ra-2 Jonas Friedmann Nathanael Dransfeld    
 
ANTON ÖLZELT-NEWIN
Die Unlösbarkeit
der ethischen Probleme

[2/2]

"Die Individualität wird man immer irgendwo einsetzen lassen müssen und ginge es in keiner anderen Weise, es würden unendliche Kombinationen schon deshalb möglich sein, weil eine bestimmte Reihenfolge oder Kombinationsweise von Lüsten einem Individuum mehr Behagen erregen kann als einem anderen, das wieder eine einzige intensivere Lust vielleicht einer Reihenfolge vorzieht. Wie verhält es sich aber bei all dieser Unbestimmtheit betreffs einzelner Lüste mit der Objektivität der einzelnen Sinne?"

Unlösbarkeit der Frage nach dem höchsten Gut
unter der Voraussetzung eines absoluten Egoismus

Um der Untersuchung möglichste Klarheit und Einfachheit zu geben, werde ich mich in ihrem Verlauf mehrerer Abstraktionen bedienen zu müssen. Zunächst wollen wir ein Individuum aus der gesellschaftlichen Verbindung herausgehoben denken und allgemein ein höchstes Gut zu konstruieren suchen, wie es dem Einzelnen, unabhängig von jeder Beziehung zu anderen, zu erreichen möglich sein könnte.

Wir denken uns ein Individuum ausschließlich unter dem Einfluß egostischer Gefühle handelnd und jeder Möglichkeit, altruistische zu befriedigen, beraubt. Die einzige Norm, nach der sich für diesen Fall ethische Ratschläge richten könnten, ist durch Glückseligkeit und die Vollkommenheit, sie zu erlangen, gegeben. Es gibt schlechterdings kein anderes Ziel, dessen rationale Verfolgung zum Daseinszweck dieses Individuums gemacht werden könnte. Dabei wird die Möglichkeit der Ausbildung einer Art moralischer Gefühle, ohne bewußte Lustzwecke, jener Gefühle von Pflicht gegen sich selbst, die sich auch in einem ROBINSON entwickelten, nicht ausgeschlossen; vom Individuum wird nicht gefordert, z. B. Gott nur um der Lust willen anzubeten, die ihm sein Gebet bringt, auch nicht, daß es die vielleicht höhere Lust, die es dabei empfindet, überhaupt in eine Wagschale werfen solle mit seinen Sinnenlüsten; nur für die Ethik, für die independente, wissenschaftliche Ethik ist in diesem Fall der Maßstab der Lust, der Glückseligkeit der einzig denkbare und ohne ihn nicht einzusehen, warum man das Individuum veranlassen sollte, die Erkenntnis seines höchsten Gutes dem Genuß eines Apfels vorzuziehen.

Nun ist der Begriff der Glückseligkeit vielleicht der unbestimmteste im Lexikon der menschlichen Sprache, ein Begriff, der kaum in zwei Menschen übereinstimmend ausgebildet ist; wir werden, wenn wir ihn benützen wollen, ihn notwendig vorher in seinen Elementen untersuchen müssen.

Zuerst was unsere Sinne betrifft. Es herrscht im Allgemeinen unter den Menschen die Ansicht, daß der Verlust des Auges ein weit größeres Unglück bedeute, als der des Gehörs. Besagt dies nun dasselbe, als daß die Lust, die mit einer Gesichtsempfindung verbunden ist, größer sei, als die einer Tonempfindung; daß eine schöne Farbe eine angenehmere Empfindung zu erregen imstande sei, als ein schöner Ton?

Gewiß wäre, wenn diese Frage danach gestellt würde, nicht ohne weiteres dieselbe Einhelligkeit zu erlangen; sie ist eine von der vorigen völlig verschiedene. Für's Erste könnte dem Auge schon deshalb ein Vorzug gegeben werden, weil es ein ungleich besseres Mittel zur Befriedigung der mannigfachsten Bedürfnisse als das Gehör ist, weil es die conditio des größten Teiles aller unserer Tätigkeiten und der damit verbundenen Freuden, die Bedingung des Zustandeskommens selbst jener Lüste sein kann, die wir ansich viel höher stellen als jene des Gehörs. Es kann nun weiters deshalb von höherem Wert sein, weil an seine Vorstellungen mehr und lustbringendere Assoziationen geknüpft sind; wenn ich ein Bild, eine Landschaft, ein lebendes Wesen, einen Menschen sehe, so mögen, wie immer unbedeutend die Lust an der Gesichtsempfindung als solcher auch sei, die durch sie der durchschnittlichen soweit verschiedene, daß selbst das ernsteste Studium seiner Werke, das nach Jahren noch immer unsere Erkenntnis und Genüsse steigert, nicht allen ermöglicht, von ihr eine richtige Vorstellung zu erhalten.

Man vergleiche damit die Mangelhaftigkeit der Ausbildung des Gesichtes bei jenen Menschen, die oft Ähnlichkeiten zwischen Personen behaupten, die sich für jedes geübtere Auge schon in großer Distanz unterscheiden, und die einen Alexanderkopf von einem Cäsarenkopf nicht zu unterscheiden vermögen. Da das Gleiche vom Gehör zu sagen ist, dessen Unterscheidungs-Gedächtniskraft und Genußfähigkeit bei einem Genius, wie dem MOZARTs, andere schon in der ersten Zeit seiner Entwicklung weit übertroffen haben muß, so weiß ich nicht, wie sich hier die Frage nach einer objektiven Entscheidung größerer oder geringerer Lust lösen kann. Dem Einen mag eine Tonempfindung, dem andern eines Gesichtsempfindung angenehmer sein. Oder soll ich von einer "mittleren, normalen Ausbildung" der einzelnen Sinne sprechen, die jeder erlangen muß und annehmen, es gäbe eine solche Norm, die für alle Menschen dieselbe ist? Die Erfahrung kennt nur Ausnahmen. Auch würde die Komplexität der Frage kaum wesentlich vermindert; denn wollte das besagen, daß ich dann jede Lust die niedrigste des einen Sinnes, immer jeder, auch der höchsten des anderen vorziehe?

Die Individualität wird man immer irgendwo einsetzen lassen müssen und ginge es in keiner anderen Weise, es würden unendliche Kombinationen schon deshalb möglich sein, weil eine bestimmte Reihenfolge oder Kombinationsweise von Lüsten einem Individuum mehr Behagen erregen kann als einem anderen, das wieder eine einzige intensivere Lust vielleicht einer Reihenfolge vorzieht. Wie verhält es sich aber bei all dieser Unbestimmtheit betreffs einzelner Lüste mit der Objektivität der einzelnen Sinne? Wir sind ja doch von dem Satz ausgegangen, daß die Menschen übereinstimmend den Gesichtssinn einen höheren als den Gehörsinn nennen. Nach dem Vorausgehenden kann diese Übereinstimmung nur auf einem Schein beruhen. Da, wie wir gesehen haben, weitaus der größte Teil alles psychischen Lebens für einen Genius, wie MOZART, sich in Tonvorstellungen abspielt und es denkbar wäre, daß eine so besondere Ausbildung für die Freuden des Sehens eine nur sehr mangelhafte Empfinungsfähigkeit hätte, so würde, im Falle daß sich ein solches Individuum vor die Wahl gestellt fände, seinen Gesichts- oder seinen Gehörssinn zu verlieren, worunter nicht bloß der äußere Sinn, sondern konsequenterweise, die ganze Vorstellungswelt, die ihm entstammt, zu begreifen ist, es ohne Zweifel letzteren wählen. Ihm diesen nehmen, hieße ihn nahezu seines psychischen Lebens oder wenigstens aller Freuden desselben berauben. Wie relativ diese Entscheidung, diese Wertgebung also war, ist damit klar geworden. Es mag eine ungefähre Übereinstimmung in konkreten Fällen zu erreichen sein, aber sie werden immer zu komplexer Natur sein, um Entscheidungen lebendiger Erfahrung entbehrlich oder jene systematischer Allgemeinheit brauchbar machen zu können. Das ist die Objektivität, zu der uns die Analyse der einfachen psychischen Phänomene geführt hat.

Gehen wir nun einen Schritt weiter. Wenn wir den Lehren der Assoziationspsychologen Glauben schenken dürfen, so würden wir durch sie in den Stand gesetzt, den größten Teil der kompliziertesten Geistesphänomene aus den einfachsten zu erklären. Ein Ding, dessen Anblick uns einmal Lust gewährt, wird selbst ein Objekt unserer Lust; ein Ding, das mehreren Sinnen ein Quell von Lust ist, das unseren Gesichts- und Tastsinn, unseren Gehör- und Geruchssinn in gleicher Weise anzuregen vermag, wird für uns das Objekt komplexer Gefühle. Die Liebe, religiöse und ästhetische Gefühle sind Phänomene dieser Art. Die Natur und das Zustandekommen komplexer Gefühle nun ist, wie die Natur komplexer Vorstellungen von Körpern, Raum etc., von jeher der Gegenstand der größten Streitigkeiten gewesen. Die empirische Psychologie, hauptsächlich die moderne englische, leugnet jede Notwendigkeit der Annahme apriorischer Grundlagen; sie zweifelt an der Brauchbarkeit der zur Entdeckung derselben angewandten Methode, an der Möglichkeit jeder Entdeckung, an ihrer Existenz. Die Erklärung aus apriorischen Grundlagen ist nach ihr wissenschaftlich unzulässig und gleichbedeutend mit einem Appell an Willkür und Glauben.

Für uns ist es aber hier gleichgültig, ob man den unauflöslichen Rest, den die Analyse komplizierter Phänomene, wie die der Liebe, immer gibt, durch die Annahme eines Chemismus der Assoziationen oder durch ein Prinzip apriori wegschaffen will; für uns genügt es, wenn man nur zugibt, daß die einfachen Empfindungen, die verschiedenen Vorstellungen und Lüste als Bestandteil in die komplizierten eingehen. Es wird damit zugestanden, das keine von den Verschiedenheiten, die wir uns bei der Bildung der ersteren nachzuweisen bemühten, völlig verloren gehen kann; daß die Verschiedenheit in irgendeiner Weise in den zusammengesetzten Phänomenen werde zutage treten müssen. Es wird somit notwendig Menschen geben müssen, die, abgesehen von ihrer späteren Ausbildung, durch ihre natürlichen Anlagen fähigere Politiker, Dichter, Mathematiker sind als andere und ohne Zweifel werden die Freuden, die jede dieser Tätigkeiten den verschiedenen Individuen gewährt, damit größere oder kleinere und in jedem Fall in dem Maß verschieden sein, als - von der Verschiedenheit der Funktionen ihrer Synthesis, ihres apriorischen Momentes völlig abgesehen - die Faktoren verschiedene sind.

