ra-2p-4ra-2H. MünsterbergP. NatorpNietzscheF. WollnyG. Noth    
 
RICHARD WAHLE
Eine Verteidigung der Willensfreiheit
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"Auch Werturteile sind ansich so theoretisch, wie geometrische Lehrsätze; ihre Richtigkeit hat kein Gewicht für die Aktion und des fehlt ihnen die Macht der Tat. Nur der Wille ist es, der mit den psychischen Erscheinungen Ball spielt, unter ihnen wie der Wind in Wolken wühlt, mit ihnen agiert und die Körperaktionen einleitet. Und nach unbekannten Gesetzen tut er es, souverän, autokratisch, nicht bestimmt durch deterministische Formeln von Motiv und Charakter noch durch andere, sondern frei, in seiner natürlichen Willkür."

"Es gibt überhaupt wenige Wörter aus dem Wortschatz des Geisteslebens, die man nicht metaphorisch zur Bestimmung des Willens verwenden könnte: z. B. Er ist das Urteil über den Wert der Ansprüche einer zur Realisierung drängenden Idee; er ist die Vorstellung künftigen Gleichgewichts oder der losgebrochene Unmut über die Plagen des Zweifels; die physiologische Erlösung der gefährdeten, ins Stocken geratenen natürlichen Funktionen usw. Das sind Worte, aus denen man sich schließlich herausretten muß zu der eingangs vorgenommenen Konstatierung des phänomenalen Befundes."



III. Psychologie des Willens

1. Bei der Reflexion über den Willen muß man sein phänomenales Auftreten und sein Wesen unterscheiden. Wir glauben nun, behaupten zu dürfen, daß ersteres nicht durch ein  eigenartiges,  anderen psychischen Erscheinungen heterogenes,  Phänomen  statthat, sondern nur durch eine  eigenartige Sukzession  und Etablierung der allgemeinen Elemente  Vorstellung  und  Empfindung eventuell  Körperaktion.  Wäre das Wollen vom Vorstellen und Empfinden so verschieden, wie etwa die Farbe vom Ton, so würden wir es ein eigenartiges Grundphänomen, sei es nun Akt, Bewußtseinsweise usw. nennen; es verhält sich aber zu anderen psychischen Zuständen tatsächlich nur, wie beispielsweise eine Melodienkette zu einem Akkord oder einer Skala, bei welchen die Elemente die allgemeinen der Tonwelt, aber die Konfigurationen, Dauer der Töne, etc. verschieden sind.  Wollen  ist teils der Name für rein innerlich abgeschlossene Zustände, teils für solche, die eine Fortsetzung in Leibesbewegungen finden - allgemein, für den Zustand einer gewissen Stabilisierung einer Vorstellung, welcher, in einer Gattung von Fällen, Zielbewegungen des Körpers folgen, meist begleitet von Gemütserregungen, welche aber doch nicht als wesentlich für den Zustand bezeichnet werden können. Gehen wir nun bestimmter auf die Beschreibung des Wollens ein.

2. Es spielt sich also teilweise ab in einem Reich innerer Vorstellungen, wo sich also teilweise ab im Reich innerer Vorstellungen, wo sich die Bilder des Äußeren im Abklatsch, die Erinnerungsbilder an Erlebtes und die neuen Kompositionen, die Bilder, welche Begriffe vertreten, in eigentümlichen, psychischem Kolorit durcheinanderdrängen, farbige und tönende aber außerordentlich abgemattete, unvollkommene Reste des Objektiven, wie ein Torso; ich habe sie in einer Schrift ("Gehirn und Bewußtsein") wo ich mich mit den psychischen Grunderscheinungen eingehender, wenn auch nicht endgültig beschäftigte, Miniaturen genannt. Diese Miniaturen, unser Leib und jene unzähligen und doch so charakteristischen Empfindungen, die das Kraftbewußtsein, Staunen, Sehnen, Lieben, Verzweifeln usw. mit bilden helfen, sind es, welche unser phänomenales Ich konstituieren. In diesem finden sich nun gewisse Gruppen von Erscheinungen zusammen, die, eigentümlich in sich, auch eigene Namen erhalten haben, aber deswegen doch nicht ganz zirkumskript [umfassend beschrieben - wp] und starr im Bewußtsein stehen, sondern stets von anderen Gruppen durchkreuzt werden und bereit sind, sich wie Figuren eines Kaleidoskops in andere charakteristische Konstellationen umzuwandeln. Wie eigentümlich ist z. B. jene Gruppierung, welche dem Schaffen eines Phantasiegebildes entspricht - im Vergleich mit dem Auftauchen eines Erinnerungsbildes! Jeder kennt die Sukzessionen, auf die wir anspielen.

Wenn manchmal ein Phantasiebild mit einem Schlag in uns steht, dann wissen wir nicht, haben wir das schon einmal geträumt oder war es reell oder ist ein ein Einfall. Denn ein Phantasiebild - nicht Traumbild - steht gewöhnlich nicht auf einmal fertig da, es wird gewöhnlich verändert, wir bemühen uns um dasselbe, bessern und streichen daran herum; das schließliche Produkt zeigt die Spuren der Arbeit und zusammen mit dem Fund steigt ein Abriß der Historie des Suchens in die Erinnerung. Etwas wirklich Erlebtes aber, das steht in der Erinnerung ohne Schwanken, plötzlich, ohne Bilder der Mache in uns. Einen solchen langsam gewordenen, mit der Erinnerung des allmählichen Reifens behafteten, oder rascherfertigen Status der Festigkeit einer Vorstellung nennen wir die Stabilisierung derselben und ihr entspricht ein gewisser Habitus des ganzen Ich: Unruhe, Verschwinden derselben etc. ..., oft wenig merklich, oft deutlich, aber durch die Summierung von seinesgleichen so mächtig, daß er zu totaler Erschöpfung führen kann.

Betrachten wir einen anderen Zustand, das "stutzig werden" oder "durch eine Vorstellung irritiert werden". Wie anders sind die Komplexe der Phänomene beim ruhigen Anschauen eines Objekts und z. B. beim Aufblitzen einer Frage, bezüglich dieses Objekts. Man denke an Zustände wie: "etwas Bekanntes zu erkennen glauben", "fühlen, eine Person schon gesehen zu haben". Jede Frage ist eine eigentümliche Zusammenstellung von Elementen, wie Spannung, Nervosität, Kommen und Gehen von Vorstellungen, Versuche, Empfindungen im Leib etc., all das bildet ein Ganzes, wie es jeder erlebt und das doch noch nicht genau schematisch analysiert ist. Die Frage betreff der "Frage" könnte ein Grundproblem der Psychologie genannt werden. Auch wenn das Schockiertsein rein bezüglich interner Vorstellungen stattfindet, zeichnet es sich aus durch die Stellung des Fragepunktes in der Mitte der Vorstellungen, sein Bleiben, Spannung und jenes nur zu erlebende und andeutbare, nicht beschreibbare, innere Fixieren. Wir wollen das die "Okkupation durch die Vorstellung" nennen.

3. Die Sukzession von psychischer Okkupation und Stabilisierung einer Vorstellung gehört zum Wesen der Erscheinung des Wollens. Aber es ist nicht ihm allein eigen und es erschöpft dasselbe auch nicht. Eine Vorstellung kann lässig, aus Mangel an Untersuchung stabilisiert werden, sie kann logisch und innerlich willensmäßig stabilisiert werden. Ohne näher auf die drei Arten hier eingehen zu können, müssen wir doch die beiden letzten auseinanderhalten. Wenn die Gründe des  pro  und  contra  zum Schweigen gekommen sind, Gewisses sich als unhaltbar neben Stabilem, anderes als damit vereinbar dargestellt hat, ist dieses Verträgliche logisch geglaubt. Wir sagen aber, daß wir es glauben  wollen  oder daß wir, im Allgemeinen, ein psychisches Gebilde, eine Vorstellung, festhalten wollen, wenn sich an die stabilisierte Vorstellung die weiteren Bilder anschließen, wie unser künftiges Leben gemäß dieser eingerichtet sein wird, wie sie als Mittelglied, als Behelf in Gedanken oder Handlungen funktionieren wird. Mit diesem Anschlußglied, dem Komplement der Stabilisierung, ist das innere Wollen schließlich erschöpfend charakterisiert.

Das äußere Wollen besteht darin, daß sich an die stabilisierte Vorstellung die sie betreffende Körperaktion anreiht und jene Vorstellung, in deren Dienst eben die bezüglichen Aktionen erfolgen, ist die gewollte. Diese Vorstellung war auch begleitet von flüchtigen Bildern, von, ihre Verwirklichung betreffenden, Zielaktionen oder Zwischenaktionen.

