat. Diese Tat vollzieht der Mensch selbst vermöge seiner Freiheit, die Beschränkung, welche er dadurch annimmt und welche seines Daseins, seiner Freiheit, seines Willens Bedingung und Wesen ist, besteht daher nicht kraft eines eigenen ersten Willens, einer eigenen ursprünglichen Wahl in ihm. Diese seine eigene Entscheidung rückgängig machen zu wollen, wird der Mensch keinen Grund haben: denn sie gerade gibt ihm in allem Wechsel eine innere Beständigkeit, in allem Handeln und Festigkeit, so daß für ihn unmöglich nur das ist, was er selbst ausgeschlossen hat "durch der Freiheit in ihm ursprüngliche Tat", durch ihre Vermählung mit seiner Natur (2).

Wenn wir beide Ansichten SCHLEIERMACHERs miteinander vergleichen, so finden wir zwischen ihnen einen charakteristischen Unterschied, den wir kurz so ausdrücken können, daß nach den "Reden" der Ursprung der Individualität außerhalb des Menschen, nach den "Monologen" in ihm selbst liegt. Dasselbe scheint mir BENDER zu meinen, wenn er in den "Reden" die Individualität als Tat des Universums, in den "Monologen" als freie Tat des Geistes bezeichnet findet. (3)

Da die "Monologe" nur ein Jahr später geschrieben sind als die erste Auflage der "Reden", so muß dieser schnelle Wechsel in der Anschauung SCHLEIERMACHERs gewiß auffallen, doch entbehrt er nicht eines zureichenden Erklärungsgrundes. Dieser liegt im folgenden: Das Wesen der Religion gipfelt gerade nach der ersten Auflage der "Reden" nicht bloß im Anschauen des Universums, sondern in einem völligen Sich-Versenken in dasselbe und Einswerden mit ihm, indem "die scharf abgeschnittenen Umrisse unserer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche." (4) Ja, wir sollen danach streben, unsere Individualität zu vernichten und im Ein und Allen zu leben. Zu diesen Gedanken paßt es, wenn man die Individualität, auf welche um des Unendlichen willen Verzicht zu leisten ist, nicht selbst sich erwählt, bzw. erworben, sondern als Geschenk aus der Hand des Unendlichen selbst empfangen hat, wenn die Individualität selbst "ein Stück unendlichen Bewußtseins", "ein Teil des lebendigen Geistes der Erde" ist, der durch jene Verzichtleistung lediglich zu seinem Ursprung zurückkehrt.

Wie verschieden davon die "Monologe"! Vermöge ihrer ethischen Grundabsicht gilt in ihnen als Ziel des Lebens nichts anderes als die Ausbildung der Eigentümlichkeit. Immer mehr zu werden, was er ist, immer fester durch Geben und Empfangen das eigene Wesen zu bestimmen, sein mit Eigentümlichkeit gebildetes Wesen durch gleichförmiges Handeln nach allen Seiten mit der ganzen Einheit und Fülle seiner Kraft zu erhalten, wenn SCHLEIERMACHER und mit ihm jeder Mensch, nur dies erreicht, was kümmert ihn dann glücklich zu sein? Wird er dies erreichen? Wird er überhaupt danach streben? - Sicherlich, denn er hat sich selbst dazu verpflichtet durch die eigene freie Wahl seiner Eigentümlichkeit, er wird lebhaft wünschen, was er selbst in sich gebildet hat, auch zu vollenden. Und andererseits wird er diesen ersten Willen, der ja sein eigener ist, nicht rückgängig machen wollen, noch auch die Beschränkung, in der er sich befindet, als fremde Gewalt empfinden. Und nicht bloß das: jenes geliebte Bewußtsein der Freiheit wird ihm die schöne Ruhe des klaren Sinnes einflößen, mit der er heiter in die Zukunft schaut. Er wird sich in seinem Handeln nicht beengt fühlen; denn er kann alles, was er will, weil er nur das will, was seiner Eigentümlichkeit entspricht und unmöglich ist für ihn nur das, was ausgeschlossen ist "durch der Freiheit in ihm ursprüngliche Tat", durch ihre Vermählung mit seiner Natur (5). So bietet für SCHLEIERMACHER seine Anschauung von der Entstehung der Eigentümlichkeit durch die freie Tat des Menschen die Handhabe, das Ziel des sittichen Handelns fest und sicher zu ergreifen.

Wie demnach vorhin in den "Reden" die Lehre SCHLEIERMACHERs vom Ursprung der Eigentümlichkeit in einem bestimmten Verhältnis zu der über das Ziel der Religion stand, so jetzt in den "Monologen" die von jener so ganz abweichende zu der über das Ziel des sittlichen Handelns. In dieser Beziehung zur jedesmaligen Haupttendenz beider Schriften liegt nun auch offenbar der Wert der beiden verschiedenen Lehren. Derselbe ist daher nur ein relativer; ansich betrachtet, kann weder die eine noch die andere Ansicht wissenschaftliche Geltung für sich in Anspruch nehmen. Denn wir müssen über beide ein Ignoramus [wir wissen es nicht - wp] setzen, wenn wir der Phantasie keinen unerlaubten Spielraum gewähren wollen. Was nämlich die in den "Reden" angetroffe Darstellung betrifft, so hat man die, welche von einem sich Losreißen des unendlichen Bewußtseins usw. spricht, eine mythologisierende genannt und SCHLEIERMACHER hat sich hier in der Tat den Fehler des Mythologisierens zu Schulden kommen lassen, den er in der zweiten Rede so scharf rügt. Wenn er nun andererseits die Eigentümlichkeit aus der unermüdlichen Selbsterschaffung und Selbstdarstellung der ewigen Menschheit hervorgehen läßt, so bedeutet das doch weiter nichts als: die Gattung erzeugt das Exemplar; die prinzipielle Verschiedenheit der einzelnen Exemplare ist jedoch damit nicht erklärt. - Von der in den "Monologen" angenommenen Freiheitstat des menschlichen Geistes ist es nicht recht abzusehen, in welchem Zeitpunkt sie denn ausgeführt wird. Soll sie in die uns bewußte Zeit unseres Lebens fallen, also etwa vom 4. oder 5. Jahr an, so ist es merkwürdig, daß uns keine Spur von Erinnerung an ein für unser Leben so bedeutendes Ereignis geblieben ist. Auch ist es im Grunde nicht möglich, daß die Entscheidung in eine so späte Zeit fällt, da dann schon unsere Eigentümlichkeit längst in ihrer Anlage und ihren Grundzügen bestimmt ist. Sollen wir dagegen auf eine Zeit zurückgehen, die vor allem Bewußtsein liegt, so weiß man nicht, wie der Vorgang ein sittlicher genannt werden kann und wie insbesondere das ethische Prinzip der Freiheit dabei tätig gewesen sein soll. Wahrscheinlich ist hier ein Einfluß der platonischen Lehre von der Wahl des irdischen Berufes (in der "Republik") oder der kantischen von der intelligiblen Tat des Ich auf SCHLEIERMACHER zu konstatieren. Letzterer würde er dann eine neue Seite abgewonnen haben.

