ra-2B. BauchA. SchopenhauerM. SchelerN. Hartmannvon Ehrenfels    
 
KRISTIAN KROMAN
Allgemeine Ethik
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"Die Ethik ist eine praktische Wissenschaft, ganz wie jede andere, insofern jede Wissenschaft doch wohl dazu beitragen sollte, Licht über das Leben zu verbreiten, mithin praktischen Nutzen bringen sollte. In einem anderen Sinn ist sie nicht  praktisch.  Sie ist aber eine Lehre, eine Theorie vom  Praktischen,  vom menschlichen Wollen, Handeln, Betragen. Auch die Psychologie ist jedoch eine Lehre vom menschlichen Wollen usw., und die Ethik ist deshalb noch etwas enger zu bestimmen. Wie aus der Lehre der Psychologie vom menschlichen Denken eine speziellere Lehre vom  rechten  Denken: die Logik, entspringt, so entspringt aus der Lehre von der Psychologie vom menschlichen Wollen eine speziellere Lehre vom  rechten  Wollen, die Ethik. Dieser Disziplin wird also die Aufgabe, wissenschaftlich nachzuweisen, wie sich unter Bezugnahme auf die Menschennatur eine Art des Wollens, eine Art des Betragens muß aufstellen lassen können, die im Gegensatz zu allen anderen Arten  die rechte  genannt werden kann,  d. h. die mit dem innersten bleibenden Wesen des Menschen überein- stimmende, die zuguterletzt widerspruchslose." 

Es sieht indessen so aus, als wären noch weit ernstlichere Schwierigkeiten zu überwinden, wenn die Bemühungen, "dem Ethischen" objektive Gültigkeit zu verschaffen, gelingen sollen. Denn wie ist tatsächlich die Menschennatur, aus der dasselbe entspringen sollte? Das lehrt uns die Psychologie. Ein Mensch, eine Menschenseele ist ein Wesen mit dem Vermögen, Vorstellungen von der Außenwelt und sich selbst empfangen und bearbeiten zu können; jede dieser Vorstellungen ruft ein Gefühl der Lust oder Unlust oder von beidem hervor, und jede solche gefühlsbetonte Vorstellung erregt im Subjekt wieder ein Streben, ein Wollen. Dieses Wollen nimmt seinen Inhalt, seine Richtung und Stärke gemäß der Vorstellung und deren Gefühlston. Entsteht die Vorstellung des Singens, und ist diese Vorstellung lustbetont, so wird, wo nichts anderes hinzutritt, ein Singen-wollen entstehen; ist die genannte Vorstellung unlustbetont, so wird ein Nicht-singen-wollen entstehen, und ist der Gefühlston stark, bzw. schwach, so wird auch das auftauchende Wollen oder Nichtwollen stark, bzw. schwach werden. Über diese einfachen Annahmen herrscht unter den Psychologen völlige Übereinstimmung. Was die Menschenseele, metaphysisch betrachtet, sein mag: ein Atom, ein Haufen Gehirnzellen, ein Immaterielles oder ein anderes Derartiges, das können wir den Metaphysikern zur Entscheidung überlassen; nur eines brauchen wir hier zu betonen: etwas  muß  sie doch sein; ein Etwas, das die Vorstellung  hat,  das die Gefühle  fühlt  usw., muß es doch geben. Das verbürgt denn auch nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern außerdem auch jeder psychologische Schriftsteller, insofern es schwer fallen wird, auch nur in einer einzigen Psychologie ein einziges Blatt zu finden, das nicht, mit oder ohne Wissen und Wollen des Autors, diese Annahme in sich birgt.

Wir wissen ferner, daß die menschlichen Willensäußerungen teils als Instinkt-, Trieb- und Gewohnheitshandlungen, teils als eigentliche Willenshandlungen mit vorhergehendem Überlegen und Entschließen auftreten. Von sämtlichen Formen gilt es aber, daß sie, ebenso wie sie durch ein Gefühl erregt werden, schließlich auch bezwecken, ein Gefühl festzuhalten, hervorzurufen oder auszuschließen. Dieser Zweck kann mehr oder weniger direkt und bewußt sein. Man hat zuweilen gesagt, es sei das Lust bringende,  nicht aber das Lustgefühl selbst, was man wolle, und einer oberflächlichen Betrachtung kann dies gewöhnlich richtig erscheinen. Man besucht das Theater, um ein Schauspiel zu sehen, das Konzert, um Musik zu hören usw. Warum will ich aber ein Schauspiel sehen, warum will ich Musik hören? Dies läßt sich vielleicht noch mittels ein paar Zwischenglieder beantworten: Ich möchte gern diese Symphonie kennen lernen usw. usw.; zuletzt endet man aber damit: weil es mir ein Lustgefühl verschaffen oder ein Unlustgefühl abnehmen wird. Nun läßt sich aber kein Warum mehr beantworten. Wir stehen jetzt an einer der Urerscheinungen des Daseins. Würde jemand antworten: Ich möchte gern froh sein, denn das fördert das Leben! so würde er sich offenbar in einem Kreis drehen und durch ein oder mehrere Zwischenglieder hindurch wieder am Lustgefühl oder an der Scheu vor dem Unlustgefühl stehen. Alles menschliche Wollen wird mithin zuguterletzt durch das Gefühl bestimmt, hat das Gefühl sowohl zur  Bewegkraft  als zum  Zweck. 

Das Gefühl ist aber ja das Subjektivste aller Dinge der Welt. Muß daher nicht auch von den menschlichen Zwecken und dem menschlichen Wollen etwas Ähnliches gelten? Jedermann will ja in diesem Augenblick das eine, im nächsten Augenblick ein anderes, und so ins unendliche. Allerdings lehrt uns die Erfahrung das höchst Sonderbare, daß sich allmählich bei jedem Menschen mehr umfassende und andauernde Zwecke bilden, denen sich die Einzelzwecke mehr oder weniger vollständig als Mittel unterordnen; selbst wenn wir uns aber den günstigsten Fall dächten: daß sämtliche Zwecke jedes Individuums ganz und gar von einem einzigen letzten, umfassenden Totalzweck verschlungen würden, so hätten wir hierdurch bei weiten noch nicht gewonnen, was wir nötig haben. Denn könnten wir uns auch eine allgemeine Formel bilden und z. B. sagen:  Unter allen Möglichkeiten will jedes Individuum beständig diejenige, die ihm die größte Befriedigung bringt,  so würde unter dieser Allgemeinheit doch noch Raum für so entscheidende Verschiedenheiten sein, daß die Möglichkeit einer Ethik wie die in Frage stehende dennoch nicht zu gewahren wäre. Die menschlichen Totalwünsche sind ja meilenweit verschieden. Bald soll es die Prinzession und das halbe Königreich sein, bald die Prinzessin allein und bald das Königreich allein, am liebsten aber das ganze. Einer möchte der Mächtigste, ein anderer der Schönste, ein dritter der Klügste, ein vierter der Berühmteste sein. Einer möchte gern alle seine Wünsche erfüllt sehen, ein anderer möchte am liebsten immer sieben unerfüllte übrig haben, ja wieder ein anderer ist vergnügt, wenn er nur immer die Lacher auf seiner Seite hat. Der einzige gemeinschaftliche Zug scheint der zu sein, daß der Nächste zum Vorteil des eigenen Ich stets stark in den Hintergrund tritt.

Bevor wir es versuchen, diese Schwierigkeit zu  durchbrechen,  wird es von Nutzen sein, in Kürze einige der Versuche zu erwähnen, die man angestellt hat, um dieselbe zu  umgehen. 

Statt mit der primitiven Frage anzufangen: Ist eine allgemeine und allgemeingültige Ethik möglich?, hat man oft seinen Ausgangspunkt unwillkürlich aus folgendem Räsonnement geholt: Eine allgemeine und allgemeingültige Ethik müssen und wollen wir haben. Läßt dies unmöglich erreichen, wenn wir die menschlichen Lust- und Unlustgefühle zur Grundlage nehmen, so bleibt uns nichts übrig, als von diesen Gefühlen abzusehen.

Eine Ethik von diesem Ausgangspunkt aus hat z. B. KANT zu geben versucht. Daß der genannte Ausweg aber ein unmöglicher Ausweg ist, hat er jedoch wider sein Wollen auch recht deutlich dargelegt.

