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FRIEDRICH MAX MÜLLER
(1823-1900)
Denken und Sprache
I I
Das Denken im Licht
"Den Materialismus kann man in gewissem Sinne einen grammatischen Schnitzer nennen."

Einfachheit des Denkens. Die Einfachheit unserer Sprache ist jetzt jedem klar. Daß aber in unserem Denken dieselbe Einfachheit herrsche, ist noch keineswegs anerkannt. Selbst diejenigen, welche einsehen, daß der Geist unmöglich etwas anderes tun könne als auf gegebenen Materialien Worte bilden und für seine Zwecke verwenden, können sich nicht von der Vorstellung losmachen, daß in dieser Anwendung etwas Geheimnisvolles mitwirke, etwas, das zu erklären menschlicher Philosophie schwer falle oder unmöglich sei.

Und doch brauchen wir uns nur zu fragen, was wir denn eigentlich tun, wenn wir von uns sagen, daß wir denken, um zu finden, daß alles auf "a ist gleich b" oder "a ist nicht gleich b" zurückgeht. Wir haben Worte, die alles das enthalten, was wir hineinlegen, nicht mehr und nicht weniger. Mittels dieser Worte bilden wir Sätze und Satzverbindungen, welche wir Syllogismen (Schluß vom Allgemeinen aufs Besondere) nennen, und wir mögen uns anstellen wie wir wollen, mehr bringen wir niemals fertig.

Namen. Nehmen wir einfach das Vorgefundene als gegeben an, so haben wir es eigentlich nur mit Namen zu tun, Namen, welche Vorstellungen repräsentieren, durch welche ihrerseits wieder Empfindungen repräsentiert werden. Für sich allein finden wir niemals irgendeinen dieser Bestandteile getrennt vor. Von den Namen abgesehen, welche nicht wegräsoniert werden können, ist alles andere das Resultat unserer eigenen, wissenschaftlichen Analyse. Selbst Empfindungen existieren in uns als in selbstbewußten Monaden niemals für sich getrennt. Sie bleiben bloße Reize, ehe sie vorgestellt werden.

Später, wenn wir sie Vorstellungen oder mit KANT Anschauungen nennen, scheinen sie etwas für sich Bestehendes zu sein, aber sie sind es trotzdem nicht. Wir haben niemals eine Vorstellung oder Anschauung, wofern wir sie nicht begrifflich erfassen können. Wir betrachten oft ein Bild von TINTORETTO, ohne zunächst zu erkennen, was es vorstellt. Eine Zeit lang sehen wir nichts als Farbe und ein chaotisches Durcheinander. Indem dann hier und da ein Bein, ein Huf oder eine Wolke sich abhebt, entdecken wir allmählich die Umrisse von Männern und Frauen, Häusern und Bäumen, d.h. wir bringen unsere Anschauungen unter Begriffe.

Wir sagen jetzt, wir verstünden und begriffen das Gemälde, während wir es vorher nur anstarrten und durch die Empfindungen, welche es auf unsere Retina hervorbrachte, gereizt wurden. Und wie mit dem Gemälde, so verhält es sich auch mit der Wirklichkeit, obgleich wir uns dessen schwerlich bewußt sind. Gewahren wir zwischen dem Geäst fern stehender Bäume eine Bewegung, so wissen wir noch nicht, ob sich dort etwas selbst bewegt oder bewegt wird. Sobald wir aber sich einen Körper durch das Geäst bewegen sehen, wissen wir, daß es ein Geschöpf sein muß, ein Vogel, ein Rotwild, oder ein Mensch. Sobald wir vier Beine bemerken, wissen wir, daß es ein Vierfüßler ist, gewahren wir sein Geweih und sein falbes Fell, so wissen wir, daß uns ein Hirsch gegenüber steht.