Was bedeutet aber, wenn diese Auseinandersetzungen wahr sind, z. B. die Behauptung, daß das höchste Gut die mit derjenigen Art von Tätigkeit verbundene Lust sei, die das Leben eines Weisen mit sich bringe?

Nicht jeder, der die Freuden der Philosophie kennt, wird mit ARISTOTELES übereinstimmen und sie höher stellen, leichter erwerben und dauernder genießen können als alle anderen, sonst hätte es nie Leute gegeben, die alle Philosophie für Torheit erklärten. Sie müssen vielleicht trachten, sie besser kennen zu lernen? Wo ist aber dann die Grenze gesetzt, von der aus uns das Recht zusteht zu urteilen. Sie müssen die Freuden des Gedankens kennen, wie ARISTOTELES selbst, d. h. seine Fähigkeiten haben, d. h. er selbst zu sein.

Ist aber ARISTOTELES selbst auch wirklich berechtigt, diesen Freuden objektiv den höchsten Wert zuzuschreiben? Gewiß nicht! Denn er kann unmöglich die Genüsse, die z. B. die Musik gewähren kann, in dem Ausmaß kennen, als sie MOZART kannte, die das Auge bieten kann, in dem Maße als sie LEONARDO kannte, deren Erkenntnis zu ihrem Aufbau ebenso eines Lebens, des Lebens dieser Genien bedurfte; jeder Vergleich ist unmöglich, unmöglich wie jede Vereinigung. Aber selbst das Unmögliche zugegeben: Ein Geist wäre denkbar, der die Freuden und Erkenntnisse des Lebens, der Kunst, der Religion, der Wissenschaft, alle Freuden, die die höchsten Lebenstätigkeiten bieten, in gleichem Maße vereinigen könnte und er wäre noch der Überzeugung, daß die Freuden eines kontemplativen Lebens die höchsten sind: - was wäre damit geholfen? Welche Bedeutung hätte diese Erkenntnis für Menschen, denen vermöge ihrer Eigenanlage jene Erkenntniswelt und ihre Freuden für immer verschlossen bleiben? Sie würden nicht daran glauben.

Diese Fundamentalunterschiede menschlicher Anlagen, Entwicklungen und Neigungen sind auch immer in letzter Instanz der verborgene Grund für ihren ethischen Standpunkt. Die Menschen bilden eben ihre Philosophie nach ihrem Leben und nicht ihr Leben nach ihrer Philosophie und das ist der wahre Grund, warum Stoiker und Epikuräer sich niemals einigen konnten. Wen tiefe Gemütsbedürfnisse und leidenschaftliche Neigungen durchdringen, dem wird eine Schritt in der stoischen Weltanschauung zu tun so schwierig, daß er durch alle Lüste, mit denen sie ihn belohnt, nicht aufgewogen werden kann. Ein Blinder wird nie ein Maler werden wollen. Und in größerer und weiterer Annäherung will dies die objektive Ethik; ein Menschenideal aufstellen unter Vernachlässigung aller individuellen Anlagen und Entwicklungen.

Es heißt: Die  Ethik  kümmere sich nicht um Menschen, wie sie sind, sondern wie sie sein sollen! Woher will sie aber eine Sanktion aufbringen für einen solchen Imperativ; wie kann sie sich vermessen mit ihrer stümperhaften Kenntnis des menschlichen Herzens ihnen ein höheres Glück aufzwingen zu wollen, als ihnen die Natur selbst vorgezeichnet.

Kann sie aber das nicht, so gibt sie jeden Anspruch auf Objektivität auf. Aus dem summum bonum werden summa bona; nicht eines; es gibt nun so viel höchste Güter, als es Menschen gibt. Aber es könnte diese zu bestimmen Aufgabe einer ethischen Disziplin sein? Und wirklich! auch vor dieser Unendlichkeit schreckt die Ethik nicht zurück; auch hier sollen noch allgemeine Vorschriften gefunden werden können. Ist die Objektivität nicht dem Inhalt der Lüste nach zu bestimmen, so kann sie in der Form ihrer Beziehungen gefunden werden; das Prinzip ist für alle Menschen eines und dasselbe; Jedermanns Glück läßt eine Steigerung zu und die Auffindung dieser Relationen, die Aufeinanderfolge der Lüste, welche jeweilig herrschen, welche zurücktreten sollen, könnte Sache wissenschaftlicher Forschung sein. Hätte die Ethik immer so gedacht, sie hätte sich von ihrer Unmöglichkeit längst überzeugt. Aber die Ethiker glaubten bisher, wie es scheint - gleich PLATO - an die Existenz von allgemeinen Ideen, z. B. an die Idee eines allgemeinen Bames, den jeder sich ausmalen konnte, wie ihm beliebte, je nach den Früchten, die jedem am besten schmeckten; waren es Äpfel, so war's ein Apfelbaum und alle anderen Bäume nur mißratene Apfelbäume. Aber dagegen zeigte die Erfahrung, daß kein Gärtner es je vermochte, einen Birnbaum dazu zu bringen, freiwillig Äpfel zu tragen. Wie immer er auch nach dem Grund dieses Eigensinns forschte, weder in den Säften, noch in den Wurzeln, weder in den Zweigen, noch in den Blättern mochte er ihn finden; alles was er tun konnte, war, dafür zu sorgen, daß jeder Baum seine besten Früchte trage und dazu half nichts - als ihn fleißig zu begießen.

Man sollte meinen, daß die Philosophie in Bezug auf allen Formalismus genug gewitzt sei.

Ich greife wieder zu dem denkbar einfachsten Fall. Wir denken uns ein Wesen, das nur einen einzigen Sinn besäße, sehen also z. B. ab von Gehör, Geschmack, Gesicht, von allem und jedem Empfindungsvermögen, ausgenommen dem des Geruchs und denken uns also ein Wesen, dessen ganzes psychisches Leben, wie JAMES MILL sich ausdrückte, nichts als eine Reihe von Geruchsempfindungen sei. Es ist dabei gleichgültig, ob die Lust, die dieses Wesen am Geruch einer Rose hat, größer ist, als am Geruch eines Veilchens, selbst den Fall gesetzt, daß ihm asa foetida [stinkender Teufelsdreck / Doldenblütler - wp] die angenehmste Empfindung erregte; wenn wir es einmal auf seine Neigungen hin geprüft haben, sind wir ohne Zweifel imstande, es durch verschiedene Objekte in einer solchen Weise zu erregen, daß, je nach unserem Belieben, eine größere oder eine kleinere Lust die Folge davon wäre. Wie groß ist nun die Möglichkeit aller in Frage stehenden Kombinationen und welche ist die beste? Eine einzige Lustqualität in ununterbrochener Dauer genossen, würde, vorausgesetzt daß dabei Bewußtsein möglich wäre, in jedem Fall aufhören, als Lust empfunden zu werden. Alle Lust ist, wie alles Leben, durch den Wechsel bedingt. In welcher Reihenfolge werden wir also die Empfindungen einander folgen lassen? Beginnen wir mit einem geringen Lustquantum und steigern es, wenn es sich abgeschwächt hat, zu einem höheren. Jeder solche Unterschied wird Lust erzeugen, bis wir zur höchsten Lust, dessen das Wesen fähig ist, gelangen. Diese würde nun wieder nur eine gewisse Zeit als Lust empfunden werden können und abermals des Wechsels bedürfen; da wir aber über eine höhere nicht mehr verfügen, so sind wir genötigt, um später wieder Lust möglich zu machen, eine niedere eintreten zu lassen, die unser Wesen, im Kontrast zur früheren, als Unlust empfunden wird, wenn sie von der ersteren wenig, als Schmerz, wenn sie davon viel unterschieden ist. Was soll nun weiter geschehen? Sollen wir die ganze Reihe der Lüste wieder zurückgehen, sie in eine Reihe beständiger Unlust verwandeln, um dann wieder von Neuem beginnen zu können oder mit einem Mal die niedrigste Luststufe wählen und dem Wesen die größte Unlust erregen, um ihm dann wieder eine Steigerung, vielleicht auch ein plötzliche, zur höchsten Lust zu ermöglichen? Große Lust von kurzer oder kleine von langer Dauer? Kleiner Schmerz von langer oder großer von kurzer Dauer? Vier Kombinationen sind in diesem Fall möglich; aber damit haben wir das Gebiet aller möglichen Reihen noch lange nicht erschlossen. Wir könnten ja in jene gleichmäßige Reihe Sprünge einschalten, kleinere oder größere, auf eine kleinere Lust oder Unlust größere Steigerungen folgen lassen oder selbst Variationen mit beiden Reihen vornehmen; auf einen Schritt in der Lustreihe einen zweiten in der Unlustreihe, einmal den einen größer und den zweiten kleiner und dann umgekehrt usw. Wir sehen sofort, daß die Zahl der möglichen Permutationen unendlich ist, unendlich selbst für diesen einfachsten Fall, für eine Abstraktion. Wer will sagen, welche Reihe dieser unendlichen Möglichkeiten die gesuchte ist, welche die lustbringendste ist?

Solange aber diese Frage nicht beantwortet wird, ist Objektivität im formalen Sinn ein leeres Wort.

Alles, was diese Fälle miteinander gemein und gemein mit allen höher komplizierten und den Fällen höchst komplizierter Art haben, wo Lüste aller Art, Lusthierarchien und Mittel zu denselben und Mittel zu diesen Mitteln in unendlichen Mannigfaltigkeiten eingehen - ist Mannigfaltigkeit und Wechsel. Über die Art dieser Mannigfaltigkeit etwas sagen zu wollen, ist Vermessenheit.

