p-4T. K. OesterreichA. LasurskiJ. VolkeltMüller-FreienfelsO. Weidenbach    
 
AUGUST FROHNE
Der Begriff der
Eigentümlichkeit oder Individualität

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"Kant hat in seinem System für den Begriff der Eigentümlichkeit und dessen Anwendung keinen Platz. Er vernachlässigt über den in allen Menschen identischen Formen der Anschauung und des Denkens die in der menschlichen Natur ebenso ursprünglich begründete Eigentümlichkeit des einzelnen Ich, welche eine qualitative Verschiedenheit der Menschen untereinander bedingt."

"Bei Fichte ist die Individualität eine bloße Beschränkung des Absoluten und das Objekt, d. h. das Ziel des Sittengesetzes nicht, wie bei Schleiermacher, die Ausbildung und Vollendung der Individualität, sondern ihre Vernichtung und Verschmelzung in die absolut reine Vernunftform."

"Der direkte Gegensatz des Eigentümlichen, des Individuellen ist für Schleiermacher das Identische, d. h. das in allen ursprünglich und begriffsmäßig Gleiche und allen Gemeinsame."

"Schleiermacher rügt an Kant und Fichte die Vernachlässigung der Eigentümlichkeit als ethischen Grundsatz und hat im Gegensatz zu ihnen denselben umso energischer zu betonen, doch er verfällt nun seinerseits nicht in den entgegengesetzten Fehler, dem Individualitätsprinzip alles zu opfern und es zu überschätzen und bewahrt dadurch seine Wissenschaft vor einem falschen Individualismus."


Einleitung

Den Begriff der Eigentümlichkeit gewinnt SCHLEIERMACHER aus der Tatsache, "daß jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit darstellen soll, daß er sich ein einzeln gewolltes, also auserlesenes Werk der Gottheit fühlt, welches sich einer besonderen Gestalt und Bildung erfreuen soll." So sagt er in den "Monologen" und verkündet dabei das Aufleuchten dieses Gedankens in ihm mit Tönen wahrer Begeisterung. Woher diese Begeisterung bei einer uns so einfach erscheinenden Veranlassung? - Weil die Erkenntnis von der Eigentümlichkeit jedes Menschen ihn, seitdem sie ihm aufgegangen ist, am meisten erhebt, weil sie ihm eine wirkliche Tat, eine entscheidende Wendung in seinem gesamten inneren und äußeren Leben ist. Die begeisterten Worte gelten nicht nur dem Erfolg eines philosophischen Denkprozesses, der Lösung eines lange gesuchten wissenschaftlichen Problems, sondern weit mehr noch der richtigen Beantwortung einer praktischen Lebensfrage, dem Gewinn einer Welt- und Lebensansicht, eines Lebensideals.

Lange - so stellt er es in den "Monologen" dar - hat er danach gesucht, lange auf einer niedrigeren Stufe der Erkenntnis gestanden, die ihm auch genügte. Ja er kann auf diese Zeit sogar mit Selbstgefühl blicken, denn schon damals stand er hoch über all denen, die sich den Zepter der Notwendigkeit beugen und unter dem Fluch der Zeit, die nichts bestehen läßt, seufzen. Dennoch waren ihm auf jener Stufe, wo er das Bewußtsein der allgemeinen Menschheit in sich trug und auf der Höhe der Vernunft stand, noch Zweifel mitgegeben und ein anderes höheres Ziel trat immer lebhafter vor seine Seele. Er rang nach ihm in einem inneren Drang und fand es dadurch, daß er den Gedanken der Eigentümlichkeit erfaßte. Nunmehr wurden ihm von dieser höheren Einsicht aus die Mängel der früheren erst ganz deutlich: wie er nämlich damals
    "die Gleichheit des einen Daseins als das Einzige und Höchste verehrend, geglaubt hat, es gebe nur ein Rechtes für jeden Fall, es müsse das Handeln in allen dasselbe, und nur sofern doch jedem seine eigene Lage, sein eigener Ort gegeben ist, unterscheide sich einer vom andern."
Wie er ferner die Menschheit als eine gleichförmige Masse angesehen hat, die zwar äußerlich zerstückelt erscheint, innerlich aber in allen dieselbe ist; und wie er von der besonderen geistigen Gestalt des Menschen angenommen hat, daß sie sich ganz ohne inneren Grund auf äußere Weise nur durch Reibung und Berührung zur zusammengehaltenen Einheit der vorübergehenden Erscheinung bildet. (1)

Man hat in diesen Sätzen eine kritisierende Bezugnahme auf die Philosophie von KANT und FICHTE gefunden und - wenn man die Ausführungen in den "Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" vergleicht - wohl nicht mit Unrecht. Nach dieser Schrift hat sich SCHLEIERMACHERs Denken im schärfsten Gegensatz gegen jene die wissenschaftliche Welt beherrschenden Systeme gerade in seinem originalsten Bestandteil, der Lehre von der Eigentümlichkeit durchgearbeitet. Es half ihm hierzu nicht, daß er sich von seinem 19. bis 27. Jahr vorwiegende mit der Kritik der reinen und praktischen Vernunft beschäftigt hatte. Im Gegenteil, die Bedeutung, welche hier der allgemeinen menschlichen Vernunft gegeben wird, nimmt das Interesse des Denkers völlig für sich in Anspruch und am allerwenigsten hat neben ihr der Gedanke Raum, daß diese allgemeine Vernunft nun wieder in jedem Einzelnen eigentümlich erscheint und sich prinzipiell, nicht bloß äußerlich verschieden von der Vernunft in allen übrigen Individuen äußert. Ja dieser Gedanke war sogar fähig, der unfehlbaren Sicherheit, mit welcher der kritische Idealismus seine Resultate verkündete, einen empfindlichen Stoß zu geben.