Bisher hat man - so sagt er - das ethische Handeln wesentlich als das Handeln bestimmt, welches darauf ausgeht, das "höchste Gut" zu gewinnen, und dieses wird bald als "Glückseligkeit", bald als "Vollkommenheit" gesetzt. Ein solches Verfahren geht aber durchaus nicht an, schon weil jedes Individuum die Glückseligkeit oder die Vollkommenheit selbstverständlich auf seine Weise bestimmen wird, so daß wir viele Ethiken erhalten würden. Zudem ist ein solches Streben nach Zwecken noch gar nicht ethisch oder moralisch. Nein, das moralische Handeln ist das  Handeln aus Pflicht,  und die Pflicht sagt  kategorisch:  Du sollst! nicht aber hypothetisch: Du sollst, wenn du dieses oder jenes erreichen willst! Vom Ertrag, dem Erfolg muß man absehen. Das moralische Handeln ist schlechthin das Handeln dem "Moralgesetz" gemäß, und dieses Gesetz, dessen Ursprung uns durchaus unerklärlich ist, während jeder Mensch es doch tatsächlich in seinem Inneren findet, enthält gar nichts Materielles, gar nichts, was sich auf Zwecke bezieht, sondern nur das rein formelle Gebot: Handle so, daß du dir die allgemeine Anwendung deiner Maxime denken und sie auch wollen kannst! -

Gegen KANT hat man meistens den Vorwurf erhoben, dieses Moralgesetz sei so leer und formell, daß es - wenn auch an und für sich richtig - unfruchtbar und wertlos werde. Damit ist man aber wohl kaum fertig. Vielmehr ist zu sagen, dasselbe - in Gemäßheit des Vorstehenden aufgefaßt - werde gar zu inhaltreich, indem es jede beliebige Art des Handelns umfassen wird. Man kann sich nämlich ja leicht sogar die schlechtesten Maximen angewandt "denken", wenn hierdurch gar kein  Erfolg  gewonnen oder vermieden werden soll. KANT selbst dachte sich tatsächlich die Menschen ziemlich schlecht. Und was sich mit Bezug auf allgemeine Maximen wollen oder wünschen mag, das beruth ja in höchstem Grad wieder darauf, was ich für eine Art Mensch bin, welche  Zwecke  ich habe. Nur wenn man unwillkürlich allein an die vortrefflichsten Zwecke denkt, erhält das Kantische Moralgesetz Sinn. Die Zwecke können also gar nicht übergangen werden.

Und ebensowenig kann KANT das Gefühl als Bewegkraft, als Motiv zurückweisen. Fragt man: Geschieht es aus Laune, daß der ethische Mensch das Moralgesetz befolgt?, so antwortet er: Nein, es geschieht aus  Achtung  für dasselbe! Achtung ist ja aber ein Gefühl, was KANT selbst, wenn auch halb widerstrebend, zugeben muß. (1) Daß die Achtung eine ganz spezielle Art von Gefühl, weder Lust- noch Unlustgefühl ist, (2) verhält sich insoweit richtig, daß sie ganz einfach das aus Lust und Unlust  gemischte Gefühl  ist, welches wir durch die Vorstellung eines Wesens erhalten, das unter Selbstüberwindung vorwärts geschritten ist. Die Vorstellung des Leidens erregt die Unlust, die Vorstellung des Sieges das Lustelement des Gefühls. Streng genommen bezieht sich die Achtung deshalb nicht auf das Gesetz, sondern auf den mit dem Gesetz übereinstimmenden Menschen. "Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen." (3) Ich beuge mich dem Gesetz, um das eigentümliche, mächtige Gefühl der Freude zu gewinnen oder festzuhalten, welches die Vorstellung begleitet, daß ich mich in Nichtübereinstimmung mit demselben befinde. Unter welchen Bedingungen diese Gefühle in den betreffenden Fällen entstehen, werden wir später untersuchen.

Das Neue und Gewaltige der Kantischen Ethik, das derselben rasch wohl noch größere Verbreitung und größeren Ruhm verschaffte, als sogar der "Kritik der reinen Vernunft" zuteil wurden, war gewiß der Umstand, daß KANT durch die Betonung der  Zusammengesetztheit der Menschennatur  der Wirklichkeit einen beträchtlichen Schritt näher kommt als die meisten früheren Versuche. Das gewöhnliche Bewußtsein findet weit mehr seiner entscheidenden ethischen Bestimmungen bei KANT als bei den meisten anderen Philosophen wieder. Die früheren Systeme hatten den Menschen gar zu einseitig als reines "Naturwesen" oder reines "Vernunftwesen" aufgefaßt, das ganz friedlich-mechanisch allmählich immer mehr glückselig oder auch immer mehr vollkommen werde. Erst bei KANT finden wir Kampf und ethische Spannung. Der Mensch ist nicht in der Welt um der Glückseligkeit nachzujagen, sondern um seine Pflicht zu tun, heißt es bei ihm.

Neben dem unbedingten Pflichtgefühl und der hohen ethischen Begeisterung, die in KANTs Moralsystem so gewichtig zu Worte kommen, steht jedoch noch ein anderer Faktor da, der an vielen Punkten Unheil gestiftet und u. a. dazu beigetragen hat, daß man oft genug über alles, was KANT Vortreffliches, noch völlig in Gültigkeit Stehendes geleistet hat, gar zu leicht hinweggeleitet. Dieser andere Faktor ist sein fast unbegreiflicher Schreck, seinem System auch nur das allergeringste "Empirische" beizumischen. Er will sein System mathematisch sicher und vollendet, mithin "rein apriorisch" machen. Es ist, als hätte der Verfasser der "Kritik der reinen Vernunft" die ganz einfache und unanfechtbare Auffassung des "Apriorischen", die er selbst am Anfang der "Kritik der reinen Vernunft" zur Geltung brachte, gänzlich aus dem Gedächtnis verloren, und als wäre er schon nahe daran, in den von späteren Zeiten verübten Mißbrauch des Begriffes hinüberzugleiten. Die ethische Lehre soll mathematisch vollendet sein. Folglich darf nichts Empirisches mitgenommen werden. Deshalb ist erstens jeglicher  Zweck  auszuschließen: der Mensch ist nicht in der Welt, um der Glückseligkeit nachzujagen. Deshalb wird ferner das Moralgesetz so abstrakt, daß es in der Tat alles umfaßt, das Böse wie das Gute. Soll es je befolgt werden, so muß es Triebkräfte, d. h. zuguterletzt Gefühl geben. Dies hat KANT, wenn auch schwankend und ungern, anerkennen müssen. (4) Keins der gewöhnlichen "empirischen" Gefühle darf aber hierzu angewandt werden, und KANT wählt deshalb die  Achtung,  macht diese jedoch zu einem von allen anderen Gefühlen gänzlich verschiedenen, man könnte sagen "apriorischen" Gefühle, das darum noch kein Unheil anrichtet. Es hat dann aber auch die Arbeit ganz allein zu verrichten. Gerät ein einziges "empirisches" Gefühl mit hinein, so kommt das System wieder in Gefahr, und KANT stellt deshalb - gewiß mehr aus systematischem als aus ethischem Zelotismus [übertriebener Glaubenseifer - wp] - die bekannte Lehre auf, alles Gute, das aus natürlicher Neigung getan werde, sei ethisch gewichtlos. Die "Achtung" darf keine beschwerlichen Gehilfen bekommen. Daß eine solche natürliche Neigung in vielen Fällen vielleicht ausschließlich das Ergebnis früherer ethischer Anstrengungen ist, darf an der Sache natürlich nichts ändern. Auch dann würden wir ja in ein empirisches Irrsal geraten.

Durch all dieses hat die an und für sich wertvolle Auffassung des Menschen als ein zusammengesetztes Wesen sich aber allmählich in bedenklicher Weise einer Auffassung genähert, die das Menschenwesen und das gesamte Dasein dualistisch  zersprengt,  (5) und das scheint KANT am Schluß seines Systems gewahrt zu haben. Gewiß um u. a. einen solchen Dualismus abzuwehren, führt er hier die bekannte Einheit der Tugend und der Glückseligkeit ein.

Es ist wohl kaum gerecht, wenn man, wie es mitunter geschehen ist, hierin einen direkten Selbstwiderspruch erblickt. Denn KANT hat vorher nur gesagt, man solle nicht der Glückseligkeit nachjagen, die Pflicht nicht um des Ertrages willen, sondern um ihrer selbst willen tun. Daß die Glückseligkeit möglicherweise wie eine Apfelsine in den Turban fallen könnte, ist hierdurch ja nicht ausgeschlossen, und ein direkter Selbstwiderspruch ist insoweit nicht vorhanden.