Aber nicht bloß die Wissenschaft ist außerstande, für unseren Fall Glückseligkeit oder das höchste Gut allgemein zu konstruieren. Vielleicht gelingt es mir, selbst Anhänger für die Meinung zu finden, daß auch die gemeine Erfahrung eine Bestätigung für die Tatsache sei, daß die Menschen eigentlich weder wissen, worin ihr Glück liegt, noch auch es zum Ziel eines rationalen Begehrens machen.

Es ist gewiß für die Wissenschaft erforderlich, jedem Begriff einen völlig bestimmten Inhalt zu geben; deshalb scheint es mir aber nicht weniger wissenschaftlich, einen Begriff, der etwas höchst Unbestimmtes bezeichnet, mit voller Bestimmtheit als einen solchen anzuerkennen. Es ist ein Zeichen sehr schulmäßiger Unwissenschaftlichkeit, den Glücksbegriff, der im Sprachgebrauch als etwas Blindes, Zufälliges, selten Erreichbares und erst nach seiner Erreichung, vielleich am Ende des Lebens, Erkennbares bezeichnet wird, aller dieser Mitbezeichnungen zu berauben und aus ihm, entsprechend jedem System, eine genau abgezählte Lustkombination zu machen, von der dann hinterher bewiesen wird, daß alle Menschen nach ihr streben. GARVE nennt das Glück "einen unerklärlichen, aber allen Menschen verständlichen Begriff" und Philosophen und Dichter lassen uns gleicherweise im Unbestimmten über ihn. Wenn ich mich frage, worin mein Glück bestehe oder den Leser, worin dsa seinige, wissen wir es zu sagen? Ich glaube, die meisten Menschen, wenn man ihnen sagte, worin eigentlich ihr Glück liege, würden es nicht glauben. Oft erscheint es ihnen als fertiges Ding, das so ungefähr am Ende ihres Lebens irgendwo angehäuft liegt, das zu erjagen und zu erringen, zu erkaufen sei: als irgendein Zustand, den sie gerade als besonders lustbringend kennen gelernt haben und den sie dann in alle Ewigkeit verlängert wünschen; die kindischen Vorstellungen vom Leben nach dem Tode bei den meisten Völkern bezeugen dies. Von den Indianern Nordamerikas wird z. B. erzählt (FRANKLIN), daß sie sich das Jenseits als eine ungeheure, mit Zelten besetzte Ebene vorstellen, die, von Wild übervoll, ihnen die beständige Gelegenheit bietet, die Freuden der Jagd zu genießen. LENAU nennt das Glück "einen rätselhaft geborenen und, kaum gegrüßt, verlorenen, unwiederholbaren Augenblick". BYRON nennt es "Intoxikation", SCHOPENHAUER "die Summe des eigenen Wohlseins". Also selbst darüber herrscht Zweifel: ob zum Glück Dauer gehöre oder ob es nur einen Augenblick währen könne. HERBART spricht von innerer Freiheit als dem Zustand vollkommener Harmonie von Einsicht und Willen. KANT nennt Glückseligkeit "das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet". Haben sie uns aber damit gesagt was Freiheit oder Glückseligkeit sei? Wie sieht die Harmonie bei den verschiedenen Neigungen jedes Individuums oder ein angenehmes Bewußtsein aus, das ununterbrochen mein Dasein begleitet? Ich kann wiessen, was mir jetzt angenehm ist oder bisher angenehm war, aber weit entfernt zu wissen, was es mir in Zukunft sein wird, kann ich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob, was ich jetzt für angenehm halte, es mir auch noch in einer Woche sein wird. Die Menschen sind sich darüber einig, daß es nicht nur so viele Glückseligkeiten als Menschen, sondern auch so viele Arten des Glückes als Altersstufen in jedem Leben gibt. Das Glück des Greises ist verschieden vom Glück des Jünglings; Selbstbiographien zeigen, daß der eine das Glück des anderen gar nicht mehr zu verstehen imstande ist. Ich möchte wissen, wenn Menschen die Unsterblichkeit begehren, welches Glück sie sich als verewigt erhoffen, welche Zeit, welche Lust sie dauernd haben wollen: einen Augenblick, einen Tag, ein Jahr? Eine ununterbrochene Annehmlichkeit derselben Art ist ihnen unerträglich; welche Unterbrechungen wählen sie also, welche Lustqualitäten und welche Aufeinanderfolge? Sie wissen es nicht! SPENCER nennt das Leben, die "Anpassung innerer an äußere Beziehungen" und wo diese am vollsten stattfindet, ist Glück. Die Lust, die sich an die möglichst hohe Entfaltung aller unserer Kräfte knüpft, die die vollste Tätigkeitsäußerung begleitet, ist die höchste. Damit ist auch ARISTOTELES' Glücksdefinition in teilweiser Übereinstimmung: Ob wir das Leben der Lust wegen oder die Lust des Lebens wegen begehren, ist ihm ein und dieselbe Frage. Auch die LICHTENBERGs, er sagt: "The whole man must move together", "Zum Menschen rechne ich Kopf und Herz, Mund und Hände; es ist eine Meisterkunst, diese durch Wind und Wetter unzertrennt bis an das Ende zu treiben, wo alle Bewegung aufhört."

PLATO hat in seiner Republik mit dem Wort "harmonisch", das er auf unser gesamtes Handeln angewandt haben will, den Hinweis auf ein ähnliches Glück getan. Ebenso die Stoiker, die nicht in den Zwecken, sondern im Streben selbst das Glück finden wollten.

Gewisse können die Bedingungen des Glücks nur in einem solchen Leben zu suchen sein; aber weiß ich jetzt was Glück ist? Von allen Menschen entspricht vielleicht GOETHEs Leben am besten diesen Bedingungen. Mehr und reichere Fähigkeiten zu besitzen und mehr gleichzeitig durch's ganze Leben auszuüben, ist kaum je einem Sterblichen wieder geglückt; und doch was wußte der WERTHER, der Jüngling, der Dichter, vom Glück des FAUST, des Greises, des Denkens; was weiß die Lust, die GOETHE in den Armen eines Mädchens, von der Lust, die er am Schaffen fand? Wenn uns ein Mensch sagen kann, was Glück ist, so ist es er; und was sagte er am Ende dieses reichen und so voll ausgelebten Lebens? Er weiß von einer glücklichen Stunde, von einem schönen Tag, selbst von einer langen Reihe von schönen Tag, selbst von einer langen Reihe von schönen Tagen zu erzählen, aber was Glück ist, weiß er nicht. Alles, was er sagen konnte, ist: "Ich habe gelebt". Dieser Glücksbegriff fällt aber einer absolut zwecklosen Definitionswut völlig zum Opfer. Wie plump sind Glücksdefinitionen, wie sie die Engländer geben! "Unter Glückseligkeit ist das Vergnügen und die Abwesenheit des Leides verstanden" (MILL) oder BAIN: "Das Plus von Freude über Leid".

Ein Plus von Freude? Also eine erhörte Liebeswerbung einerseits und der Tod eines Freundes andererseits sind Freud und Leid, die einander aufwiegen; eine Freude mehr und dieses Plus ist Glückseligkeit. Und aus solchen Additionsexempeln soll sich menschliche Glückseligkeit zusammensetzen! Wer über sie nicht mehr zu sagen weiß als das, tut besser, nichts zu sagen! Immer sind es nur ihre Bedingungen, über die gesprochen werden kann. Es kann jemand wissen, welche Gerichte ihm munden und auch sie ungefähr in eine Reihenfolge bringen, von der er erwartet, daß sie sein Mahl genußreich machen werde; er muß es aber ganz dem Zufall überlassen, ob und wann seine Befriedigung eine vollständige ist. In gleicher Weise kann eine bestimmte Kombination von Bedingungen mir große Unglück abwehren, mir vielleicht auch eine Befriedigung von längerer Dauer, die Befriedigung eines Stoikers gewähren; mich glücklich zu machen, muß das Schicksal mir behilflich sein.

Wenn ich nun behaupte, daß niemand wisse, worin sein Glück bestehe, woher kommen die Menschen oder besser die Philosophen zu diesem Begriff? Mit dem Begriff des Glücks ergeht es den Philosophen sehr ähnlich, wie es ihnen mi dem Satz des Widerspruchs erging: Sie wissen, daß ein Apfel nicht zugleich eine Birne sein kann, ein Ding nicht zugleich ein anderes, nicht zugleich sein und nicht sein könne; und nun entdecken sie hinterher einmal den Satz des Widerspruchs und plötzlich sollen Alle Alles nach dem Satz des Widerspruchs entscheiden und müssen ihn auch gleich fertig mit auf die Welt gebracht haben. Merkwürdig, daß noch kein Philosoph den Glücksbegriff als einen apriorischen entdeckte! Man hat ihn sehr richig mi dem der letzten Ursache verglichen: was unserem Denken hier mit dem Wort Ursache, ist ihm dort mit dem Wort Zweck begegnet. Wie es alle Ursachen auf eine letzte Ursache bezieht, so bezieht es alle Zwecke auf einen letzten Zweck: das höchste Gut! Dieser letzte Zweck aber ist in jedem Fall für jeden ein anderer. Wenn ARISTOTELES sagt, daß der Sattler dem Reiter, der Reiter dem Feldherrn, der Feldherr dem Staat und der Staat dem Glück der Menschen diene, so verbindet er damit vielleicht einen bestimmten, jedoch einen der Mißdeutung sehr leicht unterworfenen Sinn. Denn Jeder dient eigentlich sich selbst und das Glück, das er dabei genießt, ist ein letzter Zweck. Wenn Jemand aber so einen Selbstzweck hinterher sich zum Mittel macht, so ist er ein solcher nur für ihn, für den, der den bestimmten Zweck setzt. Wenn man sagt, daß die Geometrie der Astronomie diene, so meint man damit nicht, daß ARCHIMEDES seine Kegelschnitte, wenn KEPLER sie nie verwendet, darum weniger entdeckt hätte. Keiner von uns Allen kennt aber den Zweck und so kennt auch Keiner die Mittel, und in diesem Zugeständnis liegt auch hauptsächlich der Grund, warum das Glück immer für unerreichbar gehalten wird.

Wie viel nach dieser Auseinandersetzung noch der Satz, auf den sich die Ethik stützt, wenn sie das Glück rationell konstruieren will: "die Menschen begehren Glück" besagt, bedarf kaum mehr einer Erklärung. Nicht mehr als: sie begehren Lust.