So sehen wir dann, daß KANT in seinem System für den Begriff der Eigentümlichkeit und dessen Anwendung keinen Platz hat. Er vernachlässigt über den in allen Menschen identischen Formen der Anschauung und des Denkens die in der menschlichen Natur ebenso ursprünglich begründete Eigentümlichkeit des einzelnen Ich, welche eine qualitative Verschiedenheit der Menschen untereinander bedingt. Man kann diesen Mangel in der "Kritik der reinen Vernunft" entschuldigen, die nach KANT jede andere philosophische Erkenntnis erst begründen soll. Aber verhängnisvoll wird der Fehler im System der praktischen Vernunft. KANTs Ethik hat ja das große Verdient, der laxen, oberflächlichen Moral der ausartenden Aufklärung gegenüber die Würde und das absolute Gebot des Sittengesetzes wieder zur Geltung gebracht und dadurch eine Reform der Ethik angebahnt zu haben. Aber obwohl er die ethische Untersuchung tiefer auf das intelligible Wesen des Menschen gründet, so vermag er doch nicht dieses nun auch in seiner wirklichen Erscheinung, d. h. wie es sich in der unendlichen Mannigfaltigkeit eigentümlicher Daseinsformen dokumentiert, aufzufassen, weil er überall Wesen und Erscheinung abstrakt gegenüberstellt. Dieser Mangel ist nun aber eben der Grund, - so führt SCHLEIERMACHER in der Kritik der Sittenlehren aus, - warum KANT nicht Sittenlehre, sondern vorwiegend Gesetzes- und Rechtslehre vorträgt.

Als Fortbildner der kantischen Gedanken sieht er sich FICHTE an. Gegen ihn spricht sich daher Schleiermacher in demselben Sinn wie gegen KANT aus. Dennoch hat man, aber wohl nur einmal, den SCHLEIERMACHER eigentümlichen Grundsatz, über welchen wir hier handeln, gerade diesem ab- und FICHTE zugesprochen. Dies nämlich hat in einem Aufsatz über FICHTE und SCHLEIERMACHER, FICHTEs Sohn behauptet, indem er sich auf einen Brief von CHALYBÄUS stützt. Es heißt da:
    "Sofern das Individualitätsprinzip bei Schleiermacher zu finden sein möchte, hat er es sicherlich nur von Fichte und es ist daher auf die Quelle zurückzugehen."
Diese Darlegung findet DILTHEY mit Recht sonderbar, widerlegt sie und stellt dann einen Vergleich an zwischen dem Ich FICHTEs und die Individualität SCHLEIERMACHERs (2).

Unzweifelhaft haben diese Begriffe der beiden Denker große Ähnlichkeit. Doch ist der wesentliche, prinzipielle Unterschied zwischen ihnen nicht zu verkennen, wenn sich man folgende Stelle in FICHTEs Sittenlehre (3) vergegenwärtigt:
    "Schon oben ist das Reine im Vernunftwesen und die Individualität scharf voneinander geschieden worden. Die Äußerung und Darstellung des Reinen in ihm ist das Sittengesetz; das Individuelle ist dasjenige, worin sich jeder von anderen Individuen unterscheidet. Das Vereinigungsglied des reinen und empirischen liegt darin, daß ein Vernunftwesen schlechthin ein Individuum sein muß; aber nicht eben dieses oder jenes bestimmte, daß einer dieses oder jenes bestimmte Individuum ist, ist zufällig, sonach empirischen Ursprungs."
Indem FICHTE also den gemeinsamen Inbegrifffe der menschlichen Natur im Auge hat, legt er dem, wodurch sich jeder von den übrigen unterscheidet, keine Bedeutung bei. Dieser Unterschied ist ihm ein äußerlicher, beruhend auf der Verschiedenheit der Umgebungen und äußeren Verhältnisse eines jeden. Die Individualität erstreckt sich nach ihm nicht weiter als "auf das Verhältnis zu einem eigenen Leib und auf die Mehrheit der Menschen-Exemplare überhaupt."(4)

Die Tragweite dieser Theorie ergibt sich aus den Folgerungen, daß die Individualität eine bloße Beschränkung des Absoluten ist und daß das Objekt, d. h. das Ziel des Sittengesetzes nicht, wie bei SCHLEIERMACHER, die Ausbildung und Vollendung der Individualität ist, sondern ihre Vernichtung und Verschmelzung in die absolut reine Vernunftform. (5)

Wir sehen: Der Vernachlässigung des Grundsatzes der Eigentümlichkeit durch KANT, der Verneinung desselben durch FICHTE steht SCHLEIERMACHER, indem er die eigentümliche Verschiedenheit der Menschen weder nur äußerlich noch zufällig findet, neu und selbständig gegenüber. Gleichwohl ist er nicht der erste, der überhaupt das Individualitätsprinzip erst findet und zum ersten Mal in die Philosophie einführt. Vielmehr kennt es schon ARISTOTELES. Unter den Neueren betont es mit Bezug auf die Praxis des Unterrichts BACON und in seinen "Gedanken über die Erziehung" auch LOCKE, wie es denn überhaupt in der Pädagogik schon vor SCHLEIERMACHER einen hervorragenden Platz einnimmt. Rein philosophische Bedeutung dagegen gewinnt es in entscheidendem Maß erst bei LEIBNIZ. Dieser widerlegt den absoluten Gegensatz von Denken und Ausdehnung in der Philosophie des CARTESIUS durch seinen Begriff der Kraft, die unteilbar ist, sondern selbst ganze volle Kräfte und darum Substanzen sind. Als solches Einzelwesen ist sie einfach (d. h. nicht zusammengesetzt), ursprünglich, selbständig, kurz ein Individuum, welches durch Selbsttätigkeit und Selbstunterscheidung seine besondere Eigentümlichkeit behauptet. So hat also LEIBNIZ das principium individuationis gefunden, diesem gemäß lehrt er, daß jedem Wesen eine unveräußerliche Eigentümlichkeit innewohnt, daß nirgends in der Welt auch nur zwei vollkommen gleiche Wesen angetroffen werden.

SCHLEIERMACHER hat, wie wir aus den von DILTHEY veröffentlichten Denkmalen seiner inneren Entwicklung wissen, den LEIBNIZ vor Veröffentlichung seiner Reden und Monologe studiert Ja erst nach diesem Studium finden wir bei ihm die erste Aufzeichnung von Gedanken über die Eigentümlichkeit in den ethischen Rhapsodien (6). Es kann daher kein Zweifel sein, daß sich dieselben erst aufgrund von LEIBNIZ' Lehre in ihm entwickelt haben.