Wir können demnach keiner der beiden Vorstellungen SCHLEIERMACHERs über den Ursprung der Eigentümlichkeit einen wissenschaftlichen Wert beimessen und werden hierin durch das spätere Verhalten SCHLEIERMACHERs selbst bestärkt. Er kommt nämlich in keiner seiner übrigen wissenschaftlichen Werke auf jene beide Ansichten zurück, ja er verleugnet sie, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch tatsächlich. In der "philosophischen Ethik" nämlich, in der er sich über die Eigentümlichkeit so oft und eingehend ausspricht, sagt er von der Entstehung derselben nur, daß das Eigentümliche schon vor allem sittlichen Verfahren, sei es nun in der ursprünglich gereinigten Natur, oder, wenn man angeborene Differenzen nicht zugeben will, in einem vorsittlichen Lebenszustand entstanden ist (6). Über die nähere Art und Weise dieser Entstehung "vor allem sittlichen Verfahren" lesen wir nicht nichts. Vollends in der Psychologie weist er da, wo er auf den Anfang der Existenz des Einzelwesens zu sprechen kommt, die Theorie, welche die Eigentümlichkeit aus der freien Selbsttätigkeit des Menschen erklären will, als ob jeder Mensch, wenn er geboren ist, noch alles werden kann, durchaus zurück. Vielmehr ist "schon in den ersten Anfängen des Daseins irgendein Verhältnis der geistigen Funktionen prädeterminiert und die ganze Formel der Entwicklung angelegt." Diese Bestimmtheit und Anlage nun aber auch weiter nach ihrem Ursprung anzugeben vermag SCHLEIERMACHER nicht: denn "weslbat aus einem Generationsakt ein solcher einzelner wird und aus einem andern ein anderer", diese Frage zu beantworten "ist eine Aufgabe, der wir gar nicht gewachsen sind."
    "Damit stehen wir an der geheimnisvollen Quelle der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit, aber wir vermögen nicht in diese Geheimnisse einzudringen." (7)
Hier also hat er nicht mehr jene Zuversicht der Reden, die ihm von der Tätigkeit eines "unendlichen Bewußtseins" oder des "lebendigen Geistes der Erde" so gute Kunde zu geben schien. Und mit Recht fürwahr hat sein wissenschaftlicher Sinn jene Ausführungen, welche allenfalls zum rhetorischen Charakter der "Reden" und "Monologe" passen, nicht wieder aufgenommen. Denn bis auf den heutigen Tat hat man sich über die Entstehung der Individualität noch keine bestimmte wissenschaftliche Ansicht bilden können und wenn wir "die bedingenden Gründe der Eigentümlichkeiten" aufdecken wollen, so
    "betreten wir ein Gebiet, in welchem der bisherige Zustand unserer Kenntnisse uns nicht bloß keine Gewißheit, sondern häufig nicht einmal ein entschiedenes Urteil über die Wahrscheinlichkeit der Hypothesen gestattet, die wir wagen möchten." (8)
Und LOTZE, der sich so ausspricht, weiß nur eine Reihe von Momenten herzuzählen, die bald mehr, bald weniger, bald vereinzelt, bald zusammen tätig, aber ohne daß wir im einzelnen Fall bestimmt anzugeben wüßten, wie? ihren Einfluß auf die Bildung demnach von SCHLEIERMACHER über die Entstehung und das innere Wesen der Eigentümlichkeit keine befriedigende Antwort erhalten, so müssen wir selbst ebenfalls, aus dem doppelten Mangel, an Überblick über die unendliche Mannigfaltigkeit der menschlichen Entwicklung, wie an Tiefblick in die geheimen Kräfte und inneren Zusammenhänge der geistigen und materiellen Natur, auf eine solche verzichten. Nichtsdestoweniger werden wir, da die Tatsache, daß alle Menschen Eigentümlichkeiten haben, feststeht, einiges mehr darüber zu sagen vermögen. Denn wenn die Eigentümlichkeit auch zu den elementaren Erscheinungen unseres Daseins, die als solche nicht weiter analysiert werden können, gehört, so schwebt sie doch nicht in der Luft, sondern vermittelt sich uns durch gewisse Kräfte, Eigenschaften und Funktionen unseres Ich; daher hat sie in psychologischen Systemen mit Recht einen Platz. So hat auch SCHLEIERMACHER uns jenes Faktum auf psychologischem Weg nahe zu bringen, ja ihm eine großartig umfassende Begründung zu geben gesucht. Es ist folgende:


B. Psychologische Erklärung
1. Der Inhalt der Eigentümlichkeit
a) Der Inhalt als fertiger, ruhender

Auf Seite 236 der "Psychologie" heißt es:
    "Wenn ir von der persönlichen Differenz reden, so meinen wir damit nichts anderes als das quantitative Verhältnis der verschiedenen Funktionen, welche die Einheit des Einzelwesens ausmacht, und das Verhältnis dieser Funktionen, welches ihnen in einem Außerhalb-von-uns entspricht, und wenn wir uns die Möglichkeit denken die persönlich Eigentümlichkeit in einer Formel auszudrücken, so würde es eine solche sein, die diese quantitativen Verhältnisse ausdrückt."
Ähnlich lauten die Aussagen auf Seite 239, 266, 285, 288.

Heben wir aus all den schwerfälligen, verklausulierten Sätzen die Punkte heraus, auf welche es ankommt. Den wichtigsten darin aufgestellten Begriff bilden "die einzelnen Lebensfunktionen", denn auf deren Verhältnissen soll ja die Eigentümlichkeit beruhen. Wir wollen daher diese Funktionen, wie sie SCHLEIERMACHER in seiner Psychologie entwickelt, näher betrachten. Was zunächst den Ausdruck "Funktionen" oder "Tätigkeiten" betrifft, so wählt ihn SCHLEIERMACHER im Gegensatz gegen diejenigen, welche von "Vermögen" der Seele sprechen. Er sieht durch diese letztere Benennung die Einheit des Subjekts gefährdet, indem dieses nur als die Arena erscheint, auf welcher die verschiedenen "Vermögen" wie Personen miteinander kämpfen. Darum spricht er selbst nur - in der "Psychologie"; daß er in der "Dialektik" den hier verurteilten Ausdruck dennoch gebraucht, können wir jetzt beiseite lassen - von Funktionen oder Tätigkeiten der Seele und des Lebens und faßt sie unter der Einheit des Lebens oder des Ich zusammen. Es sind im Einzelnen folgende:

Wir unterscheiden zuerst die geistigen oder Denk-, und die organischen oder Sinnestätigkeiten. Aber wie haben wir sie zu unterscheiden? Wann können wir von organischen, wann von intellektuellen Tätigkeiten reden? Wenn wir sagen, daß die organischen beginnen, während die geistigen noch latitieren [latent vorhanden - wp], daß diese aber allmählich jene überflügeln und sich unterordnen, so haben wir nur einen Übergangsprozeß, aber keinen Teilungsgrund, den wir doch haben müssen. Um diesen zu finden, geht SCHLEIERMACHER vom Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen aus und erhält dadurch den Unterschied der aufnehmenden und ausströmenden Tätigkeiten, die wir schon oben, aber unter einem anderen Gesichtspunkt erwähnt haben. Um dieselben hier noch einmal kurz zu charakterisieren, so sind die ausströmenden Tätigkeiten Ausdruck eines "Im-individuellen-Prozeß-sich-Erhaltens"; sie beginnen im lebendigen Einzelwesen selbst und richten sich nach außen. Die aufnehmenden Tätigkeiten sind Ausdruck, sei es des "in-einen-universellen-Prozeß-Eingehens" oder des "Eindringenwollens der Gesamtheit in das Einzelwesen"; jedenfalls beginnen sie von außen her und bedürfen nur "der freien Empfänglichkeit des Einzelwesens, um eine bestimmte Gestalt zu bekommen". (9)

Das sind also die Tätigkeiten, welche einen Teilungsgrund für jene ersten, die organischen und intellektuellen abgeben sollen. Wie geschieht das? Einfach, indem die organischen mit den aufnehmenden, die intellektuellen mit den ausströmenden identifiziert werden. Wenn wir nun noch die Teilung der aufnehmenden in Wahrnehmung und Empfindung, der ausströmenden in Wirksamkeit und Darstellung berücksichtigen, so erhalten wir folgendes Schema:
    1. die aufnehmenden oder organischen Tätigkeiten
      a) Wahrnehmung
      b) Empfindung
    2. die ausströmenden oder geistigen Tätigkeiten
      a) Handlung und Wirksamkeit ("Philosophische Ethik": organisierende Tätigkeit).