Eine Gefahr ist dem in Kantischem Sinne "reinen" ethischen Streben aber doch offenbar durch diese Bestimmung erwachsen. Denn man setze, daß die Menschen nach und nach diese Einheit in Erfahrung brächten! Wird es ihnen dann noch immer möglich sein, die Pflicht ausschließlich so einseitig kalt und trübe anzuschauen, wie KANT es, seinen Äußerungen zufolge, für am ratsamsten zu finden geneigt ist? Wird es möglich sein, zu vermeiden, daß sich auch lichtere und wärmere Gefühle einstellen, und daß Neigung und Pflicht sich, namentlich bei den in ethischer Beziehung am weitesten Fortgeschrittenen, vielleicht sogar unbegrenzt dem Verschmelzen nähern werden? Wohl schwerlich! Damit hat KANT aber unwillkürlich wieder die unechte Strenge verlassen müssen, die seine apriorischen Tendenzen herbeiführten; damit hat er wieder die Einheit des Lebens einführen müssen, die sich tatsächlich hinter allen Gegensätzen geltend macht, und damit haben auch seine systematischen Bemühungen gezeigt, daß wir nun einmal die Gefühle nicht unberücksichtigt bleiben lassen dürfen. -

In der dänischen Literatur hat S. HANSEN in seiner Dissertation "Die Begründung der Ethik" (Kopenhagen 1903) dennoch einen solchen Umweg einzuschlagen versucht. Auch er fängt nicht mit der Frage an: Ist eine allgemeine und allgemeingültige Ethik möglich?, sondern er fragt: Was sollen wir tun, um die Ethik allgemein und allgemeingültig zu machen, um sie zu einer "wirklichen Wissenschaft in modernem Sinne zu machen?" (Seite 11)

Der einzige Ausweg, meint er, besteht darin, daß wir die subjektive utilitarische Bestimmung des ethischen Zwecks als "Befriedigung der Lust" (Seite 28) verlassen, und denselben objektiv, biologisch als "die Erhaltung und den Fortschritt der Gattung" (Seite 29) bestimmen. Die ethisch rechte Handlung wird also die "die Gattung erhaltende oder das Leben fördernde Handlung" (Seite 30)

Man sieht, daß HANSEN ebenso wie KANT eine gewisse Scheu vor dem Gefühl mit dessen großer Subjektivität hegt, und daß er unwillkürlich zu glauben scheint, es könne schon angehen, das Dasein ein wenig umzuändern, wenn wir dadurch eine Wissenschaft mehr in der Welt bekommen könnten. Kann die Ethik, meint er, nicht wissenschaftlich werden, wenn der ethische Zweck durch das Gefühl bestimmt wird, was denselben ja willkürlich macht, so ist er ganz einfach auf mehr objektive, mehr willfährige Weise zu bestimmen. Dazu müssen wir berechtigt sein; denn es ist undenkbar, daß der Zweck ein willkürlicher ist, "da die Ethik hierdurch als allgemeine Wissenschaft unmöglich wird" (Seite 20).

Diese Neigung des Autors, das Dasein nach dem Bedarf der Ethik, nicht aber die Ethik nach dem Bedarf des Daseins einzurichten, kommt an verschiedenen Orten zu Wort und stellt alles auf den Kopf. So heißt es z. B. Seite 141: "Der Glaube an die Freiheit oder besser an das Selbstbestimmungsvermögen und die daraus folgende Verantwortlichkeit ist mithin unvermeidlich und ist unter allen Umständen aus Rücksicht auf das praktische Leben und die Ethik festzuhalten." - Ich soll also um der Ethik willen an einem Glauben festhalten, der vielleicht ein unrichtiger Glaube ist; ja, ich soll offenbar sogar an demselben festhalten, auch wenn die Unrichtigkeit eines schönen Tages dargelegt wird. Eine sonderbare Moral als Grundlage der Ethik!

Der Autor hat doch selbst das Gefühl gehabt, daß die Natur und das Menschenleben sich nicht in so hohem Maße nach der Lust des Forschers zum Aufbauen einer objektiven Ethik richten können, und er hat es deshalb versucht, seine Hauptgedanken durch eine mehr direkte Begründung zu stützen. Mit Recht tritt er gegen eine Menge mehr oder weniger naiver Auffassungen des Utilitarismus auf; mit Unrecht glaubt er aber damit dieser Lehr selbst zu Leibe gekommen zu sein. Das ist jedoch weniger wesentlich, hätte er nur die Richtigkeit seiner fundamentalen Behauptung: die ethische Handlung ist die das Leben fördernde Handlung! hinlänglich "wissenschaftlich" dargelegt. Das ist ihm aber entschieden nicht gelungen. Erst wird, freilich mit gewissem Schwanken, behauptet, es sei der "Zweck" der Natur, der organischen Natur, das Leben zu fördern. Der Verfasser gibt zu, daß diese Redensart streng genommen unberechtigt sei, meint aber, wenn man die Worte nicht so genau nehme, könne man doch wohl so sagen (Seite 21 bis 26). Hieraus - heißt es nun weiter - folge wieder, daß es auch der  ethische Zweck  des Menschen sein müsse, das Leben zu fördern (28). - Als ob er mit der Wissenschaftlichkeit dieses "Schlusses" selbst nicht ganz zufrieden wäre, fügt er noch ein paar Betrachtungen hinzu:
    1) "Will man einen ethischen Zweck aufstellen, der möglichst wenig willkürlich gewählt ist, so kann man keinen anderen als diesen aufstellen", und

    2) "Durch Aufstellung dieses Zwecks macht der Mensch zum Zweck seines bewußten gewollten Strebens jedenfalls nur, was tatsächlich der anscheinende Zweck oder die anscheinende Richtung seiner unbewußten und instinktiven Natur ist." (Seite 28) -
Wieviel ist nun hierin enthalten?

Setzen wir der Bequemlichkeit wegen einstweilen voraus, das wirklich mit Recht von Absichten oder Zwecken der "Natur" die Rede sein könnte, und daß wir mit Sicherheit wüßten, es sei z. B. deren Zweck, eine immer größere Menge Individuen immer vollkommenerer Art zu erzeugen! Hieraus folgt dann doch noch  durchaus nichts  mit Bezug auf meine  ethische  Aufgabe, ja nicht einmal, daß ich überhaupt eine solche Aufgabe  habe. 

Wäre nun auch letzteres gegeben, indem es z. B. durch eine nähere Untersuchung, nicht des Pflanzen- oder Tierreiches, sondern meines eigenen totalen Wesens ermittelt worden wäre, so müßte ferner die  nähere Beschaffenheit  dieser Aufgabe ebenfalls aus meinem eigenen totalen Wesen hergeleitet werden, und es wäre ganz unlogisch, wenn man sagte: So sind die  tatsächlichen  Bemühungen der Natur, ja, so ist sogar die Tendenz deiner eigenen instinktiven Natur; also soll dein  ethisches  Bestreben ebenso sein! - Denn es wäre doch auch möglich, daß mein Wesen Seiten enthielte, die es mir verböten, der Natur die unbegreifliche Vergeudung von Leben oder das unbarmherzige Zermalmen der Schwachen zugunsten der Starken nachzumachen, Seiten, die es mir verböten, mich ohne weiteres meiner "instinktiven Natur" zu beugen. Ohne eine Untersuchung dieser Fragen ist es aber wirklich nicht tunlich, dem Menschen eine ethische Aufgabe festzustellen. Läßt man sich hierauf ein, so wird der Zweck nicht nur "ein wenig", sondern völlig im blinden und völlig willkürlich gewählt. Indem HANSEN mit Hinblick auf die Natur das "das Leben Fördernde" wählt, hat er zu allem Glück oder Unglück einen so vagen und elastischen Ausdruck erwischt, daß man sich unter diesem unwillkürlich sehr wohl alles denken kann, was der gewöhnliche Menschenverstand der Bestimmung "ethisch" unterstellt. Der Hinblick auf das Treiben oder den "Zweck" der Natur würde in der Tat jedoch zu einem ganz anderen Inhalt führen. Es läßt sich deshalb wohl kaum behaupten, daß HANSEN die Ethik durch seine Bemühungen mehr wissenschaftlich oder eindeutig gemacht hat, als sie vorher war. Er hat die Botanik und die Zoologie zu Rate gezogen, und es wird niemand in Erstaunen setzen, daß diese Disziplinen ihn nur sehr wenig über das Ethische zu belehren vermochten. Hätte er die Psychologie aufgesucht, so hätte er sicherlich wertvollere Winke erhalten. Der erste derselben würde aber gelautet haben: Der Weg geht durch das Gefühl.


VI.