Die Vollendung der Charakteristik der stabilisierten Vorstellungen, als gewollter, wird geliefert, einerseits durch das "Maßgebend werden" in Gedanken, Zukunftbeherrschende, andererseits durch die Körperaktion, welche sich an eine psychische Okkupation und Stabilisierung anschließen.

Beiden Arten des Wollens gesellt sich meist das lebhafte Gewoge verschiedener, konträrer Vorstellungen, verschiedener Mittel zur Durchführung, Erregung, Beklemmung, Betäubung, Stocken, Anschwellen der Kräfte und Triebe. Und es gibt keinen Grund, nicht die Werte der Vorstellungen, noch sonst etwas, das uns einen Einblick darin gewährt, warum gerade diese bestimmte Vorstellung schließlich stabilisiert wurde, welche der Körperbewegung voranging. Das sind freie Taten des Wesens des Willens.

4. Noch einiges, was das innere WOllen betrifft. Als Beispiel denke man an das logische Glauben an eine Unsterblichkeit der Seele und an das Glaubenwollen, vielleicht sogar ohne tatsächliche Beweisgründe. Ein solcher Machtspruch des Willens, der sich, wie angedeutet, phänomenal äußert, könnte eben durch das von nicht phänomenaler Seite her beeinflußte Wesen des Willens erfolgen.

Man kann nicht  direkt  etwas aus dem Geist verbannen wollen, denn dieses müßte ja eben im Moment des Verbannenwollens gerade im Bewußtsein stehen; wohl aber kann man den Gedanken fassen, so oft sich diese Vorstellung einfindet, zu einer beliebigen anderen überzugehen; darin liegt dann ihre maßgebende Rolle in der Zukunft.

Nicht das Wollen ist ein Moment des Urteilens, sondern eher kann man sagen, daß gewisse Urteilsformen sich zum Wollen gesellen.

5. Die früher angedeuteten Phänomene im Wollen heißen Zweifeln, Schwanken, Delibrieren, Beratschlagen usw. - Die psychologischen Bilder, die das Phantasieren und Überlegen, Urteilen, Unschlüssigkeit ausmachen, sind es, welche jeder menschlichen Handlung den wahren Wert einer spezifisch menschlichen Handlung verleihen; sie lassen z. B. einen schließlich ausgesprochenen Satz als Resultat einer Arbeit erscheinen und begründen jenes Moment einer Aktion, welches man das willkürliche nennt. Erfolgt eine Handlung, auf das Einwirken einer Ursache hin, ohne das Zwischenstadium der auftauchenden und hin- und herwogenden psychischen Bilder, dann ist sie nicht willkürliche Handlung, dann wird ihr auch kein Verdienst beigelegt; sie ist nur reflektorisch oder automatisch. Wenn ich Grund habe, zu sagen, ich will dorthin gehen, so tue ich das beispielsweise auf folgendes Phänomene hin; ich hatte das schwache Bild des Zieles, ein partielles Bild von mir, wie ich auf dem Weg begriffen bin, oder das Bild des Ergreifens meines Hutes, vielleicht abschreckende Bilder, Schneefall, Kot etc., dann das Bild eines Nutzens, der von diesem Ort aus für mich erwächst und nun lege ich die bisherige Arbeit fort und rüste mich zum Gehen. Auf dem Marsch, da will man nicht jeden einzelnen Schritt, d. h. man hat kein vorausgängiges Bild von ihm; er erfolgt automatisch. Manchmal aber, z. B. beim behutsamen Klettern auf Felsen, wird wohl jeder einzelne Schritt in einer bestimmten Weise vorausgedacht, dann ist jeder Schritt gewollt. Ein anderes Exempel. Nur solange etwa wie der Musizierende für eine Passage den Fingersatz bestimmt,  will  er die Passage spielen, später spielt er sie willenlos automatisch. Wenn sich nach einem Akt des Herumschwärmens der Bilder, mannigfacher, verschiedener Ziele und Zielaktionen, Zielmittel ein einziges überlebendes oder überkräftiges Bild einer Tat bleibend etabliert hat - dann kann man enau genommen, noch nicht sagen: "ich will", sondern nur "ich bin entschlossen, das zu tun, ich werde wollen". Erst wenn sich an das eigentümlich nebelhafte, verkümmerte, innerliche Bild, die wirkliche, kräftige, äußere Aktion anreiht - dann sagt man im eigentlichen Sinne: "ich will". Liegt man matt oder faul im Bett, unentschlossen, ob man aufstehen soll, so gibt es verschiedene, diesbezügliche Bilder; plötzlich wird ein Partialbild des Aufrichtens konstant und man richtet sich auf.

6. Etwas anderes, als diese zielbezüglichen, psychischen Bilder und eventuell die Aktion können wir aber nicht entdecken, wenn wir unser Wollen beschreiben sollen. Von einem aparten, in sich klaren, psychischen Akt eines Wollens können wir nichts entdecken. Für uns erscheint auf der Oberfläche nichts anderes, als: Ziel-, Aktions- und Empfindungsbild und Bewegungen. - Was aber diese Erscheinungen auf die Bildfläche treibt, was sie wieder vertreibt und erhält, was eigentlich in den Tiefen arbeitet, während wir nur Resultate sehen und dann wieder nicht sehen - das ist das Wesen des Willens. Er ist die Kraft, - in nicht mehr mystischem Sinne als die Naturforschung dieses Wort gebraucht - welche die Ziele aufwirft, die bezüglichen Mittel und Gedanken durcheinanderarbeitet, dieses hebt, jenes stürzt. Nicht die Bilder können sich selbst untereinander bekämpfen; denn sie haben keine Angriffspunkte dazu; sie stehen nebeneinander, wie die Bilder einer Galerie. Wir werden sehen, wie es dem Determinismus auch nichts nützen kann, sie als konkurrierende Kräfte auffassen zu wollen. Auch die Werturteile sind ansich so theoretisch, wie geometrische Lehrsätze; ihre Richtigkeit hat kein Gewicht für die Aktion und des fehlt ihnen die Macht der Tat. Nur der Wille ist es, der in der geschilderten Weise mit den psychischen Erscheinungen Ball spielt, unter ihnen wie der Wind in Wolken wühlt, mit ihnen agiert und die Körperaktionen einleitet. Und nach unbekannten Gesetzen tut er es, souverän, autokratisch, nicht bestimmt durch deterministische Formeln von Motiv und Charakter noch durch andere, deren Haltlosigkeit wir auch dartun werden, sondern frei, in seiner natürlichen Willkür.

Und um ihn so erhaben über die phänomenale Welt zu erhalten, müssen wir zeigen, daß er sich in dem, was man Wollen nennt, nur manifestiert, nicht offenbart, daß es keinen spezifischen, bewußten Willensakt gibt, - wenn auch einen spezifisch tätigen - sondern, daß wir nichts anderes wahrnehmen, als voraufgehende Vorstellungen und Stabilisierungen und folgende Aktionen.

7. Der Beweis für unsere Behauptung ist so einfach und doch so schwer zu führen, denn er muß von jedem Denkenden durch eigene Anstrengung geführt werden. Man suche in der Erinnerung, ohne Vorurteil, lieb- und haßlos, ob man außer den angeführten Elementen noch etwas Apartes, wie den bewußten Willensakt, bemerken kann. Man gebe Acht, ob man, wenn man - mit Recht - sagt, jetzt habe ich gewollt, dies aufgrund von anderen Erscheinungen tut, als dem hastigen Gehen und Kommen von Vorstellungen, Empfindungen, Erregungen, Aktionen, wie wir es schematisch früher angegeben haben!

Es gibt so viele Menschen, die gestehen, daß sie bei und nach jeder willkürlichen Handlung vergebens nachdenken und zu beobachten und zu ergreifen versuchen, was eigentlich das Wollen war. Es ist nicht ihre Schuld, wenn sie nichts finden; mögen sie nun so mutig sein, zu bekennen, sie könnten eben nichts finden, weil nichts vorhanden ist. Wir verlangen nicht, daß man den Willensakt beschreibt; denn auch von den wirklich existierenden, bewußten Phänomenen ist eine Beschreibung unmöglich. Aber auch das Erkennen, das Wahrnehmen des vermeintlichen Willensaktes ist unmöglich. Und ebenso ist es unmöglich in der Phantasie einen aparten bewußten Willensakt nachzubilden. Man könnte vielleicht hoffen, wenigstens zu beobachten, daß das "gewollte" Objekt in einem anderen Licht erscheint, als das nicht gewollte. Zwar dürfte man in diesem Fall noch immer nicht von einem Willensakt sprechen - aber selbst eine solche Vermutung würde sich nicht bestätigen. In Wahrheit sieht man im Bewußtsein nichts anderes, als die früher analysierte, eigentümliche Gruppierung der Erscheinungen, die aussehen, wie sie auch ohne Wollen, gewöhnlich für sich, aussehen. Die einfachste Selbstbetrachtung lehrt also, daß kein bewußter psychischer Willensakt existiert. Aber Wahnsinn wäre es, zu leugnen, daß ein Wollen existiert, und Ungeschick ist es, die eigentümliche Gruppierung zu verkennen.