      b) Darstellung ("Philosophische Ethik": symbolisierende Tätigkeit).
Diese am Anfang aufgestellte Einteilung hält freilich SCHLEIERMACHER in der Folge nicht fest, sondern nimmt "einen ganzen Komplex von geistigen Tätigkeiten" zum "Zyklus der Sinnestätigkeiten" hinzu, ja handelt in zwei Dritteln des "aufnehmende Tätigkeit" überschriebenen Abschnittes nicht sowohl von den organischen als von den "höheren intellektuellen" Funktionen (10); dazu befolgt er im zweiten Abschnitt des elementaren Teils, wo er die ausströmenden Tätigkeiten behandelt, nicht mehr jene obige Einteilung. (11) - Das sind zunächst nur formelle Mängel, wie wir sie bei SCHLEIERMACHER öfter finden, die wir daher nur der Vollständigkeit halbe zu erwähnen brauchen, wenn sie hier nicht mit einem sehr bedeutenden sachlichen Fehler zusammenhängen würden. SCHLEIERMACHER irrt sich nämlich ebenso darin, daß er in den aufnehmenden und ausströmenden Tätigkeiten einen bestimmten Teilungsgrund für die organischen und intellektuellen gefunden zu haben, wie darin, daß er die aufnehmenden und organisierenden Tätigkeiten einandern gleichsetzen zu dürfen glaubt (12). Denn jener Maßstab der Teilung ist ein zu allgemeiner, nichtssagender, weil alles Mögliche einschließender; der Gegensatz seiner Glieder dazu so unbestimmt und fließend, - man vergleiche, was wir unter Nr. I über Relativitt zu sagen hatten - daß man nach ihm nicht teilen kann, wir vielmehr statt eines wirklichen Unterschieds zwischen aufnehmenden und ausströmenden Tätigkeiten ebenso nur einen Übergangsprozeß wie bei den organischen und intellektuellen haben. Obschon ferner gemäß der oben erörterten Definition der aufnehmenden Tätigkeiten die organischen nie fehlen dürfen, da sie den Impuls von außen zu vermitteln haben, so decken sich dennoch beide nicht in der Weise, daß man sie einfach identifizieren kann, denn die aufnehmende Tätigkeit hat doch auch ihren intellektuellen Faktor. Es sind also falsche Prämissen, die bei SCHLEIERMACHER der Einteilung des psychologischen Systems zugrunde liegen, darum ist er gezwungen, sie in der Ausführung zu durchbrechen.

Soviel zur kritischen Orientierung über die Darstellungsweise der Lebensfunktionen bei SCHLEIERMACHER. Solche Schwächen des Systems heben jedoch ansich die Tatsache noch nicht auf, daß wir im obigen Schema "wirklich ein Bild von der Totalität des Lebens haben", und daß alle Tätigkeiten, welche SCHLEIERMACHER überhaupt in die psychologische Untersuchung aufzunehmen hat, darin beschlossen sind (13). Sie sind es daher, deren Verhältnis zueinander innerhalb des Ich, wie "zum Gesamtgebiet, dem sie angehören", wir kennen zu lernen haben: denn auf ihm in seiner jedesmaligen Verschiedenheit soll ja die Eigentümlichkeit beruhen.

Wir betrachten zuerst das Verhältnis der Funktionen zueinander, oder - was dasselbe ist: denn die einzelnen Funktionen müssen stets unter der Einheit des Subjekts zusammengefaßt werden, - zur Einheit des Lebens, dem sie angehören. Dieses Verhältnis ist ein quantitative: denn in jedem einzelnen sind sämtliche, oben dargelegten Lebenstätigkeiten der Gattung vertreten. Wenn nun doch ein Unterschied zwischen den Einzelnen in Bezug auf dieselben bestehen soll, so kann er sich nicht auf den gänzlichen Mangel dieser oder jener Funktion in dem einen noch auf das ganze neue Auftreten einer oder mehrerer Funktionen im andern, sondern lediglich auf ein andersartiges Gruppiertsein dieser Funktionen in jedem gründen. Das Gruppiertsein aber, worin kann es anders bestehen als in einem quantitativen Überwiegen einer oder mehrerer Funktionen über die anderen? Denn ein qualitativer Unterschied ist durch die Bestimmung ausgeschlossen, daß die Funktionen sämtlich vorhanden sein sollen; so bleibt also nur der übrig, daß der eine von dieser Funktion einen quantitativ größeren Teil in sich trägt und in Anwendung bringen kann, der andere von jener. Das macht die persönlichen Differenzen. Damit ist nun aber auch der weitere Gedanke gegeben, daß sich im Einzelnen, für sich betrachtet, die Funktionen nicht alle in quantitativ gleichwertiger Weise zusammenfinden, sondern daß eine oder mehrere stärker vertreten sind als alle andern, daher man von einem Überwiegen einer oder mehrerer in demselben Menschen sprechen kann, und zwar so, daß eine immer die vor allen anderen hervorragendste sein wird. "Dieses hervorragende darin bezeichnen wir als Talent". (14) Diejenige Funktion also, welche stärker als alle anderen in einem Menschen vertreten ist, macht sein Talent aus, welches demnach eine quantitative Größe ist. Denken wir ein Beispiel: Es überwiegt in einem Menschen die ausströmende Tätigkeit in der Form der Darstellung, so wird er ein produktives Talent auf dem Gebiet der Wissenschaft sein; es überwiegt dieselbe in Form des Handelns, so wird er ein produktives Talent auf dem Gebiet des praktischen Lebens sein. Weil im Einen dies, im Andern jenes stattfindet, so sind sie voneinander ursprünglich und begriffsmäßig verschieden. So beeinflußt das Talent die Eigentümlichkeit.

Es ist aber als der Ausdruck dieses Verhältnisses der Funktionen untereinander bloß das eine Moment; das andere ist das Verhältnis der hervorragenden Tätigkeit "zum Gesamtgebiet, dem sie angehört und worauf sich ihre Wirksamkeit erstreckt". (15) Versuchen wir einmal diesen mysteriösen Worten nach Analogie des über das Talent gesagten einen Sinn abzugewinnen, indem wir mit der Kritik noch zurückhalten. Also die Funktionen des Ich sollen einem Gebiet angehören, das doch offenbar außerhalb des Ichs liegt: denn es soll ihnen nach Seite 236 "im-Außerhalb-von-uns" entsprechen. Zu diesem Gebiet sollen sie auch in einem Verhältnis stehen, die einen stärker und lebendiger, die andern schwächer und gleichgültiger, eine jedoch jedesmal am stärksten und lebendigsten. Diese wirkt das hervorragende Verhältnis, drängt die andern (Verhältnisse) zurück und entwickelt sich so zur Neigung. Man sieht, wie die Neigung ebenso wie das Talent quantitativen Ursprungs ist: denn das die Neigung erzeugende Verhältnis der einen Funktion zu ihrem Gesamtgebiet ist nicht allein vorhanden, so daß im Ich weiter gar keine Verhältnisse von Funktionen zu ihren Gebieten im Nicht-Ich wären, sondern sie sind alle, wie nur denkbar, da, aber sie werden zurückgedrängt von dem einen, welches das Übergewicht hat und die Neigung feststellt. Neigung ist also nichts anderes als das über die anderen hervorragende Verhältnis einer einzelnen Funktion im Ich zum Gesamtgebiet, welchem sie angehört und auf das sich ihre Wirksamkeit erstreckt. In dem einen Menschen nun wird ein derartiges Verhältnis durch diese Funktion bedingt, im andern durch jene, in einem dritten wieder durch eine andere usw. So entsteht eine unendliche Mannigfaltigkeit von Neigungen. Diese Mannigfaltigkeit ist das zweite Moment, auf dem die Eigentümlichkeit als die ursprüngliche, begriffsmäßige Verschiedenheit der Menschen untereinander beruth.

Wir hätten also eigentlich nicht ein Verhältnis der Tätigkeiten, sondern zwei, nämlich das der Funktionen untereinander und das einer einzelnen zum Gesamtgebiet, dem sie angehört und auf das sich ihre Wirksamkeit erstreckt: Talent und Neigung. Auf beide zusammen, nicht auf eins für sich, gründet sich die Eigentümlichkeit: beide gehören eng zusammen und sind nicht ohne empfindlichen Nachteil voneinander zu trennen. Das Talent kann sich ohne Neigung nicht ausbilden, Neigung ohne Talent ist unfruchtbar. Es ist aber auch selten, daß beide einander widersprechen: denn diejenige Funktion, welche im Verhältnis derselben untereinander das Übergewicht hat und die übrigen zurückdrängt, wird auch in der Richtung nach außen maßgebend sein. Insofern sind beide Verhältnisse doch wieder eins.