Das jedoch hebt die Selbständigkeit seines Denkens nicht nur nicht auf, sondern bestätigt sie vielmehr. Denn die Herübernahme des Begriffs ist verbunden mit einer durchaus originalen Auffassung und neuen epochemachenden Anwendung desselben. Während nämlich LEIBNIZ seinen "Monadenfund" mehr mit dem Reichtum seiner Einbildungskraft als durch strenges, kritisches Denken verteidigt, faßt und begründet SCHLEIERMACHER den Begriff der Eigentümlichkeit nicht bloß metaphysisch, sondern psychologisch; während im System von LEIBNIZ der Begriff nur eine mathematisch-physikalische Anwendung allgemein philosophischer Art findet, weiß SCHLEIERMACHER ihn zu beleben und fruchtbar zu machen zur Begründung einer neuen Religionsphilosophie und zum Aufbau eines neuen psychologischen wie auch ethischen Systems. Das war doch auch eine Entdeckung, und keine einfache und leichte: denn "nur schwer und spät gelangt der Mensch zum vollen Bewußtsein seiner Eigentümlichkeit", so berichtet er selbst in den Monologen. Erst als er diese schrieb, war ihm der Gedanke der Eigentümlichkeit in voller Klarheit und in seiner ganzen Tragweite aufgegangen. Da verleiht derselbe der Selbstbetrachtung, wie sich eine solche beim Jahreswechsel aufdrängt, erst ihren rechten Wert, gibt dem Menschen Gewißheit über seinen Beruf, veredelt und vertieft das Verhältnis zu Freunden. Der Blick auf das eigene innere Wesen in seiner Eigentümlichkeit schafft dem Gemüt Ruhe und Klarheit, hebt es empor über das gewöhnliche Leben und Treiben der Welt, gewährt einen verheißungsvollen Blick in die Zukunft, verschönt Jugend und Alter.

So zeichnet SCHLEIERMACHER in hoher Selbstbetrachtung mit dichterischem Schwung und erhabenem Ausdruck der Rede ein sich zum Höchsten emporschwingendes Leben und Streben. Es ist sein Lebensideal, das er nun, nachdem er die Eigentümlichkeit seines inneren Wesens erkannt hat, eben darum erringen will, um diese seine Eigentümlichkeit zur Ausbildung und Vollendung zu bringen. Das ist die Tatsache der Eigentümlichkeit und ihre Bedeutung für SCHLEIERMACHERs Peron. Für seine Wissenschaft aber wird es entscheidend, daß er nicht nur sein subjektives Erleben zu schildern sich begnügt, sondern auch in objektiver Weise eine Begriffsbestimmung des für ihn so wichtigen ethischen Grundsatzes aufstellt.

Dieselbe dürfte sich ungefähr folgendermaßen wiedergeben lassen:


I. Die Definition des Begriffs
der Eigentümlichkeit

An der Stelle, wo die Lehre von der Eigentümlichkeit in die philosophische Ethik eintritt, lesen wir:
    "da alles sittlich für sich zu setzende als einzelnes zugleich auch begriffsmäßig von allem anderen einzeln verschieden sein muß: so müssen auch die einzelnen Menschen ursprünglich, begrifffsmäßig voneinander verschieden sein; d. h. jeder muß ein eigentümlicher sein." (7)
Die Verschiedenheit als eine ursprüngliche, begriffsmäßige wird auch gleich noch näher erklärt. Ursprünglich verschieden, d. h. so, daß diese Verschiedenheit nicht etwa nur durch das Zusammensein mit verschiedenen geworden, sondern innerlich gesetzt ist. Begriffsmäßig verschieden, d. h. nicht nur, weil sie in Raum und Zeit andere sind, sondern so, daß die Einheit, aus welcher sich das in Raum und Zeit gesetzte entwickelt, verschieden ist.

In diesen beiden Bestimmungen haben wir negative und positive Momente. Abgewiesen wird das nur dem Raum und der Zeit nach Verschiedene, sowie dasjenige, welches in sich kein selbstgestaltendes Prinzip, daher den Grund seiner Verschiedenheit nicht in sich selber hat, sondern von außen her empfängt. Eigentümlich dagegen ist dasjenige, dessen Unterschied von anderen innlich gesetzt ist und gerade so, wie er ist, aus einer inneren Notwendigkeit entspringt, daher der einzelne Mensch, wie es in den Reden (8) heißt: "Nichts anderes sein kann als was er sein muß" (in der zweiten Auflage "ist"); das Eigentümliche unterscheidet sich seinem Wesen und seiner inneren Beschaffenheit nach, also "qualitativ" von allem anderen. Ihm gegenüber können wir jenes erstere nur als ein Einzel- oder Für-sich-Sein ohne eigentümlichen Charakter ansehen.

Wenn wir nun diese Unterschiede an die Wirklichkeit heranhalten, so sehen wir leicht, daß es vielmehr Dinge gibt, welche den ersteren Bestimmungen als solche, welche den letzteren entsprechen. Wir finden viele Sonder- und Einzelexistenzen, die jedoch kein eigentümliches Dasein haben, weil ihr Ursprung nur zufällig, ihr Unterschied von anderen nur äußerlich, nicht innerlich und qualitativ ist. Dies wird am deutlichsten bei dem bloß numerisch Verschiedenen; ein abgesprengtes Stück Stein z. B. ist von seinem Komplement [Gegenstück - wp] nur numerisch verschieden, weil qualitativ mit ihm ganz dasselbe. (9) Und so hat die tote Natur in ihren Einzelerscheinungen überhaupt kein eigentümliches Dasein aufzuweisen.

Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit der lebendigen? Wir werden weiter unten zu zeigen haben, daß der von SCHLEIERMACHER aufgestellte und psychologisch begründete Begriff der Eigentümlichkeit nicht auf alle lebenden Wesen der Erde Anwendung finden kann. Das Tierreich ist davon ausgeschlossen, nur den Menschen kommt ein eigentümliches Sein zu, nur sie sind ursprünglich und begriffsmäßig voneinander verschieden.