Weil nun in dieser Sache leicht Mißverständnisse vorkommen können, müssen wir die Ansichten einiger Philosophen, die Gleichheit, Verwandtschaft, Freundschaft, Verschiedenheit mit unserer Ansicht zeigen, nun vorführen - diese aber einleiten durch eine Betrachtung über die wissenschaftliche und populäre Namensgebung und den Sprachgebrauch.

8. Die Ausdrücke, die man für die geistigen Vorkommnisse braucht, um sie zu klassifizieren oder zu charakterisieren sind zweideutig, genauer gesprochen dreitdeutig, weil die tatsächlichen Gesichtspunkte, die bei solchen Leistungen obwalten, entweder bewußt, oder leider aber meist unbewußt, dreifach sein können. Man kann bei der Klassifizierung und Nomenklatur geistiger Vorkommnisse hinzielen, entweder erstens auf das Fixieren der zugrunde liegenden seelischen und menschlichen Vermögen und Kräfte - und diese wird man immer zulassen müssen, so gewiß, als der Mensch mehr kann und vermag als ein Tier; und wenn man sie auch als Modifikationen auf eine Grundkraft zurückführen könnte, so würden dem Tier doch eben die Kräfte der Modifikation abgehen - oder zweitens auf diverse, komplexe Gruppen von Lebenserscheinungen, oder drittens auf distinkte, elementare, aparte psychischen Phänomene. Wir unterscheiden also drei Gesichtspunkte, von denen aus man über den Willen sprechen kann, den der Funktion, der Konfiguration und des spezifischen Einzelphänomens - von denen wir den letzten als unrichtigen perhorreszieren [ablehnen - wp]. Man kann sich aber von jedem Standpunkt aus, also in einem verschiedenen Sinn, dennoch der gleichen Ausdrücke bedienen und wer nun jetzt von der Vieldeutigkeit der Ausdrücke überzeugt ist, und die Meinung der Sprechenden klar und zweifellos erforschen will, wird zu seinem Bedauern bemerken, daß ihm dies durch die Sprache des einzelnen Denkers ziemlich schwer gemacht wird.

Wenn z. B. jemand sagt: Es gibt einen Willen, so kann er etwas meinen, was man billigen oder auch mißbilligen müßte. Meint  er,  es gäbe eine Potenz, die im Menschen herrscht, Ziele setzt, nach Zielen treibt, so müssen wir einverstandens sein. Meint er, es gäbt einen gewissen Gesamtkomplex von Erscheinungen, wie wir ihn oben geschildert haben, verschieden von Phantasien, Spekulieren, Rechnen, Hoffen etc., welche alle aus ganz anderen Sukzessionsgruppen gebildet sind, so geben wir ihm abermals Recht. Meint er aber mit dem: es gibt einen Willen, es gebe einen zirkumskripten - wenn auch nicht isoliert abgetrennten - Willensakt, so deutlich merkbar, wie eine Schmerzempfindung oder es gebe einen bestimmten Habitus für ein gewolltes Objekt - dann können wir nicht mit ihm einverstanden sein.

Man wird es nicht verübeln dürfen, wenn wir uns sträuben, vielerlei Inhalt, in Bausch und Bogen in ein Wort zusammengeworfen, ungesondert passieren zu lassen. Der Laie freilich, dem Beobachten nicht geneigt, will sich in dem leichten Ablauf der Namensgebung für seine Zustände nicht stören lassen. Er wird leicht glauben, alles, was er mit einem separaten Namen belegt, sei eine ganz aparte, heterogene Kraft oder Aktion, während es höchstens eine besondere, ungleichartige Modifikatioin und Anordnung gleichartiger, allgemeiner Elemente ist. Dem Laien sind, aus praktischen Gründen, z. B. Neid, Verachtung und Rachsucht ganz heterogene  Akte.  Aber der einfachsten psychologischen Betrachtung sind es doch gleichmäßig Erscheinungen des Hasses, nur mit verschiedener Gruppierung von ursächlichen Vorstellungen und Bildern. Der Laie kann also unwillig sagen, ach was, Verachten ist Verachten, Wollen ist Wollen; das genügt. Für den sprachlichen Verkehr, auch für die Dichtung und außerhalb der Psychologie genügt die Ungenauigkeit, aber der untersuchende Sinn muß doch die besprochene dreifache Unterscheidung würdigen.

9. Studiert man die Schriften eines Forschers, so müßte man sich fragen, auf welchem Standpunkt er gestanden haben mag.

Denken wir z. B. an ALEXANDER BAIN, den großen Psychologen. Wir glauben, daß er niemals vom Willen als einem bewußten Akt spricht; er handelt stets vom Willen als Kraft oder als Aggregat gewisser Vorkommnisse, welches, als eigentümlicher Komplex, eine besondere Stellung im Laufe der psychischen Vorkommnisse einnimmt. Man kann kaum etwas anderes glauben, wenn man sich etwa die folgenden Betrachtungen aus seinem Werk "Mental and moral science" (Teil 1, Psychology and history of philosophy, London 1879, Seite 2f) vorhält:
    "Der Geist hat drei Eigenschaften (properties) oder Funktionen (functions):  Feeling, Intellect, Will." 
Das Gebiet von  feeling  wird eingeteilt in  sensations  und  emotions; intellect  schließt ein die Kräfte der Erinnerung, Abstraktion des Urteils etc.  Will  oder  volition  begreift alle menschlichen Aktionen, insofern sie veranlaßt sind von  feelings.  Diese den Geist definierende Klassifikation begreift in sich dessen fundamentale Attribute. BAIN befindet sich in teilweiser Übereinstimmung mit REID, welcher nur eine Zweiteilung einführt; nämlich in intellektive und aktive Kräfte (powers). Ein Zweifel, der etwa entsteht, ob er nicht doch von einem singulären Phänomen des Willensaktes handelt, wird verschwinden, wenn man Seite 79 liest: "Die  instinktiven  Keime des Willens. 1. Unsere Willenskraft, wie sie im gereiften Leben erscheint, ist ein Bündel von Erwerbungen. Eine der Grundvoraussetzungen unserer Willenskraft ist uns in der spontanen Muskelbewegung gegeben ... etc." Wo also Quellen für die Willenskraft in der Spontanität der Muskelaktion gesucht werden, kann wohl nicht das eventuelle Phänomen des Willens gemeint sein. Seite 218: Mit den  feelings,  den Empfindungen und Gefühlen ist noch ein Moment des Willens verbunden: Der Willenscharakter der Gefühle. Lust bewirkt andauerndes Streben (pursuit) nach ihr, Unlust bewirkt Entfliehen (avoidance) von ihr, also diese sind Teile komplexer Aktionen und der Charakter des  feeling  ist so gemischt, daß es innerhalb desselben  emotions of action  gibt z. B. die verschiedenen Sportarten etc. (Seite 267f) BAIN bearbeitet fortwährend das Auftreten in komplexen Gruppen. Nachdem er von den primitiven Elementen der Volition gehandelt hat, konstatiert er Seite 325  growth  (Wachstum) der Willenskraft und so kann man nirgends entdecken, daß er von der Erscheinung eines Willensaktes handelt.

10. Anders stehen die Dinge bei LOTZE. Manche zweideutige Stelle dürfte sich wohl finden; aber es gibt auch solche, die bestimmter zu zeigen scheinen, wie er den dritten Standpunkt geflissentlich einnimmt. In den "Grundzügen der Psychologie" (Leipzig 1881, Seite 91), scheint eine Charakterisierung eines Willensaktes als eines zirkumskripten Phänomens gegeben, er sei nämlich ein innerer Vorgang der eigentümlichen Billigung einer vorgestellten Handlung oder die vom persönlichen Ich ausgehende Adoptierung eines Entschlusses. Auf Seite 53 heißt es: Willkürlich ist eine Handlung dann, wenn der innere Anfangszustand, von dem eine Bewegung als Folge entstehen würde, nicht bloß stattfindet, sondern von einem Willen gebilligt oder adoptiert oder gewähren lassen wird.