Dieser Prozess vollzieht sich beständig, aber mit solcher Schnelligkeit, daß wir uns schwerlich bewußt werden, wie wir Begriff nach Begriff von Körper, Tier, Vierfüßler, Rotwild bis zum Hirsch hervorkehren, anlegen und prüfen, bis wir zuletzt denjenigen Begriff finden, der wirklich paßt. Aber der Schuß fällt, ehe das Tier zu entfliehen Zeit hat. Dies gilt für jede Vorstellung. Wir stellen erst dann grün vor, wenn wir es als eine Farbe begreifen, welche blau, gelb oder grau sein könnte, aber von uns als grün begriffen wird.

Wir stellen erst dann zehn vor, wenn wir es als zwei mal fünf oder fünf mal zwei oder als eine Zahl d.h. als Begriff, der größer als neun und kleiner als elf ist, gezählt haben. Und wenn wir nicht vorstellen können ohne zu begreifen, können wir auch nicht begreifen ohne vorzustellen. Wir können zehn durch 2x5 oder 5x2, oder 9+1 oder 11-1 benennen, aber ohne einen solchen Namen existiert zehn für uns nicht, ebensowenig grün, Hirsch, Rotwild, Vierfüßler, Geschöpf, Körper, irgendetwas oder nichts.

Verbale Erkenntnis. Ich weiß natürlich, daß man alle Anstrengungen machen wir, um die Schlüsse, zu denen wir gelangten, in Frage zu stellen. Wäre dem so, wird man sagen, wäre alles Denken an Worte gebunden, und in Worte gekleidet, wäre denken sprechen, schließen verbinden und trennen, so wäre unsere ganze Erkenntnis bloße Verbalerkenntnis - eine Folgerung, vor der nicht nur der Intellekt, sondern der gesunde Menschenverstand unserer Zeit sich entsetzen würde.

"Rein verbal", "rein nominal" sind ja die verächtlichsten Ausdrücke, mit welchen man heutzutage eine Erkenntnis qualifizieren kann. Ich habe gegen diese Verachtung, welche man gegen bloße Worte hegt, nichts einzuwenden. Ich würde sie teilen, wenn ich nur je bloße Worte, reinen  flatus vocis  vorfände. Bloße Worte existieren überhaupt nur in Wörterbüchern, wo sie völlig harmlos sind, desgleichen im Gehirne gewisser Philosophen, wo wir dann allerdings nicht dasselbe von ihnen behaupten können. Allein lassen wir das "bloß" beiseite, so wird niemand von gewöhnlicher Einsicht oder gesundem Menschenverstande behaupten, daß wir je außer durch Worte etwas Wissen können.

Allerdings werden uns einige tapfere Widersacher entgegenhalten, daß sie sich nicht um Worte, sondern nur um Tatsachen kümmern. Wir erkennen Gold, Silber, Kupfer, Messing u.a., sagen sie, die wir sehen, berühren und auf dem Probierstein prüfen können, ohne daß wir uns überhaupt eines Wortes bedienen. Ihre Namen sagen uns nichts, alles, was wir von ihnen erkennen, erkennen wir mit unseren Augen oder unseren Händen. Laßt uns unsere Dinge, wir lassen euch euere Worte.

Gold. Aber was sind Dinge? Dinge (things) sind, wie DR. LEWINS treffend bemerkt hat, Gedachtes (thinks), und Gedachtes, füge ich hinzu, sind Worte. Wer erkannte je ein Ding, wenn man unter Ding etwas vom Denken Unabhängiges versteht? Und wer erkannte je einen Gedanken, wenn man unter Gedanken etwas versteht, was von der Sprache unabhängig ist? Wir sprechen von Gold, aber wie erkennen wir Gold? Gewiß nicht mit unseren Augen. Unsere Augen können den Reflex des Goldes wahrnehmen, aber dies ist ein subjektiver Eindruck, der kommt und verschwindet, ohne eben für uns zum Objekt zu werden. Erst müssen wir unsererseits bestimmte Eindrücke in eine Vorstellung verwandeln, unsere Erkenntnis muß subjektiv werden, ehe der Gegenstand unserer Erkenntnis für uns objektiv wird.