Könnte man das anscheinend unvermeidliche Gefühl jedoch nicht, ohne es gänzlich auszuschließen, auf irgendeine Weise unschädlich machen, indem man etwas Objektives, Solides zur Stütze nähme, z. B. die  Gesellschaft?  Ließe sich nicht die Theorie ohne Widerspruch durchführen: die ethische Forderung ist ganz einfach die Forderung der Gesellschaft, die Forderung der Gesellschaft an das Individuum?

Wer ist denn die "Gesellschaft"? Wo ist sie zu finden, und was fordert sie faktisch von mir?

Es leben auf Erden etwa 1600 Millionen Menschen. Sie bilden die heutige, uns bekannte menschliche Gesellschaft. Mit den allermeisten werde ich aber nie in Berührung kommen, nicht einmal in die allerloseste. Unternehmen wir also eine Beschränkung und denken wir z. B. an die großen europäischen und an andere ähnliche Kulturgesellschaften! Meine Beziehung zu denselben wird noch aus ziemlich dünnen Fäden bestehen. Sie haben sich zu Staaten mit bestimmten, sich mehr oder weniger widersprechenden Systemen von Gesetzen organisiert; sie haben mehr oder weniger verschiedene Sitten und Gebräuche, Lebensanschauungen und Lebensführungen. Ihre gegenseitigen Beziehungen sind nicht die ethisch besten, die inneren Verhältnisse jedes einzelnen Staates sind vielleicht auch nicht besonders ideal. Sowohl im Inneren als gegen das Äußere bedienen sie sich ziemlich regelmäßig solcher Mittel, die unter den einzelnen Individuen nicht mehr in Ansehen stehen. Eine eigentlich ethische Autorität für mich scheinen sie insoweit nicht wohl sein zu können.

Vielleicht habe ich mir unter dem Ausdruck "die Gesellschaft" aber besonders die mir am allernächsten stehende Gesellschaft zu denken. Das Verhältnis wird jedoch nicht um viel besser. Freilich stellt diese Gesellschaft ihre ganz bestimmten Forderungen an mich. Diese Forderungen tragen aber so sehr das Gepräge des Unfertigen und Unvollkommenen, daß mir auch hier keine eigentlich ethische Hoheit entgegentritt. Die Forderungen geben sich dann auch selbst gar nicht für anderes und mehr aus als für den bis Dato für den besten gehaltenen Ausdruck dessen, was durch gegenseitiges Entgegenkommen der Vertreter der gesetzgebenden Gewalten festgestellt wurde. Wollte man sagen, es seien nicht so sehr die Gesetzessammlungen und Polizeianschläge der organisierten Gesellschaft, sondern vielmehr die "öffentliche Meinung" der ganzen freien Gesellschaft, von der die Rede sei oder sein sollte, so würde das die Sache in der Tat auch nicht verbessern. Denn eine ganz unbefangene Betrachtung wird uns doch sicherlich zu dem Ergebnis führen, daß sich in einer mittelgroßen Stadt wie z. B. Kopenhagen mit Leichtigkeit wenigstens siebzig "öffentliche Meinungen" nachweisen lassen.

So ungefähr sieht die "Gesellschaft" tatsächlich aus, nicht unser ideales Gesellschaftsbild, wohl aber die wirkliche, objektive Gesellschaft. Keine nüchterne Betrachtung kann das Bild wesentlich anders zeichnen. Welches Unglück, welche Hemmung allen Fortschritts, wenn die Forderungen der Gesellschaft an das Individuum im Ernst als mit dem Ethischen eins aufgestellt würden!

Die Gefahr ist nun aber auch nicht unmittelbar drohend. Jeder "Gesellschaftsethiker" hat sein System mit einem mächtigen Sicherheitsventil versorgt, indem es durchweg heißt: die ethischen Forderungen sind die  berechtigten  Forderungen der Gesellschaft an das Individuum. (6)

Man hat oft gemeint, in dieser Formel einen Ausweg aus allen oben genannten Schwierigkeiten zu finden. Daß die Gesellschaft mitbetätigt sei, befreie die Ethik von aller  subjektiven  Willkür; daß die Forderung berechtigt sein müsse, entferne alle  äußere  Willkür, ermögliche den freien Anschluß und bewirke, daß das ethische Gericht doch stets ein inneres werde.

Leider verschwinden diese heiteren Aussichten sämtlich wieder bei einer näheren Untersuchung. Erstens kann man gegen die Formel den Einwurf erheben, daß sie uns nicht mitteilt,  wem  die Entscheidung über die Berechtigung der Forderungen übertragen wird. Ist es die faktische Gesellschaft, das faktische Individuum, beide im Verein oder vielleicht keines derselben? Ist es die Gesellschaft selbst, so wird das Ethische ja in massiver Äußerlichkeit ersäufen. Sind es die Gesellschaft und das Individuum im Verein, so wird es nicht besser gehen. Ist es aber das Individuum selbst, so werden alle unsere früheren Schwierigkeiten sich ja mit ungeschwächter Stärke wieder einstellen.

Denn ist es das Individuum selbst, das schließlich die Entscheidung über berechtigte und unberechtigte Forderungen zu treffen hat, so befinden wir uns ja wieder der oben erwähnten individuellen Willkür gegenüber. Es wird in der Tat alles von neuem auf meine eigenen Forderungen an mich selbst reduziert. Die Mitbeteiligung der Gesellschaft wird ziemlich bedeutungslos, sofern sie nicht positiv nachteilig wird.

Positiv nachteilig wird die Formel nämlich auf folgende Weise wirken können. Denken wir uns das Individuum möglichst vollkommen, mit dem höchsten Vermögen und Willen, den Ausdruck "berechtigt" auszulegen. Wir hätten alsdann eine gewisse Sicherheit, daß keine falsche, keine unethische Forderung mitgenommen würde. Das Individuum würde ferner vielleicht der Gesellschaft so aktiv behilflich sein, die Forderungen zu stellen, daß keine berechtigte Forderung der Gesellschaft vergessen würde. Welche Sicherheit hätten wir damit aber, daß  sämtliche  ethische Forderungen gefunden wären? Das Individuum hat vielleicht ja andere ethische Pflichten als eben seine Pflichten gegen die Gesellschaft. Ja, die berechtigten Forderungen der Gesellschaft an mich erschöpfen vielleicht nicht einmal meine ethischen Pflichten  gegen die Gesellschaft.  Viele werden gewiß geneigt sein, JOHN STUART MILL darin recht zu geben, daß die Forderungen der Gesellschaft an das Individuum sich nicht so äußerst weit erstrecken dürfen. (7) Möglicherweise würde es doch ganz unberechtigt sein, wenn ich glaubte, durch die Erfüllung dieser Forderungen meine  ethische  Schuldigkeit in allen Stücken getan zu haben.

Aus Rücksicht auf das Folgende sehen wir uns diese ganze Sache noch ein wenig näher an!

Wie schon angedeutet, beginnt STARCKE sein Buch "Das Gewissensleben" damit, daß er, wie man sagt, die Hülle und die Fülle haben will, nämlich sowohl die äußere Autorität, die er an der Gesellschaft finden zu können glaubt, als auch die innere Billigung oder Mißbilligung des Individuums mit dem darauf folgenden Anschluß oder Nicht-Anschluß. Wir müssen ersteren, objektiven Faktor mitnehmen, nicht nur, weil die Ethik sonst außerhalb des Wissenschaftlichen geraten würde (Seite 15), sondern auch, weil das Gewissen das Gepräge eines Gefühls trägt, das nicht allein mit dem Stärksten oder Besten des Individuums, also mit einem Relativen, in Beziehung steht, sondern im Gegenteil auf ein Absolutes, Allgemeines, Objektives jenseits der Relativität des Individuums hindeutet (Seite 16, 17, 19 ...). Andererseits müssen wir den inneren freien Anschluß mitnehmen, da wir sonst gar kein ethisches Verhältnis, gar kein Gewissensverhältnis erhielten (Seite 8). STARCKE meint, es liege in dieser doppelten Forderung nichts Unmögliches. Denn von einer äußeren Autorität könne man sich auf zweifache Weise losmachen. Teils könne man derselben ganz im allgemeinen huldigen, ihre einzelnen Forderungen jedoch kritisch beurteilen, teils könne man das Band zwischen sich und der Autorität gänzlich zerschneiden und auf ganz neuem Grund und Boden aufbauen (Seite 10 und 11).

