cr-4 Die ImpersonalienWundtCohenErdmannJerusalem    
 
CHRISTOPH SIGWART
L o g i k  I
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    Einleitung
§ 1. Aufgabe der Logik
§ 2. Grenzen der Aufgabe
§ 3. Postulat der Logik
§ 4. Einteilung der Logik
§ 5. Der Satz als Ausdruck des Urteils
§ 6. Die obersten Gattungen des Vorgestellten
§ 7. Die allgemeine Vorstellung und das Wort
§ 8. Notwendigkeit des Worts für das Prädikat
§ 9. Die Benennungsurteile
§ 10. Eigenschafts- und Tätigkeitsurteile
§ 11. Impersonalien und verwandte Urteilsformen
§ 12. Relationsurteile
§ 13. Urteile über Abstrakta
§ 14. Die objektive Gültigkeit des Urteils
§ 15. Die Zeitbeziehung der erzählenden Urteile
§ 16. Die erklärenden Urteile
§ 17. Der sprachliche Ausdruck des Urteilsaktes
§ 18. Analytische und synthetische Urteile
§ 19. Der Prozeß des synthetischen Urteils

"Unter den Gesichtspunkt der Relation fällt auch das Prädikat  Sein  in den sogenannten  Existentialsätzen.  Es ist auch immer, offener oder versteckter, eine Relation zu mir, dem Denkenden, darunter verstanden."

"Der Gedanke des Seins ist vielmehr so unerklärlich und ursprünglich, wie unser Selbstbewußtsein selbst; mit diesem ist der Gegensatz von uns und einem Seienden, das ebenso  ist  wie wir selbst  sind,  von Anfang an gesetzt, wir haben uns selbst seiend, aber nur zusammen mit anderem, was  ist  und unterschieden von ihm."

"Die Vorstellung des Seins steckt von Haus aus in allen Gegenständen unserer Vorstellung, es bedarf keiner besonderen Veranlassung, sie als seiend zu denken, mit der Entstehung der Vorstellungen der Dinge, welche die Welt ausmachen, ist auch die Vorstellung ihrer Existenz verknüpft. Daß das, war wir denken auch sei, erschien lange so selbstverständlich, daß man darüber stritt, ob man denn vom Nichtseienden überhaupt reden könne; wer vorstellt, stellt  etwas  vor, also ein Seiendes, wer nicht Seiendes vorstellt, stellt überhaupt nichts vor."


Zweiter Abschnitt
D i e  e i n f a c h e n   U r t e i l e

Wir verstehen unter  "einfachem Urteil"  ein solches, in welchem das Subjekt als eine einheitliche, keine Vielheit selbständiger Objekte in sich befassende Vorstellung betrachtet werden kann (also ein Singularis ist) und von diesem eine in  einem  Akt vollendete Aussage gemacht wird. Unter den einfachen Urteilen in diesem Sinne sind zwei Klassen genau zu unterscheiden: diejenigen, in denen als Subjekt ein als einzeln existierend Vorgestelltes auftritt (dies ist  weiß) - erzählende Urteile -  und diejenigen, deren Subjektsvorstellung in der allgemeinen Bedeutung eines Wortes besteht, ohne daß damit von einem bestimmten Einzelnen etwas ausgesagt würde (Blut ist rot) -  erklärende Urteile. 


I. Die erzählenden Urteile

§ 9.
Die Benennungsurteile

Das einfachste und elementarste Urteilen ist das  Benennen einzelner Gegenstände der Anschauung.  Die Subjektsvorstellung ist ein unmittelbar Gegebenes, in der Anschauung als Einheit aufgefaßtes; die Prädikatsvorstellung eine innerlich reproduzierte Vorstellung; der Akt des Urteilens besteht zunächst darin, daß  beides mit Bewußtsein in Eins gesetzt wird.  (Aristoteles, de anima III, 6. 430 a 27)

1. Der innere Vorgang, der einem Satz wie "dies ist Sokrates - dies ist Schnee - dies ist Blut" oder den sprachlich abgekürzten Rufen: "Feuer" usw. entspricht, wo sie als Ausdruck unmittelbaren Erkennens auftreten, ist einfach zu deuten. Der gegenwärtige Anblick erweckt eine von früher her vorhandene mit dem Wort verbundene Vorstellung und beide werden in Eins gesetzt. Das eben angeschaute ist seinem Inhalt nach Eins mit dem was ich in meiner Vorstellung habe, ich bin mir dieser Einheit bewußt und dieses Bewußtsein ist es, welches ich im Satz ausspreche. Damit unterscheidet sich das Urteil von verwandten Vorgängen. Einmal von demjenigen, den man als unbewußte Verschmelzung bezeichnet - es soll hier nicht untersucht werden, ob der Ausdruck treffend und ein wirklicher Vorgang damit richtig beschrieben ist - wo das neue Bild ohne weiteres mit den älteren Vorstellungen sich so verbinden soll, daß das Produkt dieser Verbindung nur wieder dieselbe, höchstens lebhaftere Vorstellung wäre, die schon früher da war, wo also jedes Unterscheiden und Auseinanderhalten des Neuen und Alten, des Gegenwärtigen und Erinnerten fehlen würde. Dem gegenüber macht HERBART mit Recht geltend, daß nur, wo solche Verschmelzung aufgehalten und beide Vorstellungen in der Schwebe sind, ein Urteil als bewußter Akt möglich ist und daß dieser Charakter darum am schärfsten hervortritt, wo eine Frage oder ein Zweifel dazwischenkam; während allerdings gewöhnlich die Aufmerksamkeit von der Gegenwart vorzugsweise in Anspruch genommen ist und, zumal beim bloßen Ausruf, der das Erkennen begleitet, nur der Laut verrät, daß die schon erworbene Vorstellung wirksam geworden ist.