Damit sind wir nun nicht einverstanden. Der besondere Spezialakt des Wollens soll einmal bestehen in einem "gewähren lassen". Das ist etwas sonderbar. Denn "gewähren lassen" heißt ja "nichts tun", ruhig zusehen; und man könnte ebensogut sagen, daß der Rock, den einer anhat, ihn gewähren läßt, als daß der Wille ihn gewähren läßt. Sollte man aber mit LOTZE den "Entschluß" für das Willensphänomen halten, so müßten wir dagegen wieder auf unsere frühere Auseinandersetzung aufmerksam machen, nach welchen der Entschluß ein Name ist für ein Stadium in der spezifisch ausgezeichneten Sukzession des Wollens.

Wenn aber LOTZE das Wollen gar als Adoptierung eines Entschlusses bezeichnet, so erschiene nach ihm - bedenklicherweise - der Entschluß aus der Sphäre des Wollens herausgehoben und nur seine Adoption ein Akt des Willens; wenn nicht der ganze Ausdruck nur ein unglücklicher Pleonasmus ist. Unter "Wollen" dürfte man niemals die Ratihabierung [Genehmigung - wp] bestände in einer Freude über die Entschließung, - das ist wohl eine Begleiterscheinung, aber nicht das Wollen selbst und würde natürlich überdies auch kein Spezifikum sein. Der Begriff: Adoption eines Entschlusses kommt etwas zu spät um das Wollen zu erklären, denn mit dem Entschluß ist schon das Beste geleistet.

Endlich nennt er Billigung als charakteristische Eigentümlichkeit des Willens. Aber diese ist doch auch entweder ein Urteil, die Erklärung der Übereinstimmung mit einem Normalen oder Idealen, oder eine Freude - was wir eben schon behandelt haben. Glaubt er damit aber nur auf etwas ganz Eigenartiges  hinzuweisen,  so wird dies unter den Bemerkungen gegen BRENTANO seine Erledigung finden. Soll "Billigung" nur eine Metapher sein, so wissen wir nicht, was ihr im Konkreten entsprechen soll, wenn nicht unser Wollensschema. Man sieht sich eben immer genötigt, Ausdrücke zu gebrauchen, welche zwar natürlich aus  anderen  Phänomengruppen genommen sind, - was selbstverständlich ist, wenn man eben den Ausdruck "Wollen" umgehen muß - aber dennoch völlig zur Charakterisierung des Willens  ausreichen.  Es gibt überhaupt wenige Wörter aus dem Wortschatz des Geisteslebens, die man nicht metaphorisch zur Bestimmung des Willens verwenden könnte: z. B. Er ist das Urteil über den Wert der Ansprüche einer zur Realisierung drängenden Idee; er ist die Vorstellung künftigen Gleichgewichts oder der losgebrochene Unmut über die Plagen des Zweifels; die physiologische Erlösung der gefährdeten, ins Stocken geratenen natürlichen Funktionen usw. Das sind Worte, aus denen man sich schließlich herausretten muß zu der eingangs vorgenommenen Konstatierung des phänomenalen Befundes.

11. In LOCKE glauben wir, mehr nach dem Zug und Geist seines Werkes "An essay concerning human understanding", als nach dem Wortlaut, aber doch auch nach diesem, einen Gesinnungsgenossen zu haben. Seine Sprache ist bezüglich des Willens schwankend, aber er hat mit genialem Blick alle Schwierigkeiten wenigstens gesehen, alle Kampfplätze vorweg bezeichnet.

Er perhorresziert [lehnt ab - wp] - so soll es sich uns zeigen - einen bewußten eigentümlichen Willensakt, aber natürlich anerkennt er eine Willenskraft (II. Buch, Kap. 6, § 2: Eine der großen und elementaren Aktionen des Geistes ist das absichtliche Steuerung; Die Kraft dieser Steuerung wird  Wille  genannt. Nun frägt es sich aber, wie sich der Vorgang des Wollens zeigt? Und da dürfen wir nicht verschweigen, daß sich Stellen finden, die annehmen lassen, er glaube an ein eigenartiges Wollensphänomen. Es heißt Buch II, Kap. 21, § 4:
    "Die Idee einer aktiven Kraft des Anfangens einer Bewegung gewinnen wir ausschließlich durch innere Wahrnehmung, wo wir durch Erfahrung finden, daß wir bloß dadurch, daß wir wollen, bloß durch einen Gedanken des Geistes, unsere Körperteile, die vorher in Ruhe waren, bewegen können."
Danach könnte man glauben, er habe ein besonderes Phänomen im Sinn, denn wenn wir die Idee einer Kraft durch das Wollen selbst gewinnen sollten, so müßte doch die Kraft des Wollens selbst klar bewußt sein. Der Glaube müßte aber wieder aufgegeben werden, wenn man sich an das erinnert, was er im selben Kapitel, § 1, und sonst auch gesagt hat über die Idee der Kraft. Diese faßt er nur als etwas auf, das nicht direkt wahrgenommen werden kann und für uns nur durch eine gewisse Veränderungslage repräsentiert wird. Also eine Kraft brauchen wir beim Wollen nicht wahrzunehmen. Was nehmen wir dann aber wahr? Und auch diesbezüglich finden sich Stellen, nach welchen LOCKE mehr wahrzunehmen scheint, als uns lieb ist; aber sie sind nicht die entscheidenden und lassen sich mit anderen uns günstigen in Übereinstimmung bringen. § 5:
    "Soviel dürfte gewiß sein, daß man in sich eine Kraft (Wollen) bemerkt (also, wie wir gezeigt haben, nicht sie direkt, sondern ihre Wirkungen), welche lediglich  durch  ein Denken oder Vorziehen der Seele,  gleichsam  das Vollziehen oder nicht Vollziehen einer einzelnen Handlung anordnet oder befiehlt."
Er scheint etwas zuviel zu bemerken, nämlich: ein Kommando, Vorziehen und Denken. Aber von einem Kommando, anordnen, befehlen sagt er ja, daß es nur "gleichsam" geschieht und zwar  durch  das Denken oder Vorziehen. Also geschieht  wirklich  beim  Wollen  nur  Denken  oder  Vorziehen.  Ist das Vorziehen nach LOCKE etwa der Wollensakt? Wir glauben nicht, denn er sagt an dieser Stelle  thought  oder  preference,  das Vorziehen ist also nur das Denken der relativ größeren Werte und Zweckmäßigkeiten. Auch läßt er das "Vorziehen" öfters ganz aus, und als phänomenaler Befund vor dem Bewegungsakt bliebe uns nur das Denken. § 28 macht schwankend, denn da spricht er vom Wilen als das Denken lenkend, richtend auf das Hervorbringen einer Handlung. Sollte des Geistes "Directing its Thought" etwas ins Bewßtsein fallendes sein? Wir glauben nicht und § 30 scheint uns schließlich eine Erlösung von den Zweifeln und eine Übereinstimmung mit uns zu bieten: Der, welcher seine Betrachtung einwärts lenkt auf das, was in seinem Bewußtsein vorgeht, wenn er will, wird sehen, "daß der Wille, bzw. die Steuerung der Absichten mit nichts anderem einhergeht als mit der teilweisen Bestimmung des Bewußtseins, wobei sich das Bewußtsein - weniger durch einen Gedanken - bemüht eine Handlung zu beginnen, fortzuführen oder zu beenden", daß der Wille oder die Kraft des Wollens es nur mit der besonderen Bestimmung der Seele zu tun hat, bei welcher die Seele durch bloßes Denken eine Handlung anzufangen, fortzusetzen oder damit aufzuhören unternimmt (nach  Kirchmann). 

Wem auch diese Stelle nicht entscheidend scheint, der wird kaum eine unzweideutigere finden. Wir haben gesagt, was wir finden, bei einem Blick ins Innere; mögen es alle so finden.