Es ist offenbar die erstere dieser "beiden Verfahrungsarten", in welcher der Verfasser einen Ausweg aus allen Schwierigkeiten erblickt. In der Tat gibt es hier aber nicht zwei Verfahrensarten, sondern nur eine einzige. Denn sobald ich mir gestatte, die verschiedenen Forderungen der Gesellschaft an mich kritisch zu beurteilen, habe ich in demselben Augenblick die Gesellschaft tatsächlich ihrer Autorität entsetzt, und zwar im gleichen Maß, ob ich mich derselben, den aus meinem eigenen Inneren kommenden Geboten gemäß, künftighin feindlich oder freundlich gegenüberstelle. Vielleicht erfordern diese Gebote die unbegrenzte Menschenliebe. Dann habe ich das Band zwischen mir und der Gesellschaft keineswegs zerschnitten, dasselbe ist vielleicht sogar stärker als vorher geworden. Ich habe aber entschieden das Band zwischen mir und der Gesellschaft als meiner Autorität zerschnitten und "baue nun auf ganz neuem Grund und Boden auf." Die Verrechnung des Verfassers rührt daher, daß er unter dem Ausdruck "die Autorität" bald an die Gesellschaft als Autorität und bald an die Gesellschaft selbst als Gegenstand meines Wohlwollens oder meines Unwillens denkt. In letzterer Beziehung kann ich mich auf zweifache Weise stellen, je nachdem die innere Autorität das eine oder das andere gebietet. Soll ich aber an dieser inneren Autorität festhalten, so kann ich mich der  Gesellschaft als Autorität  gegenüber nur auf eine einzige Weise, nämlich abweisend stellen.

Für ein  sowohl - als auch  gibt es hier also keine Möglichkeit; wir stehen vor einem  entweder - oder:  Entweder die Gesellschaft oder gewisse Mächte in meinem eigenen Innern!

Und hier kann die Wahl in der Tat nicht zweifelhaft sein. Die 1600 Millionen Individuen können mir keine Autorität sein, meine eigenen zwei bis drei Millionen Landsleute oder die 500 000 Menschen, die mit mir in derselben Stadt wohnen, ebensowenig, schon aus dem einfachen Grund, daß sie sich unmöglich darüber einigen könnten, welche Gebote sie mir erteilen sollten, und welche nicht. Gehen wir zu den Gesetzen des Staates, den polizeilichen Vorschriften oder zu dem, was sich sonst an Festem und Bestimmtem draußen befindet, so wird es ebenso arg. Eine  ethische  Autorität können diese mir unmöglich werden.

Vielleicht möchte man den Einspruch machen, die Gesellschaft sei hier gar zu "realistisch" betrachtet worden. Nicht den tatsächlichen Gesetzen, sondern der idealen Tendenz hinter den tatsächlichen Gesetzen sollst du dich ethisch beugen! Das Lob und den Tadel der edelsten und besten Menschen, von diesen vielleicht niemals laut ausgesprochen, sollst du dir zur Richtschnur nehmen. Kurz, nicht die tatsächliche, sondern die ideale Gesellschaft soll dir Autorität sein.

Wohlan! Wo finde ich nun aber diese ideale Gesellschaft? Mit dieser Wendung an "das Ideale" ist der Kampf in der Tat beendigt, ist die äußere Autorität verlassen. Denn diese stille ideale Gesellschaft ist offenbar ein Bild in meinem eigenen Innern, und wir stehen jetzt ganz gewiß eben da, wo die verschiedenen "Gesellschaftsethiker" in der Tat samt und sonders stehen, ,wenn sie auch mehr oder weniger entschieden einen ganz anderen Standpunkt einzunehmen glauben. Daß der entwickelte Mensch sich selbst als ein Glied eines größeren Ganzen auffaßt, daß er sich vielfach an dieses Ganze geknüpft fühlt, daß er sich eine Auffassung davon bildet, wie dieses Ganze faktisch ist und ideell betrachtet sein könnte, daß er sich eine Anschauung gestaltet, wie jeder Einzelne auf seine Weise das Emporwachsen dessen, was ist, zu dem, was sein sollte, fördern könnte, und daß er sich endlich in höherem oder geringerem Maß angetrieben und verpflichtet fühlt, diese Aufgabe zu übernehmen, kurz, daß der entwickelte Mensch sich selbst als ein soziales Wesen auffaßt und in seinen Schuldigkeiten als solches einige seiner wesentlichsten und wichtigsten ethischen Schuldigkeiten erblickt, das ist ganz sicher. Und ebenso sicher ist es, daß wesentliche Bestandteile dieser Auffassung dem Kind direkt von außen, durch seine Erzieher, zugeflossen sind, und daß andere wesentliche Bestandteile von der direkten Wechselwirkung des Individuums mit der Gesellschaft herrühren. Das alles ist dem Individuum aber doch nur die Veranlassung, ist ihm eine nur pädagogische Hilfe gewesen, um sich zuguterletzt auf eigene Verantwortlichkeit und aus seinem eigenen Innern seine schließliche Auffassung und das hieraus entspringende Bewußtsein seiner Verpflichtung zu gestalten. Nur diejenigen Gebote, welche dieses Bewußtsein mir diktiert, nicht aber die tatsächlichen Forderungen der tatsächlichen äußeren Gesellschaft an und für sich, bilden den Inbegriff dessen, was mir als meine ethischen Gesellschaftspflichten erscheint.

Indem aber diese beiden Bestimmungen: die wirkliche Gesellschaft außerhalb meines Ich und das innere Gesellschaftsbild in meinem Bewußtsein bei dem, dessen Interesse im Augenblick anderen Problemen zugekehrt ist, leicht ineinander verfließen können, wird es verständlich, daß so überraschende Behauptungen zum Vorschein kommen wie z. B. die, daß die ethische Forderung die Forderung der Gesellschaft sei. Wo STARCKE (Seite 99) die Ergebnisse seiner Bestimmung des Ethischen zusammenfaßt, sagt er: "Das ethische Leben ist das gewissenhafte Leben. Das Gewissen ist das Gefühl der Lust oder der Unlust bei Übereinstimmung oder Streit mit den  Bedingungen  des sozialen Lebens."

Viele werden diese Definition gewiß zu eng finden. In einer Beziehung ist sie aber gut genug: die äußere Autorität ist verschwunden. Hier ist völlige Übereinstimmung mit der kurzen und bündigen Äußerung Seite 58: "Alle sittliche Autorität ist innere Autorität." -

Eine ganz eigentümliche Auffassung des Ethischen hat N. H. BANG in seiner Abhandlung "Der Begriff der Moral", Kopenhagen 1897, zu verfechten versucht. Da die äußere Autorität, die Gesellschaft, auch hier stark beteiligt ist, müssen wir BANGs Auffassung ebenfalls ein wenig näher betrachten.

BANG hält "das Ethische", "das Moralische" und das "Sittliche" für ein und dasselbe (Seite 5 und 103), bedient sich aber am liebsten des zweiten dieser Ausdrücke, da der Ausdruck "das Ethische" ihm gar zu akademisch vorkommt und vorzugsweise "von den höheren, feineren Formen des Moralischen" gebraucht zu werden scheine, während der Ausdruck "das Sittliche" "den Gedanken gar zu einseitig auf das sexuelle Gebiet lenke." Er wünscht nun zu bestimmen, was im allgemeinen unter Moral und moralisch zu verstehen sei und glaubt, sich auf KANTs Beispiel berufend, es sei das beste Mittel, den Sprachgebrauch des gewöhnlichen Bewußtseins mit Bezug auf diese Ausdrücke zu untersuchen (Seite 5 - 7). Das Ergebnis der Untersuchung wird folgendes (Seite 35): Das moralische Handeln ist das pflichtmäßige Handeln, "ein Handeln, das um des Wohl des Ganzen willen kraft eines allgemeinen Gesetzes gefordert werden kann. Der Inhalt der Moral sind die notwendigen, durch allgemeine Gesetze ausgedrückten Forderungen des Gemeinwesens, der Gesellschaft, an die Einzelnen."