Was demnach das Verhältnis der Eigentümlichkeit zur Einzelheit anlant, so wäre jener dem Umfang nach der engere, dieser der weitere Begriff oder - wenn wir es logisch ausdrücken wollen - jener der kleinere, dieser der größere zweier konzentrischer Kreise [mit gemeinsamem Mittelpunkt - wp]. Man würde jedoch SCHLEIERMACHERs Ansicht nicht vollständig wiedergeben, wollte man dabei stehen bleiben. Sehen wir nämlich in dem oben zitierten § 130 auf den Vordersatz, so wird vom sittlich für sich zu setzenden "als einzelnem" gesprochen. Es gibt aber auch anderes "sittlich für sich zu setzendes", die ursprünglichen Differenzen zeigen sich nicht nur unter den einzelnen, sondern kommen auch "massenweise" vor. Als solche "großen Differenzen im menschlichen Geschlecht" gelten SCHLEIERMACHER die Rassen-, Volks-, und Geschlechtsindividualitäten. Denn nicht bloß die einzelnen Menschen sind untereinander ursprünglich, begriffsmäßig verschieden, sondern auch die Rassen, Völker und Geschlechter (d. h. der männliche und weibliche Typus) (10). Findet also auch auf diese der Begriff der Eigentümlichkeit Anwendung, so ist freilich klar, daß das eigentümliche Sein zum bloß einzelnen oder besonderen Sein ein anderes Verhältnis einnimmt, als das oben aufgestellte; es ist nicht mehr im Vergleich zu diesem der engere Begriff, sondern beide gehen weit mehr auseinander, sie sind nicht - um auf das mathematische Beispiel zurückzuskommen -, mit zwei konzentrischen, sondern mit zwei sich von außen schneidenden Kreisen zu vergleichen. Gemeinsames Gebiet für beide sind die Menschen als einzelne und zugleich eigentümliche, außerdem aber umfaßt das Einzelsein für sich das ganze Außermenschliche, das Eigentümliche dagegen seinerseits die in der menschlichen Gattung vorhandenen Unterschiede der Rassen, Völker, Familien und des Geschlechts.

Wenn wir jetzt, nachdem wir den Begriff der Eigentümlichkeit festgestellt haben, auf seine Anwendung im allgemeinen bei SCHLEIERMACHER sehen, so finden wir als bemerkenswerten Umstand, daß er, mit wenigen Ausnahmen, in Verbindung mit den ihm entgegengesetzten Begriffen erscheint:

Der direkte Gegensatz des Eigentümlichen, oder, wie SCHLEIERMACHER in diesem Zusammenhang wohl der Konzinnität [rhetorische Harmonie - wp] wegen sagt, des Individuellen ist das Identische, d. h. das in allen ursprünglich und begriffsmäßig Gleiche und allen Gemeinsame. Dieser Gegensatz spielt in der philosophischen Ethik eine wichtige Rolle, indem die Vernunfttätigkeit nach ihren beiden Seiten des Organisierens und Symbolisierens sowohl als identische wie als individuelle charakterisiert wird. Der andere Gegensatz, von dem das Eigentümliche der eine Faktor ist, ist der des Besonderen und Allgemeinen oder des Individuellen und Universellen; Gegenüberstellungen, an denen uns allerdings zweierlei auffällt. Erstens bildet in der einen nicht der Begriff des Eigentümlichen das eine Glied, sondern der des Besonderen. Doch dieser Umstand darf uns nicht bestimmen, den ganzen Gegensatz hier zu übersehen. Denn wir müssen vorläufig doch "die Massendifferenzen" beiseite setzen und nur auf die einzelnen sehen; in dieser Beziehung aber hat sich uns der Begriff des Besonderen als der weitere ergeben, der den engeren des Eigentümlichen in sich schließt. Daher haben wir vielfach bei SCHLEIERMACHER da, wo er von einem besonderen Sein spricht, das eigentümliche mitzudenken, ja man kann sogar, besonders in den "Reden" geradezu den letzteren Begrif für den ersteren, ohne den Sinn zu ändern, einsetzen. Ähnlich verhält es sich mit dem anderen Glied des Gegensatzes, dem Allgemeinen; es begreift unter sich zugleich das Identische und steht vielfach vermöge der schwankenden Terminologie SCHLEIERMACHERs mit diesem in gleicher Bedeutung. Wir müssen daher den Gegensatz des Besonderen und Allgemeinen in unsere Erörterung aufnehmen. Nun setzten wir oben mit demselben als gleichbedeutend die Ausdrücke Individuell und Universell. Darüber ist noch einiges zu sagen. Der Gegensatz Individuell - Universell ist offenbar ein schiefer, da das Individuelle seinen Gegensatz nicht am Universellen, sondern am Identischen hat. Wenn es daher hier mit jenem verbunden ist, so müssen wir es in einem weiteren Sinn nehmen und dem Besonderen gleichstellen. So zumindest will es SCHLEIERMACHER selbst wohl verstanden wissen. Man vergleiche in seiner "Psychologie" die Seite 40, wo das Individuelle, welches aus dem Universellen hervorgeht, nicht als ein begriffsmäßig, ursprünglich von anderen Verschiedenes, sondern lediglich als ein Einzel- oder Für-sich-Sein gefaßt ist, da es auch auf die unvollkommensten tierischen Organismen bezogen wird. Ähnlich Seite 62f, wo einzelnes, besonderes und individuelles Leben gleichbedeutend sind. Dementsprechend setzt BENDER ebenfalls Allgemeines-Besonderes und Universell-Individuelles einander gleich (11).

Wir haben demnach die beiden Gegensätze:
    1. Individuell-Identisch oder Eigentümlich-Gleich (diesen Ausdruck in den "Reden"). Hier verstehen wir unter dem Eigentümlichen oder Individuellen jenen im § 130 der philosophischen Ethik bestimmt abgegrenzten Begriff.

    2. Individuell-Universell oder Besonders-Allgemein. Hier steht der Ausdruck Individuell in einem weiteren Sinn und ist gleich dem Besonderen, Einzelnen.
Damit ist jedoch das in einem engeren Sinn Individuelle nicht ausgeschlossen; z. B. beim Gegensatz Ich-Nichtich ist Einzelne (Ich) zugleich eigentümlich, beides aber entgegengesetzt dem Allgemeinen (Nicht-Ich).