Zum zweiten scheidet sich das Urteil von der bloßen unwillkürlichen Reproduktion eines früheren Bildes, das neben das erste zu stehen käme, ohne mit ihm in Eins gesetzt zu werden. Das wäre der Fall, wo mir bei einem Feuer z. B. wohl frühere Wahrnehmungen einfielen, aber in ihrer Einzelheit festgehalten nur eine Reihe ähnlicher Bilder böten, weil mit jedem die unterscheidenden Nebenumstände mit reproduziert würden, welche das Zusammengehen zur Einheit hindern. Nur wo ein solches Hindernis nicht eintritt, weil entweder alle Nebenumstände gleich oder der Inhalt der Vorstellung schon isoliert und zur Allgemeinheit erhoben ist, kann die Vereinigung eintreten.

2. Wo dieses einfachste und unmittelbarste Urteilen, das  Erkennen  im ursprünglichen Sinn stattfindet, werden beide Vorstellungen als ungeteilte, nicht mit Bewußtsein in einzelne Elemente aufgelöste Ganze vorausgesetzt. Dadurch unterscheidet sich die unmittelbare Ineinssetzung vom anderen Fall, in dem eine Reihe dazwischenliegender Denkakte erst nötig ist, um Subjekt und Prädikat in Eins zu setzen. Bezeichnet "Schnee" oder "Blut" einen naturwissenschaftlichen Begriff, dessen unterscheidende Merkmale im Gedächtnis gegenwärtig sind, so wird nicht auf den ersten Anblick geurteilt, sondern es findet eine Untersuchung des Objekts nach seinen verschiedenen Eigenschaften statt, um sich zu vergewissern, ob auch alle Merkmale des Begriffs auf dasselbe passen und erst aufgrund eines Schlußverfahrens wird das Objekt unter den Begriff gestellt, d. h. ihm der ganze Komplex von Eigenschaften zugesprochen, der im Terminus  Schnee  oder  Blut  allgemeingültig fixiert ist. Dieses Urteil also ist ein vielfach vermitteltes; es wiederholt sich in ihm mehrmal, was bei der Koinzidenz zweier Bilder auf einmal, durch einen nicht analysierbaren Akt, der ein Bild mit dem anderen zusammenbringt, stattfindet. Zwischen diesen beiden Endpunkten liegt eine ganze Stufenreihe von Vorstellungen, die sich mit den Prädikatswörtern verbinden können und dementsprechend eine Stufenfolge von Vermittlungen des Urteils. Immer aber sagt dieses aus, daß die Vorstellung des Prädikats mit der des Subjekts so sich decke, daß das Prädikat als Ganzes mit dem Subjekt eins sei.

Man könnte auch in den häufigen Fällen ein Schlußverfahren sehen wollen, in denen die Prädikatsvorstellung mehr enthält, als die erste Anschauung, welche das Urteil hervortreibt, bieten kann. Sieht das Kind einen Apfel und benennt ihn, so enthält die Prädikatsvorstellung die Essbarkeit und den Geschmack des Apfels usw. mit; und wenn geurteilt wird: "dies ist ein Apfel", so könnte darin ein Schluß aus dem Gesichtsbild auf das Vorhandensein der übrigen Eigenschaften gesucht werden. Allein die Assoziation der übrigen Eigenschaften mit dem Gesichtsbild vollzieht sich schon sofort unwillkürlich am gesehenen Objekt und erst mit dieser bereicherten Anschauung tritt die Prädikatsvorstellung zusammen. Das Kind schließt nicht: "Dies sieht wie ein Apfel aus, also kann man es essen", sondern mit dem Anblick erwacht die Lust und beides zusammen reproduziert die Vorstellung "Apfel" und führt die Benennung herbei. Es bleibt also auch in solchen Fällen die einfache Koinzidenz der gegenwärtigen Anschauung und der erinnerten Vorstellung und sie sind von denjenigen zu unterscheiden, wo uns erst über den Namen nachträglich weitere Eigenschaften einfallen.

3. Die vollkommene Koinzidenz eines gegenwärtigen und eines reproduzierten Bildes findet nicht nur da statt, wo es sich um das Wiedererkennen eines und desselben Gegenstandes als solchen handelt, also zum Urteil, das die Vorstellungen gleichsetzt, noch das Bewußtsein der realen Identität der Dinge hinzuzutreten vermag, das an und für sich im Urteil noch nicht enthalten ist (vgl. oben = 2-50); sondern sie tritt auch überall da ein, wo sich ein Bewußtsein der Differenz zwischen Subjekts- und Prädikatsvorstellung nicht geltend macht, also am Gegenstand eben das aufgefaßt und mit Bewußtsein angeschaut wird, was sich mit der Prädikatsvorstellung deckt. Das wird überall da der Fall sein, wo einzelne gleichartige Erscheinungen nur bei besonderer Aufmerksamkeit zu unterscheiden wären (dies ist Schnee - dies ist ein Schaf - dies ist eine Pappel usw.) oder wo die Auffassung eines Gegenstandes durch die schon vorhandene Vorstellung bestimmt ist, das was von ihm zu Bewußtsein kommt, sich in der Prädikatsvorstellung erschöpft - wobei die Prädikatsvorstellung selbst nicht absolut starr ist, sondern unbewußt durch das eben gegenwärtige Subjekt verschoben wird.