Was wir später Gold nennen, ist zuerst ein sehr unbestimmtes Objekt, etwas, das man angreifen, festhalten oder auch wegwerfen kann, sonst nichts. Es ist für uns noch nicht einmal ein Stein oder Metall, denn wie sollten wir etwas von Steinen oder Metallen, kostbar oder sonst etwas wissen, bevor wir dafür die Namen haben? Es gibt Sprachen ohne Namen für Gold, und noch viel mehr ohne Namen für Metall. Das Höchste, was wir als ersten Versuch, Gold zu erkennen, erwarten dürfen, würde etwas sein, das wir gerne halten oder behalten, etwas was uns gefällt, etwas, das glitzert, nichts weiter.

Wie kommen wir nun dazu, Gold zu erkennen? Wir gehen natürlich von unseren Sinnen und den Vorstellungen oder Anschauungen, welche sie uns liefern, aus. Auf ihnen beruht all unsere Erkenntnis und Sprache, ohne daß sie selbst Erkenntnis oder Sprache wären. Unsere Vorstellungen werden dadurch zur Erkenntnis, daß sie benannt werden, sie werden benannt, insofern sie begriffen werden. Wir unterscheiden zwar diese drei Stufen, aber wir können sie uns getrennt nicht denken. Eine Vorstellung für sich wäre nur ein dumpfer Zustand von Sinneserschütterung; ein Name für sich wäre ein bloßer Laut, ein Begriff für sich wäre selbst noch weniger als ein Laut. Vorstellungen, Begriffe, Namen für sich allein sind nichts, aber zusammen bilden die drei die Erkenntnis.

Wir sehen also, daß wir immer von dem Sinnesreiz und der Anschauung ausgehen müssen, daß aber weder die Anschauung, noch der Begriff, noch der Name für sich allein die Erkenntnis bildet. Erst zur Dreieinigkeit verbunden bilden sie das, was wir unter Erkenntnis verstehen, und diese Erkenntnis findet in dem Worte ihre endgültige Verkörperung.

Materie. Die Prüfung einiger Namen, die keine begreifbaren Gegenstände wie Gold, sondern Begriffe bezeichnen, denen nichts Konkretes entspricht, die aber trotzdem den wichtigsten Bestandteil dessen bilden, was wir Erkenntnis nennen, wird uns dies noch näher bringen. Dem Namen "Materie" z.B. entspricht nichts, was man berühren oder greifen könnte. Wir können Gold, Stein, Holz berühren, aber niemals die Materie als solche. Betrachten wir die Geschichte des Wortes "Materie", so ist natürlich klar, daß es das lateinische  materies  ist, welches ursprünglich festes Baumholz, dann Bauholz oder Gebälk bedeutete.

War dieser Begriff einmal gebildet so wurde er verallgemeinert, so daß er alles Substanzielle, woraus etwas gebildet und geformt wurde, bezeichnete. Frühzeitig wurde dann zwischen der Form z.B. einer hölzernen Statue und ihrer Substanz oder Materie unterschieden. Hier war die Materie noch Holz, bald aber wurden die Statuen auch aus Metall und Marmor gefertigt, und dann erhielten auch diese Substanzen den Namen Materie. Als sich dann die Frage erhob, woraus die anderen Dinge, woraus die ganze Welt gemacht sei, wie sollte man anders sagen als aus Materie? So gelangten wir in den Besitz dieses Wortes, dem nichts Greifbares entsprechen kann, welches aber nichtsdestoweniger den Geist der besten und tiefsten Denker mehr vielleicht als sonst ein Wort beschäftigt hat.

Unser Zeitalter soll am Materialismus kranken, soll materialistisch sein, und der bloße Name Materialist soll ein ernstes Verdammungsurteil enthalten. Was bedeutet aber Materie eigentlich und wie können wir die Bedeutung bestimmen? In diesem Falle haben wir sicherlich außer den Namen keine weiteren Mittel zur Erkenntnis. Die Sinne können uns darüber keine Aufklärung geben; denn wir nennen ja eben das, was uns die Sinne nicht bieten, Materie.