Dieser Wechsel im Gebrauch desselben Ausdrucks ist ohne Zweifel ein formeller Mangel, den man gut tut, sich von vornherein klar zu machen. Deshalb setzt SCHWEIZER in der philosophischen Ethik auf Seite 96 unter den Text die Anmerkung:
    "Die Schärfe der Wissenschaft fordert bestimmt zu unterscheiden zwischen dem, was Schleiermacher den Gegensatz des identischen und individuellen nennt, und dem des allgemeinen und besonderen; der letztere findet statt, auch wo alle besonderen Einzelwesen einander völlig gleich gedacht würden, daher der erstere gar nicht in allen Gattungen gesetzt wird."
Im Großen und Ganzen hält jedoch doch auch SCHLEIERMACHER diesen Unterschied zwischen beiden Gegensätzen fest. Denn es ist nicht bloß Zufall, wenn er in der Ethik die Vernunfttätigkeit unter die Charaktere des Identischen und Individuellen bringt, andererseits in der Psychologie von einem individuellen und universellen Lebensprozeß redet, oder wenn er in der "Dialektik" ein identisches Wissen und ein individuelles Denken kennt, dagegen in den Reden den Gegensatz des allgemeinen und besonderen Seins hervorkehrt.

Es ist SCHLEIERMACHER eigentümlich, daß sich seine Wissenschaft stets unter Berücksichtigung dieser (und anderer, von denen wir hier absehen) Gegensätze fortbewegt. Es ist aber für ihn ebenso charakteristisch, - und dies hat er mit SCHELLING gemein (12) - daß die Glieder dieser Gegensätze nicht gegeneinander abgeschlossen, ihre Gebiete nicht gänzlich voneinander geschieden und einander entgegengesetzt, kurz: daß es nicht reine und absolute, sondern fließen und relative Gegensätze sind.

Über diese Relativität der Gegensätze haben wir uns noch näher zu verständigen, und da wir es hier mit dem oben festgestellten Begriff der Eigentümlichkeit zu tun haben, so wollen wir hier den Gegensatz des Identischen und Individuellen, sowie dem des Einzelnen und Allgemeinen diejenigen Fälle, wo das Einzelne zugleich ein Eigentümliches ist, ins Auge fassen, was umso zweckmäßiger ist, als die zu beweisende Relativität gerade hier am meisten in Frage kommt. Wir sagten nämlich oben: wenn wir von den "Massen-Individualitäten" absehen, so sei das Eigentümliche eine besondere Art des Einzelseins. In Analogie hierzu können wir auch den Gegensatz des Individuellen und Identischen als eine besondere Art des weiteren von Besonderem und Allgemeinem ansehen, da jener nur auf die menschliche Gattung, dieser dagegen auf die gesamte lebende und tote Natur Anwendung findet. Dieses weitere außermenschliche Gebiet nun des Besonderen und Allgemeinen brauchen wir hier nicht sonderlich zu berücksichtigen, weil da die Relativität des Gegensatzes kaum in Frage gestellt wird.

Denn wohin wir auch im gesamten Leben und Weben der Natur um uns herum blicken, überall sehen wir, in einem unaufhörlichen, ewigen Fluß der Dinge alles Einzelne und Besondere aus dem Allgemeinen, wie aus einem mütterlichen Schoß hervorgehen und, wenn es den Kreis seines Daseins durchlaufen hat, wieder dahin zurückkehren, woher es gekommen ist. So sind Anfang und Ende alles besonderen und allgemeinen Seins notwendig immer ineinander und hier ist daher ihr Gegensatz, wenn nicht ganz aufgehoben, so doch sehr fließend. Aber nicht bloß an den End- und Wendepunkten macht sich der Zusammenhang der beiden Glieder in deutlicher Weise geltend, sondern auch, sozusagen in der Mitte, da, wo das Einzelne den Gipfelpunkt seines Daseins erreicht hat und seiner Sonderexistenz die größte Selbständigkeit innewohnt, ist die Verbindung mit dem Allgemeinen unauflöslich.

Denn wie das Allgemeine das Einzelne nicht entbehren kann, weil es nur durch dasselbe zur Darstellung und Wirklichkeit kommt und ohne dasselbe überhaupt nichts ist, so ist wiederum der ganze Lebe- und Werdeprozeß des Einzelnen mit tausend Fäden an das Allgemeine und Gesamte gebunden und von ihm abhängig. Dieser Zusammenhang ist so selbstverständlich und in den Gesetzen der Weltordnung so begründet, daß wir nirgends auch nur den Versuch unternommen sehen, ihn zu zerreißen. Also: das Allgemeine nicht ohne die Darstellung im Einzelnen und das Einzelne nicht ohne den Ursprung aus und die Verbindung mit dem Allgemeinen.

Dieses Gesetz, welches uns im gesamten außermenschlichen Sein entgegentritt, scheint nun aber im Leben der Menschheit nicht mehr ausnahmslos Geltung zu haben. Hier nämlich, wo der Einzelne zugleich ein eigentümliches Dasein führt und einen eigenen Willen hat, kommt es wirklich vor, daß das Leben des Einzelnen von der Gesamtheit loszutrennen zumindest der Versuch gemacht wird, und es könnte scheinen, als ob der einzelne Mensch in seiner ursprünglichen, begriffsmäßigen Verschiedenheit von allen andern in dieser Beziehung unabhängiger dasteht, als die einzelnen Daseinsformen, welche nur zeitlich und räumlich eine Sonderexistenz führen. Doch wir müssen das nach SCHLEIERMACHER verneinen.