Wir haben im Vorstehenden die psychologische Begründung, welche SCHLEIERMACHER seinem Eigentümlichkeitsbegriff gibt, darzustellen versucht und dabei den ganzen Aufbau seines Systems im ersten Teil einer genaueren Berücksichtigung unterziehen müssen. Dieser erste, elementare Teil soll ja dazu dienen "vollständig und genau die einzelnen das psychische Leben konstituierenden menschlichen Tätigkeiten zusammenzustellen und in ihrer Zusammengehörigkeit und in ihrem Verhältnis zur Totalität so bestimmt als möglich zu erkennen", damit dann der konstruktive Teil zeigt,
    "wie diese Elemente auf verschiedene Art zusammensein können, erstens um ein einzelnes Leben, abgesehen von den großen Massen und Gruppen der Völker, und zweitens die Charaktere dieser großen Massen zu konstituieren." (16)
Wenn dies die Aufgabe der Psychologie SCHLEIERMACHERs ist, so kann man wohl fragen, daß ihm dabei der hier von uns zu entwickelnde Begriff der Eigentümlichkeit sowohl als Ausgangs- wie als Endpunkt vorgeschwebt hat. Offenbar hat SCHLEIERMACHER diesem ihm so wichtig erscheinenden, in einem bewußten Gegensatz gegen die herrschende Zeitphilosophie von ihm vertretenen Begriff eine feste wissenschaftliche Grundlage geben wollen. Dieser Versuch muß ihm als Verdienst angerechnet werden. Umso mehr ist es zu bedauern, daß die Ausführung dem Thema so wenig gerecht wird. Denn was den elementaren Teil anlangt, so ist es SCHLEIERMACHER nicht gelungen, "vollständig" und "genau" die einzelnen, das psychische Leben konstituierenden Tätigkeiten zusammenzustellen. Nicht vollständig: denn wenn man in Bezug auf das Verhältnis der Tätigkeiten untereinander in dem einen dieses Verhältnis, im andern jenes usw. denkt, ebenso in Bezug auf das Verhältnis der Funktionen zum Gesamtgebiet, dem sie angehören und auf das sich ihre Wirksamkeit erstreckt, wieder in dem einen dieses, im andern jenes usw., so daß man die einzelnen Funktionen in jeder nur denkbaren Weise permutiert [vertauscht - wp] und kombiniert, so wird man dadurch zwar eine ganze Reihe verschiedenartiger Verhältnisse bekommen, aber, wenn man sie an die Wirklichkeit mit ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit heranhält, dieser zahllosen Menge gegenüber mit jenen bald am Ende sein. Darum entbehrt die Zahl der von SCHLEIERMACHER aufgeführten Seelentätigkeiten und der durch sie bedingten Verhältnisse durchaus der Vollständigkeit. Aber auch der Genauigkeit. Weil nämlich SCHLEIERMACHER sich von KANT der Wirklichkeit der Außenwelt nicht wollte berauben lassen, hat er überall die Beziehung des Ich zum Nicht-Ich betont, aber nicht immer in den richtigen Grenzen: denn er hat die Bedeutung davon vielfach überschätzt. So in der "Psychologie" den Gegensatz von aufnehmenden und ausströmenden Tätigkeiten, der jene Beziehung ausdrückt, zum obersten Teilungsprinzip zu machen, war verfehlt, weil derselbe ganz allgemein und selbstverständlich, und darum so nichtssagend und so wenig charakteristisch ist, daß man daraus die prägnanten Unterschiede, auf welche es hier ankommt, unmöglich ableiten kann. Freilich nimmt er noch andere Tätigkeiten hinzu, aber alle Verhältnisse, die man aus ihnen kombinieren kann, haben etwas Unbestimmtes und Allgemeines, während doch gerade Eigenartiges gefordert wird. Wir wollen einmal eine konkrete Anwendung machen. Denken wir uns in einem Menschen als die in einem gegenseitigen Verhältnis der Funktionen am meisten hervorragende die ausströmende Tätigkeit in symbolisierender oder darstellender Form, so kann die dadurch bestimmte Eigentümlichkeit, wenn wir das in der philosophischen Ethik über die symbolisierende Vernunfttätigkeit Gesagte berücksichtigen, sowohl die des Gelehrten, wie des Dichters, des Künstlers, ja des Religionsstifters sein. Welches ist sie? Das wird abhängen von der Neigung, d. h. von derjenigen Lebensfunktion, welche unter den diesen Gebieten, der Wissenschaft, Kunst usw. angehörenden am meisten hervorragt. Welche ist das? dieselbe ausströmend symbolisierende? oder eine andere, aber welche andere? Es ist offenbar, daß uns hier schon die Terminologie SCHLEIERMACHERs im Stich läßt. Doch sehen wir noch davon ab und nehmen wir einmal an, die Neigung scheidet den Gelehrten vom Dichter, Künstler und Religionsstifter. Was aber unterscheidet dann den Gelehrten vom Gelehrten, den Dichter vom Dichter usw.? Hierauf gibt SCHLEIERMACHER folgende Antwort (17):
    "Setzen wir das Eigentümliche des Dichters in die Phantasie, so kann da der eine ein geringeres Quantum haben als der andere, und das konstituiert die Verschiedenheiten."
Also den Dichter soll vom Dichter das größere oder geringere Quantum von Phantasie unterscheiden; demnach den Gelehrten vom Gelehrten das größere oder geringere Quantum an - nun etwa - Gelehrsamkeit, den Künstler und Religionsstifter von ihres Gleichen entsprechend. Aber gibt es denn nur kleinere und größere Dichter, bedeutende und weniger bedeutende Gelehrte? Gibt es nur Größenunterschiede, keine Artunterschiede? Doch lassen wir auch hier den von SCHLEIERMACHER konstatierten Unterschied gelten. Aber wir müssen weiter fragen: Was unterscheidet den Gelehrten vom Gelehrten nicht als Berufsgenossen, sondern als Menschen, was also unterscheidet überhaupt Mensch von Mensch? Auch wieder ein Quantum? Ja, ein Quantum; das Quantum nämlich der Tätigkeitsverhältnisse. Hier haben wir den Hauptfehler der Darstellung SCHLEIERMACHERs: Er will Qualität durch Quantität erklären. Die Tatsache, daß jeder Mensch ein eigentümliches und als solcher von allen anderen ursprünglich und begriffsmäßig verschieden, diesen qualitativen Unterschied will er aus den Verschiedenheiten quantitativer Verhältnisse von Lebensfunktionen ableiten. Wenn er es wollte, so hätte er jedenfalls nachweisen müssen, wie diese quantitativen Unterschiede die qualitativen erzeugen. Da dies nicht geschicht, so sieht man auch nicht recht ein, warum diese quantitativen Funktionsverhältnisse denn überall und immer als verschiedenartige auftreten. Wenn es bloß auf Zahl und Größe ankommt, warum soll nicht ein und dieselbe Funktion zugleich in mehreren ein ganz gleiches Verhältnis zu den übrigen Funktionen, wie zum Gesamtgebiet, dem sie angehören, bilden, so daß mehrere ganz dasselbe Talent und dieselbe Neigung besäßen? Bei einer Begründung, wie sie SCHLEIERMACHER gibt, wird wirklich die Wahrscheinlichkeit für Gleichheit größer als die für Eigentümlichkeit der Menschen untereinander.