Wenn ich aber sage, daß wir die Materie nur durch ihren Namen erkennen, so meine ich damit nicht den Klang der Buchstaben M, a, t, e, r, i, e, sondern den Namen als Namen, d.h. als nomen und notio, und dieser Name enthält weder mehr noch weniger als die, welche ihn brauchen, hineingelegt haben. Hätten nur Philosophen diesen Namen gebraucht, oder Leute, die ihre Worte auf die Wagschale legen, und uns die Bedeutung jedes Wortes genau definieren können, so wäre die Schwierigkeit weit geringer. Aber die Namen werden von den Weisen und von den Toren gebraucht, und die Zahl der Weisen ist bekanntlich verschwindend klein, so daß man sich eigentlich darüber wundern muß, daß die Worte überhaupt noch irgend welche bestimmte Bedeutunghaben.

Das englische matter kann im Volke fast alles bedeuten. Man sagt what ist the matter? was ist die Materie? d.h. was gibts? Man spricht von decaying matter, fauler Materie, important matter, gewichtiger Materie, d.h. wichtigen Dingen. Wenn man nun etwas fragte, was denn Materie eigentlich bedeute, so würde man wahrscheinlich den passenden Ausdruck zur Antwort erhalten: it does not matter, d.h. es tut nichts zur Sache.

Anders ist es bei den Philosophen. Sie müssen jedes Wort, das sie gebrauchen, definieren können. Ihre Definitionen von Materie brauchen nicht übereinzustimmen, und wir wissen, daß dies auch tatsächlich nicht der Fall ist; aber jedenfalls ist alles, was sie von der Materie erkennen und wissen, an dieses Wort und seine Definition, welche wieder aus Worten besteht, gebunden.

Es ist ganz richtig, die Bedeutung eines Namens kann sich ändern, ja verschiedene Autoritäten können von demselben Namen verschiedene Erklärungen geben, Aber dies ist das Schicksal all unserer Erkenntnis. Sie ändert sich und wir dürfen hoffen, daß sie sich immer mehr erweitert. Wir wissen von Gold mehr als ARISTOTELES und deshalb bedeutet der Name für uns mehr als für ihn. Ein Philosoph weiß von Materie mehr als ein schlichter Landmann und deshalb erhält dasselbe Wort für verschiedene Personen ganz verschiedene Bedeutungen. Was es aber auch bedeuten mag, die Bedeutung ist an den Namen gebunden, der für jeden genau nur das enthält, was er darin gefunden oder hineingelegt hat.

Materialismus. Man ist geneigt, von Wortstreitigkeiten, oder, wie der Lieblingsausdruck lautet, von einem Streite um bloße Worte mit Verachtung zu reden. Aber ist der Streit über den Materialismus, der unsere Bücher und Zeitungen erfüllt, ein bloßer Wortstreit? Fragt es sich einfach nur, ob wir die Materie materies, hyle oder Stoff nennen sollen? Schwerlich; denn eine solche Frage würde nicht, wie dies tatsächlich der Fall ist, wenn die letzten Ziele des Materialismus erörtert werden, die Gemüter aufregen oder die Leidenschaften erhitzen.

In der Materie selbst liegt nichts, das unsere Leidenschaften erregen oder unsere Billigung oder Mißbilligung herausfordern könnte. Alles Erkennbare ist Materie. Sie ist unendlich, wunderbar, unbegreiflich, jedenfalls ist alles, was wir von ihr erkennen können, nur ein sehr kleiner Teil, und doch bildet dieser kleine Teil fast den ganzen Schatz menschlicher Weisheit. Warum sollten wir uns also über die Materie aufregen, welche, wenn sie mit dem poetischeren Namen /Natur/ genannt wird, die gütige Mutter heißt und als eine der alten Weltgottheiten Verehrung fand?

In der Materie herrscht kein Zwiespalt, kein Streit, wenn wir ihn nicht hineintragen. Und dies ist der Fall, wenn wir vergessen, daß Materie immer objektiv, also ohne ein Subjekt unmöglich ist, daß sie nur die eine Hälfte ist undnicht das Weltganze sein kann. Materie könnte ohne uns, ich meine nicht ohne irgend ein einzelnes Individuum, sondern ohne die durch uns repräsentierte subjektive und erkennende Seite der Welt im Gegensatz zur objektiven oder erkannten Seite, nicht existieren.