"Ein Gegensatz ist relativ", das bedeutet: seine Glieder haben Beziehungen zu, Berührungspunkte miteinander; überall, wo das eine erscheint, ist das andere nicht vollständig ausgeschlossen, sondern beziehungsweise mitgesetzt; das eine kann nicht ohne das andere für sich allein bestehen, sie bedürfen vielmehr der gegenseitigen Ergänzung. Gerade dies gilt vom Gegensatz des Identischen und Individuellen. Er ist nämlich gewissermaßen gleichbedeutend mit dem von Gattung und Exemplar. Das Identische als das in allen Gleiche und Gemeinsame bezeichnet dasjenige, was den Begriff der Gattung, hier der menschlichen, ausmacht. Das Eigentümliche hebt aus ihr den Einzelnen als besonderes Exemplar heraus. Nun kann der Unterschied zwischen Gattung und Exemplar niemals ein absoluter, sondern nur ein bedingter und relativer in der Realität sein. Der Begriff der Gattung ist eine Abstraktion und als solche nach der überwiegenden Meinung der modernen Philosophie, die in dieser Hinsicht den mittelalterlichen Nominalismus zu Ehren gebracht hat, nur gedacht und ansich, ohne die konkrete Darstellung in den einzelnen Exemplaren, nicht wirklich existierend. Der einzelne Mensch wiederum verdankt sein Dasein anderen Menschen, die im Verhältnis zu ihm die Gattung repräsentieren, und seine nächste, wie die ganze fernere Entwicklung ist, diesem Ursprung entsprechend, an die menschliche Gemeinschaft gebunden und durch die Teilnahme an ihr bedingt. Diesen Zusammenhang zu leugnen, oder gar zu zerreißen, ist unmöglich. Ein solches Beginnen verurteilt SCHLEIERMACHER auf das entschiedenste; und wenn es Zeiten gab, in denen eine solche Denk- und Handlungsweise als etwas Großes, ja Heiliges angesehen wurde, so war das eben ein im Irrtum befangene Richtung des menschlichen Geistes und mußte, da ja auch die Geschichte den Mißerfolg konstatierte, einer geläuterten Weltanschauung weichen. Sie widerspricht nicht nur dem Wesen unserer Natur im allgemeinen, sondern es gibt auch, wie SCHLEIERMACHER in seiner "Psychologie" (13) nachweist, in unserem gesamten organischen und intellektuellen Leben nur solche Tätigkeiten, welche jenen Zusammenhang voraussetzen und fordern, sei es nun, daß sie mehr auf das Verhältnis des Ich zum Nicht-Ich - ein Ausdruck, den SCHLEIERMACHER freilich, weil nur negativ, vermeidet, jedoch nicht gerade glücklich ersetzt oder umschreibt, daher behalten wir ihn der Kürze halber bei - oder auf das zu den anderen Ichs Bezug haben.

SCHLEIERMACHER spricht an dieser Stelle von den aufnehmenden und ausströmenden Tätigkeiten. Der Unterschied dieser Funktionen beruth ihm nicht darauf, daß im einen Fall nur das Nicht-Ich, im andern nur das Ich tätig und wirksam wäre, sondern bei jeder dieser Tätigkeiten sind sowohl das Ich wie das Nicht-Ich zusammen in Funktion. Der Unterschied ist daher lediglich der, daß bei den aufnehmenden Tätigkeiten die Einwirkung vom Nicht-Ich her (SCHLEIERMACHER sagt: "von außen") beginnt, aber dann durch das Ich (SCHLEIERMACHER: "durch den inneren Grund") erst befestigt und vollendet wird, dagegen bei den ausströmenden das Ich beginnt, aber dann durch die Gegenwirkung des Nicht-Ich bestimmt wird. Die weitere Folge davon ist es, wenn der ganze Gegensatz selbst ein fließender wird und
    "uns das Leben als ein Oszillieren zwischen den überwiegend aufnehmenden und überwiegend ausströmenden Tätigkeiten erscheint, so daß in der einen immer ein Minimum der andern mitgesetzt ist und das Ganze sich als eine fortwährende Zirkulation darstellt". (14)
Und doch - so wendet SCHLEIERMACHER sich selbst ein - spricht man von rein immanenten Tätigkeiten, die lediglich innerhalb des lebendigen Einzelwesens selbst verlaufen, demnach keine Beziehung des Ich zum Nicht-Ich wie zu den übrigen Ichs postulieren und ausdrücken, und damit den ausgesprochenen Gedanken, daß dieselbe überall notwendig vorhanden, widerlegen würden. Es könnte Tätigkeiten geben,
    "welche mit leiblichen Erregungen beginnen und in geistigen Funktionen ihr Ende erreichen oder umgekehrt mit geistigen Erregungen anfangen und in leiblicher Bestimmtheit enden".
Da würde dann von einem Verhältnis des lebendigen Einzelwesens zu einem "Außerhalb-von-ihm" gar nicht die Rede sein (15).

Diese Folgerung bestreitet SCHLEIERMACHER und behauptet, daß auch bei diesen Tätigkeiten der Zusammenhang zwischen dem Einzelwesen und dem "Außerhalb-von-ihm" nicht aufgeboben ist. Der ganze Einwand nämlich entspringt nach ihm der falschen psychologischen Auffassung vom Ich, die dieses als eine gewissermaßen mechanische Zusammensetzung von Leib und Seele ansieht, indem sie diese beiden zunächst für sich denkt, dann beide zusammenkommen und eins werden und so einen Menschen entstehen läßt. Gegen eine solche Theorie treten ganz entscheidende Momente auf (16). Für uns kommt hier hauptsächich der Umstand in Betracht, daß eine solche Betrachtungsweise geneigt ist, nur auf jenes Hin und Her zwischen dem Leiblichen und Geistigen zu sehen, um diese beiden Faktoren sozusagen einen Kreis zu ziehen und, indem sie alles außerhalb demselben Liegende einfach ignoriert, das Ich von allem Zusammenhang mit dem Nicht-Ich überhaupt wie mit den übrigen Ichs loszutrennen. So erscheinen ihr jene oben charakterisierten Tätigkeiten des Ich als innere, während sie doch in Wirklichkeit der Beziehung zur Außenwelt durchaus nicht entbehren. Das Letzere zumindest folgt aus der richtigen psychologischen Ansicht, wonach das Ich nicht ohne eine Zusammensetzung von Leib und Seele als gleichbedeutenden Teil ist, sondern "eine Erscheinung des Geistes in Verbindung mit der auf gewisse Weise organisierten Materie". Der Geist also ist der das Ich bildende, gestaltende und in ihm herrschende Faktor, dem das Organische unter-, nicht nebengeordnet ist und der keinen Dualismus im Ich zuläßt, sondern, indem er selbst als Seele eine bestimmte Art und Weise seines Seins annimmt, sich mit dem Materielle zu einem einheitlichen Organismus verbindet. So geschieht die Bildung des Ich durch die Einwirkung des Geistes auf die Materie, letztere ist jenem gegenüber das "Außerhalb-von-ihm", folglich muß man das Ich aus einem Verhältnis des Geistes zu diesem "Außerhalb-von-ihm" erklären. Das ist der entscheidende Gesichtspunkt, der so den Gegensatz des Ich und Nicht-Ich als den obersten hinstellt und dem alle anderen, wie der von Leib und Seele untergeordnet sind. Denn der Leib ist nur ein bestimmt organisierter Teil des Materiellen überhaupt und die Seele nur "eine bestimmte Art und Weise des Seins des Geistes" überhaupt. Alle organischen Erregungen im Ich, sowohl diejenigen, welche vom Leiblichen ausgehen, wie die, welche in demselben enden, haben, wenn man sie genau verfolgt, zugleich im Allgemein-Materiellen, erstere ihren Ursprung, letztere ihr Ende. Ebenso verhält es sich mit allen geistigen Erregungen des Ich; sie können nicht aus dem Zusammenhang mit dem geistigen Sein überhaupt gerissen werden.