Indessen einen Vorzug scheint SCHLEIERMACHERs Theorie dennoch zu haben: Nach ihr fehlt in keinem Menschen irgendeine Beziehung oder ein Verhältnis ganz, sondern jeder hat Teil, wenn auch nur ganz geringen, an allen Richtungen und Verhältnissen. Das scheint nun für die Tatsache, daß wir, obwohl in einer bestimmten Hinsicht am meisten begabt und am lebhaftesten interessiert, dennoch nicht zu allem anderen gänzlich unfähig, noch dagegen vollständig ausgeschlossen sind, eine sehr annehmbare psychologische Erklärung zu sein. Sie wird aber wieder, wie ich glaube, dadurch illusorisch, daß auf der anderen Seite dem hervorragenden Element keine Schranke seines Überwiegens gesetzt ist; es steht zu besorgen, daß in einer so mechanischen Konstruktion sich Gesetze der Schwer- und Anziehungskraft geltend machen werden, daß das quantitativ Größte alles für sich in Anspruch nehmen und alles andere leer ausgehen wird. Übrigens tritt das Erkenntnismoment, welches auf einem quantitativen Überwiegen basiert, nicht bloß in SCHLEIERMACHERs Psychologie, sondern in seiner ganzen Philosophie zutage (18) und darum wird es schon von SCHALLER, also vor Veröffentlichung der "Psychologie", einer scharfen Kritik unterzogen: es sei so recht dazu angetan, urteilt er, die mechanische Weltanschauung SCHLEIERMACHERs zur Darstellung zu bringen, welche im ganzen All schließlich nur ein mechanisches Wechselspiel der Kräfte tätig und wirksam findet. Es trete in der Anwendung dieses Gesetzes vom Überwiegen der physische Anstrich des ganzen philosophischen Systems recht deutlich hervor (19).

Nun hat allerdings in der "Psychologie" die Theorie nur quantitativ verschiedenen Verhältnisse seit HERBART einen hervorragenden Platz eingenommen und es lassen sich aus ihr viele seelische Vorgänge und Erscheinungen sehr wohl erklären. Indessen in ihrer Ausschließlichkeit angewandt scheint sie mir große Mängel zu enthalten und zu berechtigten Beanstandungen zu veranlassen. In Bezug auf diese verweise ich auch LOTZEs "Mikrokosmus", Bd. 1, Seite 182-210; "Grundzüge der Psychologie", zweiter Teil, Kapitel 5 und ZELLER, "Geschichte der deutschen Philosophie", Seite 851f.

Was die Individualität betrifft, so kann sie durch jene Theorie nicht erklärt werden; das ist aber auch nicht nötig, da HERBART in seinen "Realen" ebenso wie LEIBNIZ in den "Monaden" das metaphysische Mittel zur Lösung solcher Schwierigkeiten gefunden hat. SCHLEIERMACHER jedoch operiert nicht mit einem derartigen Begriff, daher fehlt ihm die ontologische Voraussetzung, aufgrund deren HERBART nur quantitative Verhältnisse kennt.

Statt Vermögen der Seele setzt SCHLEIERMACHER Tätigkeiten oder Funktionen der Seele ein, weil bei jener Bezeichnung die Seele wie eine Arena erscheint, auf der die verschiedenen Vermögen miteinander kämpfen. Das wäre nun wohl noch der geringste Nachteil, den die Lehre von den Seelenvermögen hat: denn auch SCHLEIERMACHERs und besonders HERBARTs Darstellung macht die Seele zum bloßen Schauplatz für das, was zwischen den einzelnen Funktionen bzw. Vorstellungen geschieht. Gegen die Anwendung des Begriffes "Seelenvermögen" sprechen jedoch noch andere Gründe (siehe LOTZE, Mikrokosmus, a. a. O.)

SCHLEIERMACHER aber hat diesen Begriff nicht gerade glücklich durch den der Tätigkeiten oder Funktionen ersetzt. Denn dieselben sind nichts unmittelbares und im Menschen ursprünglich vorhandenes, sondern nur ein Entwicklickungsprodukt der Seele, welche sie nicht einmal rein aus sich selbst und ohne fremde Anregung ausübt. Wenn er nun wenigstens seinen "Tätigkeiten" bestimmte Bezeichnungen und fest umgrenzte Gebiete für ihre Wirksamkeit gegeben hätte! Aber im Gegenteil. Ein Blick auf das oben zusammengestellte Schema überzeugt von der ganz abstrakten Form, in der sie vorgeführt werden, einer Form, unter welcher der konkrete Gehalt, der durch sie begriffen werden soll, sich verflüchtigt und nicht in seiner spezifischen Bestimmtheit erfaßt werden kann. Geht doch die Abstraktion manchmal so weit, daß man den Sinn der Worte erst aus der konkreten Anwendung erkennen kann. So ist es im Grunde mit dem ganzen zweiten die Eigentümlichkeit konstituierenden Moment. Denn wenn da die Rede ist von einem Verhältnis oder von einer Richtung der Funktionen auf das Gesamtgebiet, dem sie angehören und auf das sich ihre Wirksamkeit erstreckt, so würde man gar nicht wissen, was SCHLEIERMACHER darunter versteht, wenn er nicht hinzusetzen würde, daß er den Begriff der Neigung damit meint.

Soviel über den elementaren Teil. Der konstruktive soll bekanntlich zeigen, wie die im ersten Teil entwickelten Elemente auf verschiedene Art zusammen sein können. Wir dürfen demnach erwarten, daß uns SCHLEIERMACHER, wenn auch nicht alle, so doch eine Anzahl jener "Funktionsverhältnisse" in konkreten Lebensbildern vorführen und also angewandte Psychologie treibt. Doch nichts von dem. Aus einem sehr äußerlichen Grund beginnt er mit einer "Massenindividualität", der des weiblichen Geschlechts und geht dann zur Begriffsbestimmung der Temperamente und des Charakters über. Die Geschlechtseigentümlichkeit lassen wir vorläufig beiseite, um sie später im Zusammenhang mit den Massenindividualitäten zu behandeln. Was aber Temperamente und Charakter betrifft, so gehören sie offenbar mit zu den Elementen, welche die Eigentümlichkeiten konstituieren, stehen also mit den "Tätigkeitsverhältnissen" des elementaren Teils, Talent und Neigung, auf gleicher Stufe. Dies wird besonders deutlich bei dem, was SCHLEIERMACHER über die Temperamente sagt; sie werden ebenso auf ein Überwiegen von Tätigkeiten zurückgeführt und sind ebensogut "Tätigkeitsverhältnisse", wie jene; nur daß die Kombination nicht mehr die Bedeutung hat, dafür tritt der Wechsel in der Zeitfolge ein. Die Temperamente beruhen nämlich
    1) auf dem jedesmaligen Übergehen von Rezeptivität oder von Spontaneität,

    2) auf der größeren oder geringeren Schnelligkeit, mit der jene Funktionen tätig sind und von einem zum andern Zeitmoment des Lebens fortschreiten; je schneller dies geschieht, umso kleiner sind die Momente, je langsamer, umso größer.
Indem nun SCHLEIERMACHER auf die von den Alten festgestellte Vierzahl zurückgeht, unterscheidet er sie folgendermaßen:
    1) Überwiegen der Selbsttätikeit oder Spontaneität; daher Bestimmtheit durch dieselbe, verbunden mit Langsamkeit im Fortschritt (daher in großen Momenten), gibt das phlegmatische Temperament;

    2) dasselbe Überwiegen der Selbsttätigkeit mit rascher Folge (daher in kleinen Momenten) das cholerische;

    3) das Überwieen der Empfänglichkeit oder Rezeptivität in großen Momenten das melancholische;

    4) dasselbe Überwiegen der Empfänglichkeit in kleinen Momenten das sanguinische. (20)
Doch sind die Temperamente nur "ein Produkt der Natur", eine natürliche Bestimmtheit an uns, daher nur von untergeordneter Bedeutung für die Ausbildung unserer Eigentümlichkeit; wenigstens dürfen sie es nur sein, wenn diese wirklich etwas wert sein soll. Wer sich ganz in der Gewalt des Temperaments befindet, bei dem hat das Leibliche einen zu großen Einfluß auf das Psychische, es fehlt die feste Basis der Entwicklung und das innere Prinzip, er wird vom Augenblick und der jedesmaligen Stimmung in demselben abhängig. Hier bedarf es eines Korrektivs. Als solches gilt SCHLEIERMACHER der Charakter. Da bei diesem jedoch nicht die Tätigkeitsverhältnisse, sondern das Bewußtsein in Betracht kommt, so lassen wir ihn hier beiseite, um zuletzt noch einiges über den Abschnitt "Wertdifferenzen unter den einzelnen" zu sagen. Hier hat SCHLEIERMACHER zwar einen Ansatz gemacht, die vorgenommene Aufgabe zu lösen, diese Ausführung leidet jedoch an folgendem Fehler:

Er geht von dem Gesichtspunkt aus, Wertdifferenzen zu bestimmen, Abstufungen, die einen Vorzug auf der einen Seite und ein Zurückbleiben auf der anderen begründen, festzustellen, also die Eigentümlichkeit nicht nach ihrem Wesen, sondern nach ihrem Wert, ihrer Wirkung und Leistung zu bemessen. Dieser Gesichtspunkt ist ebenso einseitig, wie der, welchen SCHLEIERMACHER wiederholt verurteilt (21), die Eigentümlichkeit nach der Moral zurechtzuschneiden. Während er letzterem abweist, ist er ersterem anheimgefallen. Er beurteilt die Eigentümlichkeit nicht sowohl danach, was sie als eine Eigenschaft ansich ist und in welcher Art sie sich äußert, als vielmehr danach, was sie als eine im Menschen angelegte Kraft wirkt und leistet.