Wie man sieht, sind diese Äußerungen noch ein wenig vage und doppeldeutig. Der Verfasser kann sich noch sowohl der subjektiven als auch der objektiven Seite zuneigen, ja sogar zu finden versuchen, was man in früheren Zeiten "eine höhere Einheit" von beidem nannte. Vorläufig scheint die Neigung sich dem Objektiven zuzukehren. Seite 23 schneidet der Verfasser einen Hinweis auf die Sanktion des Gewissens als für das Moralische notwendig mit der Bemerkung ab, "es wäre ein Mißverständnis, zu glaube, das Urteil des Gewissens sei ein vom Urteil der öffentlichen Meinung wesentlich Verschiedenes." Noch mehr objektiv, noch mehr "Gesellschaftsmoralist" ist der Verfasser im nächsten Abschnitt, wo er die Systeme verschiedener Moralphilosophen untersucht und u. a. schart gegen KANT und ADAM SMITH protestiert, weil diese das Ethische an die Vorstellung eines allgemeinen Faktors im Menschen knüpfen. "Ein Pflichtverhältnis ist für das gewöhnliche Bewußtsein stets ein Verhältnis zu anderen Menschen. Ohne Gesellschaft kein Pflichtverhältnis. Die Pflichtvorstellung enthält das Bewußtsein, daß man zu einer gewissen Handlungsart genötigt, gezwungen werden kann. Indem man eine Pflicht anerkennt, gesteht man anderen Menschen eine gewisse Gestalt über sich zu. Man erkennt die übliche Pflichtvorstellung wieder bei KANT, indem die Vorstellungen: Forderung, Gebot, Nötigung, Zwang mit dem Begriff der Pflicht in Beziehung gebracht werden. Die Vorstellung einer fordernden, zwingenden und strafenden Gewalt verflüchtigt sich aber bei KANT, indem das Pflichtverhältnis zu einem rein inneren Verhältnisse gemacht wird, zu einem Verhältnisse zwischen zwei Seiten der menschlichen Natur, zwischen der Vernunftseite und der sinnlichen Seite" (Seite 41). "Die moralischen Gebote werden von KANT als Gebote der Menschheit betrachtet, indem der homo noumenon die Menschheit im Einzelnen ist. Diese Menschheit, die in KANTs reiner praktischer Vernunft lebt und redet, ist aber ein Schatten ohne Fleisch und Blut; sie kann gebieten und befehlen, soviel ihr beliebt, findet aber keinen Gehorsam, weil sie ohne Macht ist. Die Menschheit, an die das gewöhnliche moralische Bewußtsein sich geknüpft weiß, ist eine lebendige Wirklichkeit, die nicht einzig und allein in ihrem Denken existiert, mit der sie dagegen durch Gefühle und Triebe, durch Blut und Nerven verbunden ist." (Seite 42)

Ebenso abweisen verhält sich der Verfasser gegen ADAM SMITHs "the inmate of the breast" [Gefangener der Brust - wp], "the representative of mankind", "den unparteiischen Zuschauer", die KANTs homo noumenon entsprechen. "Ist es möglich, auf diesem Weg zu einer gemeinschaftlichen gleichartigen Wertung menschlicher Handlungen, zu allgemeinen Regeln für das Handeln zu gelangen? Wohl schwerlich!" "Vielleicht wird man sagen, wir scheinen zu vergessen, daß SMITHs höchster Richter der ideale Zuschauer ist, der abstrakte Mensch, der Vertreter der Menschheit im einzelnen Menschen, ein Wesen ohne Individualität. Eine solche Gestalt vermag die Phantasie aber nicht zu bilden und festzuhalten; jedes Phantasiegebilde muß Individualität besitzen, und dann erhalten dessen ... Urteile die Färbung dieser Individualität" (Seite 67).

Der Verfasser sieht deshalb keinen Grund, "den Moralbegriff des gewöhnlichen Bewußtseins" zu ändern. Derselbe befindet sich in Übereinstimmung mit derjenigen Wirklichkeit, deren Denkausdruck er sein will, und ist deswegen gültig: "Die Moral sind die allgemeinen berechtigten Forderungen der Gesellschaft" (Seite 84 und 96). Dieser Ausdruck "berechtigt" ist aber von der Seite der Gesellschaft aus zu betrachten und bedeutet keineswegs, daß das Subjekt selbst der oberste Richter ist. "Die Quelle des Rechts ist der Wille der Gesellschaft, nicht der Wille des Indivduums." (Seite 87)

Es setzt ein wenig in Verwunderung, wie der Verfasser wirklich glauben kann, dieser Moralbegriff sei der Moralbegriff des gewöhnlichen Bewußtseins. Denn ist das Moralgebot jetzt nicht fast dasselbe geworden wie der Inbegriff der im Augenblick am betreffenden Ort gültigen gesetzlichen Bestimmungen?

Nein, erwidert BANG. Es gibt einen ganz einfachen und klaren Unterschied zwischen Recht und Moral. Das Recht ist durch die Gesetze des Staates gegeben, zur Moral gehören aber ferner "die Forderungen der herrschenden öffentlichen Meinung, die mittels sozialer Strafen gehandhabt werden: mittels der verschiedenen Leiden, die eine Folge der Verurteilung von seiten der öffentlichen Meinung sind" (Seite 97 und 109). Diesen Strafen legt der Verfasser das größte Gewicht bei. "Es ist unsere hauptsächliche Behauptung," heißt es Seite 106, "daß alle Forderungen der Moral durch äußere Gewalt gehandhabt werden können."

Somit glaubt BANG nun einen kleinen, aber bestimmten und wohlabgegrenzten Moralbegriff erzielt zu haben. Die Moral ist nicht eine Lehre davon, was mir zuguterletzt am besten frommt, nicht eine Lehre, wie ich am schönsten oder edelsten handle; der moralische Mensch ist nicht der höchste Mensch. Da die Gesellschaft eine Forderung nur dann stellen darf, wenn sie die Mittel besitzt, dieselben durchzusetzen (Seite 143), wird es möglich sein, noch mehr zu leisten, als die Gesellschaft fordert. Höher als die Pflicht steht das Verdienst (Seite 86). Das große Talent, der große Arbeiter, der große Menschenfreund haben höheren sozialen Wert als der vollkommene Pflichtmensch (Seite 190).

Man könnte diese Moral die  Moral des erhobenen Stockes  nennen. Daß BANG dem gewöhnlichen Moralbegriff sehr fern steht, bedarf wohl keines Nachweises. Er hat die gewöhnliche Moral mitten durchgeschnitten und davon nur zurückbehalten, was sich mit Stöcken aus den Menschen herausklopfen läßt. Auch dieser Begriff könnte vielleicht aber doch wegen seiner klaren und scharfen Grenzen, seiner Allgemeingültigkeit, seiner Wissenschaftlichkeit, von Wert sein. Untersuchen wir denselben daher ein wenig näher auf diese gemutmaßten Vorzüge!

Da jeder Staat der Welt nicht nur sein besonderes System von Gesetzen, sondern ferner irgendeine Art einer permanenten gesetzgebenden Versammlung hat, werden wir also nicht nur ebenso viele Moralsysteme bekommen, wie es Staaten in der Welt gibt, sondern die Moral wird auch außerdem in jedem einzelnen Staat von Tag zu Tag wechseln, je nachdem alte Gesetze aufgehoben und neue erlassen werden. Dies ist schon eine etwas bedenkliche Sache für die Allgemeingültigkeit unseres Systems. Doch könnte man über dieses Riff vielleicht noch hinwegkommen, indem man z. B. hervorhöbe, daß wir an allen diesen verschiedenen Gesetzsammlungen lauter  positive  Moralsysteme hätten, während das nie ausgesprochene, dahinter liegende Gemeinschaftliche, das doch wohl zu finden sein muß, das  ideelle  System bildete. Auch das beständige Wechseln braucht uns nicht zu ängstigen; denn selbst wenn wir ein unveränderliches zentrales ethisches Gesetz annehmen, müssen dessen Spezifikationen ganz sicherlich doch mit Ort und Zeit je nach den wechselnden Lebensverhältnissen wechseln. Schwieriger wird es, wenn wir zum anderen Faktor der Theorie kommen: zur öffentlichen Meinung. Denn diese ist offenbar zum moralischen Oberhirten nur schlecht geeignet.

Es ist schon eine mißliche Sache, daß die öffentliche Meinung nirgends ihren Willen kundgetan hat. Man kann daher nie von vornherein eine klare und scharfe Vorstellung davon haben, was sie nun eigentlich verlangt oder verbietet. Nehmen wir nun an, es hätte jedes einzige Individuum einen Spürsinn, so daß alle Unsicherheit in dieser Beziehung verschwände! Stellen wir ferner die allerdings absolut unhaltbare Voraussetzung auf, daß sich in jedem Land oder allenfalls in jeder Gesellschaft im engsten Sinne nur eine einzige öffentliche Meinung fände, eine Art arithmetischer Summe aller verschiedenen individuellen Meinungen! Es werden sich dann dennoch zwei so entscheidende Dinge in den Weg stellen können, daß alles vereitelt wird.