KANT sagt: "Glücklich zu sein ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens". Dieser Satz besagt aber im Grunde eine Unmöglichkeit, da KANT selbst das Begehrungsvermögen definiert als das "Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein", wir aber von unserem Glück eine durchaus ungenügende Vorstellung haben. Es könnte nur eine uns zum Teil schon bekannte, bestimmte Lustkomplikation sein, die wir für eine bestimmte Dauer zu genießen wünschen, durchaus aber kein "angenehmes Bewußtsein, das ununterbrochen unser Leben begleitet" und nichts von alledem, was wir hinter den Bedingungen eines Glücks, wie sie z. B. LICHTENBERG schilderte, annäherungsweise denken konnten: eine Seite der höheren Lebensäußerung, das Leben selbst in irgendeiner Form.

Auch ist der Akt des Begehrens ein viel zu konkreter, um auf Glückseligkeit Anwendung finden zu können. In seiner Definition stimmen die meisten Psychologen überein, daß das Begehren Lust als wesentliches Moment enthalten muß. "Wir können die Begehrungsvermögen geradezu als die Gedächtniskräfte der Lustempfindungen bezeichnen" (BENEKE). "Sind doch alle Begehrungen im Grunde nur die eben entstehenden Formen der Gefühle" (SPENCER). "Die wirkliche (aktuelle) Gegenwart irgendeiner von den Verzeichnissen der Lüste ... treibt uns zur Handlung für ihre Fortsetzung" (BAIN).

Der Satz: die Menschen begehren Glück, kann also nichts weiter bedeuten als: sie begehren immer Lust oder Lust ist immer das Motiv für ihre Willensakte. Wenn wir aber bedenken, ein wie großer Teil menschlicher Tätigkeit und selbst solcher, die gemeinhin moralischer Zurechnung unterworfen wird, nichts weiter als Gewohnheiten sind: ein lust- und überlegungsloses Handeln unter dem bloßen Drang kräftiger Vorstellungen oder Sinneseindrücke, zweckmäßiger Reflextätigkeiten, vererbter Triebe und Instinkte usf., wie gezählt sind die Augenblicke sind, in denen der Geist unseres Lebens rastet und uns Zeit zu Wahl und Überlegung läßt, so müssen wir sagen: Daß die Menschen ihr Glück nicht nur nicht kennen, sondern es kaum begehren und dennoch will man ihnen Bücher geben, in denen sie lesen sollen, was ihr Glück ist und wie sie es erreichen müssen! Jener Satz ist somit nur eine neue Bestätigung dafür, daß der Glücksbegriff, wenn man ihn nicht seiner Lebendigkeit und damit aller Wahrheit berauben will, ein für die Wissenschaft durchaus unbrauchbarer ist und die einzige Norm, die die Handlungen des Einzellebens zu leiten vermöchte, d. h. alle Tätigkeit der Ethik auf diesem Gebiet ist damit eine unmögliche geworden.


Unlösbarkeit der Frage nach der objektiven Güte von Handlungen
unter der Voraussetzung eines äußersten Altruismus.

Wir betrachten nun wieder, um die Untersuchung möglichst zu vereinfachen, als eine zweite Abstraktion, im Gegensatz zur vorigen, ein Individuum in einer staatlichen Verbindung, dessen Handlungen aber ohne jegliches egoistisches Motiv, unter der Voraussetzung äußerster Opferwilligkeit, ausschließlich auf den Nutzen seiner Mitmenschen zielend, den Ausfluß des vollkommensten Gewissens repräsentieren. Die Frage ist: welcher Art Ratschläge sind es, die die Ethik einem so gestalteten Gewissen geben kann.

Über die Begriffsbestimmung des Wortes: gut, was die Menschen darunter verstehen (nur darum kann es sich handeln, denn alles andere wäre Willkür), ist wenigstens die englische Psychologie in letzter Zeit zu einem Resultat gekommen, das die größtmögliche Bestimmtheit, die dieser Gegenstand zuläßt, zu bieten scheint. Ich sage abermals die Psychologie, nicht die Ethik; denn diese begnügt sich so wenig als die Ästhetik, welche mutatis mutandis [das zu Ändernde geändert - wp] dieselben Vorwürfe in allen Punkten treffen, mit einer Definition des allgemeinen Begriffs. Es genügt ihr nicht, zu wissen, was ein Tisch, ein Baum, ein Wald ist, sie will, trotz der Unmöglichkeit solcher Bestimmungen, Definitionen für alle möglichen Gattungen von Tischen, Bäumen und Wäldern geben, wie sie sind und wie sie sein sollen.

Aber das Wort: gut, definieren, d. h. sagen, welcher Art Urteile es sind, was sie alle miteinander gemein haben, die die Grundlage der, möglicherweise ihrer Entstehung nach erklärbaren moralischen Gefühle bilden, ist eine Frage rein psychologischer Natur. Sie ist gelöst.

Alles was den Gewissensgefühlen aller Zeiten und Zonen, das Zufällige, von religiösen Gesetzes-, Standes-, Familienvorteilen usw. mit eingeschlossen, dem Begriff des Guten innewohnt oder besser, was den, unseren Gewissensgefühlen zugrunde liegenden Urteilsphänomenen gemeinsam ist, ist eine Tendenz auf den Nutzen unserer Mitmenschen.
    "Es gibt keinen Gegenstand, in Betreff dessen die Menschen aller Zeiten und Völker in so vielen Punkten übereinstimmen, wie gerade in Bezug auf die allgemeinen Regeln des Handelns und die Eigenschaften des menschlichen Charakters, welche Achtung verdienen. Selbst die ärgsten Abweichungen von der allgemeinen Übereinstimmung werden bei genauer Prüfung nicht so sehr als eine Verderbnis der moralischen Gefühle erscheinen, als vielmehr entweder als Unkenntnis von Tatsachen oder als Irrtümer hinsichtlich der Folgen des Handelns oder als Fälle, in denen sich die dissentierende Parteil mit anderen Teilen ihrer eigenen Prinzipien im Widerspruch befindet, was den Wert ihrer abweichenden Meinung aufhebt, oder wo jeder Dissentierende von allen anderen Dissentierenden verdammt wird, was die gegen ihn stehende Majorität unermeßlich vermehrt ... Die Stämme, welche neugeborne Kinder aussetzen, verurteilen die, welche ihre abgelebten Eltern umkommen lassen. Diejenigen, welche Fremde betrügen und ermorden, weerden von den Regeln der Treue und Menschlichkeit verurteilt, welche sie im Verkehr mit ihren Landsleuten selbst anerkennen; fast jede Abweichung, die man der einen jeder beiden Nationen zur Last legt, steht im Widerspruch mit Tugnden, die von beiden mit Recht geschätzt werden, so daß die gegenseite Verurteilung ihrer bezüglichen Verirrungen, die sich aus jener Darstellung erhellt, uns dazu ermächtigt, in Betreff dieser Punkte die Stimmen beider auszustreichen" (MACKINTOSH).
Soweit können auch wir uns dem Utilitarismus uns anschließen und ihn anerkennen als ein Prinzip der Erklärung moralischer Urteile; jedoch ist davon zu unterscheiden, was gewöhnlich nicht geschieht, Utilitarismus im JOHN STUART MILLschen Sinn, der als ein ethisches System mit einem sanktionierten Imperativ auftritt und eine allgemeine Norm für das Handeln geben will. Im weiteren Verlauf wird klar werden, was ich hier meine; einstweilen wollte ich nur sagen, was ich nur utilitarisch erklären konnte, welcher Art die Güte jenes Wesens ist, das wir uns nunmehr handelnd vorstellen wollen.

Alle Handlungen, die wir jenem vollkommen guten Gewissen entsprungen denken, sind ausschließlich solche, die den Nutzen der Mitmenschen beabsichtigen. Ich sage beabsichtigen: denn ein fallender Stein kann Nutzen oder Schaden verursachen, aber er handelt nicht; er ist kein Objekt ethischer Beurteilung. Auch wird niemand dadurch vollkommen, daß er immer die nützlichsten Handlungen vollbringt (er könnte, ja dabei durch egoistische Motive geleitet werden), sondern dadurch, daß immer die beste Absicht sein Handeln leitet. Es kann eine Handlung für nützlich gehalten werden, deren Folgen unsägliches Unglück verursachen und doch kann der Handelnde völlig gut gehandelt haben. Das Gute drückt ja eine Willenseigenschaft, ein Willensverhältnis aus und kann nie aus den Folgen beurteilt werden. Die Beurteilung aus den Folgen wäre keine moralische, sondern eine utilitarische. In rein ethischem Sinn kann es daher eine unendliche Mannigfaltigkeit vollkommenster Gewissen geben. Die ganze Stufenleite von einem Heiligen bis zu einem Kannibalen. Welcher Art sind nun die Fragen, die ein in solchem Sinne absolutes Gewissen an die Ethik stellen, welcher Art die Objektivität, die die Ethik in Beantwortung derselben erlangen kann?

Der einfachste Fall wäre der: Jenes Wesen wird wankend, welche von zwei Handlungen die bessere ist: es ist zweifelhaft, ob es Almosen einem Armen geben, oder dieselbe Summe verwenden sollte, einem verwahrlosten Geschöpf religiösen Unterricht zu erteilen. Die Frage ist keine übermäßig dialektische, denn ich wiederhole, zur Entscheidung, ob jemand seinen Nächsten töten dürfe oder nicht, brauche ich keine Ethik; jene Fragen muß sie entscheiden oder sie ist zwecklos. Die Beantwortung der vorliegenden Frage nun lautet: Ohne Zweifel dem Bedürftigeren oder wer größeren Anspruch auf jene Summe, d. h. wer den größeren Nutzen davon hat. Welche Handlung ist nun die objektiv bessere? die weisere, war die Antwort, desjenigen, der am richtigsten urteilt, der am Besten die Folgen seiner Handlung vorauszusehen weiß. Aber was hat die Weisheit mit der Güte einer Handlung zu schaffen? Sie ist nicht besser, als die des Dümmsten, wenn beider Absicht dieselbe ist und meine objektive ethische Beurteilung ist zu Ende. Sie war, wie alle ethische Beurteilung keine objektive, sondern notwendig subjektiver Natur, objektiv war in ihr nur das utilitarische Moment; denn ich beurteilte lediglich den Intellekt mittels dessen die Kausalität, die Folgen, die größere oder geringere Nützlichkeit von Handlungen beurteilt wird. Diese Objektivität ist in unserem Fall die einzig denkbare und es erübrigt uns nur mehr die eine Frage, welche Art allgemeiner Behandlung diese zuläßt.