Diese Auffassung leitet ihn auch bei seiner Ausführung über "die Wertdifferenzen". Die höchsten derselben sind das Herorische und das Geniale; ihr Vorzug aber und ihre Bedeutung vor anderen hängen hauptsächlich vom Erfolg, den sie haben, und der Leistung, die sie vollbringen, ab. Letztere sind am größten, wenn die Massen, über welche die heroischen und genialen Menschen hervorragen, noch unentwickelt sind. Wenn dagegen in ihnen die Entwicklung zur Bildung und Kultur fortschreitet, so verlieren sich jene "Wertdifferenzen" und es geht ein Assimilationsprozeß zwischen den Einzelnen und der Masse vor sich. Darum wird, wenn wir uns in die Zukunft einer solchen sich entwickelnden Gesamtheit versetzen,
    "die Veranlassung, nach dem Grund der Differenz der Einzelwesen zu fragen, in demselben Maß verschwinden, wie die Differenz selbst verschwindet." (22)
Da haben wir nun einen der auffallendsten Widersprüche in SCHLEIERMACHERs Schriften. Nach den zitierten Worten müßte ja die Eigentümlichkeit bei zunehmender Kultur und Bildung abnehmen, ja schließlich ganz verschwinden, während es doch nicht bloße eine Tatsache ist, sondern auch von SCHLEIERMACHER, wie wir sehen werden, wiederholt behauptet wird, daß sich die Eigentümlichkeit gerade durch Kultur und Bildung ausprägt und zur Entfaltung und Wirksamkeit kommt. (23)

An jener Stelle irrt sich übrigens SCHLEIERMACHER, wenn er meint, bei zunehmender Bildung assimilieren sich die Einzelnen und die Massen; zumindest ist die Assimilation immer nur eine recht äußerliche.

Den Schluß des konstruktiven Teils bilden schließlich die "zeitlichen Differenzen der Einzelwesen". Das führt auf den zweiten Teil dieses Abschnittes, auf die Entwicklung der Eigentümlichkeit, die wir nunmehr besprechen wollen.


b) Der Inhalt der Eigentümlichkeit
als gewordener.

"Die Differenzen beruhen", so heißt es auf Seite 288 der "Psychologie",
    "auf der Zeitlichkeit der Entwicklung, d. h. auf der zeitlichen Form des geistigen Seins im Zusammensein mit dem, was wir von Anfang an in unserer Betrachtung gesondert haben, indem wir nicht das ganze Leben untersuchten, sondern das physiologische beiseite ließen, und uns nur an das psychologische hielten."
Eine Erklärung freilich, die dunkler ist als der zu erklärende Ausdruck. Nach dem weiteren Zusammenhang scheint sie besagen zu wollen, daß wir unser geistiges Sein nicht für sich, sondern im Zusammenhang mit der Leiblichkeit zu betrachten haben. Denn da die geistigen Funktionen sich nur an der Leitung der organischen entwickeln, so würden wir uns von Anfang an in Abstraktionen bewegen, wenn wir nicht vom Zusammensein des geistigen und leiblichen und der Bedingtheit des ersteren durch das letztere ausgingen (24). Das bedeutet gewissermaßen eine Einschränkung der auf Seite 288 gemachten Bemerkung, daß die Verschiedenheit auf der Mannigfaltigkeit des Verhältnisses der geistigen Funktionen beruth. In der Tat hat, gerade wenn wir eine Entwicklung der Eigentümlichkeit annehmen, as Organische einen bedeutenden Anteil an der Bildung derselben, obwohl es auch hier dem Geistigen an Wichtigkeit nachsteht. Wenn wir nämlich im Einzelnen diese Entwicklung verfolgen, so finden wir bei SCHLEIERMACHER folgendes darüber ausgesagt (25):
    "Von dem Punkt aus, wo der Mensch der animalischen Stufe am nächsten steht, arbeitet sich das Eigentümliche erst allmählich aus dem Universellen, aus dem Zustand der relativen Ungeschiedenheit des Identischen und Eigentümlichen heraus."
Diese Ungeschiedenheit des Identischen und Individuellen bezeichnet SCHLEIERMACHER auch als "in Minimum des Gegensatzes zwischen Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit" oder als "eine unentwickelte Differenz derselben". Das führt uns wieder auf die Tätigkeiten der Seele und ihre gegenseitigen Verhältnisse zurück und allerdings kommen sie auch hier am meisten in Betracht, da sie nun einmal von SCHLEIERMACHER als das Fundament der Eigentümlichkeit angesehen werden. Sind sie daher gleich bei der Geburt fertig ausgebildet, so ist auch die Eigentümlichkeit von vornherein eine vollendete. Entwickeln sie sich aber erst im Verlauf des Lebens, so bedarf auch die Eigentümlichkeit zu ihrer Ausbildung und Vollendung der Entwicklung in der Zeit. Tatsächlich ist letzteres, nicht ersteres der Fall. Der Gegensatz der Tätigkeiten ist im Anfang ein Minimum, entwickelt sich nach und nach bestimmter, bis er an einem Punkt am stärksten hervortritt, um hernach wieder abzunehmen. Mit der Bestimmtheit der Gegensätze entwickeln sich auch die Verhältnisse der Funktionen. Auf diesen zeitlichen Verlauf macht SCHLEIERMACHER wiederholt aufmerksam (26), er will ihn nicht aus dem Auge verlieren und schildert ihn am Ende des konstruktiven Teils der "Psychologie" in konkreter, an treffenden Beobachtungen reicher Darstellung; indem er nach den Lebensaltern scheidet (27):

Bei neugeborenen Kind bilden sich zunächst die Sinnestätigkeiten aus. Der Gesichtssinn erscheint dabei als der am meisten leitende, und der Taststinn als der am unmittelbarsten folgende Sinn. In dieser Zeit steht der Mensch der bloß animalischen Stufe am nächsten, über die hinaus die Aneignung der Sprache der erste sichtlich bedeutende Schritt ist. Wir haben in letzterer ein bestimmtes Hervortreten der Spontaneität, ja ein Erwecktwerden der Denktätigkeiten durch die Mitteilung. Freilich
    "involviert das Auffassen von Bezeichnungen der Gegenstände noch nicht die Denktätigkeit, die Namen sind nur Zeichen für die Bilder und der Anfang ist nichts als eine Übertragung der Bilder in die Sprache." (28)
Auch die Satzbildung können wir noch nicht als Beweis für den Anfang der Denktätigkeit aufstellen, "da sie nichts als das bestimmtere Bezeichnen von Zuständen der Gegenstände und ihrem Verhältnis zum Moment ist." (29) Dagegen befindet sich das Kind nicht mehr bloß auf dem Gebiet der Bilder, sondern tritt aus ihm heraus, sobald es etwas spricht, was nicht als Bild, sondern nur als Begriff vorkommen kann, z. B. ethische Vorstellungen. "Sobald hier das Sollen vom Werten und Wollen, das Gute vom Angenehmen unterschieden wird, so ist die Denktätigkeit im eigentlichen Sinn entwickelt" (30), und ist von da an die leitende Kraft, jedoch in der Form überwiegender Rezeptivität und mit einem schnellen Wechsel in kurzen Momenten: denn das sanguinische Temperament muß im Kindesalter das herrschende sein, wenn die Entwicklung gesund vor sich gehen soll. Letztere ist, wie vom Temperament, so überhaupt noch stark vom Organischen abhängig, wie der Umstand beweist, daß die Gesundheit dieser Periode im richtigen Gleichgewicht zwischen den plastisch-organischen und den erkennenden Tätigkeiten besteht; daher ein unverhältnismäßiges Hervortreten der Denktätigkeiten in einem schwächlichen Körper als ein ungesundes Verhältnis angesehen wird.