Erstens könnte diese  durchschnittliche  öffentliche Meinung leicht eine ziemlich niedrig liegende Meinung und mehrere ihrer Forderungen ziemlich niedrig liegende Forderungen sein, die vielleicht meinen Unwillen erregten und mir als nicht ganz ehrenhafte Forderungen erschienen. Natürlich werde ich sie zugleich persönlich als unberechtigt und  ungebührlich  betrachten. Diese persönliche Meinung nützt mir aber nichts. "Die Quelle des Rechts ist der Wille der Gesellschaft, nicht aber der Wille des Individuums." "Daß die Gesellschaft eine Forderung stellen  muß,  bedeutet, daß wenn man die Sache vom natürlichen selbstverständlichen höchsten Zweck der Handlungen der Gesellschaft, vom Wohl der Gesellschaft aus erblickt, die Gesellschaft notwendigerweise diese Forderung stellen muß." (Seite 89) Man könnte meinen, in dieser Äußerung noch einen Ausweg aus der Schwierigkeit zu haben, indem es z. B. jedem wohlgesinnten Individuum der betreffenden Gesellschaft einleuchtete, daß die fragliche Forderung dem wahren Wohl der Gesellschaft nicht förderlich sei. Hiermit ist BANG aber noch nicht befriedigt. Die Wohlgesinnten müssen in der moralischen Generalversammlung die Mehrheit haben, ehe ihr Urteil mir helfen kann. Denn "eine moralische Gesetzgebung muß die Neigungen und Bedürfnise aller Einzelnen berücksichtigen und gegeneinander abwägen, auch die Neigungen und Bedürfnisse des Schweines und des Toren." "Besteht die Mehrheit einer Gesellschaft aus Schweinen und Toren, so wird die Moral dieser Gesellschaft danach werden, und zwar nicht nur deren positive Moral, sondern ... auch deren ideelle Moral" (Seite 140, 141). Natürlich - setzt BANG fort - muß man sich entweder dieser Moral beugen oder sich davon machen. "Der Charakter eines moralischen Gesetzes ist zu bestimmen durch die Beschaffenheit der Gesellschaft, für welche dasselbe gültig sein soll, und nicht durch die Beschaffenheit einer möglichen vollkommeneren Gesellschaft" (Seite 154). Populär also: Heule mit den Wölfen, unter denen du dich befindest! Sonst bist du unmoralisch!

Hiermit scheint aber die Allgemeingültigkeit der Moral unleugbar erheblichen Abbruch erlitten zu haben. Im Anfang seiner Abhandlung führt BANG eine scharfe Polemik gegen die Auffassung, es gebe so viele Ethiken, wie es verschiedene Individualitäten gebe. Schließlich endet er nun aber mit der Ansicht, es gebe ebensoviele Ethiken, wie es - sagen wir:  moralisch verschiedene  Gesellschaften gibt. Da jede größere Gesellschaft sich ja wieder in zahlreiche kleinere verzweigt, scheint der Fortschritt kein wesentlicher zu sein.

Und in einer anderen Beziehung ist BANGs Theorie entschieden ein Rückschritt. Entspringt das ethische Gebot aus dem eigenen Innern des Individuums, so hat es seine Autorität eben kraft seines Ursprungs. Wenn es aber von außen kommt? Dem Staat und der Polizei droht hier vielleicht noch keine Gefahr. Hier ist der Stock so mächtig, daß er sich schon Respekt schaffen wird. Auch hier ist aber die öffentliche Meinung der schwache Punkt. Setzen wir wieder kühn voraus, es gebe in einer Gesellschaft eine einzige durchschnittliche, klar ausgesprochene öffentliche Meinung! Daß sämtliche Individuen rein unmittelbar Lust haben sollten, sich den Forderungen derselben zu beugen, dürfen wir natürlich nicht erwarten, und BANG setzt dann auch seine ganze Hoffnung auf ihr Vermögen, und durch Strafe oder durch Aussicht auf Strafe zu zwingen. Ist dies aber nicht eine ganz unbegründete Hoffnung? Natürlich werde ich in einer Menge von Fällen gemäß den Geboten der öffentlichen Meinung handeln; werde ich das aber auch nur ein einziges Mal darum tun,  weil  die öffentliche Meinung es gebietet? Werde ich es nicht vielmehr jedesmal tun, weil ich es rein persönlich am richtigsten finde, so zu handeln? Und finde ich es einmal am richtigsten, so oder so zu handeln, während die öffentliche Meinung mir einen anderen Weg einzuschlagen gebietet, werde ich dann wohl gehorchen? Und was für die Theorie noch verhängnisvoller ist: werde ich dann irgendeinen entscheidenden  Grund  zu Gehorchen haben? BANG selbst ist in dieser Beziehung nicht ganz unbekümmert. In einer Menge von Fällen gebietet die öffentliche Meinung gar nicht, weil sie selbst bezweifelt, daß sie imstande ist, sich Gehorsam zu verschaffen oder zu beaufsichtigen, ob ihr gehorcht wird oder nicht.  Gedanken  sind bekanntlich zollfrei, und dasselbe ist wohl mit  Gesinnungen  der Fall. In anderen Fällen verläßt die öffentliche Meinung sich vielleicht auf ihre Zwangsmittel, auf ihr Vermögen, "das Individuum dieses Isolation mit Gemütsruhe hinnähme oder sich sogar ganz wohl dabei befände! Wo BANG KIERKEGAARDs Geringschätzung der "Endlichkeit" erwähnt, sagt er von seiner eigenen Moral: "Sie gesteht, daß derjenige, dem die Endlichkeit im Ernst ein Schatten und ein Schein ist, außerhalb der Gewalt der Gesellschaft steht; er ist über die Moral erhaben" (Seite 123). Vom Reichen heißt es ebenso niederschlagend: "Die öffentliche Meinung wirkt zunächst durch Isolation des Verbrechers; der Reichtum besitzt aber solche Fähigkeit, sich mit Gesellschaft zu umgeben, daß die öffentliche Meinung sich ihm gegenüber äußerst machtlos fühlt" (Seite 154). Sollte ähnliches nun aber nicht auch vom Vornehmen, dem Berühmten usw. gelten? Und sollte der Arme, der Geringe, der Unberühmte nicht einen ähnlichen Schutz an dem Umstand haben, daß die öffentliche Meinung sich mit ihm gar nicht ernstlich beschäftigen mag? Sollte unter den heutigen Menschen das Bewußtsein überhaupt nicht ziemlich allgemein sein, daß die öffentliche Meinung in den allermeisten Fällen nur so oberflächlich Bescheid weiß, daß es sowohl komisch als leichtfertig von ihr wird, ein Urteil fällen zu wollen? Ja, sollte die öffentliche Meinung häufig nicht selbst so klug sein, daß sie das weiß und deshalb durchaus davon absieht, als Hüterin der Moral aufzutreten, aus Schreck, dem wohlbekannten Begriff eines "Tugenddrachen" zu verfallen?

Somit wird der aufgestellte Moralbegriff ganz sicher unvermeidlich bis zur reinen Polizeimäßigkeit einschrumpfen. BANG hat dies nur nicht recht bemerkt, weil er in der Tat außerdem noch einen ganz anderen Moralbegriff hat, der augenscheinlich die Mängel des ersteren unwillkürlich verschleiert und verdeckt hat, ohne jedoch mit demselben verschmelzen zu können. Dieser neue Begriff kommt zum Vorschein, wo BANG sich im Schluß seines Buches an die Untersuchung des menschlichen Pflichtbewußtseins und Pflichtgefühls macht. "Die Erkenntnis der Abhängigkeit als unumgänglicher Lebensbedingung," heißt es hier (Seite 162 - 163), "ist der erste Schritt zur moralischen Erkenntnis, zur Bildung eines persönlichen moralischen Bewußtseins." "Diese (Gefühl) ist nicht das Gefühl der Abhängigkeit von einer bestimmten äußeren Autorität, sondern ein Gefühl, hervorgerufen durch die klare Erkenntnis, daß die Abhängigkeit überhaupt eine notwendige Lebensbedingung ist, der man sich zu unterwerfen hat." "Der Einzelne unterwirft sich den Forderungen der Gesellschaft, jedoch nur unter der Begingung, daß dieselben mit einem anerkannten Prinzip übereinstimmen, und er gesteht keiner Autorität die Alleinberechtigung zur Auslegung dieses Prinzips ein; selbst entscheidet er, welche Forderungen an ihn sich aus dem Prinzip herleiten lassen, mit der Verpflichtung natürlich, die Richtigkeit seiner Auffassung mit klaren Gründen darzulegen; der Einzelne gibt sich selbst Gesetze im Namen der Gesellschaft."