4. An diese Fälle schließen sich andere an, in denen zwar die Differenz im Bewußtsein ist, aber nicht zu einem ausdrücklichen Urteil führt. Das sind teils die Urteile, die sich mit einer Vergleichung, einer Ähnlichkeit begnügen und die häufig - wie bei phantasievoller oder witziger Vergleichung - ganz die äußere Form der Benennungsurteile annehmen, wie auch die meisten Metaphern der Sprache auf diesem Prozeß beruhen; teils die Urteile, in denen die Subjektvorstellung reicher und bestimmter ist, als die Prädikatsvorstellung, aber nur dasjenige in derselben heraustritt, was sich mit der Prädikatsvorstellung deckt; solche nämlich, in denen das Prädikat eine unbestimmtere und allgemeinere Vorstellung ist, mit dem Bewußtsein, daß sie das Subjekt nicht erschöpft. Das ist besonders da deutlich, wo ich von einem Gegenstand den spezielleren Namen der Vorstellung, die sich mit ihm deckt, nicht kenne und darum genötigt bin, mich mit dem allgemeineren zu begnügen (dies ist ein Vogel, ein Baum, eine Flüssigkeit); denn an und für sich verknüpft sich im natürlichen Verlauf des Denkens mit jedem Bild am leichtesten die ihm ähnlichste und bestimmteste Prädikatsvorstellung. Das Interesse, unter möglichst allgemeine Vorstellungen zu subsumieren, gehört erst dem wissenschaftlichen Denken an; das gewöhnliche Denken, das sich mit dem Einzelnen beschäftigt, hält sich an die konkretesten Vorstellungen, die ihm zu Gebote stehen. (Logisch betrachtet müssen Vorstellungen, welche sprachlich durch attributive nähere Bestimmung eines Substantivs ausgedrückt werden, wie schwarzes Pferd, rundes Blatt usw., ebenso als einheitliche gelten, wie diejenigen, die zu bezeichnen  ein  Wort genügt. Wenn sie als Prädikate auftreten, so sit die Zusammenfassung in  ein  Ganzes fertig.)

5. Während nun der Natur der Sache nach überall zuerst der  einheitliche Inhalt  der Vorstellungen in Betracht kommt, wenn benannt wird, so ist die Prädikatsvorstellung im weiteren Verlauf des Denkens überall da mit der Vorstellung einer  Vielheit  verbunden, wo entweder die numerische Allgemeinheit vieler der Erinnerung vorschwebender Individuen oder die Reihe abgestufter Vorstellungen eintritt, welche die Bedeutung eines Wortes ausmachen. Wo ein Wort ein scharf abgegrenztes individuelles Bild bezeichnet, entstehen mit ihm zugleich eine Reihe individueller Bilder, denen sich der neue Gegenstand als ein weiteres anreiht (dies spricht sich im Deutschen in der Form "das ist  ein  Baum" usw. aus); wo seine Bedeutung diese Individuelle Bestimmtheit nicht hat, tritt die Allgemeinheit des Prädikats darin zutage, daß neben der eben besonders hervortretenden Vorstellung, die benachbarten ins Bewußtsein treten (dies ist Papier, dies ist Wein, usw., wobei mit Papier, Wein, eine größere oder kleinere Reihe abgestufter Differenzen durchlaufen wird). Insofern ist die Bemerkung HERBARTs (Werke I, Einleitung, Seite 92) richtig, daß der Begriff, welcher zum Prädikat dient, als solcher allemal in beschränktem Sinne gedacht wird, nämlich nur insofern er an das bestimmte Subjekt angeknüpft wird; von den vielerlei Vorstellungen die das Wort zusammenfaßt, tritt eine vorzugsweise heraus, welche sich mit dem Subjekt deckt.

6. Diese Benennungsurteile sind überall da schon vorausgegangen, wo ein bestimmtes Ding nicht bloß durch ein Demonstrativ, sondern durch ein bedeutungsvolles Wort bezeichnet wird. "Diese Blume ist eine Rose" - schließt ein doppeltes Benennungsurteil in sich: erst die Benennung durch Blume, welche vorangegangen und deren Resultat nur im sprachlichen Ausdruck des Subjekts niedergelegt ist; dann die Benennung, welche den Inhalt des Urteils selbst ausmacht.

7. Die Gewohnheit, Eigenschaften und Vorgänge auf Dinge zu beziehen, ist so stark, daß Benennungsurteile in Beziehung auf jene, bei denen nicht zugleich ein Urteil der Eigenschaft oder Tätigkeit ausgesprochen würde, kaum anders als in sprachlich rudimentärem Zustand vorkommen. "Dies ist rot" kann allerdings unter "dies" nur die Farbe meinen; aber schon die adjektivische Form des Prädikats treibt unwillkürlich weiter zur Vorstellung des Dings hinüberzugehen, das die Farbe an sich hat. Dies gilt auch von den Impersonalien (siehe unten § 11).


§ 10.
Eigenschafts- und Tätigkeitsurteile

Wo das Prädikat eines Urteils über ein bestimmtes einzelnes Ding ein  Verb  oder  Adjektiv  ist, enthält das Urteil eine  doppelte  Synthese:
    1. Diejenige Synthese, welch in der Subjektvorstellung selbst die  Einheit des Dings und seiner Tätigkeit, des Dinges und seiner Eigenschaft setzt. 

    2. Diejenige Synthese, welche  die am Subjekt vorgestellte Tätigkeit oder Eigenschaft  mit der durch das Prädikatswort bezeichneten Tätigkeit oder Eigenschaft in Eins setzt, d. h. mit dem  Prädikatswort benennt. 
1. So oft wir ein Urteil aussprechen wie "dieser Körper fällt", "dieser Körper ist schwer", sprechen wir einmal die Einheit des Subjekts mit seiner Tätigkeit oder Eigenschaft aus, welche durch die Wortformen angedeutet ist und dann setzen wir diese bestimmte Tätigkeit oder Eigenschaft mit der Vorstellung des Fallens, der Schwere in Eins. Durch diese doppelte Synthese, welche durch die Kategorien der Aktion und Inhärenz bedingt ist, unterscheiden sich solche Urteile von den zuerst betrachteten, in denen das Subjekt als ungeteiltes Ganzes mit dem Prädikat in Eins gesetzt wurde; sie enthalten nicht mehr die bloße Benennung, sondern eine Aussage, in welcher vom Ding als Einheit seine einzelnen Bestimmungen zugleich unterschieden und wieder vereinigt werden.