Es ist klar, daß alle Voraussicht, die uns Phänomene so komplexer Natur, wie sie hier in Frage stehen, gestatten, sich selten weiter als bis zum ersten Glied einer ins Unendliche sich verzweigenden kausalen Kette erstrecken kann. Angenommen, es könnte mir durch die sorgfältigsten Nachforschungen gelingen, das Maß der Bedürftigkeit zweier Menschen richtig zu bestimmen, so hätte ich damit doch nur ein Gewissen befriedigen können, das über eine sehr beschränkte Voraussicht zu verfügen imstande ist. Der bedürftigere Arme kann der schlechtere sein und mein Almosen vergeuden, während der andere es verwendet hätte, seine Lage zu verbessern und sich dadurch seiner Familie nützlich zu machen. Um wieviel steigert sich die Unmöglichkeit allgemeiner Entscheidungen, wenn Dinge verglichen werden sollen, wie Erziehungswerte und Körperempfindungen, wenn nicht bloß einzelne Handlungen, sondern das ganze Individuum beurteilt werden soll; wenn Berufe verglichen werden sollen, welche Lebenstätigkeit die nützlichere ist, die des Dichters, des Landmanns, des Feldherrn oder Philosophen?

Die Fälle sind in concreto immer von so komplexer Natur, wie die Fragen nach den Ehescheidungs- und Religionsgesetzen. Um ein Beispiel zu geben: es ist bekannt, daß WINCKELMANN Katholik geworden ist in der Absicht, sich in Rom den Zutritt zu den Geistlichen und ihren Kunstschätzen zu ermögliche. Die reinste Absicht seines Gewissens vorausgesetzt, ist die Frage, die ihn bedrängen konnte, folgende: Wie weit kann der Schaden, den ich durch dieses Beispiel von Irreligiösität der Gesamtheit der Gläubigen gebe, durch den Nutzen, den ihnen meine Arbeit bringt, aufgewogen werden? Die Entscheidung der Frage setzt eine Berücksichtigung zahlloser Faktoren voraus, beispielsweise: ist den Menschen ihr Glaube oder das Wissen nützlicher? Wie tief wurzelte in der damaligen Zeit der Glaube noch in den Gemütern? Wie viele Menschen wurden beeinflußt vom Beispiel WINCKELMANNs und der Art seiner Forschungen? Inwieweit sind sie geeignet, noch spätere Zeiten zu beeinflussen?

Jeder mittelmäßige Dialektiker wird sich gern erbötig machen ein Buch dafür und eines dagegen zu schreiben und beide Entscheidungen müssen letztlich in Subjektivität endigen. Wer aber glauben will, daß diese Frage entscheidbar sei, der hat damit noch immer nicht die Möglichkeit eines ethischen Systems dargetan. Ein ganzes Zeitalter könnte ja mit der Abfassung eines solchen Kodex nicht zu Ende kommen und ein nächstes könnte es nicht mehr gebrauchen. uch wird sich eine Wissenschaft nicht zu lösen anmaßen, was eigentlich die praktische Arbeit der ganzen Menschheit ist; denn diese Art von Nützlichkeiten sind es, die unsere praktischen Behörden jeweilig zu entscheiden bestellt sind und denen die juristischen praktischen Disziplinen ihre Existenz verdanken. Auch sprechen wir beständig davon, anderen zu nützen, ohne uns auch nur zu fragen, was in wissenschaftlichem Sinne nützen heißt? Allerdings weiß jeder was einem anderen nützen, heißt; will sich aber die wissenschaftliche Kasuistik dieses Begriffs bemächtigen, um allgemeine Regeln aufzustellen, so zerstäubt er in nichts. Wozu soll eigentlich den Menschen genützt werden? Letztlich ihnen Lust oder die Mittel zur Lust zu gewähren, aber zu welcher Lust? Zur höchsten? Welche ist ihre höchste Lust? Das kann nur den Sinn haben, zu ihrem höchsten Gut, zu ihrer Glückseligkeit und wir gelangen hier wieder zu jenem höchsten Gut, dessen Erforschung wir als eine unmögliche erkannten. Und es ist nicht bloß das höchste Gut des Einzelnen, wir würden sofort zur Frage nach dem Glück der Menschheit, der "Gesamtheit aller fühlenden Wesen", nach dem Weltglück geführt. Hier hat aber der menschliche Geist seine Grenzen gefunden und jedermann wird zu denken aufhören, der nicht entscheiden muß, was unentscheidbar, dem nicht das Denken lieber ist als die Wahrheit.


Unlösbarkeit der Frage nach den Grenzen
egoistischen und altruistischen Handelns.

Bevor wir untersuhen, welcher Art die Ratschläge sind, welche die Ethik einem Individuum geben kann, das unter dem Einfluß beider im Vorausgehenden einzelne untersuchten Motive handelt, ist es nötig, die Vorfrage nach dem sogenannten Parallelismus altruistischen und egoistischen Handelns zu beantworten. Die Frage ist: wie weit unser altruistisches Handeln ein Mittel ist, egoistische Zwecke zu erreichen. Daß absolut egoistisches Handeln im staatlichen Zusammensein dem Glück des Einzelnen nachteilig ist, darüber ist man einig. Daß absolut altruistisches Handeln schädlich sei, bedarf, weil noch immer ethische Systeme von dieser Voraussetzung ihre Möglichkeit und für ihre imperative Sanktionen herleiten, des Beweises.

Wir werden also die folgenden Punkte zu besprechen haben:
    1. Daß eigenes Glück auch durch fremdes Unglück erreichbar und überhaupt ohne dasselbe im jetzigen Zustand unserer Entwicklung unerreichbar ist.

    2. Daß eigenes Glück in sehr hohem Maße erreichbar ist, ohne fremdes zu erstreben.

    3. Daß eigenes Glück in den meisten Fällen mit dem Streben nach dem Glück anderer unverträglich ist
. Daß der erste Punkt unserer Behauptung nicht immer Anerkennung gefunden hat, liegt einfach in dem Umstand, daß die Ethiker den Menschen beständig vorschreiben, wie sie glücklich zu sein haben; daß sie, wie wir vorher nachgewiesen haben, von der besonderen Entwicklung jedes Individuums völlig absehend, sich ein Bild dessen konstruieren, was sie vollkommen nennen und nun sich berechtigt halten, jede, der ihm nicht entspricht, für unglücklich zu erklären. Wie ein Blinder aber die Freuden des Sehenden unmöglich schätzen kann und sein volles Glück in der Lust finden muß, die ihm seine anderen Sinne bieten, wird auch ein Mensch mit mangelhaften sympathischen Gefühlen wegen dieses Mangels nicht unglücklich sein müssen. Ja selbst wenn die Gefühle eines Menschen so weit verkehrt ausgebildet wären, daß er eine positive Lust am Leiden seiner Mitmenschen hätte, so ist nicht einzusehen, warum er die aus diesen Anlagen entspringenden Freuden nicht jenen sympathischen vorziehen sollte, die er an anderen nur sehr mangelhaft wahrzunehmen imstande ist. Es ist eines der seichtesten Argumente gegenüber jenen Ethikern, welche behaupten, daß jede Lust ein Gut sei, zu sagen, die Lust am Bösen sei keines - denn abgesehen davon, daß diese Frage gewöhnlich nur dort aufgeworfen wird, wie es sich um sogenannte Begründungen der Ethik, vornehmlich also darum handelt, was ein Gut ist, also keine Partei schon in Vorhinein ihm einen besonderen Sinn unterzulegen berechtigt ist - ist leicht zu zeigen, daß die Lust am Bösen unter Umständen eine Lust wie jede andere sein kann. Man denke sich einen Menschen, wie NERO, der höhere Lüste (höher im utilitarischen Sprachgebrauch genommen) nicht kennt und auch nicht die Fähigkeit hat, sie jemals kennen zu lernen, der aber jede Art niederer Lüste bis zum Übermaß genossen hat und nun in einen Zustand der Apathie verfällt, der ihm zeitweilig den Gedanken an den Selbstmord als Mittel der Zerstreuung und Erregung als einen willkommenen festhalten läßt. Wer will einem solchen Elenden begreiflich machen, angenommen er haben keine Rache zu befürchten, daß es keine Lust sei, wenn er nun in den Martern und Todesqualen anderer Menschen einzig diese Zerstreuung, die Rettung aus jenem furchtbaren Zustand findet?

Die Tatsache steht fest: Für das Glück, dessen Menschen, wie NERO fähig sind, ist die Lust am Bösen ein Hauptsummand. Eine entfernte Annäherung an diesen Zustand und die weit weniger selten ist, als die Ethiker zu glauben geneigt sind, bezeugt die maßlose Empfindungsunfähigkeit, die die meisten Menschen für fremdes Unglück an den Tag legen. Ihre Phantasie ist nicht imstande, sich in die Lage jener zu denken, auf deren Elend sie beständig ihr eigenes Glück aufbauen. Was soll sie auch hindern, wenn Mangel an sympathischen Gefühlen die Erkenntnis dieses Zustandes ihnen unmöglich macht?

Wir leben alle, die Gebildeten wissend, die anderen unwissend und darum von Schuld und Qualen freier, in einem ähnlichen Zustand. In jedem Land, das bei allem Aufwand von Arbeit nur Nahrung für ein bestimmtes Quantum Menschen gibt, das aber ein größeres Quantum Einwohner hat, ist die Vernichtung des Überschusses die Bedingung der Existenz für alle anderen, weil eine gleiche Verteilung die Vernichtung aller bedeutete. Da aber bei mangelnder Kontrolle selbst von diesen unzureichenden Existenzmitteln noch von manchen großer Überfluß erworben wird, so kann dieser wieder nur auf Kosten fremden Unterhalts, d. h. anderer Existenzen erworben und genossen werden.