Das Organische tritt vollends noch einmal mit ganzer Gewalt auf beim Eintritt in das jungfräuliche Alter im Geschlechtstrieb. Die ganze Entwicklung pflegt dadurch eine Störung zu erfahren und eine rückgängige Bewegung zu machen. In der Willenstätigkeit zeigt sich ein Mangel an Gehorsam und Neigung zu einer bloß negativen Selbständigkeit; dazu stellt sich eine geistige Trägheit und Neigung zur Zerstreutung ein, Leidenschaften werden mächtig. Gleichwohl müssen sich in dieser Periode alle die verschiedenen Zweige der Rezeptivität und Spontaneität im Erkennen und Bilden entwickeln, insbesondere das höchste: die Richtung auf Kunst und Wissenschaft. Denn immer wird die Art, wie sie sich der Jugend einbildet, als der Maßstab angesehen werden nicht nur für die weitere Entwicklung des Einzelnen selbst, sondern auch für die Beurteilung der Masse, welcher er angehört. Da kommt dann nun alles darauf an, daß das Ende dieser Periode glücklich und normal schließt. Hauptbedingung dafür ist, daß der Mensch in physischer Hinsicht vollkommen frei geworden ist, daß sich seine Seele nicht in das Organische, d. h. hier die Geschlechtsfunktion versenkt hat, so daß er in Wollust ausartet (31)ptivität, wie es im Kindesalter stattfindet, ein Übergewicht der Spontaneität über die Rezeptivität, welches im Mannesalter herrscht, werden, oder, wie sich SCHLEIERMACHER auch ausdrückt, aus dem sanguinischen Temperament der Kindheit durch die Vermittlung des melancholischen der Jugend das cholerische des Mannesalters (32).

Wenn das organische Leben in einer Ehegemeinschaft seine Befriedigung gefunden hat, sowie, wenn die Selbsttätigkeit von der aufnehmenden nicht mehr so beherrscht wird, daß der Mensch sich allen möglichen Impulsen öffnet, sondern sich einem bestimmten Beruf mit Stetigkeit widmet, so tritt er nach SCHLEIERMACHER in das Mannes- oder "reifere Alter". Es ist des Lebens Höhe. Die Tätigkeit des Geistes und Körpers ist intensiv und extensiv die größte, die Funktionen durchdringen sich harmonisch, Neigung und Talent gelangen zur vollen Kraft und Entfaltung. Der Mensch macht sich innerlich frei von den äußeren Einflüssen, eignet sich selbst die Leitung des Lebens und der ihn umgebenden Außenwelt an und wird, obwohl Geschöpf, doch zugleich Schöpfer in seiner ausströmenden oder spontanen Tätigkeit; was namentlich der Fall ist, wenn die erkennende Tätigkeit die Kraft zur Bildung von Zwecken d. h. zur Vorbildung zukünftiger Momente hat. Jetzt erst kann er nun auch sich selbst und die Eigentümlichkeit seines Wesens vollenden und zu dem ihr adäquaten Ausdruck bringen. Jetzt erst tritt daher seine begriffsmäßige, ursprüngliche Verschiedenheit von allen anderen in prägnanter Weise hervor, und zeigt sich nicht nur darin, daß er anders denkt und urteilt, fühlt und empfindet, will und handelt als jeder andere, sondern schafft sich äußerich einen bestimmten, bleibenden Ausdruck in der Physiognomie, wodurch zugleich die Wirkung, welche das Intellektuelle auf das Organische übt, offenbar wird. Wenn man darum
    "neugeborene Kinder nebeneinander stellt, so zeigt sich eine weit geringere Differenz in ihrer organischen Erscheinung als bei erwachsenen Personen, in den ersteren nur das allgemein menschliche, in den anderen die besondere Eigentümlichkeit." (33)
Und noch weiter geht der Einfluß der inneren geistigen Eigentümlichkeit auf das Werden der äußeren Persönlichkeit: denn er bleibt nicht lediglich bei der Person selbst stehen, sondern erstreckt sich sogar auf die Umgebung derselben, und wenn wir eine gewisse Kenntnis von einem Menschen haben, so finden wir auch sein Bild in der Art wieder, wie er seine nächste Umgebung einrichtet (34). So spiegelt sich gleichsam die Eigentümlichkeit im Menschen an ihm und um ihn herum wieder.

Hier haben wir nun aber eine bemerkenswerte Tatsache zu konstatieren: das Hervortreten der Eigentümlichkeit in das Äußere ist nicht bloß der Art, sondern auch dem Grad nach ein verschiedenes. Es zeigt sich unter gewissen Bedingungen und in bestimmten Gruppen der Menschheit stärker als in anderen. SCHLEIERMACHER selbst macht darauf aufmerksam, daß die Verschiedenheiten in der großen Masse schwächer als in den höheren Kreisen der Gesellschaft auftreten (35). Das will nichts anderes besagen, als daß die Eigentümlichkeit, die innere, wie deren Ausdruck, die äußere, abhängig ist von der Bildung, welche der Menge in geringerem Maß als den durch Wissen und soziale Stellung ausgezeichneten Gruppen unter den Menschen innewohnt. Denn es ist ein Gegenstand täglicher Beobachtung, daß mit wachsender Bildung die Gesichtszüge des Menschen an Ausdruck gewinnen, die Sprache sich moduliert, der ganze Habitus sich eigentümlicher gestaltet. Natürlich würden diese Wandlungen nicht stattfinden können, wenn nicht zuerst das Innere des Menschen, dessen Widerschein jenes Äußere ist, durch die Bildung in geistiger und seelischer Beziehung ein eigentümliches Gepräge empfinge. Wie kann es auch anders sein? Die Bildung ist ja das Hauptmoment jener "Produktionsverhältnisse", welche in ihrer Mannigfaltigkeit unserem Begrif die psychologische Grundlage geben, und sie kann nur da gedeihen und eine gewisse Höhe erreichen, wo die Entwicklung jener nicht gehemmt ist, wo insbesondere die geistigen Tätigkeiten ein sicheres Übergewicht über die organischen erlangt und dem Geist einen inneren halt und sittliche Freiheit verliehen haben.