In Beziehung auf das Verhältnis der Allgemeinheit der Prädikatsvorstellung zum korrespondierenden Element der Subjektsvorstellung gilt dasselbe, was von den Vorstellungen der Dinge beziehungsweise der Allgemeinheit der Substantiva gesagt wurde; von der vollständigen Deckung beider für das Bewußtsein des Urteilenden (z. B. bei scharf charaktersierten Farben - "diese Flechte ist schwefelgelb") gibt es eine Stufenreihe von Verhältnissen bis zu den Fällen, in denen das Prädikatswort wegen seiner Unbestimmtheit die Eigenschaft oder Tätigkeit des Subjekts nicht nach ihrer Bestimmtheit zu bezeichnen vermag, sondern erst durch unterscheidende Determination mittels Adverbia etc. zur Kongruenz mit der dem Subjekt anhaftenden Vorstellung gebracht werden könnte.

2. Die Auffassung des Paragraphen tritt der Ansicht gegenüber, welche auch solche Urteile unter den Begriff  einer einfachen Subsumtion des Subjekts unter das allgemeinere Prädikat  zwängen will. Aber das Prädikat, das eine  Eigenschaft  ausdrückt, ist immer nur das  Allgemeine zu seiner Tätigkeit;  Eigenschaft und Tätigkeit müssen am Subjekt unterschieden sein, wenn sie mit einem adjektivischen oder verbalen Prädikat belegt werden sollen. Die einfache Benennung ist die Antwort auf die Frage: was ist das? Damit aber mit einem Adjektiv oder Verb geantwortet werden kann, muß gefragt werden: wie beschaffen ist dieses etwas? Was tut es? Die Unterscheidung des Tuns und der Eigenschaft vom Ding ist also dem Urteil schon vorausgesetzt.


§ 11.
Impersonalien und verwandte Urteilsformen

Die Bewegung des Denkens in den Urteilen, die nicht bloß Benennungsurteile sind, sondern eine Eigenschaft oder Aktion ausdrücken, geht  teils  so vor sich, daß  das Ding  (das grammatische Subjekt),  teils so,  daß die  Eigenschaft  oder Tätigkeit (das grammatische Prädikat)  zuerst im Bewußtsein gegenwärtig  und Anknüpfungspunkt für das andere Element ist. Daraus erklären sich die  Impersonalien  und verwandte Formen des Urteils.

1. Wo die Impersonalien ursprünglich als Wahrnehmungsurteile auftreten, (es blitzt, es kracht, usw.), da ist der Ausgangspunkt des Urteils eine sinnliche Empfindung von Licht, Schall usw. in ihrer unmittelbaren Gegenwart und der erste daran sich knüpfende Akt ist die Benennung, die In-Einssetzung des eben Gegenwärtigen mit der reproduzierten Vorstellung. Diese Benennung könnte mittels flexionsloser onomatopoetischer [lautmalerischer - wp] Wörter geschehen, welche nur die Natur des Eindrucks wiedergeben und ebenso durch Substantiva (ein Blitz, ein Donner), welche in ihrer Schwebe zwischen Konkretum und Abstraktum unentschieden lassen, in welcher Richtung das Denken den Vorgang weiterhin auffaßt. Allein die Gewohnheit  alles  unter den Gegensatz von Ding und Aktion zu stellen, welche die Sprachformen beherrscht und zunächst Verba zur Benennung des Eindrucks bietet, treibt darüber hinaus; indem das momentan Erscheinende als Aktion aufgefaßt wird, fordert es ein Ding, das grammatische Subjekt werden könnte, das aber in der Anschauung oder der Phantasie nicht gegeben ist, sondern nur als unbestimmtes Etwas, als unbenennbares Subjekt der Tätigkeit vorausgesetzt wird; die Stelle, auf welche die Verbalsform hinweist, kann durch kein bestimmt vorgestelltes Ding ausgefüllt werden. So ist zwar die In-Einssetzung, welche in der Benennung liegt, vollständig, die andere aber, zwischen Ding und Tun, unvollendet und mehr gefordert, als vollzogen. Wo übrigens diese Bedeutung der Verbalform nicht ins Bewußtsein tritt und die Andeutung des Subjekts, welche in der Verbalendung (und dem Pronomen der neueren Sprachen) liegt, zur leeren gewohnheitsmäßigen Form geworden ist, wo wir also an die Frage: was blitzt? was schneit? gar nicht von ferne denke, können die Impersonalien als  bloße Benennungsurteile  gelten, in denen das angeschaute Objekt der sinnlichen Empfindung das Subjekt, die damit sich deckende Vorstellung das Prädikat ist ( das  blitzt,  das  rauscht, wo mit dem  das  nur der sinnliche Eindruck gemeint ist) und die nur der Analogie der Sprachformen zuliebe sich in das Gewand der Aussage einer Tätigkeit von einem ungenannten Subjekt kleiden, weil die Möglichkeit, die Natur des Eindrucks etwa durch eine flexionslose Wurzel zu bezeichnen, an der der Gegensatz von Ding und Tätigkeit noch nicht herausgetreten ist, unwiderruflich hinter uns lieg, sobald wir das Urteil als solches äußerlich ausdrücken wollen.