Dieses Resultat führt SCHLEIERMACHER weniger in Bezug auf die organischen, als auf die intellektuellen Tätigkeiten näher aus. Es gibt also keine geistigen Funktionen, die ohne allen Zusammenhang des Ich mit den übrigen Ichs wie mit der Außenwelt überhaupt wären; jede vielmehr muß "mit einem Einfluß nach außen" enden. Das ist bei denen, welche in einen Willensakt aufgehen, ja leicht einzusehen, schwieriger bei denen, welche in einen Gedanken aufgehen. Diese scheinen in der Tat ein rein inneres Moment zu konstituieren und "kein Verhältnis des lebendigen Einzelwesens zu dem "Außerhalb-von-ihm" zu setzen. Doch nur scheinbar. Denn auch sie entsprechen sowohl dem Inhalt wie der Form nach dem von SCHLEIERMACHER behaupteten Resultat. Dem Inhalt nach: denn der Gedanken muß irgendeinen Gegenstand, ein Objekt haben, er muß ein Denken von Etwas, welches nicht er selbst ist, sein. Der Form nach: denn Denken und Sprechen sind für SCHLEIERMACHER identisch und zumindest muß das erstere in letzterem sich äußern, d. h. in Beziehung zur Außenwelt treten. Geschieht dies nicht, bleibt also das Denken nur ein rein innerliches Sprechen, so hat auch der Gedanke noch gar nicht sein Ende gefunden, sondern ist abgebrochen worden. Kurz:
    "ein rein innerlicher Verlauf, der weder in seinem Anfang noch an seinem Ende eine Beziehung hätte auf das Äußerlich-werden-wollen, ist also nur Schein und es gibt einen rein innerlichen Verlauf des bloßen Einzelwesens überhaupt nicht." (17)
Der Gegensatz von Individuell und Identisch ist also ein relativer und diese Relativität erleidet keine Ausnahme. Darum muß, so erfahren wir aus der philosophischen Ethik, die gesamte Tätigkeit der Vernunft notwendig unter beiden Charakteren verlaufen. Das Handeln der Vernunft ist ein in allen identisches, weil ja die Vernunft, als solche oder in abstracto betrachtet, in allen ein und dieselbe ist; es ist aber zugleich ein überall verschiedenes und eigentümliches, weil die Vernunft in concreto immer schon in einem Verschiedenen und daher selbst als verschiedene gesetzt ist. Jede sittliche Tätigkeit hat demnach zwei Seiten, die jedoch zusammengehören, eine doppelte Aufgabe, die jedoch im Grunde eine ist. Entsprechend heißt es im § 159 (18): ie beiden entgegengesetzten Weisen, das Identische und Individuelle,
    "dürfen nur beziehungsweise einander entgegengesetzt sein und nur dasjenige ist ein vollkommenes für sich gesetztes Sittliches, wodurch Gemeinschaft gesetzt wird, die in anderer Hinsicht Scheidung oder Scheidung, die in anderer Hinsicht Gemeinschaft ist."
Dies ist offenbar die Bedingung für die Vollständigkeit des Sittlichen. Dasjenige, worin nur die Einheit der Vernunft gesetzt ist und nicht auch die besondere Bestimmtheit des Handelnden, ist unvollständig; und dasjenige, worin diese gesetzt, nicht aber die Einerleiheit der Vernunft in allen, ebenfalls.

Dabei ist freilich nicht ausgeschlossen, daß man auch die Gesamtheit des Sittlichen unter den Gesichtspunkt des einen oder anderen Charakters bringen und bald unter dem einen, bald unter dem anderen betrachten kann; ja dies muß der Ordnung und Vollständigkeit halber in jeder Darstellung geschehen. Aber "jede solche Ansicht ist eine einseitige, in welcher nicht alles gleichmäßig hervortritt." (§ 134) Wenn man daher z. B. von einer organisierenden oder symbolisierenden Tätigkeit der Vernunft unter dem Charakter der Identitä spricht, so bedeutet der Ausdruck nur, daß dieser Charakter den des Individuellen in der betreffenden Tätigkeit überwiegt, nicht, daß er ausschließlich und ohne diesen vorhanden ist. Und andererseits kann man von einer organisierenden oder symbolisierenden Tätigkeit der Vernunft unter dem Charakter der Individualität nicht nur sprechen, daß man die Beziehung auf die Identität nicht ausschließt.

