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FRITZ MAUTHNER
Selbstdarstellung

"Einige Wochen lang verbrachte ich die halben Nächte damit, meine Flüche hinzuwühlen darüber, daß wir so gar nichts wissen können..."

Ich bin mir der Ehre bewußt, die mir durch die Aufforderung widerfährt, neben akademischen Forschern auf den Teilgebieten der Philosophie das Wort zu ergreifen; aber es würde ein schlechtes Licht werfen auf meine Wahrheitsliebe, doch wohl die menschliche Vorbedingung alles wissenschaftlichen Denkes, wollt ich meiner Freude über diese Ehrung einen allzu bescheidenen Ausdruck geben.

Über meinen Bildungsgang und auch über die mir bewußte Herkunft des sprachkritischen Gedankens habe ich bereits eingehend berichtet in meinen  Lebenserinnerungen  (München 1917); ich muß hier hervorheben oder hinzufügen, was sich etwa auf eine philosophische Schulung beziehen mag.

Auf dem deutschen Gymnasium in Prag-Kleinseite trug uns ein geistlicher Herr in den Oberklassen die sogenannte philosophische Propädeutik vor: Logik, Psychologie und Ethik. Was wir da an psychologischen und gar ethischen Banalitäten zu hören bekamen, ging freilich kaum hinaus über die Allgemeinheiten des Religionsunterrichts; doch die Logik fesselte mich ungemein, vielleicht nur darum, weil kein einziger unserer Lehrer daran gedacht hatte, den hergebrachten deutschen Aufsatz zu einer Einführung in die Regeln des Denkens zu benützen. Für die Schülerzeit darf ich noch erwähnen, daß ich bei Lehrern und Mitschülern für einen vortrefflichen Griechen und Mathematiker galt; die Begabung für Mathematik ließ ich einrosten, bis ich, sehr viel später, in Freiburg, nach meinem 55. Jahre, bei den Professoren LÜROTH, LÖVY und Königsberger das Versäumte nachholte und eifrig höhere Analyse, Wahrscheinlichkeitsrechnung, nichteuklidische Geometrie und auch einige theoretische Physik studierte.

Es war ausgemacht, ohne daß ich gefragt wurde: ich sollte mich als Jurist inskribieren lassen. Der Beruf eines Rechtsanwalts, für den ich bestimmt war, schien mir damals unwürdig als der eines studierten Geschäftsmannes; und die Rechtswissenschaft selbst widerstrebte mir oder ich widerstrebte ihr; als ich dann in einem spätern Semester durch den feinen Gelehrten MERKEL in die Rechtsphilosophie eingeführt wurde, da war es zu spät; bei mir war eben das Mißtrauen in alle abstrakten Begriffe wach geworden und besonders den schon vertraut gewordenen Rechtsbegriffen schien jede Beziehung zur Wirklichkeit zu fehlen.

ADOLF MERKEL, der mir sehr wohlwollte und mich auch freundlichst (nach deutscher Sitte, gegen die Gewohnheit der Prager Professoren) in sein Haus zog, gab sich redliche aber fruchtlose Mühe, mich für die Rechtsphilosophie und für einen "akademischen" Lebensweg zu gewinnen, besonders aber mich zu heilen von der Neigung zu einer Sprachkritik, die er für jugendlichen Radikalismus hielt. Um mich zu bekehren, lieh er mir einmal HEGELs  Phänomenologie des Geistes;  ich war aber durch SCHOPENHAUER schon so sehr gegen Hegel eingenommen, daß ich damals nicht einmal die ungeheure Begriffsarchitektur nach Gebühr bewunderte. Im Gegenteil: der Wortaberglaube Hegels bestärkte mich in meiner Wortketzerei.

Bevor ich noch Merkel kennen und persönlich verehren lernte, hatte ich natürlich alle Vorlesungen belegt, die mir über das Brotstudium hinaus zu weisen schienen; mehr als einmal fiel so ein freies Kolleg auf die gleichen Stunden wie das, das ich als Jurist unweigerlich (trotz der akademischen Freiheit) zu besuchen hatte; ich brauche nicht erst zu versichern, daß ich lieber das Eherecht oder das Handelsrecht schwänzte als eine Vorlesung über die Ästethik oder über einen philosophischen Gegenstand. Der Stunden bei dem Archäologen BENNDORF und dem Musikhistoriker AMBROS gedenke ich noch heute mit Dankbarkeit; doch in die Welt der Gedanken führten beide nicht ein. Und um die eigentliche Philosophie war es damals in Prag wunderlich bestellt.