Der Fall ist in Europa kaum anders, wo tatsächlicher Mangel an Existenzbedingungen - nicht bloß an Befriedigungsmitteln menschwürdigerer Bedürfnisse - noch herrscht.

Der Kampf um Existenzne und ihr Untergang ist nur kein so augenfälliger; man kann nicht sagen, daß von unseren 300 Millionen alle Jahre 3 Millionen Menschen verhungern; er tritt in der Form auf, daß die durch die Armut notwendig werdende Vernachlässigung von Kranken und Kindern in den arbeitenden Familien ein langsames Verkommen zur Folge hat, dem z. B. allein in den Fabriksstädten Englands alljährlich viele Tausende zum Opfer fallen. Dieser Zustand wird umso entsetzlicher, je mehr er beginnt, sich der moralischen Gefühle der Majorität zu bemächtigen. Bisher bedeutet noch selbst für die Fälle äußerster Verschwendung, wo Arbeit nicht geschont oder auf unbrauchbare Weise vergeudet wird, wie dies die Unbildung und die leichtfertigen Sitten unserer Reichen und Höfe oft mit sich bringen, Recht und Sollen nichts, weil ja hier die Wurzeln liegen, wo diese Begriffe sich bilden; die soziale Entwicklung und die fortschreitende Erkenntnis dieses Zustandes zeigt aber die immer wachsende Tendenz, diese Begriffe umzubilden und ihnen im utilitarischen Sinn auch Gesetzesform zu geben.

Der zweite Punkt ist einleuchtender, als der erste. Menschen sind nicht nur allezeit, ohne im Entferntesten das Glück anderer zu erstreben, glücklich gewesen, sondern gerade das höchste Ausmaß von Glück, dessen sie fähig waren, ist ihnen zu erreichen oft nur auf diese Weise gelungen. Damit ist nicht gesagt, daß das Glück der Gesamtheit dabei immer leer ausgehen mußte; im Gegenteil haben oft gerade jene Werke, die ihre Entstehung lediglich dem Vervollkommnuns- und Glückseligkeitsdrang des Einzelnen verdanken, dieser den größten Nutzen gebracht. Nur strebten sie nicht nach diesem Nutzen. Ich möchte wissen, ob der Welt auch wirklich mehr genützt würde, wenn die Menschen immer, statt in "egoistischer" Weise den größten Teil ihres Lebens mit der Befriedigung ihres Tätigkeitsdranges, ihrer Erkenntnislüste, mit keiner anderen Norm als der ihres nimmersatten Strebens zuzubringen, nach dem Nützlichkeitsprinzip lebten! Alle Kämpfe und alle Selbstverleugnung, die die größten Geister auf sich genommen haben, galten vor allem der Wahrheit und ihrem eigensten Glück - was sie um anderer willen getan haben, ist der geringste Teil. Wir tun eben alle das, wozu wir am meisten Lust haben, der Menschenfreund nicht weniter, als der Räuber. Und wenn des einen Tätigkeit sich hinterher als nützlicher erweist, so kann das vielleicht die moralische Beurteilung, aber nichts an der Tatsache ändern. Ein Denker wäre nicht weniger glücklich, wenn seine Forschungen falsch und, wie die pessimistischen Systeme, der Welt von entschiedenem Nachteil wären; die Entselbstung eines Inders, die Askese eines Christen würden beide kaum unglücklicher Machen, wenn sie begreifen könntn, daß sie der Welt dadurch nichts genützt haben. Wenn SPINOZA das höchste Glück des Menschen in einer einsamen Masse, fern vom Treiben der Menschen, im Aufgehen seines Seins in Gott erkennt; (SPINOZA und DESCARTES wollten ihre Schriften, weil ihnen jede Störung verhaßt war, entweder gar nicht oder erst nach ihrem Tod veröffentlichen.  Bene vixit, qui bene latuit  [Wer sich gut im Verborgenen gehalten hat, hat gut gelebt. - wp] DESCARTES' Grabinschrift); wenn die christlichen Ethiker in der Andacht, in einem einzigen Gedanken eine Seligkeit fanden, die ein ganzes Leben auszufüllen groß genug war, wenn Dichter die Augenblicke göttlicher Eingebung, Denker das Anschauen der Wahrheit und ihre Erkenntnis priesen als das letzte Ziel ihres Strebens, wieviel strebten sie alle nach dem Nutzen der Menschheit? Waren sie aber darum nicht glücklich? Es ist kein geringes Teil des Glücks, das wir auf diese Weise zu erlangen fähig sind und wenn wir nicht  mehr  wollten, als selbst glücklich zu sein, gäbe es sehr wenige Handlungen, die wir für andere zu tun genötigt sind und statt immer für den Nutzen Aller werden wir einige male für den Nutzen Einiger handeln müssen.

Die meisten Menschen kommen vortrefflich aus in der Welt mit einem sehr mäßigen Quantum altruistischer Tätigkeit; sind sie damit keines sehr hohen Glückes fähig, so größtenteils ihre Anlagen und sonstigen Unvollkommenheiten daran Schuld, selten aber ihr Mangel an Liebe und Sympathie.

Jeder möge sich ernsthaft fragen, wie vie er anderen in seinem Leben genützt hat und er wird sich gestehen müssen, daß, wenn sein Glück wirklich einzig davon abhängig wäre und der Lohn seines altruistischen Handelns sein sollte, es ein ganz Anderes sein müßte, als es tatsächlich ist. Negativer Altruismus, einfache Gerechtigkeit in dem Sinne, wie es Staats- und Gesellschaftsgesetze gebieten, ist gewöhlich alles, was die Leute fordern und geben.

Noch bedarf der dritte Punkt einer Besprechung. Das Glück anderer kann in den meisten Fällen nur auf Kosten des eigenen erstrebt werden. Dieser Satz ergibt sich aus dem Punkt 1, in dem ich mich nachzuweisen bemühte, daß im jetzigen Zustand unserer Entwicklung nicht bloß ein glückliches Dasein, sondern oft die Existenz überhaupt von Bedingungen abhängig ist, die nicht für alle erfüllt werden können. Das ist der Zustand, der von der modernen Wissenschaft als "Kampf ums Dasein" bezeichnet zu werden pflegt und von dem einige voraussetzen, daß er einen beständigen "Anpassungsprozeß" darstelle und so die Menschheit nach bestimmten Gesetzen zum Glück führen müsse.

Für uns handelt es sich aber nur um den jetzigen Zustand der Dinge und auch die Anhänger einer teleologischen Weltansicht stimmen darin überein, daß wir von jenem Gleichgewicht feindlicher Kräfte noch zu weit entfernt sind, um ein ethisches System darauf bauen zu können. Wer z. B. die statistischen Berichte Ost-Asiens aus den Jahren 1865 - 1875 kennt, weiß, daß in einem Jahr in China allein über 2 Millionen Menschen dem Hungertod erlegen sind; ohne diesen Umstand in pessimistischem Sinne ausnützen zu wollen, möchte ich nur deshalb darauf hinweisen, um aus dem Umfang von für unsere Verhältnisse noch oft nötigen "Anpassungsakten", auf die Entfernung jenes "Gleichgewichtszustandes" schließen zu lassen. Aber selbst aufgrund dessen, was ich über europäische Verhältnisse gesagt und was leicht betreffs jedes Landes im Einzelnen durchzuführen wäre - das Elend tritt je in den reichsten Ländern auch in Form von Krankheit, Krieg, Knechtschaft, Familien- und Einzelverhältnissen auf, - wird man sich überzeugen können, daß ernstlich das Glück anderer erstreben, einfach heißt, sich in irgendeiner Form zu opfern und zwar im Fall mit China, wo voraussetzlich durch keinerlei angestrengte Geistesarbeit oder selbstlose Produktion dem Übermaß von Elend zu steuern ist, da durch daß der Bevölkerungsüberschuß einfach dem Leben entsagt und den für ihn nötigen Bedarf anderen überläßt.

Damit ist nun wieder nicht gesagt, daß überhaupt durch die Förderung fremden Glücks eigenes nicht erlangt werden könne: ganz im Gegenteil glaube ich, daß ein hohes Ausmaß menschlichen Glücks und menschlicher Vollkommenheit, wie deren nur wenige Sterbliche fähig waren, nur im staatlichen Leben, im Verein mit unseren Mitmenschen, durch ihre und unsere eigene Liebe erreicht werden könne; ich führe nur die Gründe an, warum in so vielen Fällen das Glück, das unser altruistisches Streben begleitet, das daraus entspringende eigene Unglück nicht aufzuwägen imstande ist; sie sind außer den vorgenannten noch zahlreich. Einmal ist, wie aus unserer Auseinandersetzung über die Natur des Glücks ersichtlich wird, die Schwierigkeit, anderen Glück zu verschaffen und von anderen Glück zu erlangen, in keinem Verhältnis größer, als jene, uns selbst glücklich zu machen. Der größte und dauerndste Aufwand eigenen Glücks kann in den meisten Fällen nur wenige Mittel vorübergehenden Glücks für andere schaffen. Weiters ist, die Möglichkeit einer Erwiderung getaner Dienst seitens unserer Mitmenschen und ihre Dankbarkeit immer vorausgesetzt, ein Ausgleich und eine Kontrolle dessen, was wir für andere getan haben, in den seltensten Fällen möglich und die Wahrscheinlichkeit, schlechter als besser belohnt zu werden, ist, wie die Umstände jetzt sind, eine ungleich größere. Und endlich sind unsere sympathischen Gefühle nicht in der Ausdehnung und ihre Lustpotenzen bei den meisten Menschen nicht in der Intensität vorhanden, als die Ethiker voraussetzen. Besonders dieser letzte Punkt bedarf noch einer weiteren Ausführung.