2. Derselbe Gang von der unmittelbaren sinnlichen Erscheinung zu ihrem vorausgesetzten Subjekt, der sich in den Impersonalien nicht zu vollenden vermag, wird in allen denjenigen Fällen eingeschlagen, wo dasjenige, was grammatisches Prädikat wird, zuerst dem Bewußtsein gegenwärtig ist. Wenn das Hebräische z. B. das Verbum voranzustellen pflegt, so ist das nicht zufällig, sondern der natürliche Ausdruck für die Bewegung eines vorzugsweise in der sinnlichen Wahrnehmung lebenden Denkens. Für diese ist die momentane, bewegliche Erscheinung, der eben jetzt neu eintretende Sinneseindruck der Reiz zum Denken, das Erste im Urteilsakt und was zunächst erfolgt, ist seine Benennung; erst indem das Denken die so festgehaltene Erscheinung weiter verfolgt und auf ein Ding als Agens bezieht, fügt sich in einem zweiten Akt zum Verb das Substantiv, das logisch betrachtet jetzt  Prädikat  ist, indem es das gesuchte Ding bestimmt nennt. Die Sätze: "Es knallt - ein Schuß, es donnert - die Lawine", verdeutlichen uns die beiden getrennten Schritte, die sich geradezu in zwei Sätze auflösen lassen: "Es donnert - das Donnernde ist eine Lawine."

So gehen wir in der lebendigen Bewegung des Denkens bald von der Eigenschaft oder Tätigkeit bald vom Ding aus und von den beiden Synthesen dieser Urteile tritt bald die eine bald die andere in den Vordergrund. Erst in dem Maße, als sich die Sprache davon entfernt, in ihren Wendungen das jeder Bewegung sich leicht anschließende Kleid des lebendigen Gedankens zu sein, als sie nach anderen Gesichtspunkten festen Regeln und steifen Moden unterworfen wird, muß sie, wie es am entschiedensten die französische tut, immer das Substantiv als das grammatische Subjekt in den Vordergrund stellen; die äußere Folge der Worte wird einseitig durch die Kategorie derselben bestimmt.


§ 12.
Relationsurteile

Bei den Urteilen, welche eine  Relation  von einem bestimmten einzelnen Ding aussagen, findet im Allgemeinen ein  dreifaches In-Einssetzen statt.  Sofern nämlich jede Relation mindestens zwei Beziehungspunkte fordert, die in ihrer allgemeinen Vorstellung in der Regel noch nicht bestimmt sind, so muß  einmal die in der Anschauung gegebene Relation  mit der  allgemeinen Relationsvorstellung,  die das Prädikat ausdrückt und dann  jeder der von ihr geforderten Beziehungspunkte mit den gegebenen Dingen  in Eins gesetzt werden.

1. Die Relationsprädikate unterscheiden sich von den bisher betrachteten dadurch, daß sie als solche der Subjektvorstellung äußerlich bleiben und in keine innere Einheit mit derselben gesetzt werden können. "Hier sein und dort sein", "vorangehen und nachfolgen", "gleich sein und verschieden sein", "für mich sichtbar oder unsichtbar sein" kommen niemals einem Subjekt zu, wie es für sich als Einzelnes gedacht wird und verändern seine Vorstellung nicht, ob sie ihm zu- oder abgesprochen werden. Sie können weder als eine Eigenschaft des Subjekts, noch als ein Tun desseleb bezeichnet werden. Der Satz, der sie von einem Subjekt aussagt, drückt also nicht dieselbe Funktion einer innigen Ineinssetzung aus, wie das Urteil der Inhärenz oder Aktion, das nicht verändert werden kann ohne die Vorstellung des Subjekts selbst zu verändern. Ob ich sage: "der Baum ist vor mir" oder "der Baum ist hinter mir", es ist genau derselbe Baum; sage ich: "der Baum ist grün", "der Baum ist welk" - so ist es nicht mehr derselbe, sondern ein veränderter Baum.

2. Damit eine bestimmte Relation von einem Ding in ebenso unmittelbarer Weise wie ein Benennungsurteil ausgesprochen werden kann, ist eine komplexe Anschauung vorausgesetz, in welcher zwei unterscheidbare Dinge in bestimmtem Verhältnis zueinander gegeben sind. Diese komplexe Anschauung - z. B. eines Mannes auf einem Pferd - ist der Ausgangspunkt des Urteilsprozesses und kann insofern Subjekt werden, wenn ein Prädikat zu Gebote steht, das in seiner Bedeutung beide Elemente zusammen in dieser Relation benennt - "dies ist ein Reiter". Allein damit ist nicht die Relation selbst im Urteil ausgesprochen, sondern sie ist in die Prädikatsvorstellung als unselbständiges Element verwoben, und es findet ein einfaches Benennungsurteil statt, in welchem Ganzes mit Ganzem verglichen und in Eins gesetzt wird.

Soll  die Relation selbst  als Prädikat auftreten: so muß sie als Produkt des beziehenden Denkens, losgelöst von bestimmten einzelnen Anschauungen, als allgemeine Vorstellung im Bewußtsein sin und neben der Vorstellung der Beziehungspunkte als für sich festgehaltener Dinge auftreten. Aber in dieser Allgemeinheit ist sie unfähig, Prädikat eines bestimmten Subjekts zu werden; die Relation die im obigen Beispiel durch "auf" ausgdrückt wird, schwebt vollkommen in der Luft, wenn sie nicht an irgendeinen räumlichen Punkt angeknüpft wird; ebensowenig kann "gleich" ein Prädikat eines Dinges sein, sondern nur "diesem oder jenem gleich". Hier und dort, rechts und links, gegenwärtig oder vergangen oder die modalen Relationsprädikate führen nun  in ihrer Bedeutung  schon die Vorstellung des einen Beziehungspunktes, des Ich, mit sich und hier bedarf es also keines ausdrücklichen Aktes, der den einen Beziehungspunkt bestimmt; bei anderen Relationswörtern muß er erst ausdrücklich hinzugedacht und ausgesprochen werden.