Ich will gleich bemerken, daß ich in acht Semestern (1869 bis 1873) von keinem einzigen Dozenten SCHOPENHAUER auch nur nennen hörte; ein Kamerad borgte mir einmal HARTMANNs  Philosophie des Unbewußten  und daraus, aus verblüffend überzeugenden Zitaten, erfuhr ich erst, daß der echteste Schüler von KANT, eben SCHOPENHAUER gelebt hatte. Die Universität hatte ihn noch nicht entdeckt. Die Kirche, natürlich die katholische Kirche, teilte sich mit der Wiener Regierung in die Oberaufsicht über unsere Hochschule; jede dieser beiden Mächte hatte einen  summus philosophicus  hingestellt, an welchen man zu glauben hatte; für den Erzbischof von Prag, der der alleinige Herr der theologischen Fakultät war, doch auch auf die andern Fakultäten Einfluß hatte, war THOMAS von AQUINO die oberste Instanz (wenn er ihn nämlich kannte, man sprach mit sehr wenig Achtung von seinen Geistesgaben), für das Unterrichtsministerium war diese Autorität Herbart, schon seit einigen Jahrzehnten. In ganz Österreich berief man sich auf HERBART, wenn man wissenschaftlich über philosophische, besonders über pädagogische Fragen reden wollte. Da traf es sich recht gut, daß sowohl der Vertreter der mittelalterlichen als der der modernen Richtung ein gründlicher Mann war, der zur geistigen Mitarbeit erziehen konnte.

Natalie Portmans denial
Aufgang zum Glaserhäusle in Meersburg (Oktober 2000)
Was der Thomist uns bot, der Logikprofessor J.H. LÖWE, in einem Kolleg über Logik, war freilich zunächst abschreckend genug. Ich glaubte nicht recht zu hören, als das verhutzelte Männchen die Vorlesung über Denkgesetze so begann: "Es gibt dreierlei vernunftbegabte Wesen, nämlich Gott, Engel und Menschen." Nachher wurde die Sache aber nicht so schlimm; unser Philosoph beschränkte sich auf die vernunftbegabten Wesen der dritten Klasse und führte uns scharfsinnig zu den Haarspaltereien der scholastischen Logik. Ab und zu legte er sein Heft beiseite und überraschte uns in geistreichen Exkursen mit ganz unkirchlichen Begriffskonstruktionen. Ich wußte damals noch nicht, daß dieser vermeintliche Thomist, dessen Kolleg auf Anraten der Obern von sehr vielen Theologen besucht wurde, eigentlich ein Anhänger des unglücklichen GÜNTHER war und sich's nur nicht anmerken lassen durfte; GÜNTHER war von Rom wegen bescheidener Ketzereien verurteilt worden, hatte sich unterworfen und war elend zugrunde gegangen, weil er, von Hegel nicht ganz unberührt, in einen duldsamen Theismus die Vereinigung von Geist und Natur suchte.

Unser Logikprofessor nun war ein ängstlicher Jünger dieses Günther und blickte immer scheu nach den Bänken der Theologen, wenn er in einem seiner Exkurse die Begriffe  Natur  und  Geist  zusammenstellte. Erst viel später hat Löwe mich ernsthaft gefördert: als ich schon gelernt hatte, meine sprachkritischen mBemühungen wären uralt, wären bereits von mittelalterlichen Nominalisten mgewagt worden, und als ich erfuhr, daß Löwe eine sehr gute kleine Schrift müber diese Nominalisten verfaßt hätte.

Viel unmittelbarer wirkte auf mich der Herbartianer VOLKMANN, bei dem wir Juristen ein Zwangskolleg über praktische Philosophie zu hören hatten; ich war wie verzaubert und belegte im nächsten Semester bei VOLKMANN das große Kolleg über Psychologie. Ein Lehrer, dem man zutraute, daß er ein Philosoph war; eigentlich gar kein Leib mehr, nur noch ein fragendes Auge und eine eindringende Stimme. VOLKMANNs Lehrbuch der Psychologie ist heute gewiß verdrängt durch die neuen physiologischen, psychophysischen und sonstigen Experimente; die Selbstbeobachtung hat viel von ihrem Kredit verloren; aber VOLKMANN hat uns Sauberkeit im Bilden und Gewissenhaftigkeit im Anwenden von psychologischen Begriffen gelehrt. Mitgeschrieben habe ich damals nicht, aber Aufgaben in Menge heimgebracht: die Aufforderung des Herbartianers, unter Aufbietung aller Kräfte mit den Widersprüchen zu ringen, die überall da verborgen waren, wo es sich um Zustände und Tätigkeiten der sogenannten  Seele  handelte:  Ich, Bewußtsein, Gedächtnis, Vorstellungen, Gefühle .