Die verschiedenen Menschen sind sympathischer Gefühle in sehr verschiedenem Maße fähig; ein Gutteil der Menschheit kennt sie nahezu gar nicht und ganze philosophische Schulen hielten es sogar für eine notwendige Bedingung des Glücks, sie auszurotten. Das beste Zeugnis dafür, wie sehr z. B. utilitarische Ethiker (MILL) unsere altruistischen Potenzen überschätzen, ist, daß sie den biblischen Imperativ "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" ihrem System dienstbar machen wollen. Selbstverständlich besagt dieser Satz, der seine Pflicht auf große Massen zu wirken gewiß aufs Beste erfüllt hat (und ich ließe ihn am liebsten unangetastet, wenn er nicht so viel wissenschaftlich mißbraucht würde) eine psychologische Unmöglichkeit. Das Wort "Liebe" in gleichem Sinne für uns selbst und andere zu gebrauchen, ist wissenschaftlich völlig unzulässig. Ich kann einen Menschen, einen apriorischen Faktor beim Zustandekommen dieses Gefühls angenommen oder nicht, nur insofern liebe, als er viele Lustvorstellungen in mir begründet hat; wie kann aber ein auf eine fremde Person sich beziehender Vorstellungskomplex mit meinem eigenen sich messen wollen? Die Liebe zu mir selbst ist unendlich und schlechterdings  inkommensurabel,  denn jede Handlung, jeder Atemzug ist ihre Äußerung.

Übrigens begnügte sich COMTE auch mit diesem Imperativ nicht; er verlangt, daß wir für uns selbst gar keine Liebe erübrigen sollen.

Ein anderer biblischer Imperativ ist folgender: "Tue so, wie du willst, daß andere dir tun," der wohl etwas ganz anderes besagt und vom früheren ebenso verschieden ist, als dieser vom bekannten: "Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem andern zu." Für den ersten reichen unsere sympathischen Gefühle gewiß nicht, der letzte ist zu eng für sie und so werden wir uns am besten an den zweiten zu halten haben und das Maß von Glück, das seine Befolgung gewährt, ist ungefähr dasjenige, das wir in unseren Verhältnissen voraussetzen können. Das Zustandekommen sympathischer Gefühle is von so vielen äußeren und inneren Bedigungen abhängig, daß die Wahrscheinlichkeit eine sehr geringe ist, daß das Unglück, das sie fast notwendig in ihrem Gefolge haben, durch ihre Intensität und Ausdehnung aufgewogen werde. Da alle sympathischen Gefühle notwendig reproduktive Gefühle sind, so sind sie ingesamt den Gesetzen und Modifikationen einfacher Gefühle unterworfen. Auch zeigt die Psychologie, an wie viele Bedingungen Reproduktionserscheinungen geknüpft sind, um wie viel sie schwächer sind als die ursprünglichen, wie variabel diese Fähigkeiten bei den verschiedenen Menschen, wie verschieden beim Einzelnen in den verschiedenen Altersperioden, wie verschieden sie selbst für verschiedene Gefühlszustände, für verschiedene Lustqualitäten sind. Die Modifikationen nun, welche diese Reproduktionserscheinungen erfahren, wenn sie durch andere Menschen sympathisch verursacht werden, sind unzählig. Vor allem ist jedes Gefühl, jede Vorstellung, die wir nicht irgendwie an uns selbst erfahren haben, für uns einfach nicht da und weder von einem Mitgefühl, noch von einem daran sich knüpfenden Glück kann die Rede sein. Des weiteren kann von ihm nicht die Rede sein, sofern wir den Ausdruck, dessen ein Gefühl sich bei anderen bedient, nicht kennen oder erkennen; ebenso nicht bei Menschen, die für ihre Gefühle mangelhaften oder einen dem unseren verschiedenen Ausdruck oder die die Fähigkeit, sie zu unterdrücken geübt haben. Wir werden daher anderen Nationen, Menschen verschiedener Lebensstellung, dem anderen Geschlecht, verschiedenen Altersstufen in diesem Punkt eine nur sehr mangelhafte Auffassung entgegenbringen können und wenn nicht ein günstiger Zufall alle nötigen Bedingungen vereint, unsere Aufmerksamkeit nicht abgelenkt und durch besondere Ereignisse nicht gestört wird, werden wir nicht imstande sein, von sympathischen Gefühlen in jener Ausdehnung und Intensität zu sprechen, daß ihr Genuß unsere Leiden aufwiegen oder unsere egoistischen Freuden übertreffen könnte. Der ausschließliche Gegenstand menschlicher Neigungen ist meist der Nächste im eigentlich superlativischen Sinne und es gilt schon als eine große Tugend, wenn ein ernstes Opfer zu seinen Gunsten erforderlich ist und unsere Liebe dazu noch stark genug ist.

Wir könnten somit das Resultat dieser Untersuchung in die folgenden Punkte zusammenfassen.
    1. Tugend und Glück sind Begriffe, die, obgleich sie sich nicht immer ausschließen, sich doch nur in seltenen Fällen decken.

    2. Die Grundlage der Moral und das höchste Gut, Begriffe, die von den meisten ethischen Systemen beständig identifiziert werden (in neuester Zeit noch von FECHNER "Über das höchste Gut", Seite 1 und von JOHN STUART MILL "Utilitarismus") sind zwei wesentlich verschiedene.

    3. Genügt für die Ethik nicht bloß die Annahme einer teleologischen Hypothese, welcher zufolge Lust und Nützlichkeit, das Streben nach eigener und jenes nach fremder Förderung sich einem Zustand des Ausgleichs nähern, (da in diesem Falle das Prinzip erst für spätere Generationen brauchbar und sich kein Mensch jetzt schon entschließen würde, es anzunehmen), sondern erst durch die Annahme einer theologischen Weltanschauung, welcher zufolge die Mißakkorde unseres gegenwärtigen Daseins in einer künftigen Fortexistenz ihre Lösung fänden, könnten solche Prinzipien haltbar werden. Eine wissenschaftliche Ethik darf sich dieser Ansicht nicht anschließen und verliert damit die Möglichkeit in der Form eines einheitlichen ethischen Systems aufzutreten.

    4. Fällt einer der wesentlichsten "Grenzpfähle" und "Wegweiser" ethischer Führung dadurch, daß der Maßstab des größten eigenen Glücks, der eigenen Vollkommenheit ihr nicht mehr dienstbar ist. Das private Handeln jedes Individuums hätte sich unmittelbar nach dem Nutzen der Gesamtheit zu richten; wenn man sagt, jeder habe seine eigene Vollkommenheit zu erstreben, weil er nur so der Gesamtheit möglichst großen Nutzen bringen kann, so ist dies eine Äquivokation [zwei verschiedene Dinge - ein Begriff; wp]; denn entweder diese eigene Vollkommenheit ist Unvollkommenheit, weil sie ihr maß lediglich im Nutzen einer jeweiligen, sehr unvollkommenen Umgebung suchen muß, oder wenn eigenes Glück ihr Maß bildet, sie gewiß der Gesamtheit nicht den größtmöglichen Nutzen bringt.

    5. Alle auf Altruismus sich beziehenden Imperative, wenn darunter etwas anderes verstanden wird als der Ausdruck unserer Gewissensgefühle, können nur eine egoistische und werden somit in den meisten Fällen keine Sanktion finden.
Nur den Gewissensgefühlen, mögen sie sich nun äußeren in der Form von Achtung vor dem Gesetz, Liebe zum Guten oder als einfache Nächstenliebe, kann das Prädikat von ethischen Imperativen zukommen, alle anderen sind utilitarisch. Der eine Imperativ heißt, du sollst gut, der andere, du sollst nützlich handeln. Der erste bedarf keiner Sanktion, er heißt nicht viel mehr, als daß die Lust mir angenehm sein soll: die Lust am Guten, die eben ethische Handlungen charakterisiert und die sie zum Motiv haben.

Für den anderen, wie ihn im staatlichen Zusammenleben die Gesamtheit uns oft auferlegt, ist ausschließlich der Egoismus Interpret und dieser Imperativ verliert jeden Sinn, sobald er das Gebiet egoistischer Sanktion verläßt. Die Ethik bediente sich meistens Vorschriften letzterer Art; sie wollte Handlungen vorschreiben, die in der Menschennatur ohne alle Motive entstehen und den Charakter einer völlig sinnlosen Güte nicht dadurch verlieren sollten, daß sie, als im Egoismus wurzelnd, sich entpuppen konnten. Wäre dies die Bedeutung, die das Wort gut im Sinne der Menschen hat, so würde es der Ethik unmöglich, solche Handlungen als zweckmäßig vorzuschreiben. Wie gut aber in allen ethischen Systemen dieser Fehler ihnen selbst und meist auch ihren Urhebern verborgen liegt, mag ein Beispiel aus einer Schrift eines Utilitariers (GYZICKI "Die Ethik David Humes") zeigen, welcher in seinem Eifer für MILL ihm die Frage nach dem Warum des Sollens nicht einmal gestatten und sie damit umgehen will, daß er sie in eine frühere Generation zur Beantwortung zurückzuschieben sucht. GYZICKI sagt: "Sucht jedem Menschen von Kindheit auf das Bewußtsein der Einheit mit seinen Mitmenschen tief und immer tiefer einzuprägen, sucht alle die ursprünglichen Potenzen in seiner Natur, welche ihn diese Einheit bereits empfinden machen, mehr und immer mehr zu verstärken, sucht in ihm ein religiöses Gefühl von der Heiligkeit des höchsten Prinzips der Moral zu entwickeln und er wird nicht länger zweifelnd fragen können: Warum soll ich zur allgemeinen Glückseligkeit handeln?"

GYZICKI begeht hier natürlich eine petitio principii [Unbewiesenes dient als Beweisgrund - wp]: denn es ist gleichgültig, ob wir annehmen, daß Sympathien "ursprüngliche Potenzen" seien, oder, wie MILL glaubt, erworben werden können; im einen Fall soll die Mutter sie ihrem Kind "tief und tiefer einprägen", im andern Fall begründen, in allen Fällen aber sieht GYZICKI einen Mangel an sympathischen Gefühlen, der ausgefüllt werden soll und wenn die Frage "warum soll ich zur allgemeinen Glückseligkeit handeln", dem Kind nicht gestattet wird, so darf der Mutter zu fragen nicht verwehrt werden, warum sie es zu solchen Gefühlen erziehen solle: dieser Imperativ kann weder aus dem Nützlichkeitsprinzip hergeleitet werden, da es sich erst darum handelt, dieses zu begründen, noch ist seine Sanktion unmittelbar ersichtlich; wie aber GYZICKI dazu gelangte, ist nach dem Vorausgehenden sehr leicht zu vermuten. Ich frage, wie würde wieder, vorausgesetzt, sympathische Gefühle seien nicht vorhanden, die Gesamtheit aller Mütter diesen Fall entscheiden? Keine wird ihr Kind zu altruistischen Gefühlen erziehen wollen, ohne sich vorher zu vergewissern, daß die anderen desgleichen tun; ihr Kind könnte ja sonst das Opfer seiner Liebe werden. Entweder kommt also ein "contrat social" zustand oder jede erzieht ihr Kind, ohne Rücksicht auf die anderen, eventuell für den Zustand des "bellum omnium contra omnes" [Krieg aller gegen alle. - wp]. Und die Beantwortung dieser Frage wurde in diesem Falle einfach antizipiert: Die Mutter will ihr Kind glücklich machen, glücklich durch die Hilfe der anderen, durch das Glück an ihrem Glück und vor allem: Glücklicher, als es durch sich selbst hätte werden können und der Egoismus ist wieder Interpret. Die Frage, wie sie hier vorliegt, kehrt täglich wieder: So oft es sich um Menschen handelt, für die wir noch kein Interesse begründet haben, immer fragen wir, wie weit es uns nützlich ist, sympathische Gefühle für sie zu erlangen. An ihrer Entscheidung hängt auch die Existenzmöglichkeit der Pädagogik "als Wissenschaft".