Indem also eine gegebene Anschauung die Vorstellung einer Relation reproduziert, knüpft diese sofort, sich bestimmend, an den einen der Beziehungspunkte an, d. h. der eine der geforderten Beziehungspunkte wird mit einem Glied der Anschauung identisch gesetzt; und damit entsteht das Prädikat, das  diese bestimmte Relation  ausdrückt. Der zweite noch übrige Beziehungspunkte wird sodann mit dem zweiten Anschauungselement verknüpft und damit entsteht die weitere Synthese, die dem Prädikat das Subjekt gibt. Im obigen Beispiel knüpft die Relation "auf" an das untere Glied an; sie ergänzt sich also zunächst zu "auf dem Pferd", der geforderte zweite Beziehungspunkt wird durch das Subjekt, "Mann" ausgefüllt und so das Urteil vollenet: "der Mann ist auf dem Pferd."

3. Am deutlichsten zeigt sich das in den räumlichen Relationen, die von  mir  als Beziehungspunkt ausgehen. Ein Urteil wie "Sokrates ist hier" geht von einer Anschauung aus, die mich und SOKRATES in demselben Raum begreift. Nun ist mit jeder anschaulichen Vorstellung des Raums mein eigener Ort und ein denselben umgebender Raum gesetzt; diesemicht stets begleitende, durch "hier" ausgedrückte Vorstellung tritt also zur gegebenen Anschauung und wird mit ihr Eins. Der mich umgebende Raum aber fordert etwas das darin ist; er ist die allgemeine Möglichkeit eines Zweiten und dieses Zweite ist jetzt SOKRATES; SOKRATES füllt die leere Stelle des "hier" aus. Darum ist die natürliche Form der Beschreibung solcher Verhältnisse, in denen mein eigener Ort als Beziehungspunkt zunächst im Bewußtsein ist, die  Voranstellung der Ortsbezeichnung.  (Rechts ist  A,  links  B,  vorn  C,  hinten  D.) 

Umgekehrt kann übrigens auch zunächst eines der Objekte ins Auge gefaßt werden - es wird als SOKRATES erkannt. Aber mit dieser Vorstellung kann sich sofort, wie mit der jedes räumlichen Dings, die einer Umgebung, der Nachbarschaft anderer Dinge verknüpfen; SOKRATES ist irgendwo - und diese unbestimmte Beziehung wird jetzt mit der bestimmten in Eins gesetzt, der ihn umgebende Raum mit meinem Raum, mir "hier". Auch in diesem Falle also ist ein Urteil, wie "Sokrates ist hier", insofern auf doppeltem Wege möglich, als es einerseits als Antwort auf die Frage: "Wer ist hier", andererseits auf die Frage: "Wo ist Sokrates" gelten kann.

4. Die  mathematischen Gleichungen  können nicht ursprünglich nach der Formel "A und B sind gleich" asl Urteile aufgefaßt werden, welche über zwei Subjekte dasselbe Prädikat aussagen, wie "A und B sind 10 Fuß lang"; denn sie können nicht in zwei Urteile "A ist gleich" und "B ist gleich" zerlegt werden, weil "gleich" schlechtweg, ohne einen Beziehungspunkt, gar kein mögliches Prädikat eines einzelnen Subjekts ist; sondern sie sind aufzufassen nach der Formel "A gleich B", wo als Prädikat das "B gleich sein" gelten muß und die das Urteil vollendende Synthese zwischen dem unbestimmt gedachten,  was B  gleich ist und dem bestimmten  A  stattfindet. Wieder liegt es allerdings in der Natur eines mathematischen Objekts, daß sich die Frage, was ihm gleich sei, von selbst daran heftet und es über sich hinaus seine Beziehung streckt, um durch sie ein zweites zu erreichen; darum kann sowohl  A  als auch  B  zum Ausgangspunkt genommen und sowohl das eine, als auch das andere Subjekt werden:  A = B  und  B = A,  d. h.  A  und  B  sind  einander  gleich.

5. Schwierig sind wegen der engen Beziehung zwischen "Tun" und "Wirken" die  kausalen Relationen  zu analysieren, die sich in Sätzen mit transitiven Verben und ihrem Objekt ausdrücken. Gehen wir wieder von einer bestimmten Anschauung aus, die das Urteil erzählen soll, z. B. eines Stiers der einen Baum stößt: so ist, was mit der Vorstellung des Subjekts unmittelbar in irgendeinem Moment gegeben ist, sein  Tun,  das als bestimmte Form der Bewegung für sich vorgestellt werden kann; "Stoßen", "Schlagen", "Schleudern", "Fassen" usw. enthalten die Vorstellung bestimmter Bewegungsformen, die ganz abgesehen von einem bestimmten Objekt gedacht und so rein auf das Subjekt als dessen Tun bezogen werden können. Aber das Urteil: "der Stier stößt", erschöpft das Bild noch nicht vollständig, in welchem der Stier nicht ohne den Baum ist; was geschieht, muß irgendwie als Relation zwischen beiden ausgedrückt werden. Das kann von einer Seite so geschehen, daß nur die allgemeine Form der Bewegung durch ihre  Richtung  determiniert wird, in ähnlichem Sinn, in welchem es durch Adverbien der Richtung gesehen werden könnte ("der Stier stößt  gegen  den Baum" - lokale Bedeutung des Kasus und der Präpositionen). Soweit enthält als das Urteil keine andere Relation als diejenige, welche durch die räumliche Natur der Bewegung, in der das Tun besteht, gefordert wird, wenn sie als eine im einzelnen Fall bestimmte ausgedrückt werden soll und welche in der Bedeutung einer bestimmten Modifikation der Bewegung auftritt. Die Angabe eines bestimmten Gegenstandes dient nur zur näheren Bestimmung der Prädikatsvorstellung, diese selbst ist darum noch kein Relationsprädikat.