Wieder lernte ich erst sehr viel später den Nutzen schätzen, den mir die frühe Bekanntschaft mit Herbarts  Realismus  gewährt hatte; als ich nämlich die Sprachphilosophie der Völkerpsychologie zu studieren begann und zu meiner Überraschung fand, daß nicht nur der betriebsame Lazarus, sondern auch der tapfere Steinthal und der starke GEIGER mit dem Handwerkszeuge von HERBART arbeiteten. Als ich aber damals den edeln Geist VOLKMANNs bewundernd auf mich wirken ließ, war ich noch weit von einer Erkenntnis solcher Zusammenhänge; es paßte mir nicht, daß HERBART in der Skepsis nur den Ausganspunkt des Philosophierens sah; meine sprachliche Skepsis war so stark, daß sie sogar meine liebevolle Achtung für Volkmann verringerte.

Wir hatten in Prag noch einen dritten Philosophen, den Freiherrn von LEONHARDI, der Schüler und (wenn ich nicht irre) Schwiegersohn des Weltverbesserers und Sprachverhunzers Krause war. Es ist vielleicht meine Schuld, vielleicht auch nicht, wenn ich von Leonhardi nicht ernsthaft reden kann. Sein Meister KRAUSE muß trotz seiner närrischen Terminologie eine hinreißende Persönlichkeit gewesen sein, da er drei Menschenalter nach seinem Tode noch Apostel findet, besonders in Spanien, aber auch in Deutschland. Freiherr von LEONHARDI verband mit KRAUSEs Sprachungeheuern etwas mathematische Nüchternheit; was dabei herauskam, war unsäglich. Nein, nicht unsäglich, denn er sagte es; doch unerträglich. "Der Teufel ist als das Gegenstück zu Gott das or-om-wesenlebige Mälwesen mit einem negativen Vorzeichen."

Und was das Allerschrecklichste ist: ich könnte heute nicht mehr sagen, ob diese Ausgeburt wörtlich über LEONHARDIs Lippen kam, so wie sie fest in meinem Gedächtnisse haftet, oder ob sie Erzeugnis einer Parodie ist, in der ich mich an LEONHARDI zu ersten Male übte.


II.

Der Unterschied zwischen meinem Lebensgang und dem der meisten Herren, die in ihren Büchern philosophische Aufgaben behandelt haben, liegt aber doch nicht darin, daß ich ein rechtswissenschaftliches Staatsexamen abgelegt hatte, bevor ich "umsattelte"; wohl die meisten spätern Philosophen hatten vorher ein anderes Fach getrieben. Der wesentliche Unterschied dürfte vielmehr darin zu suchen sein, daß ich in meinem 22. Jahre, als ich das Rechtsstudium aufgab, schon zu alt und zu skeptisch war, vielleicht auch zu hochmütig, um den geordneten akademischen Weg zu einer anderen Wissenschaft einzuschlagen. Ein lange andauernder Bluthusten hatte mir Todbereitschaft geschenkt und so ein Gefühl der Freiheit; als ein Mensch, der nur noch kurze Zeit zu leben hat, brauchte ich keine Rücksichten mehr zu nehmen, brauchte keinen bürgerlichen Beruf zu ergreifen. Die Tätigkeit, der ich mich jetzt zuwandte und die mir seit meiner frühesten Jugend als die schönste, als die für mich allein mögliche, vorgekommen war, schien mir gar kein Beruf, sondern eher eine Art von Berufung. Ich wollte ein freier Schriftsteller sein. Was ich schreiben würde, darüber machte ich mir gar keine Gedanken; für die wenigen Jahre, die ich noch zu leben hätte (Niemand aus meiner Umgebung hielt es für möglich, daß ich über 70 Jahre alt würde) waren die nächsten Aufgaben mehr als ausreichend: einige Dramen, eine Geschichte des Gottesbegriffs und eine Kritik der Sprache.

Auf zwei Umstände glaube ich bei diesen Plänen besonders hinweisen zu dürfen. Erstens erschrak ich nicht im mindesten darüber, daß ich mir da zugleich dichterische, geschichtliche und erkenntniskritische Aufgaben gestellt hatte; und ich kann auch heute noch nicht einsehen, daß ein Schriftsteller, wenn er überhaupt etwas zu sagen hat, sich verpflichten müsse, sein Eigenes immer in einerlei Weise zu sagen. Auf die Kraft allein kommt es an; ist das Kraftgefühl stärker gewesen als die Kraft, so geht man eben zugrunde. Zweitens muß es jedem Mitstrebenden auffallen, daß mir der Gegenstand, ja sogar der Titel meines Lebenswerks feststand, lange bevor ich mich in der Literatur über diesen Gegenstand umgesehen hatte, lange bevor ich wußte, ob es eine solche Literatur gab.