So finden wir also bei SCHLEIERMACHER, daß er zwar den Begriff der Eigentümlichkeit von vornherein genau und scharf festzustellen und ihm seine Bedeutung zu sichern sucht, daß er aber seine Geltung an gewisse Bedingungen knüpft und bei seiner Anwendung stets einen bestimmten Zusammenhang und damit zugleich eine bestimmte Grenze festhält. Das Eigentümliche ist eben nur der eine Pol, um den sich unser Leben dreht, der aber allein die Achse unseres Daseins nicht festhalten kann. Der andere Pol, den das Identische konstituiert, ist von gleicher Bedeutung für uns, darum gehören beide zusammen; beides sind gleich notwendige Angeln, um den Kreislauf der menschlichen Existenz im richtigen Gleis zu erhalten. - Dieser Erkenntnis, welche wir hier in einem Bild anschaulich gemacht haben, gibt SCHLEIERMACHER überall in seinen Systemen der "Psychologie", der "Dialektik", der "Ethik" wie in den "Reden" Ausdrucks. Ohne hierauf noch näher, als soeben in Bezug auf die philosophische Ethik geschehen ist, einzugehen zu brauchen, ist es doch von Wichtigkeit, dies konstatiert zu haben. Denn es beweist, daß SCHLEIERMACHER, weil er an KANT und FICHTE die Vernachlässigung der Eigentümlichkeit als ethischen Grundsatz rügt und im Gegensatz zu ihnen denselben umso energischer zu betonen hat, doch nun seinerseits nicht in den entgegengesetzten Fehler verfällt, dem Individualitätsprinzip alles zu opfern und es zu überschätzen, sondern daß er überall die richtige Mitte zu halten weiß und dadurch seine Wissenschaft vor einem falschen Individualismus bewahrt.

Das ist umso mehr anzuerkennen, als drei Umstände ganz dazu angetan waren, ihn zu einer derartigen Einseitigkeit in der Ausprägung seiner Wissenschaft fortzureißen. Erstens nämlich ist es eine immer sich wiederholende Tatsache, daß neue oder auch nur solche Gedanken, die in Opposition gegen andere herrschende geltend gemacht werden, ihre Vertreter völlig für sich einnehmen und gegen andere blind machen, daher von ihnen stets mit einer gewissen Einseitigkeit ausgebildet und zum Ausdruck gebracht werden. Zweitens ist die Eigentümlichkeit, diese ursprüngliche, begriffsmäßige Verschiedenheit, etwas so Einzigartiges in der gesamten Weltordnung, etwas so Selbständiges gegenüber anderen menschlichen Eigenschaften und etwas so Maßgebendes für die besondere und allgemeine Entwicklung, daß man sehr wohl daran denken kann, allein auf diesen Begriff ein wissenschaftliches System zu bauen.

Die Versuchung dazu war für SCHLEIERMACHER umso größer, als ihn Drittens sein Lebensweg mit FRIEDRICH SCHLEGEL in so nahe Verbindung brachte, daß er sich veranlaßt sah, dessen Produkt eines Gesetzes und Sitte verspottenden und verachtenden ethischen Individualismus und Subjektivismus in den vertrauten Briefen gegen das einstimmige Urteil der öffentlichen Meinung in Schutz zu nehmen (19). Gleichwohl war aber seine Übereinstimmung mit SCHLEGELs Ethik eine sehr beschränkte; hat doch SCHLEIERMACHER überhaupt niemals den Standpunkt seiner romantischen Freude geteilt, indem ihn die Weite seines Blicks, die Schärfe seines Verstandes und die sittliche Tiefe seines Charakters vor der Einseitigkeit jener bewahrten. So verwerfen dann auch die "Reden" in der ersten Auflage den falschen Individualismus ausdrücklich (20). Später hat SCHLEIERMACHER dann einerseits stets das Individuelle zum Identischen in Beziehung gesetzt und durch diese Bezugnahme das Recht und die Herrschaft desselben in bestimmte Grenzen eingeschlossen. Andererseits aber hat er sich, des hohen Wertes und der einzigartigen Bedeutung der Eigentümlichkeit wie kein anderer bewußt, nicht nur, wie wir soeben entwickelt haben, eine Begriffsbestimmung derselben gegeben, sondern auch eine erklärende Theorie dieses Begriffes aufgestellt hat, indem er sowohl den Ursprung der Eigentümlichkeit metaphysisch abzuleiten wie ihr Wesen psychologisch zu ergründen sucht. Zur Darstellung dieser Erörterung gehen wir jetzt über.

LITERATUR - August Frohne, Der Begriff der Eigentümlichkeit oder Individualität bei Schleiermacher, Halle a. d. Saale 1884
    Anmerkungen
    1) SCHLEIERMACHER, Werke III, Seite 366f.
    2) DILTHEY, Leben Schleiermachers, Seite 342, 343.
    3) J. G. FICHTE, System der Sittenlehre etc., Werke IV, Seite 254
    4) vgl. SCHLEIERMACHER, Kritik der Sittenlehre, Seite 61, 62.
    5) FICHTE, a. a. O., Seite 254-256.
    6) DILTHEY, a. a. O., Seite 151 und 326.
    7) SCHLEIERMACHER, Philosophische Ethik (Ausgabe SCHWEIZER) § 130.
    8) Reden über die Religion (Kritische Ausgabe von BERNHARD PÜNJER), Seite6
    9) Philosophische Ethik, Seite 165
    10) Schleiermachers Psychologie, ed. GEORGE, 1862, Seite 51, 57, 238 und öfter.
    11) WILHELM BENDER, Schleiermachers Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen dargestellt, Bd. I, 1876, Seite 48 und 49.
    12) Vgl. EMIL SCHÜRER, Schleiermachers Religionsbegriff, Dissertation, Leipzig 1868, Seite 6. - BENDER, a. a. O., Seite 60 und 70.
    13) SCHLEIERMACHER, Psychologie, Seite 62-67.
    14) "Psychologie", Seite 62-66 - SCHÜRER, a. a. O., Seite 14-16.
    15) "Psychologie", Seite 67-70
    16) vgl. "Psychologie", Seite 6f.
    17) vgl. "Psychologie", Seite 67-69. SCHÜRER, a. a. O., Seite 17-19.
    18) "Philosophische Ethik", ed. SCHWEIZER.
    19) vgl. RUDOLF HAYM, Die romantische Schule, Seite 519f.
    20) "Reden", ed. PÜNJER, Seite 95, 168, 266, 278.