Den Materialismus kann man in gewissem Sinne einen grammatischen Schnitzer nennen. In anderem Sinn ist der Materialismus ein logischer Schnitzer, weil er auf einer Verwechslung des Objektiven und Subjektiven beruht. Materie kann niemals Subjekt sein, sie kann niemals erkennen, weil der Name gebildet wurde, um das Objekt unserer Erkenntnis oder das Erkennbare zu bezeichnen. Der Materialismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes ist also ein Widerspruch in sich selbst. Er beginnt mit der Materie, so wie sie ist, nämlich objektiv und versucht dann zu zeigen, daß sie langsam und stufenweise subjektiv werden kann. Aber A ist immer gleich A und niemals gleich Nicht-A.

Zuerst bedeutet Materie, was vorgestellt wird oder Ursache unserer Vorstellung ist; schließlich aber soll sie gerade das Gegenteil bedeuten, nämlich was vorstellt. Was die Sinnesreize verursacht, wird mit dem, was sie aufnimmt; was vorgestellt wird, mit dem was vorstellt; was begriffen wird, mit dem was bewußt ist; was benannt wird, mit dem, was benennt, verwechselt. Wir sehen, wie hier Sprache und Denken mit sich selbst in Widerspruch geraten. Das Objekt konnte niemals begriffen werden, wenn es nicht von einem Subjekt vorgestellt wurde.

Trotzdem lehrt der Materialismus, daß das vorstellende Subjekt schließlich nur das Resultat einer Entwicklung des Objektes sei. Dies ist ein Fehler, und die Wissenschaft des Denkens, welche auf dem historischen Wachstum der Sprache beruht, deckt mit einem Male diesen Fehler auf und weist nach, daß der Materialismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes ein schülerhafter Schnitzer ist.

Spiritualismus. Ist aber der Materialismus einseitig, so ist es auch der Spiritualismus. Geist ist wie Materie etwas, das uns die Sinne nicht liefern. Er wird hinter den mannigfachen Erscheinungsformen der objektiven Natur vermutet und als Voraussetzung gefordert, ebenso wie die Materie hinter den mannigfachen Erscheinungsformen der objektiven Natur vermutet und als Grundlage gefordert wird. Wie Materie, so ist auch Geist ein Name, der auf verschiedene Weisen erklärt werden kann, die aber niemals mit sich selbst im Widerspruch stehen sollten.

Der eine Geist ist subjektiv und erkennend; wenn also der Spiritualismus das Objektive und Erkannte als das Resultat des Geistes zu erklären versucht, begeht er denselben Fehler, den wir dem Materialismus zur Last legten. Geist und Materie sind ja korrelative Ausdrücke. Wie ein Subjekt nicht ohne ein Objekt, noch ein Objekt ohne ein Subjekt existieren kann, so kann auch Geist nicht ohne Materie, noch Materie ohne Geist sich betätigen oder wirksam und wirklich sein.

Aber so wenig ein Objekt ein Subjekt oder ein Subjekt ein Objekt erzeugen kann, ebensowenig kann Materie Geist oder Geist Materie erzeugen. Die Materie wird durch uns ganz ebenso bestimmt, wie wir durch die Materie. Der Spiritualismus ist also ebenso wie der Materialismus unhaltbar. Nur dadurch, daß wir das Denken in der Sprache studieren, können wir lernen, was Geist und Materie ursprünglich bedeuteten, welche Bedeutung sie mit der Zeit erhielten, was sie für uns zukünftig bedeuten sollen.