12. BRENTANOs Ansichten sollen hier in Betracht gezogen werden, weil er, in seiner "Psychologie", Leipzig 1874, 1. Band, in einem Bestreben, die Fundamente dieser Wissenschaft zu sichern, sich ausführlich mit der Klassifikation der Phänomene beschäftigt. Er wendet von unseren drei Betrachtungsarten (in Bezug auf Funktion, Konstellation und Phänomenalität) am entschiedensten die letztere an. Als physische Phänomene gelten ihm z. B. Farben, Töne, Druck- und Schmerzempfindungen; diese bilden die Objekte der psychischen Phänomene. Und letztere zerfallen in drei Grundklassen, in die Klasse der Vorstellungen (d. h. also nicht der vorgestellten Objekte, sondern des Vorstellens), in die der Urteile und din die der Phänomene der Liebe und des Hasses. Diese Phänomene sollen eben einen dreifachen fundamentalen Unterschied hinsichtlich ihrer Beziehung zu ihrem Inhalt zeigen, hinsichtlich der Weise des Bewußtseins. Er glaubt, wie wir noch genauer darlegen werden, mit diesen Grundklassen, nicht bloße Grundfähigkeiten der Seele oder markante Gruppen bezeichnet zu haben, sondern aparte bewußte Phänomene, ganz anderer Natur, als unsere geistigen Bilder, Empfindungen, Bewegungen.

13. Es kommen natürlich auch manchmal Ausdrücke bei ihm vor, die die Differenz zwischen seiner und der anderen Betrachtungsart für den oberflächlichen Leser verwischen könnten; aber es ist auch genügend dezidiert gesorgt für die Betonung und Erfassung der auszeichnenden Eigentümlichkeit. Bevor wir diese darlegen, ist es vielleicht nicht unzweckmäßig, solche Ausdrücke aufzuführen, in welchen sich alle Richtungen begegnen können und welche demnach nicht ausgiebig zur definitiven Klärung der Probleme beitragen. Solche sind beispielsweise: Alle psychischen Tätigkeiten oder Seelenfähigkeiten (markant ist es nur, wenn BRENTANO statt Seelentätigkeiten sagt: Phänomene) haben eine Beziehung auf einen Inhalt oder eine Richtung auf ein Objekt, haben Vorstellungen als Grundlage; der Unterschied zwischen Urteilen und Lieben ist ein letzter und ursprünglicher; es herrscht bei Urteilen und Lieben ist ein letzter und ursprünglicher; es herrscht bei Urteilen und Lieben eine tiefgreifende Verschiedenheit in der Beziehung zum Objekt derselben; die Grundklassen sind nach ihren Unterschieden nicht voneinander ableitbar; Urteilen, Wünschen, Wollen sind ausdehnungslos, verschiedene Zustände. Solcher Sätze dürfen auch wir uns bedienen. Aber nicht doch der folgenden, welche die spezifische Überzeugung BRENTANOs ausdrücken: Nicht nur jede psychische Tätigkeit hat etwas als Objekt, sondern jedes psychischen  Phänomen  hat etwas als Objekt in sich; in einem Phänomen steckt ein anderes. In einem psychischen Phänomen des Vorstellens ist etwas vorgestellt (a. a. O., Seite 115), als vorgestellt enthalten. - Vorstellen heißt bei BRENTANO nicht etwa soviel wie Phantasieren; sondern es bedeutet das allerallgemeinste psychische Phänomen, in welchem jedwedes wirkliche Objekt als dessen Gegenstan bewußterweiße eingeschlossen ist. Es gibt also nicht einfach die wirklichen Gegenstände um uns, diese Bücher etc. ... sondern, es soll, nach BRENTANO, noch ein psychisches Phänomen bewußt sein, welches diese Bücher in sich enthält: das Vorstellen. Dieses Phänomens allerdings können wir unsererseit nicht habhaft werden. Wenn wir die Bücher z. B. ansehen, haben wir Körper- und Bewegungsempfindungen, erinnern uns, den Blick von anderswo dorthin gelenkt zu haben - lauter physische Phänomene nach BRENTANO - glauben auch, daß die Eindrücke von außen her kommen, daß die Seele  ungesehen  sie bearbeitet oder besitzt; aber ein bewußtes Vorstellen der Vorstellung können wir nicht wahrnehmen. Völlig unfaßbar ist es uns, daß dieses Vorstellen, nach BRENTANO, auch verschiedene Intensitäten haben soll. Ja die physischen Phänomene haben wechselnde Intensitäten; das Rot kann schwach und stark sein aber das Wissen der einen Nuance ist doch nicht intensiver, als das Wissen der anderen; das Bild kann deutlicher, undeutlicher, vollkommener sein und unvollkommener, ein  Apoll,  ein Krüppel, verschwommen oder klar, aber das Vorstellen der Bilder ist doch nicht verändert.

14. BRENTANO aber behauptet, daß es außer dieser Bewußtseinsweise des Vorstellens noch zwei fundamental verschiedene gibt. Lernen wir noch einige seiner Ausdrücke kennen. Wenn ein Gegenstand einmal vorgestellt wird, ein anderesmal auch gewollt oder geliebt, so bildet nicht das den Unterschiede, daß, wie wir sagen, eine eigenartige, aus ihm selbst nicht ableitbare Gruppe von Vorstellungen, Empfindungen, Erregungen an ihn herantritt, wobei auch das Herantreten auf eine neue unableitbare Funktion der Seele weist, sondern folgendes bildet den Unterschied: mit einem Schlag, in  einem Akt  "tritt das Bewußtsein in eine völlig neue Art der Beziehung zum Gegenstand" (Seite 266); "es sind hiermit zwei gänzlich verschiedene Weisen des Bewußtseins von einem Gegenstand vorhanden" (Seite 266); "die Beziehungen des Bewußtseins (im strengsten Sinne, nicht der Seele) zum Objekt sind grundverschiedene" (Seite 264) (- nicht durch ein Enthaltensein des Objekts in verschiedenen Gruppierungen, sondern direkt in einem singulären Bewußtseinsphänomen -); "der Gegenstand ist jetzt doppelt im Bewußtsein aufgenommen" (Seite 267); er ist in zweifacher Weise intentional im Bewußtsein (Seite 291).  Es gibt drei Arten von verschiedenem Bewußtsein  (Seite 188), das Vorgestelltsein eines Objekts, dessen Anerkannt- oder Verworfensein, und dessen Geliebt- oder Gehaßtsein.

15. Das Wollen verdient nach BRENTANOs Meinung nicht von der Bewußtseinsweise des Geliebt- oder Gehaßtseins abgetrennt zu werden. Es soll im Wesentlichen eine Einheit der Klasse d. h. der Bewußtseinsart für die Objekte des Gefühls und des Wollens herrschen (Seite 307). Das Gemeinsame der Gemütsbewegungen und des Begehrens soll sein, daß in ihnen ein Objekt als gut genehm oder als schlecht unangenehm erscheint (Seite 312). Wegen dieser Annäherung der beiden Seelenerscheinungen wollen wir hier nicht weiter rechten.

16. Die Kritik könnte ganz kurz sein, wenn wir uns nur auf die Selbstwahrnehmung berufen dürften. Wir bemerken nichts von den verschiedenen bewußten Bewußtseinsarten von ein und demselben Objekt. Ließen wir in einem Zustand der Liebe, des Wollens, alle Gedanken bezüglich der Erwerbung des Objekts, alle Erregungen, das Streifen der Gedanken weg, so bliebe uns nicht das Objekt in einer eigentümlichen Bewußtseinsweise des Geliebtwerdens, sondern das kahle, nüchterne Objekt. Während der Liebe oder des Wollens ist es dasselbe wie immer, aber eine Fülle von neuen Bildern, Gedanken, Empfindungen schließen sich um dasselbe; es wird in seinen Teilen bekannter, deutlicher also reichter, additiv anders, Erinnerungen werden durch dasselbe und an dasselbe geweckt, aber die Weise des Bewußtseins des früheren Teils des Objekts ändert sich nicht.

Da aber der Gegner etwas anderes wahrnehmen will - er führt auch sonst noch eigentümliche Komplikationen vor - und sich ebenfalls auf die Selbstwahrnehmung beruft, so muß man darzutun versuchen, wie unwahrscheinlich seine Behauptungen sind, indem sie mit herrschenden gesicherten Begriffen in einen Widerstreit geraten.

17. Die uns hier vorzugsweise interessierende Bewußtseinsbeziehung des Liebens, in welcher Klasse das Wollen inbegriffen ist, soll kein Urteilen sein (Seite 313), aber doch nicht besser durch Worte charakterisiert werden können, als durch diese: "als gut genhem sein", "als schlecht ungenehm sein". Diese Urteilsform soll den Leser nur auf das Phänomen hinweisen.

Wenn nun die neue eigene Art und Weise des Bewußtseins von einem Objekt überhaupt noch etwas als Phänomen sein soll, so muß sie entweder am betreffenden Objekt stattfinden, oder sich psychisch neben dem Objekt befinden oder ein darauf bezüglicher Akt sein. Das alles ist aber unmölgich, wie wir jetzt zeigen wollen.