Wird aber auf den  Erfolg  gesehen, welchen das Objekt durch die Tätigkeit des Subjekts erfährt, die Erschütterung und Quetschung des Baumes, so tritt insofern die  kausale Relation  ein; dieser Erfolg gehört nicht mehr zum Tun des Subjekts für sich, sondern zu dem, was am  Objekt  vorgeht, das bewirkte als solches ist außerhalb des bewirkenden. Jetzt wird in der allgemeinen Vorstellung, welche "Stoßen" bezeichnet, nicht mehr bloß die Form der Bewegung gedacht, welche ein Subjekt verlangt, sondern eine Bewegung, die einen erschütternden oder zermalmenden Erfolg an einem andern hat. Indem der Vorgang mit der Vorstellung des Stoßens in  diesem  Sinne identisch gesetzt wird, wird auch gefordert, daß die Vorstellung sich durch Beziehung auf ein bestimmtes  Objekt  näher bestimme und damit haben wir die beiden ersten Synthesen; die Angabe des Subjekts ist die dritte.

Handelt es sich um Verba die  ihrer Natur nach  eine Wirkung, ein Hervorbringen, Vernichten, Zerstören usw. bedeuten, so ist in der Wortbedeutung selbst die kausale Relation gesetzt, sie ist das Allgemeine zu den bestimmten Wirkungen auf einzelne verschiedene Objekte und fordert ein Etwas, das hervorgebracht oder zerstört wird. Bewirken und  etwas  bewirken ist gleichbedeutend; bestimmter oder unbestimmter ist mit dem Verb selbst die Vorstellung eines Objekts verbunden, das durch die im Verb ausgedrückte Tätigkeit affiziert wird und mit welchem von einer das bestimmte Objekt in Eins gesetzt wird; in der Wortbedeutung liegt ferner die Vorstellung des zweiten Beziehungspunktes, des Ausgangs der Wirkung und mit diesem wird das Subjekt identisch gesetzt. "Ich esse", "ich esse etwas", "ich esse Speise" sind vollkommen gleichbedeutend; mit der Bedeutung des Verbums sind seine zwei Beziehungspunkte gegeben, sie mögen genannt sein oder nicht. Das Eigentümlich ist nur umgekehrt, daß jetzt in der Vorstellung des Wirkens die des Tuns eingeschlossen und mit den Synthesen, welche die Relation herbeiführt, auch die Synthese in der Kategorie der Aktion als eine mitgedachte und begleitende vollzogen wird. Die möglichen Reihenfolgen, in denen diese Synthesen vollzogen werden, sind wiederum an den Fragen zu veranschaulichen: Wer bewirkt  B?  Was bewirkt  A?  Was tut  A? 

6. Die Natur dieses Relationsverhältnisses spricht sich in der  Wechselbeziehung der aktiven und passiven Formen  aus, durch welche derselbe Vorgang ausgedrückt werden kann. Sage ich "der Stein wird geworfen": so ist der Vorgang am Stein nicht so ausgedrückt, wie er zunächst als Tun des Steins erscheint (der Stein fliegt); an die Stelle dieser nächsten und unmittelbaren Aussage tritt die entferntere Relation, welche dieses Tun als Wirkung eines anderen bezeichnet und in dren Vorstellung das Woher dieser Wirkung unbestimmt oder bestimmt mitgedacht wird. Die Prädikatsvorstellungen, welche durch passive Verba bezeichnet werden, können also nicht unter dieselbe Form der Einssetzung subsumiert werden, welcher die Kategorie der Aktion zugrunde liegt, sondern sind durchweg Relationsprädikate, obwohl in ihnen eine Aktion, die sich lediglich auf das Subjekt bezieht, mit eingeschlossen ist.

Unter unendlich mannigfachen Formen und Verkleidungen des sprachlichen Ausdrucks verstecken sich allerdings häufig diese einfachen unterschiedenen Grundverhältnisse; die Wortformen der Sprache kongruieren, ihrer geläufigen Bedeutung nach, durchaus nicht immer mit den Unterschieden der Vorstellung;  "leiden" selbst ist ein Aktivum,  bei dem wir meist vergessen, daß es als solches das Subjekt in der Tätigkeit des Ertragens oder Schmerzempfindens darstellt und das uns in der Regel, als Gegensatz zum Wirken, nur die Relation zu einem anderen Wirkenden bedeutet.

7. Unter den Gesichtspunkt der Relation und zwar der modalen, fällt auch, wiewohl mit eigentümlicher Stellung, das Prädikat  Sein  in den sogenannten  Existentialsätzen.  Nicht bloß teilt es mit den Relationsprädikaten die Eigenschaft, dem Inhalt der Subjektsvorstellung äußerlich zu bleiben (diese erleidet keine Veränderung, ob das Sein dem Subjekt zu- oder abgesprochen wird; unsere Traumbilder und Halluzinationen sind, den bloßen Inhalt der Vorstellung betrachtet, ebenso Dinge mit Eigenschaften und Tätigkeiten, wie diejenigen, die wir als wirklich setzen); sondern es ist auch immer, offener oder versteckter, eine Relation zu mir, dem Denkenden, darunter verstanden.