Hier wie sonst besteht wahre Philosophie in einer Verbesserung der Sprache. Diese Verbesserung kann es bisweilen nötig machen, daß ein altes Wort vollständig unterdrückt wird. Materie im gewöhnlichen Sinne des Wortes als etwas Äußerliches und von uns Unabhängiges existiert nicht. Geist im gewöhnlichen Sinne des Wortes als etwas Innerliches und von der äußeren Welt Unabhängiges existiert ebenfalls nicht. Es existiert ein vorstellendes Subjekt und ein vorgestelltes Objekt. Werden diese beiden Faktoren zugestanden, so findet die ganze Welt, soweit es /unsere/ Welt ist, ihre Erklärung. Alles Vorstellen wird in begrifflichen Namen, alles Vorgestellte ist in Formen realisiert. Die Welt besteht aus Nama-rupa, Namen und Formen, was die alten Philosophen schon lange vor uns entdeckten und was wir selbst wieder entdecken müssen, wenn wir die Welt verstehen wollen.

Für jetzt ist es meine Aufgabe, nachzuweisen, wie wir in allen unseren wichtigsten Interessen von Namen abhängig sind, wie unsere wertvollste und eigentlichste Erkenntnis immer nominal ist. Was können uns die Sinne bei der Bestimmung der Bedeutung von Materie und Geist helfen, und wenn die Sinne es nicht können, was sonst? Der Geist, der Intellekt, sagt man. Ja, jedenfalls. Aber wo finden wir diesen Geist und Intellekt? Einige sagen, im Gehirne. Das Gehirn ist ein wundervolles Labyrinth. Ich habe es mit prüfendem Blicke durchforscht, ohne in diesem Konglomerate die geringste Spur von Geist oder Intellekt zu finden.

Ebensowenig kann ich sie da finden, wo nach den Alten der Geist seinen Sitz hatte, nämlich im Herzen oder im Magen. Das Gehirn kann man die conditio sine qua non (Die Bedingung ohne ein Ereignis nicht eintreten könnte) des Intellekts nennen, wie das Auge die Grundbedingung des Gesichts, das Ohr die Grundbedingung des Schalles. Aber sowenig das Auge sehen und das Ohr hören kann, sowenig kann das Gehirn denken. Den Intellekt finde ich nirgens als in den Erzeugnissen des Intellekts, nämlich in den Worten.

Diese kann ich hören und vorstellen, diese kann ich verstehen, ja von ihrer gegenwärtigen Form bis auf ihre einfachsten und natürlichsten Anfänge zurückverfolgen. Die ganze Welt wird klar und durchsichtig, sobald ich sie in Worten sehe, zwar nicht in Lauten, sondern in Worten, nicht in toten, sondern in lebenden Worten, die von ihrem Laute so unabhängig sind, wie die Auster von ihrer Schale, in Worten, welche ebenso Gedanken sind wie die Gedanken Worte.

Definitionen. Der Fortschritt der wahren Philosophie beruht hier wie sonst auf einer richtigen Definition unserer Worte. Man muß sie beständig definieren, klären, berichtigen, selbst fallen lassen und aufgeben, bis schließlich die vollkommenste Sprache zur vollkommensten Philosophie wird.

Definitionen und Geschichte der Worte. Die beste und vielleicht allein nur befriedigende Definition eines Wortes ist seine Geschichte. Aber ein vollständige Geschichte derjenigen Worte zu geben, die den Grundstock unserer Philosophie bilden, überschreitet unsere Kräfte. In der Geschichte eines jeden Wortes kommen so viele Revolutionen, Unterbrechungen und Intervalle vor, daß man nur unter ausnahmsweise günstigen Umständen noch einmal die zerbrochenen und zerstreuten Glieder einer einst zusammenhängenden Kette zu einem Ganzen vereinigen kann.

Wir müssen uns als damit zufrieden geben, die Bedeutung ausfindig zu machen, welche die Hauptpfadfinden des Denkens den klassischen Ausdrücken unserer Philosophie gegeben haben. Wir werden dabei die überraschende Beobachtung machen, wie viele Wolken mit einem Male von unserem geistigen Horizonte schwinden.