Wäre die veränderte Bewußtseinsweise  an  dem Objekt deutlich, so könnte sich das nur darin zeigen, daß das Objekt partiell ein anderes würde, in einem anderen Licht erschiene. Diese Veränderung müßte sogar, gemäß der von BRENTANO angenommenen wechselnden Intensität der Bewußtseinsart eine graduelle Abstufung zeigen. Würde das  Objekt  selbst also nun ein anderes, dann wäre ja das Lieben und Wollen kein psychisches Phänomen, sondern ein physisches Objekt von derselben Gattung, wie das geliebte und gewollte Objekt selbst; es wäre unter Umständen auch ausgedehnt. Das geliebte Objekt würde sich jetzt zu dem nicht geliebten verhalten, wie etwa ein lauter Ton  a  zu demselben leise genommenen  a  oder ein helles rot zu einem matten rot. Die Liebesbewußtseinsweise wäre also nichts anderes, als ein eigen nuanciertes physisches Phänomen - was sie aber nach BRENTANO doch nicht sein soll.

Befände sich die von ihm behauptete neue Bewußtseinsweise psychisch  neben  dem geliebten oder gewollten Objekt - dann hätten sie erstens eine gemeinsame Grenze, was nach ihm nicht sein dürfte und er dürfte auch nicht sagen, daß das Lieben das Objekt zum Inhalt hat.

Diese behauptete neue Beziehung des Bewußtseins zum Objekt kann - schließlich - auch kein bewußter Akt sein. Denn ein bewußter Akt müßte entweder so wahrgenommen werden, daß man den Akteur wahrnimmt; aber niemand hat seine Seele bewußt agieren gesehen; oder man müßte das Stadium des Übergehens der Aktion beobachten: dann müßte aber das  Agieren  etwas Gemeinschaftliches mit dem physischen Angriffsobjekt haben, denn nur als ein Ausgedehnterscheinendes könnte etwas wahrgenommen werden, wie es auf ein Ausgedehntes wirkt. Aber der psychische Akt dürfte ja wieder nicht die Eigentümlichkeiten des psychischen Objekts haben. Man kann also auch durch viele Deutungen keine Klarheit hineinbringen in den Begriff der "neuen Bewußtseinsweise". Zur Jllustration: ein von der Erde angezogener (fallender) Stein bietet keine fundamental neue Erscheinung dar gegenüber seinem Ruhezustand, obgleich eine neue Kraft ins Spiel kam. Er bleibt Stein, befindet sich nach wie vor an Orten; nur die Sukzession, die Gruppe der Erscheinungen ist eine andere. Die Gravitationskraft ist freilich wirksam, aber ihr transeuntes [übergreifendes - wp] Wirken selbst ist unwahrnehmbar. Auch beim Wollen kommen andere Kräfte ins Spiel, als bei anderen Gruppierungen von Vorstellungen, wie beim Rechnen oder Phantasieren, aber bewußt wird nichts anderes, als die veränderte Konstellation.

18. Ganz unfaßbar wird der Begriff des wahrgenommenen Aktes BRENTANOs, wenn man bedenkt, daß oft ein solcher Akt Gegenstand eines Aktes werden müßte. Es kann und muß nach dieser Theorie ein Lieben etc. oft wieder Objekt der Liebe werden. Man kann sich auch nach Sehnsucht sehnen, Haß hassen. In Wahrheit kann aber ein Akt so wenig ein bewußtes Objekt eines Aktes sein, wie man das Werfen werfen kann.

Noch andere Arten von Bedenken bezüglich der Polarität von Lieben und Hassen etc. drängen sich uns auf; doch wir glauben genug angeführt zu haben, um das Bemühen als aussichtslos erscheinen zu lassen, für die Tatsache des Wollens eine singuläre Bewußtseinsweise - nach BRENTANO - aufzufinden.

Wir glauben nur noch darüber unseren Zweifel aussprechen zu müssen, ob wir einig sind in der Abgrenzung des Wollensgebietes. Er - der die Willensfreiheit zu leugnen scheint - meint, daß ihre Anhänger noch unter anderen Seelentätigkeiten, die nicht als Wollen bezeichnet werden können, die man den Gefühlen zurechnet, gleichfalls freie Akte finden (Seite 332) z. B. im Schmerz der Reue, schadenfroher Lust, kontemplativer Gottesliebe etc. Wir unsererseits erklären die Reue für ein Gefühl, das als solches kein freier Akt ist, sondern selbst nur von einem Willen frei gewollt wird. Ebenso wird das Gefühl der Gottesliebe gewollt. Diese gehören mit zu anderen Objekten der Willensrichtung, welche der autonomen, durch Gedanken oder durch Werte der Vorstellungen oder durch physische Kräfte nicht notwendig bestimmten Macht unterworfen sind.

19. Es ist uns erfreulich, daß wir schließlich als nicht ungünstige Zeugen für unsere Ansicht Vertreter der HERBARTschen Schule anführen können - wenn wir auch die Lehre HERBARTs über das Vorstellen und den Vorstellungsmechanismus nicht akzeptieren können.

ZIMMERMANN nominiert zwar, in seiner "Philosophischen Propädeutik" drei Gruppen (Seite 174, 175) Vorstellung, Gefühl und Begehren und sagt, daß nicht die betreffenden Seelenvermögen es sind, sondern die betreffenden Zustände, welche sich als innerlich verschieden der inneren Beobachtung darstellen. Nun auch wir sagen ja, daß das Wollen ein in seiner Komposition ganz eigenartiger Zustand ist, wenn auch nicht eine eigenartige Bewußtseinsmanier eines Objekts. Und auch in der Beschreibung des Zustandes des Begehrens, wie sie ZIMMERMANN gibt, stimmen wir vielfach überein. Auf Seite 334 wird es aber ganz klar, daß das Begehren, wenn es auch eine (besondere) Tendenz ist, Nicht-Vorhandenes herbei- oder gegenteiliges Vorhandenes hinwegzuschaffen (Seite 333), doch als Bewußtwerden des Begehrens nichts anderes ist, als ein Innewerden des  Gefühls  des Gehemmtseins einer gewissen aufstrebenden (eben zu realisierenden) Vorstellung und ferner das Innewerden des Gefühls des Ankämpfens derselben gegen die Hindernisse. Es ist also eine Konfiguration von Vorstellungen und inneren Reibungsgefühlen (die nebenbei bemerkt auch mit einem "genehm finden" keine Verwandtschaft haben).

20. Hören wir schließlich VOLKMANN im "Lehrbuch der Psychologie", Bd. 2, Seite 399: Das Begehren (Seite 453: Das Wollen ist nur ein Begehren, welches zur Voraussicht seiner Befriedigung gekommen ist) ist ein subjektiv-objektives Phänomen, d. h. es gibt sich ebensowohl im Gefühl, als auch an der Vorstellung kund, ist aber eben deshalb keine dritte selbstständige Bewußtseinsform neben den beiden anderen. sondern eine Erscheinung, die sich dort notwendig einstellt, wo die beiden anderen unmittelbaren Bewußtseinsformen miteinander in Verbindung treten.

Die Lehre können wir nicht zu der unseren machen, daß beim Wollen der Umstand wesentlich ist, daß die Vorstellung des eben besessenen Gegenstandes von jetziger, geringerer Klarheit und Vollständigkeit zu seiner früheren vollkommenen Klarheit und Vollständigkeit  drängt,  das Vorstellen sich als ungehemmte Tätigkeit, in wechselnden Spannungsgraden zu behaupten ringt. Denn es gibt außerordentlich viele Fälle, in welchen einfach ohne Tumult, nach einer im Wechsel ruhig stabil gewordenen Vorstellung, die betreffende Zielaktion beginnt und es wird oft danach gestrebt, etwas Neues kennen zu lernen, was also noch niemals als ganze Vorstellung um seine Deutlichkeit gekommen sein und sich jetzt zu ihr herausarbeiten könnte.

21. Wir wünschen sehnlichst, daß man sich in dem Gewirr von Ausdrücken in diesem Abschnitt zurechtfindet, daß die großen und doch lateten gehaltenen Unterschiede der Behauptungen der Forscher offenbar geworden sind. Nichts ist offenbarer, als das Phänomen und doch muß man sich zu seinem schlichten Erfassen erst durch das Gestrüpp von zweideutigen Worten durcharbeiten, wie zu  Dornröschen.  Die schöpferische Kraft erblicken wir zwar nicht, die das ordnet, verwirft und festhält, was unser Gebaren bestimmt; das Substantielle des Willens, das Wahrhafte sehen wir nicht. Aber seine Freiheit können wir verteidigen; und wie wir es dem Begriff des Motivs gegenüber getan haben, so wollen wir es nun gegenüber anderen Begriffen tun.