Das sind aber Bedingungen, welche von der Menge, die mehr oder weniger materiellen Lebensinteressen hingegeben ist, nicht in dem Maße erfüllt werden können, wie von denjenigen, deren Tätigkeit eine vorwiegend geistige ist, und die dadurch jener Masse weit überlegen sind; eine Überlegenheit, die sich am auffallendsten nach Vollendung des Mannesalters und im Greisenalter dokumentiert und wohl den größten Segen, welchen die Bildung uns Menschen zuteil werden läßt, darstellt. Denn je geringer die Bildung, umso zerstörender die Einwirkung des Alters; je bedeutender dagegen jene, umso schwächer diese:
    "auf alles, was von der Denktätigkeit ausgeht und was vorher gedachtes Wollen ist, hat das eintretende Alter einen weit geringeren Einfluß. Daher erscheint in weit größerem Maßstab, als die bei anderen Lebensaltern der Fall ist, die Verschiedenheit zwischen den geistiger erregten Teilen der Gesellschaft und denen, welche mehr mechanischen Tätigkeiten zugewandt sind."
Während man bei jenen
    "häufig eine fortwährende Stärke der geistigen Operationen und einen lebendigeren Anteil an Wissenschaft, Kunst, Religion und politischer Tätigkeit, als man nach dem Verhältnis der Organe erwarten sollte", bemerkt, sehen wir bei diesen "alle psychischen Tätigkeiten zurückgedrängt und geschwächt" und erhalten den Eindruck, "als ob das Psychische ganz abhängig wäre vom Organischen." (36)
Nun ist die Bildung im wesentlichen Resultat des Unterrichts und überhaupt der Erziehung. Darum legt SCHLEIERMACHER mit Recht auf letztere ebenfalls großes Gewicht, wo er von der Bedeutung der Eigentümlichkeit erfüllt ist. Es ergibt sich ihm dabei ein doppelter Gesichtspunkt: Erstens ist es die Erziehung, durch welche die Eigentümlichkeit hervorgetrieben und zur Vollendung gebracht wird, so daß diese als das Produkt jener erscheint. Zweitens ist es die Eigentümlickeit, auf welche die Erziehung Rücksicht nimmt, nach der sie sich zu richten hat, so daß hier die Eigentümlichkeit als das erste und als ein die Erziehung bestimmender Faktor erscheint. Beide Gesichtspunkte schließen einander nicht aus. Denn der Sinn, welchen ich beide Male mit dem Begriff der Eigentümlichkeit verbinde, ist in jedem Fall ein anderer. Denke ich mir die Eigentümlichkeit als Produkt der Erziehung, so meine ich die durch die Entwicklung der sämtlichen intellektuellen wie organischen Tätigkeiten vollendete und ausgebildete Eigenschaft, die der Mensch, wenn er auf der Höhe des Lebens steht, in sich trägt. Spreche ich dagegen umgekehrt von einem bestimmenden Einfluß der Eigentümlichkeit auf die Erziehung, so verstehe ich unter ihr die im Menschen gleich bei der Geburt vorhandene Anlage, aufgrund deren er von vornherein eine ursprüngliche, begriffsmäßige Verschiedenheit von allen anderen hat, die nur noch der Entwicklung mit Hilfe der Erziehung und Bildung bedarf, um für das menschliche Leben von Bedeutung zu werden.

Diese doppelte Weise vom Verhältnis der Eigentümlichkeit zur Bildung und Erziehung zu denken erscheint nicht nur uns heutzutage einigermaßen selbstverständlich, sondern war auch zu SCHLEIERMACHERs Zeit in der Pädagogik anerkannt. Die Berücksichtigung der Individualität im Zögling fordern seit BACON alle bedeutenderen Pädagogen und gerade während SCHLEIERMACHERs Jugend wurde sie, besonders durch den Einfluß ROUSSEAUs, einer der wichtigsten Grundsätze in der Erziehungslehre. Muß es und daher nicht wundern, wenn SCHLEIERMACHER am Ende des pädagogischen Bestrebungen so reichen Jahrhunderts in seinen Reden die damalige Unterrichtsmethode mit den schwersten Vorwürfen überhäuft, eben weil sie von einer Achtung der im Kind angelegten Eigentümlichkeit nichts wissen will? Eine "Sklaverei" ist sie ihm, in welcher "der Sinn der Menschen gehalten wird zum Zweck jener Verständesübungen, durch die nichts geübt wird, jener Erklärungen, die nichts hell machen, jener Zerlegungen, die nichts auflösen." Obwohl sich damals die ganze gebildete Welt Deutschlands mit pädagogischen Fragen beschäftigt hat, so ist es dennoch "mit den Verbesserungen der Erziehung gegangen, wie mit allen Revolutionen, welche nicht aus den höchsten Prinzipien angefangen wurden; sie gleiten allmählich wieder zurück in den alten Gang der Dinge, ... die verständige und praktische Erziehung von heute unterscheidet sich nur noch wenig von der alten mechanischen." (37) Zu den höchsten Prinzipien, welche nach SCHLEIERMACHER die damalige Pädagogik ignoriert hat, gehört unser Begriff. Da wir nun nicht wohl annehmen können, daß die großen literarischen Erscheinungen sowie die praktischen Versuche auf dem Gebiet der Pädagogik, welche alle der individualität mehr oder weniger Beachtung schenken, SCHLEIERMACHER gänzlich unbekannt gewesen sind, so haben wir vielleicht als Veranlassung seines Tadels irgendwelche persönlichen Erfahrungen, die ihm teils in der Jugend teils nach seiner Studienzeit in Ostpreußen und Posen zuteil geworden waren, zu denken. Überhaupt werden die neuen Prinzipien, zur Zeit, als die "Reden" geschrieben wurden, nur in sehr geringem Maße, namentlich in den von der Aufklärung beherrschten Kreisen, Anklang und praktische Verwendung gefunden haben; wo sie aber ins Leben traten, da erregt oft die ganz geistlose, schablonenhafte Manier, mit der sie gehandhabt wurden, unser Mißfallen. Darum geht SCHLEIERMACHERs Tadel hauptsächlich auf die Rationalisten, "diese verständigen und praktischen Leute" und erscheint als Teil seiner Polemik gegen den ganzen Rationalismus. Von welchem Gesichtspunkt aus wir jedoch auch jene Auslassungen aufzufassen haben, jedenfalls hat sich SCHLEIERMACHER durch sie wie weiterhin durch seine Erziehungslehre ein großes Verdienst um die Entwicklung der Pädagogik in unserem Jahrhundert erworben. Mit diesem Ausblick in die eminent praktische Bedeutung unseres Begriffs, die wir jedoch hier nicht weiter verfolgen können, schließen wir den Abschnitt über die Entwicklung der Eigentümlichkeit aufgrund der "Funktionsverhältnisse" und gehen zur Analyse des Bewußtseins über, welches für den Begriff der Eigentümlichkeit von eben solcher Wichtigkeit ist, wie die verschiedenen Verhältnisse und Richtungen der Seelentätigkeiten. Denn ohne Bewußtsein gibt es keine Eigentümlichkeit. Ersteres ist die stets notwendige Form, in welcher letztere erscheint.

LITERATUR - August Frohne, Der Begriff der Eigentümlichkeit oder Individualität bei Schleiermacher, Halle a. d. Saale 1884
    Anmerkungen
    1) SCHLEIERMACHER, "Reden", hg. von PÜNJER, Seite 263, 264 und 96.
    2) Monolog II und IV
    3) BENDER, a. a. O., Seite 59, Anmerkung
    4) "Reden", hg. PÜNJER, Seite 131, 132.
    5) siehe Monolog IV.
    6) "Philosophische Ethik", hg. SCHWEIZER, Seite 94
    7) "Psychologie", Seite 267 und 347.
    8) vgl. HERMANN LOTZE, Mikrokosmus II, Seite 100f und 351f.
    9) "Psychologie", Seite 66
    10) "Psychologie", Seite 94, 95
    11) a. a. O., Seite 243
    12) a. a. O., Seite 75
    13) "Psychologie", Seite 66 unten, 75 oben
    14) "Psychologie", Seite 239
    15) ebd.
    16) "Psychologie", Seite 58
    17) "Psychologie", Seite 237
    18) vgl. SCHÜRER, a. a. O., Seite 6, sowie BENDER, a. a. O., Seite 79
    19) JULIUS SCHALLER, Vorlesungen über Schleiermacher, Halle a. d. Saale, Seite 173f.
    20) "Psychologie", Seite 303f (vgl. LOTZE, Mikrokosmus II, Seite 351f.
    21) "Psychologie", Seite 237 und "Reden" Seite 95 und 96.
    22) "Psychologie", Seite 347
    23) vgl. auch LOTZE, Mikrokosmus II, Seite 99f und 420.
    24) "Psychologie", Seite 289
    25) "Philosophische Ethik", Seite 255; "Psychologie, Seite 87.
    26) "Psychologie", Seite 10 und 65
    27) ebd. Seite 365-405
    28) ebd. Seite 370
    29) ebd. Seite 370 unten.
    30) "Psychologie", Seite 371
    31) "Psychologie", Seite 380
    32) ebd. Seite 381f (vgl. LOTZE, Mikrokosmus II, Seite 357f)
    33) "Psychologie", Seite 48
    34) ebd. Seite 49
    35) ebd. Seite 391
    36) "Psychologie", Seite 404
    37) "Reden", hg, PÜNJER, Seite 154 und 168.