Es sind also in ihrer Verantwortung stillschweigend zwei Voraussetzungen gemacht worden:
    1. Daß ethische Gefühle beliebig und in jeder Ausdehnung anerzogen werden können, und

    2. daß es vorteilhaft sei, für das Glück des Einzelnen, das Glück der Gesamtheit nach Kräften zu fördern.
Die erste Frage und die implizit mit ihr gegebene, ob nicht jedes Gewissen konkreten Falls dialektisch völlig unbrauchbar wäre und dem Individuum doch ein zweiter Maßstab für seine Entscheidungen gegeben werden müßte, kann unberücksichtigt bleiben, denn sie setzt die Entscheidung der zweiten voraus, welche eine, wenigstens nach ihren Grenzen, wissenschaftlich unlösbare ist.

Soll es eine Ethik überhaupt geben, eine Ethik, die nicht bloß ein Kapitel der Psychologie sein, die nicht sinnlose Vorschriften erteilen, sondern vernünftig raten und für ihre Ratschläge verantwortlich sein will, so muß sie an die Möglichkeit glauben, ein Gewissen allgemein und rational konstruieren und anerziehen zu können; es muß die Frage entscheidbar sein, welches von allen Gewissen ist objektiv das beste, d. h. das nützlichste für die Gesamtheit und das Individuum; das ist die von uns gesuchte Objektivität. Das ist aber nicht diejenige, welche sich der Moralist zumutet, wenn er den Feuerländert, der Asket, wenn er den Epikuräer verurteilt und verachtet. Des Einen Gewissensgefühle mögen doppelt so zahlreich sein als die des Anderen, welcher von Beiden sich selbst der Bessere dünkt, was des Lesers, was selbst mein eigenes Gefühl zu meiner Objektivität sagen wird, ist für die Ethik völlig gleichgültig. Es gibt Menschen mit sehr stark ausgebildeten altruistischen Gefühlen, die ohne sich um ihre eigene Vervollkommnung im Geringsten zu kümmern, jeden Augenblick bereit sind, ihre ganze Tätigkeit und selbst ihr Leben jedem Nächstbesten, durch den ihr Mitleid zufällig erregt wird, zu opfern, und die dadurch doch der Gesamtheit weniger nützen als egoistischere, mit starkem Tätigkeitsdrang. Der Egoismus des Einzelnen muß Kraft besitzen, wenn er gegen den Egoismus der Gesamtheit sich erhalten soll können. Alle Objektivität liegt also in der Frage, einen wie großen Anteil sollen altruistische gegenüber egoistischen Motiven an der Bildung eines Gewissens nehmen, das der Gesamtheit, von welcher das Individuum einen Teil bildet, am Nützlichsten ist. Die Unmöglichkeit, diese Frage allgemein zu beantworten, wird deutlich aus der Betrachtung jener einzelnen Akte aus denen sich das komplexere Phänomen zusammensetzt.

Die Frage ist bei der einzelnen Handlung: Wie weit darf ich mein eigenes Glück bedenken, ohne fremdes zu schädigen, und was ebenso wichtig, aber immer unberücksichtigt bleibt von der Ethik, wie weit darf ich fremdes bedenken und mich selber schädigen? Die letzte Frage geht nämlich ebenso auf den Nutzen der Gesamtheit, die sich ja aus Individuen zusammensetzt wie die erste, und nur eine genaue Bestimmung der Grenzen altruistischen und egoistischem Handelns vermöchte es, die Gesamtheit vor beiden Arten von Übergriffen zu schützen. (SPENCER, "Die Tatsachen der Ethik").

Jedermanns tägliche Erfahrung wird mir ersparen, Beispiele von der Komplexität solcher Fälle zu geben.

Wir konnten weder allgemein entscheiden, was Glück sei, noch was nützliches Handeln sei und nun sollen wir die Grenze zwischen beiden bestimmen. Wir betreten mit dieser Bestimmung abermals das Gebiet des Unendlichen, jener Atmosphäre, die für immer die Todeskeime jeder Wissenschaft nährt.

Damit scheint mir aber auch die genügende Erklärung gegeben warum alle ethischen Prinzipien von EUDOXUS bis auf MILL von absoluter Zwecklosigkeit und sämtlich unhaltbar gewesen sind. Ihren Urhebern bewußt oder unbewußt, wollten sie jene Objektivität finden, jene Entscheidungen mit ihren Imperativen fällen; oder was sonst könte auch der Satz SCHOPENHAUERs, den wir zu Anfang erwähnt haben Neminem laede; immo, omnes quantum potes iuva [Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst. - wp] - so viel Du kannst, nichts sagen, heißt ja überhaupt nichts sagen; d. h. jeden seinem Gewissen überlassen. Der kategorische Imperativ KANTs ist zur genüge in allen Punkten widerlegt; ich brauche nicht zu sagen, daß er mit seiner Maxime, von der jeder soll wollen können, daß sie ein allgemeines Gesetz werde, dieselbe Unmöglichkeit will. MILL beweist in seinen "Utilitarism", daß der Kantische Imperativ entweder der Utilitarische: immer der Gesamtheit am nützlichsten zu handeln, sein müsse oder ohne Sinn sei. Es wäre leicht, MILL zu zeigen, daß sein Imperativ, wenn man ihn ernstlich brauchen wollte, zu einer ähnlichen Allgemeinheit wie der Kantische führen müsse; daß er aber nur für eine Gesamtheit völlig gleichartiger Individuen mit gleichen Bedürfnissen und genügenden Mitteln, sie zu befriedigen berechnet, eine für die heutige Gesamtheit der Menschen, wie sie sind, völlig unbrauchbare Abstraktion, daß der Utilitarische eigentlich ein verkappter kategorischer Imperativ KANTs sei. Auch BENEKE hat KANT widerlegt; sein Imperativ, daß man in jedem Fall dasjenigen tun solle, was nach der objektiv und subjektive wahren Wertschätzung als das Beste oder natürlich Höchste sich ergebe, hat ihn zu einem vielbändigen Werk geführt, das aber nur die Grundlage eines Systems von Entscheidungen sein soll, das schon jetzt nur Subjektivitäten und Allgemeinheiten enthält. Keiner von allen diesen Imperativen sagt im Grund mehr, als schon das "Naturgemäße Handeln" der Stoiker oder das "perfice te" [Vollende Dich! - wp] des LEIBNIZ.

Schließlich will ich nur noch eines Punktes Erwähnung tun. Wenn ich mich bisher bemüht habe zu zeigen, daß die Komplexität psychischer Gemeinwesen allgemeine ethische Entscheidungen und somit jede Ethik unmöglich mache, so will ich damit nicht ethische Entscheidungen überhaupt in Abrede stellen. Es gibt große Politiker, ohne daß eine Wissenschaft der Politik möglich wäre. Die einfachsten Gesetze der Mechanik können Komplikationen erfahren, die keinem Kalkul unterworfen werden, wohl aber in besonderen Fällen, von Praktikern mit großer Bestimmtheit vorausgesagt werden können. Und so gibt es erfahrene Männer, die Neigung und Talent, die einen Beruf, die Folgen von Handlungen erkennen, sie für uns und anderer Glück nutzbar machen, selbst Verallgemeinerungen dauernd wertvoll machen können: LICHTENBERG, LABRUYER, PASCAL haben selbst ethische Bücher geschrieben - sie waren aber keine ethischen Gelehrten und schöpften ihre Weisheit nicht wieder aus Büchern.

Das ganze Altertum hindurch, erscheint in der ethischen Kontroverse die Weisheit eines Schiedsrichters als letzte entscheidende Instanz. Die moderne Ethik glaubt diese Entscheidung unhaltbar gemacht mit der Frage: Welche Instanz entscheidet aber über die Weisheit jener Richter? Nun, wie überall, müssen wir auch hier mit Fragen einmal aufhören. Die Entscheidung über die Weisheit des Ratgebers ist wie über den besten Arzt lediglich in den Folgen seiner Ratschläge zu suchen, in der Zuverlässigkeit und im häufigen Zutreffen seiner Voraussichten. Diese Ratgeber sind im ethischen Leben, was für die Ästhetik, für den Geschmack, in Betreff dessen Nützlichkeitsentscheidungen eine ebenso wertlose Objektivität zukommt, die Künstler sind: sie sind subjektive, aber letzte richtende Instanzen. Diese Meinung herrscht mit Recht. Auch in der ethischen Betrachtung der Gesamterscheinungen unseres Daseins, in den Kämpfen zwischen Optimisten und Pessimisten, muß die Wissenschaft, wie in den ethischen Überzeugungen der Religionen, dem Glauben das Feld räumen. Die Ethik ist damit nur dem Beispiel der Philosophie gefolgt, die, sobald sie das Gebiet psychologischer Forschung überschreitet, aufhört Wissenschaft zu sein: sie beginnt, Dichtung und Glaube zu werden und dort allein kann Befriedigung für allen Widerstreit gefunden werden, den keine Wissenschaft zu lösen vermag.
LITERATUR - Anton Ölzelt-Newin, Die Unlösbarkeit der ethischen Probleme, Wien 1883