IV. Der physiologische Determinismus

1. Wir sahen, wie der Versuch, den Willen durch Motive zu determinieren, als ganz unbegründet in seiner nichtssagenden Hohlheit zusammenstürzte. Man könnte nun einen Versuch machen, das Prinzip der "Motive" zum gleichen Zweck dadurch brauchbar zu machen, daß man es durch physiologische Bestimmungen verstärkt.

Die Ansichten über den Bau und Mechanismus des Nervenzentralapparates sind noch so schwankend, daß man sich bei einer diesbezüglichen Theorie großer Allgemeinheit, respektive Vagheit, befleißigen muß. Es ließe sich so folgende Meinung aussprechen: Jede Vorstellung, also auch diejenige, welche sich auf ein Wollen bezieht, hat eine gewisse nervöse Potenz im Gehirn, Rückenmark etc. zur Verfügung, sei es, daß sie vielfach mit anderen Vorstellungen durch das physiologische Substrat (z. B. MEYNERTs Assoziationsfasern) verbunden ist, sei es, daß sie oft bei Bewegungsakten im Allgemeinen eine Rolle spielte und so eingeschaltet ist in leicht oder stark erregbare Nervenbahnen. Je größer nun diese nervöse Virtualität einer Vorstellung ist, desto sicherer siegt sie im Motivkampf.

2. Betrachtet man zur Prüfung extreme Fälle, so wird allerdings zwar in ihnen eine solche Theorie, wie auch jede andere eine Stütze finden. Es wird, beispielsweise, ein Bild der Lust, das schon oft zu Bewegungen geführt hat, mehr Bewegungsenergie für sich haben, als ein Bild der Rettung eines ins Wasser Gestürzten - da diesbezügliche Springbewegungen vielleicht noch niemals ausgeführt wurden, überhaupt Gedanken über das Schicksal Anderer weniger häufig im Gehirn vertreten sind, als solche über das Schicksal des eigenen Ich. Jedoch wäre es vorschnell, nur auf solchen Fällen, die durch sehr viele Theorien ihre Erklärung finden könnten, eine allgemeine Lehre aufzubauen.

3. Achtet man - erstens - auf die gewöhnlichen Vorgänge des Lebens, so wird man finden, daß der Sieg von scheinbar nervös-motorisch schwachen Vorstellungen an der Tagesordnung ist. Gedanken der fernen blassen Wirklichkeit in einer von Bildern kaum erhellten Zukunft, Verzichten auf Lust, die Übernahme von harter, mühsamer Arbeit etc. siegen über unsere über den ganzen Körper gebietende Triebe, über die angenehmen, lustbringenden, leicht ablaufenden Aktionen. In zahllosen Fällen siegt eine Vorstellung, für die gar keine physiologische Kraftsumme zu existieren scheint.

Wir zweifeln nicht, daß Anhänger einer solchen physiologischen Theorie darauf sagen werden: ja, in diesen Fällen wußten wir nur nicht, daß eine so günstige Potenz für diese Vorstellungen aufgespeichert war. Doch dagegen dürfte man wohl mit Entschiedenheit geltend machen: wenn man vom Verhältnis der Mehrzahl der Fälle nichts weiß, wie kann man dann das Bestehen dieses Verhältnisses behaupten? Was für eine Deduktion ist das, die, auf einem Minimum extrem schlecht beobachteter Fälle fußend, Behauptungen wagt, dann, auf Fälle absoluter Unwissenheit stoßend, ruhig sagt: wenn ich hier etwas wissen würde, würde ich meine erste Behauptung bestätigt finden! Nach dieser Manier - der erhofften Verifikation - kann man die Influenz jedweder willkürlich angenommenen Kräfte behaupten. Die Deduktion muß ausgehen von der Erkenntnis des Verhältnisses der  Elemente  der Tatsachen im Allgemeinen, dann kann sie nützlich werden für die Erkenntnis der komplizierten, speziellen Verhältnisse in den konkreten Erscheinungen. Eine solche steht aber hier nicht zu Gebote. Man verfährt so ziemlich nach folgendem Beispielsschema: Da heiteres Wetter manchmal auf manche erheiternd wirkt, trübes aber verstimmend, so wird jede Gemütsbeschaffenheit aller Menschen nicht richtig scheinen, so würde es sich doch völlig bewahrheiten, wenn wir nur alle Faktoren, die in dem uns umgebenden Luftmeer wirken, kennen würden.

4. Wenn jedoch - zweitens - tatsächlich ein Motiv seine Kraft nur nach Maßgabe der Kraft seiner physiologischen Potenz haben sollte, so könnte letztere nicht eine im Laufe der Entwicklung des Individuums gewonnene, historisch erworbene Kraft sein, sondern wäre von jeder momentanen Veränderung innerhalb der Nervenelemente abhängig. Eine reichliche, akquirierte Potenz könnte plötzlich verloren gehen, sobald das Gehirn in seinem Ernährungszustand etwas alteriert würde; eine momentane Blutwelle könnte eine alte Kraft verlöschen und in irgendeiner Direktion einem wenig kräftigen Vorstellungsdistrikt gesteigerten Einfluß verleihen.

Darauf könnte man sagen: Ja gewiß, so ist es auch; der momentane physiologische Zustand bedingt notwendig die Willensentscheidung.

Wer das sagt, der sieht aber nicht, daß nun die absolute Unwissenheit als Erklärungsgrund aufgestellt wird, jede gesetzmäßige Determinierung des Willens geradezu aufgegeben wird, da ja die Gesetze des physischen Zustandes, absolut unbekannt, selbst durch unbekannte Faktoren beherrscht sein können. Die ganze Kraftökonomie des Gehirns ist so ja unbekannt, daß es gar nicht möglich ist, daß eine durch Sinnesnerven z. B. durch eine Erregung der Seh- oder Hörnerven, durch irgendwelche materiellen Stöße, aufgebrachte Energie ganz fernabliegenden heterogenen Gebieten zugute kommen und dort schwachen Vorstellungen ein Übergewicht verschaffen könnte. Ungemessene Ätherwellen könnten den Zweifelskampf entscheiden und nichtphänomenale Kräfte könnten eingreifen. Wo ist das Gesetz der Determinierung? Nichts anderes darf man sagen, als daß das ganze Weltsystem die Faktoren der Entscheidung enthält. Das nannten wir Universaldeterminismus. Um ihn aber ist ja kein Streit.

5. Doch weiter. Man glaubt also, daß in dem Quantum physischer Kraft, Spannkraft, lebendiger Kraft, welches den Organen, der Gehirnrinde usw. zur Verfügung steht, die für den Willen gesetzgebende Macht zu suchen ist. Man würde das Quantum, die Quellen, die Gesetze dieser Kraft selbst nicht kennen. Aber er könnte tatsächlich durch dieses Quantum nicht anders determiniert sein, als daß es die Grenzen seiner Macht abgäbe er aber in der Disposition über die verfügbare Kraft frei wäre.

Es ist wohl am besten, das Verhältnis der physikalischen Kraftquanta zu Bewußtseinselementen nicht in die Diskussion zu ziehen. Nicht nur beim "Willen" sondern auch beim "Entstehen des Bewußtseins" könnte ein solches Problem nutzlos auf den Plan gebracht werden. Man könnte fragen: Wird die  ganze  durch die Sinne dem menschlichen Organsystem zugeführte Kraft weiterhin rein durch physikalische Prozesse und physikalische Umsatzmodifikationen repräsentiert, - oder zieht sich ein Teil derselben aus dem materiellen Gebiet zurück, um ein Äquivalent im Bewußtwerden des Eindrucks zu finden, welches ja andernfalls eigentlich ohne Kraft erzeugt würde?

Ist Letzteres nicht der Fall, dann bliebe das Wollen als das Influenzieren der Materie  ohne  materielle Kräfte, nur eben so rätselhaft, als das Entstehen der Empfindung, gelegentlich der materiellen Kraftleistung der Sinne,  ohne  materielle Kraftleistung. Ist Letzteres aber der Fall, dann hätte der Wille die ins psychische Gebiet transformierte Kraft zur Disposition.