Wir haben somit gesehen, daß die Wissenschaft des Denkens, gegründet, wie sie ist, auf die Wissenschaft der Sprache, das Rätsel der apriorischen Erkenntnis auf eine Weise, die alle Parteien zufriedenstellen dürfte, löst. Sie zeigt, daß alle unsere Sätze auf Namen Bezug haben, d.h. auf das, was wir von den Dingen erkennen, nicht auf das, was die Dinge sind, insofern dies von uns nicht erkannt wird. Sie zeigt uns weiter, daß unsere ersten synthetischen Urteile nichts anderes besagen, als daß zwei verschiedene Namen auf dasselbe Ding sich anwenden lassen.

Definition ist also die einzige Arznei, welche die Wissenschaft des Denkens verordnen kann. Daß das Denken oft mit der Sprache ringt, daß seine Geschichte ein beständiger Kampf gegen abgenutzte Worte ist, daß seine Leiden und Krankheiten in allen Mythologien, Religionen und Philosophien aufgezeichnet vorliegen, alles dies ist heutzutage wohlbekannt. Alle ehrlichen Philosophen haben es empfunden, und wie hoch sie sich auch auf den Flügeln der Sprache emporgeschwungen haben, selbst bei ihren höchsten Flügen haben sie das Bleigewicht ihrer Schwingen gefühlt.

Bei der Entwicklung des Denkens verhält es sich ebenso wie bei jedem anderen Entwicklungsprozess: Die Gegenwart leidet von der Vergangenheit und die Zukunft sucht mit Macht sich von der Gegenwart loszuringen. Denken ist ein fortwährender Aufschrei im Todeskampf. Dennoch entspringt immer neues Denken aus dem alten und lebende Worte steigen aus der Asche der abgestorbenen empor. Sprache und Denken sind zu ihrem Vorteil oder Nachteil untrennbar mit einander verbunden. Beide scheiden heißt beide vernichten.

BERKELEY verschwor den Gebrauch der Worte hoch und teuer, aber er konnte dies nur in Worten verschwören. Andere Philosophen, welche die Schwächlichkeit der Schwingen empfanden, die ihnen, wie Dädalus dem Ikarus, die Väter gebildet hatten, um gegen das Licht der Wahrheit zu fliegen, waren kühn genug daran zu denken, sie abzuwerfen und sich eine neue Sprache zu erfinden. Es stellte sich aber heraus, daß dies Sterblicher Hände Kunst und Kraft übersteigt.

Nichtsdestoweniger wäre das, was LEIBNIZ vorschlug und Bischof WILKINSON bis zu einem gewissen Grade weiter ausbildete, nämlich ein vollständig neue Sprache der Philosophie, das beste Mittel für diese Krankheit der Sprache, welche unser Geschlecht, so lange wir es kennen, quälte, obgleich auch sie nur zeitweise Erleichterung gewähren könnte. Wir durch jedoch nicht verzweifeln. Wie in der Medizin, so ist auch in der Philosophie eine richtige Diagnose schon etwas. Die Erkenntnis, daß uns etwas fehlt, und warum uns etwas fehlt, gibt oft das Heilmittel an die Hand.

Wenn wir uns unverdaulicher Nahrung enthalten und die allgemeinen Gesundheitsvorschriften beobachten, können wir zweckvoll leben und arbeiten. Wenn wir uns schlecht definierter Worte enthalten und die allgemeinen Denkgesetze beobachten, können wir zweckvoll denken und sprechen. Die Wissenschaft der Sprache hat uns den wundervollen Bau des Denkorgans, die Knochen, Muskeln und Nerven in der Grammatik und dem Wörterbuche aufgezeigt.

Die Wissenschaft des Denkens verhält sich zur Wissenschaft der Sprache wie Biologie zur Anatomie. Sie zeigt uns den Zweck des Organs, seine Tätigkeit, sein Leben. Die Zwei sind eigentlich eins. Allein in dem Voranschreiten der menschlichen Erkenntnis mußte erst durch die Wissenschaft der Sprache die feste Grundlage gelegt werden, ehe darauf das neue Gebäude der Wissenschaft des Denkens errichtet oder wenigstens im Umrisse angedeutet werden konnte, wie diejenigen, welche nach uns kommen, es ausführen und vollenden können.

LITERATUR - Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl, Hrsg. Siegfried J. Schmidt, Stuttgart - Bad Cannstatt 1971