don't fence me in
    Glaserhäusle von der Bodenseeseite
    (Oktober 2000)
Ich glaube inzwischen erfahren zu haben, daß die meisten philosophischen Schriftsteller sich ganz anders entwickelt haben: auf dem nächsten Wege oder auf einem Umwege haben sie einen Bezirk der Philosophie studiert, begrifflich oder historisch oder experimentell, haben dann erst die Entdeckung gemacht, an welcher Stelle der bisherigen Gesamtarbeit eine Lücke klafft, die durch die besondere Begabung eines neuen Arbeiters auszufüllen wäre. Es ist wie eine große Organisation, die Teilung der Arbeit fordert. Mit dem Mute der Unwissenheit setzte ich mich hinweg über dieses Gesetz der Organisation, mit dem Mute der Unwissenheit wollte ich so etwas wie eine Kritik der Sprache schreiben.

Wie ein Toller ging ich daran. Im Herbste des Jahres 1872, kurz nach dem Erscheinen meines ersten Büchleins, einer Sammlung von Sonetten, in denen trotzig die Gestalten und die Ideen der großen Französischen Revolution verherrlicht waren. Noch schlechter vorbereitet als für diese geschichtsphilosophischen Gedichte, unreif und ungeduldig, begann ich die Niederschrift eines neuen Büchleins, von dem ich nicht einmal hätte sagen können, daß es philosophischer, erkenntniskritischer Art wäre. Überschrift: "Die Kritik der Sprache". Einige Wochen lang verbrachte ich die halben Nächte damit, meine Flüche hinzuwühlen darüber, daß wir so gar nichts wissen können, daß die menschliche Vernunft gar kein anderes Auskunftsmittel hat als die elende Sprache, daß die Sprache ein Handwerkszeug ist, mit dem wir an nichts Wirkliches herankommen können, weder an die Natur noch an unsere eigenen Empfindungen. Ich werde eine Handschrift von beiläufig 200 Seiten beisammen gehabt haben, als mich die Begriffe  Zweck  und  Ursache  plötzlich zu zwingen schienen, nach ihrer genauen Bedeutung zu fragen.

Ich weiß noch, wie die Arbeit liegen blieb, weil ich zu Schopenhauer griff und die  Vierfache Wurzel  zum zweiten Male las, weil ich nun endlich die Notwendigkeit erkannte, auf KANT zurückzugehen, von da auf HUME, von Hume auf LOCKE, und weil ich hier die verblüffende Entdeckung machte: ich kann mein Gebäude nicht aufrichten, ohne vorher ein Gerüst gezimmert zu haben; von dem, was ich neu gesehen zu haben glaubte, steht viel besser, als ich es ausdrücken könnte, in der Sprachphilosophie des alten Locke; ich muß Philosophiegeschichte treiben, ernstlich, nicht nach Handbüchern, ich muß auch nachholen, was mir an Sprachwissenschaft fehlt, bevor ich das erste Wort meiner  Kritik der Sprache  niederschreibe.

Es wird Januar oder Februar 1873 geworden sein, da ich ganz allein zu dieser Erkenntnis kam. Als ich meine Handschrift wieder vornahm, ließ ich mich von einer eitlen Vorliebe für einige starke Stellen nicht täuschen. Das war ja noch viel unreifer als mein Gedichtbuch. Zornig und verzweifelt warf ich das Ganze ins Feuer, entschlossen, die Vorarbeit neu zu beginnen, obgleich ich sicher zu sein glaubte, die Beendigung der Arbeit selbst nicht zu erleben. Die Vorarbeit, das Studium der Philosophiegeschichte und der Sprachwissenschaft, beschäftigte mich 27 Jahre lang, dreimal solang als die Frist von 9 Jahren, die Horatius vorgeschrieben hat.

Seines Fleißes darf sich Jedermann rühmen. In dem reichlich übermütigen Vorworte zur zweiten Auflage meiner  Kritik der Sprache  (1906) habe ich auf den Vorwurf, ich sei kein Fachmann, lachend geantwortet: ich hätte für meine selbstgestellte Aufgabe 50-60 Disziplinen nötig gehabt und nur zu deren oberflächlichen Aneignung mindestens 300 Jahre. "Ich bin nicht arbeitsscheu. Ich hätte gern die 300 Jahre darangesetzt, aber ich sagte mir: es ist das Schicksal wissenschaftlicher Disziplinen - einige wenige ausgenommen -, daß ihre Sätze und Wahrheiten selbst nicht 300 Jahre alt werden, daß ich also nach 300jähriger Arbeit immer nur in der zuletzt studierten Disziplin Fachmann gewesen wäre, ein Dilettant in den Disziplinen, deren Studium auch nur 10 oder 20 Jahre zurücklag, ein Ignorant in allen übrigen."
LITERATUR - Raymund Schmidt (Hrsg), Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924