Doch, wie gesagt, nur provoziert berühren wir solche unheimlichen Gebiete, und nur um zu zeigen, daß man aus ihnen keinen Zwingherrn für den Willen holen kann. Tut man groß mit physiologischer Abhängigkeit, dann verliert man sich in den unbestimmtesten, schließlich der Freiheit doch nicht ungünstigen Mutmaßungen, findet keinen reinen, klaren Faktor, welcher den Willen determiniert und kommt höchstens nur auf den vagen Universal-Determinismus hinaus.


V. Der Assoziationsdeterminismus

1. Der Determinismus könnte sein Glück noch anderswo versuchen. Er könnte so denken: Ihr habt gemeint, es fände sich beim Willensakt schließlich eine stabilisierte Vorstellung, welche dem als gesetzmäßig nicht erkannten, freien Wirken des Willens ihre Haltbarkeit verdankt, da der ausschlaggebende Wert dieser Vorstellung, oder ihre physiologische Kraft von euch als unklare, unbrauchbare Begriffe verworfen werden; wie nun aber, wenn diese Vorstellung einfach diejenige wäre, welche durch Gesetze psychischer Ideenassoziation im Bewußtsein erhalten und wenn das Wollen ihr einfach nachfolgen würde? Somit wären die Assoziationsgesetze die Gesetze für die Bestimmung des ihnen unterworfenen Willens. - Abermals ein vergebliches Bemühen, denn es sind uns die Gesetze der Ideenverbindung ganz unbekannt. Die Methode aber, zu behaupten der Wille sei lauter noch nicht bekannten Gesetzen unterworfen und darin bestände die Kenntnis seiner Gesetze, ist doch zu sonderbar.

2. Wenn wir davon absehen, daß das Auftreten der Vorstellungen nicht nur durch andere Vorstellungen, sondern auch durch Körperzustände, die nicht in das Bewußtsein fallen, verursacht werden könnte, und uns nur auf die Ideenverknüpfung beschränken, so muß man anerkennen, daß uns zwar die  Erscheinungsarten  der Ideenassoziationen oberflächlich bekannt sind, daß wir aber über die Bedingungen der Ideenassoziation so viel wie nichts wissen. Wir kennen wohl die Formen derselben, aber nicht ihre Gesetze. Diese Formen (über welche ich ausführlich, mit Berücksichtigung aller Schwierigkeiten, in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie", 1884 (?), 4. Heft gehandelt habe) sind im allgemeinen folgendermaßen beschaffen.  Erstens:  Zwei oder mehrere Vorstellungen waren gleichzeitig beisammen in einer primären Fusion, nach einer beliebigen Zeit wird eine derselben, respektive eine ihr ähnliche, durch einen äußeren Eindruck oder sonst wie hervorgerufen und die primär fusionierte erscheint daraufhin in der Folge.  Zweitens:  Eine Vorstellung steht im Bewußtsein und es folgt ihr eine nie mit ihr fusioniert gewesene, aber ihr ähnliche nach. Diese Formen wären also ziemlich klar, obgleich man über die Größe der möglichen, dabei mitspielenden Zeitintervalle fast nichts weiß. Wenn man aber damit Gesetze zu haben meint, ist man stark im Irrtum.

3. Ein Gesetz müßte auf die Frage Antwort geben: welche Vorstellung wird assoziierend wirken und auf welche wird sie assoziierend wirken? Aber da wird man vergeblich auch nur nach der allgemeinsten Gattung dieser korrespondierenden Vorstellungen fragen. Nicht die Stärke und Lebhaftigkeit einer Vorstellung, nicht die Aufmerksamkeit, die man ihr spendet, nicht ihre Wichtigkeit, nicht das Interesse, das sie für unsere ganze Existenz bietet, ist hier maßgebend - weder für die anregende, sollizitierende [anreizende - wp], noch für die erweckte sollizitierte Vorstellung. Desgleichen, was die Assoziation der Ähnlichkeit betrifft, ist durchaus nicht der hohe Grad der Ähnlichkeit ein durchschlagendes Moment für die Verknüpfung.

Von Bildern, die ganz schwach in der Peripherie des Gesichtsfeldes stehen, gehen oft Anbahnungen zu anderen Vorstellungen aus; während man alle Erinnerungsbehelfe, Assoziationsmittel, anwendet, um etwas einst Erlebtes, Wertvolles wieder ins Bewußtsein zu rufen und vergeblich anwendet, fließen gleichgültige Tatsachen, die mit dem Gesuchten verknüpft waren und damals kaum eines Blickes gewürdigt wurden, in einem ärgerlichen Überfluß dem Geist zu; in Trauer und Schmerz, gespannter Erwartung der Entscheidung ketten sich an dumme Dinge die abgeschmacktesten, lästigsten Assoziationen. Dem Mann, der in seinem Fach höchst versiert ist, stellen sich oft, bei Fragen, wo er es vortrefflich brauchen könnte, seine geläufigsten Begriffe nicht ein und von den geläufigen regellos die eine oder andere; der Unkundige hat oft den glücklichsten, passendsten Einfall. Was einem hundertmal eingefallen ist, bleibt in der entscheidenden Minute aus; als hätte man es nie gewußt, läßt es uns im Stich. Was die größte Verwandtschaft mit einem anwesenden Ding hat, schlüpft nicht aus der Erinnerung hervor, dafür werden wir mit unbestimmten Ähnlichkeitsgestalten regaliert. Das Festsetzen von Vorstellungen und Neigungen ist, wie ihr plötzliches Verschwinden, unerklärt. Wer darf bei seinen eigenen Assoziationen sagen, diese mußte nach diesem oder jenem Gesetz kommen; jede andere war unmöglich. Selbst das Aussprechen einer Voraussage, wonach, bei einem supponierten Zustand des Ich und dem Eintreten einer gewissen Vorstellung, eine bestimmte vorausgesagte nachfolgen soll, kann derart andere Vorstellungen in Fluß bringen, daß dadurch schon die Voraussage zunichte würde. Es gibt wohl kaum eine Vorstellung, die ohne eine Assoziationsquelle entstanden wäre, aber davon, warum gerade sie entstanden ist, gibt es kaum eine solide Kenntnis.

4. Um unsere ganze Unwissenheit auf diesem Gebiet zu erfassen, welches uns doch nicht in geringem Maß zugänglich ist, bedenke man, daß jede künstlerische Schöpfung eine Sache von Assoziationen ist, und daß uns dabei das Schaffen ein vollkommenes Rätsel ist. Wie assoziieren sich dem Komponisten seine Melodien und Durchführungen? Und, merkwürdig, gerade der Erfindungsreichste ist in gewisser Beziehung am meisten frei von Assoziatione, da man bei ihm nicht häufig Anklänge an Eigenes oder Fremdes finden wird.

Ein einziges Gesetz möchten wir entschlossener anzuführen wagen, das Gesetz des "einzigen Falles". Dieses besagt: wenn ein in seiner Art einziges Ereignis sich das erste mal, sehr ähnlich, wiederholt, lebt es in seiner ersten Erscheinung in der Erinnerung auf: z. B. wenn einer das zweitemal einen Friedhof besucht, dürfte ihm der erste Besuch einfallen; aber, ob er bei einem dritten Gang noch eine Erinnerung an die früheren Besuche und an welche haben wird, läßt sich nicht vorhersagen.

5. Hören wir nun auf nach Faktoren der Beeinflussung des Willens zu suchen. Keiner der versuchten war zu einer klaren Leistung zu gebrauchen. Die psychische Assoziation ist selbst nach ihrer Abhängigkeit nicht erkannt. Ebenso unbekannt sind die Verhältnisse des physiologischen Apparates, welcher überdies noch nicht abgeschlossen vom ganzen materiellen Weltsystem betrachtet werden kann. Als ganz leer zeigte sich der Versuch, den Willen zu determinieren, durch "Werte", - die man ansich nicht kennt - durch "Charakter" - den man ansich nicht kennt. Eitle Worte gebraucht man nur, die höchstens eine Umschreibung für das Konstatieren einer Regelmäßigkeit, aber nicht deren Erklärung sind; nicht einmal das Gebiet der Regelmäßigkeit war gehörig abgesteckt. Was geschieht, ist nach dem Plan und im System notwendig, aber nicht Sinnliches und Phänomenales, wie Motiv, physiologischer Prozeß, Assoziationen bestimmt die "edle Kraft" zum Aufschwung oder Ermatten, zum Guten oder Bösen; ist sie geschaffen, so doch frei in sich, nach ihrer selbstherrlichen Natur.
LITERATUR - Richard Wahle, Eine Verteidigung der Willensfreiheit, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge Bd. 22, Halle a. d. Saale 1888