Jedes Existentalurteil füllt eine leere Stelle in der für mich existierenden, mir gegenwärtigen, Welt aus, deren Gedanke schon vorausgehen muß und alle Schattierungen der Vorstellung "Sein" drücken nur die verschiedene Art und Weise aus, wie diese Beziehung eines Äußeren zu mir, dem ursprünglich und absolut seienden, vermittelt ist.

Ebenso vergeblich wie der Versuch, das Selbstbewußtsein aus dem Unbewußten zu erklären, ist es, die Vorstellung des Seins auf irgendeine Weise abzuleiten. Sie ist in all unserem Vorstellen und Denken mitenthalten, ehe wir uns ihrer ausdrücklich bewußt werden; sie geht in unser Ich als ein unablösbares Element mit ein und haftet ebenso ursprünglich an den Objekten unserer Anschauung wie unseres Denkens. Wo es sich um Empirisches handelt, ist die Wahrnehmung die Veranlassung, das Wahrgenommene als seiend zu setzen und wir verbinden mit Sein, wenn wir uns die Vorstellung näher verdeutlichen wollen, das Wahrgenommenwerdenkönnen, die Fähigkeit einer Wirkung auf die Sinnesorgane eines wahrnehmenden Subjekts; aber das Wahrgenommenwerden ist nicht das Sein selbst, sondern ein Zeichen und eine Folge desselben. Wo wir unsinnlichen oder übersinnlichen Dingen das Sein vindizieren, sei es im Sinne des ontologischen Beweises für ein  Sein Gottes,  sei es im Sinne des Dings ansich, haben wir es immer schwer die Reste der begleitenden räumlichen Vorstellungen des  Daseins  los zu werden und es bleibt uns wenigstens die Wirkung auf eine wahrnehmbare Welt und durch sie die Möglichkeit einer Wirkung auf uns, mit der wir die Vorstellung des Seins beleben; allein auch dieses Wirken ist nicht der Ursprung des Gedankens "Sein", sondern nur der Erkenntnisgrund dafür, daß etwas ist. Der Gedanke des Seins ist vielmehr so unerklärlich und ursprünglich, wie unser Selbstbewußtsein selbst; mit diesem ist der Gegensatz von uns und einem Seienden, das ebenso  ist  wie wir selbst  sind,  von Anfang an gesetzt, wir haben uns selbst seiend, aber nur zusammen mit anderem, was  ist  und unterschieden von ihm.

Die Vorstellung des Seins steckt von Haus aus in allen Gegenständen unserer Vorstellung mit drin, es bedarf keiner besonderen Veranlassung, sie als seiend zu denken, mit der Entstehung der Vorstellungen der Dinge, welche die Welt ausmachen, ist auch die Vorstellung ihrer Existenz verknüpft; wohl bedarf es aber ausnahmsweise einer Veranlassung, sich des "Seins" ausdrücklich bewußt zu werden, indem wir es vom Vorgestellten trennen. Daß das, war wir denken auch sei, erschien lange so selbstverständlich, daß man darüber stritt, ob man denn vom Nichtseienden überhaupt reden könne; wer vorstellt, stellt  etwas  vor, also ein Seiendes, wer nicht Seiendes vorstellt, stellt überhaupt nichts vor. Die mühsame Untersuchung, welche der platonische Sophistes führt, zeigt, wie schwer der jetzt geläufige Unterschied zwischen einem  Sein für uns  und einem  Sein ansich,  zwischen dem als seiend Vorgestellten und dem wahrhaft Seienden zu finden war.

In der Tat kann nur in der Erfahrung des Irrtums und der Lüge, in den Tatsachen des Zweifels und des Streites das Motiv liegen, überhaupt zu einem Existentialurteil zu kommen. Der Widerspruch unserer Vorstellungen und Anschauungen untereinander oder mit den Vorstellungen anderer zerreißt erst die ursprüngliche Einheit von Gedachtwerden und Sein, die dem unbefangenen Sinn natürlich ist und läßt uns zwischen dem bloß subjektiv Vorgestellten und Geglaubten und dem objektiv Seienden unterscheiden.  Daß  etwas sei, ist die Voraussetzung von der wir uns nie losmachen können, die mit unserem Selbstbewußtsein selbst gegeben ist; die Frage ist:  was  sei und unser Denken bemüht sich, sobald es sich der Differenz zwischen Vorgestelltem und Seiendem bewußt ist, an die Stelle es unbestimmten, immer vorausgesetzten Etwas seine bestimmt gedachten Objekte zu setzen.

Mit dem Prädikat "Sein" verknüpft sich alos die Vorstellung einer im leeren Raum des Seins auszufüllenden Stelle; das "Dasein, Vorhandensein, Gegebensein, Gesetztsein" drücken alle noch diese räumliche Grundbeziehung aus; und das Urteil, das einem Subjekt Existenz zuspricht, identifiziert das unbestimmte Korrelat zu mir, das in der Vorstellung des Seins schon mitgedacht ist, mit einem bestimmten Subjekt. Darum steht auch hier naturgemäß der Ausdruck des Seins voran:  estin, there is, es gibt  usw.

Das Eigentümliche in der Vorstellung des Seins, wodurch es sich von anderen modalen Relationen unterscheidet, ist nur, daß durch sie über die bloße Relation hinausgegangen, die Relativität in dem Gedanken aufgehoben werden soll, daß das Seiende sei auch abgesehen von seiner Beziehung zu mir oder einem anderen denkenden Wesen; eine Aufhebung, die, wie der HERBARTsche Begriff der absoluten Position zeigt, immer gefordert ist und nie vollzogen werden kann, ohne daß an die Stelle des einfachen Gedankens des Seins die lebendigeren Prädikate des Sichselbsterhaltens und Behauptens treten, durch die wir, als ihre Ursache, uns die Relationen des Seins erklären.
LITERATUR - Christoph Sigwart, Logik I, Tübingen 1873