Das ist, wie man sieht, etwas ganz anderes als vorher. Ich soll jetzt nicht mehr mit den Wölfen heulen, unter denen ich mich befinde, oder mich davonmachen, sondern es wird mir moralisch gestattet, mich zu betragen, wie ich selbst es für richtig halte, wenn ich nur klare Gründe geben soll (- der öffentlichen Meinung? - in der Kölnischen Zeitung?), und von wem das "Prinzip" "anerkannt" sein soll ( - von einer Generalversammlung? - wo auch "das Schwein und der Tor" stimmen dürfen?). Doch, der Verfasser hat gewiß nicht die Absicht gehabt, das Individuum mit diesen Worten all dessen wieder zu berauben, was er ihm mit der anderen Hand gibt. Im Gegenteil, er geht zum direkten Hervorheben der Selbständigkeit des Individuums über, indem es zum Schluß heißt: "Im Pflichtverhältnis bin ich mir meiner bewußt nicht nur als abhängig, sondern auch als selbständig inmitten der Abhängigkeit." "Die moralischen Gesetze werden im Namen der Gesellschaft von mir selbst gegeben." "Der Anschluß meines Gefühls an die moralischen Gesetze ist deshalb eine Achtung, die ich mir selber erweise" (Seite 163).

Sowohl KANT als ADAM SMITH würde finden, daß das eine vortreffliche Rede sei. Denn "die öffentliche Meinung" ist nun als höchstes Gericht abgesetzt, und der Kampf, der ethische Kampf, ist ein Kampf zwischen mir selbst und dem Vertreter der idealen Gesellschaft in meinem Inneren geworden, dem "homo noumenon" oder dem "unparteiischen Zuschauer", der vorhin verworfen wurde. Wenn dieser Vertreter früher ein Schatten ohne Macht genannt wurde, so war das ganz unbesonnen gesagt, denn er präsentiert nicht nur "eine lebendige Wirklichkeit", sondern  ist  auch eine solche, an die wir sowohl "mit Blut als auch mit Nerven" geknüpft sind, und auch BANG weiß, daß derselbe bei den verschiedenen Menschen in allen möglichen Stärkegraden auftreten kann, wodurch es uns gerade erklärlich wird, daß auch das ethische Betragen in höchst verschiedenen Graden zu finden ist. Und ebensowenig zutreffend war der andere Einwurf, die Phantasie könne sich kein solches Gebilde gestalten; denn die Phantasie braucht sich gar keine Mühe zu geben. Das Gebilde soll nicht gestaltet werden, - es existiert, wie wir sehen werden, mehr oder weniger machtvollkommen in jeder menschlichen Seele. Auch BANG kennt dasselbe sehr gut und hat es selbst in seiner Abhandlung mit dem rechten Namen benannt. -

BANGs Abhandlung ist eine höchst scharfsinnige und konsequente Arbeit, und wenn sein erster Moralbegriff seine äußerst eigentümliche einseitige Gestalt erhalten hat, ist das wohl darin begründet, daß der Verfasser gleich von Anfang an seine Aufgabe verkehrt angefaßt hat. Diese erste unglückliche Richtung hat darauf das meiste des Übrigen nach sich gezogen.

BANG beruft sich auf KANT bei der Wahl seines Verfahrens. KANT begann aber wirklich nicht mit einer philologischen Untersuchung des Sprachgebrauchs des gewöhnlichen Bewußtseins. Die Menschen sind meist viel besser als ihr Sprachgebrauch, und es wird deshalb am besten sein zu betrachten, was hinter diesem steckt, nachzusehen, ob die Gedanken nicht viel vernünftiger sein möchten als die Worte. Hierzu kommt, daß "das gewöhliche Bewußtsein" ebenso wie "die öffentliche Meinung" ein äußerst elastischer Begriff ist, der sich u. a. in sehr verschiedenen Höhenstufen nehmen läßt. BANG hat das selbst angedeutet, indem er betont, es gebe Leute, die beim "Sittlichen" nur an das Sexuell-moralische denken. Ganz auf dieselbe Weise gibt es Leute, die bei den Bestimmungen "moralisch" und "unmoralisch" nur daran denken, was die öffentliche Meinung rückhaltlos lobt oder verdammt. Macht die öffentliche Meinung einen Lärm, so finden diese Leute alles in Ordnung. Der Verfasser kennt ja aber auch andere Leute, die zugleich "höhere und feinere" Formen des Moralischen annehmen und von vornherein ausgeschlossen ist es ja nicht, daß hierin etwas Berechtigtes liegen könnte. Weder die erste noch die letzte dieser drei Klassen von Menschen hat BANG aber zu Rate gezogen. Er verweilt einzig und allein bei der mittleren und bekommt deshalb ganz natürlich deren Resultat. Daß er darauf die Meinungen verschiedener Moralphilosophen untersucht, bringt ihn nicht weiter, denn diese Meinungen werden wesentlich eben demgemäß gebilligt oder verworfen, wie gut oder schlecht sie mit dem gefundenen Begriff übereinstimmen und die darauf folgende kritische Prüfung beschränkt sich in der Tat auf eine leichte Untersuchung, ob der gefundene Begriff einen inneren Widerspruch enthält oder nicht. Wollte jemand erst das populäre Bewußtsein fragen, was es sich unter dem Begriff "Säugetier" denke, darauf den Zoologen vorwerfen, daß sie auch die "Walfische" zu dieser Klasse zählten, und endlich prüfen, ob irgendetwas Ungereimtes darin liege, den Namen "Säugetier" auf Kühe und Schafe, Hunde und Katzen usw. anzuwenden, so würde er es so ziemlich ebenso machen wie BANG. Ein richtiges Resultat würde aber auch jener nicht erzielt haben.

Erst wenn BANG sich an die Untersuchung des menschlichen Pflichtgefühls macht, gelangt er über die Grenzen seines Ausgangspunktes hinaus. Das populäre Bewußtsein, mit dem er sich bisher beschäftigte, hat nämlich keine psychologische Analyse des Pflichtgefühls aufgestellt. Hier konnte es ihn daher nicht mehr zurückhalten.


VII.

Das Vorhergehende wird uns gezeigt haben, daß die wirkliche, äußere Gesellschaft gar zu unfertig und unvollkommen ist, um uns unser ethisches Betragen direkt diktieren zu können. Sie kann ihre juristischen und sozialen Forderungen an mich stellen. Erst in dem ich diesen meine innere Zustimmung gebe, stehen sie mir aber als  ethische  Forderungen da. Man könnte das gern einen analytischen Satz, eine Selbstverständlichkeit nennen. Unter einem ethischen Gebot versteht das reife Bewußtsein nun einmal  ein aus dem eigenen Wesen des Menschen entspringendes Gebot als Gegenstück irgendeines beliebigen äußeren Befehls.  Möglicherweise ist der Begriff "des Ethischen" nun ein verfehlter Begriff; dann wird es aber am richtigsten sein, denselben zu Boden zu schlagen, das Wort "ethisch" aus der Sprache zu vertilgen, dieses Benennung aber nicht auf ein völlig Verschiedenes zu übertragen.

Ganz ebenso wie das soziale Gebot muß ich auch das religiöse Gebot ethisch adoptieren, bevor es für mich entscheidende Bedeutung erhalten kann. Eine konfessionelle Ethik, sie z. B. eine christliche oder eine mohammedanische, wird uns hier deshalb ebensowenig zu helfen vermögen wie eine Soziologie. Denn eine christliche Ethik, eine mohammedanische Ethik muß ja eine Lehre vom rechten Betragen  von der Voraussetzung aus  sein, daß der christliche bzw. der mohammedanische Glaube berechtigt ist. Wir würden mithin mitten im Problem beginnen statt mit dem Anfang. Daß sowohl das religiöse Bewußtsein als das soziale Bewußtsein des Individuums die allergrößte ethische Bedeutung wird erhalten können, ist etwas ganz anderes.

Unsere bisherigen Untersuchungen haben uns insofern nur Täuschungen gebracht. Es geht nicht an, die ethische Forderung gleich der Forderung der Gesellschaft zu setzen, ja es geht nicht einmal an, sie gleich der berechtigten Forderung der Gesellschaft zu setzen, denn vielleicht erstreckt sich das Ethische weiter. Es geht auch nicht an, zu sagen: Du sollst es der organischen Natur nachmachen und lebensfördernd wirken! Dieser Befehl ist sowohl zu willkürlich als zu vieldeutig. Ebensowenig geht es an, mit völliger Gleichgültigkeit hinsichtlich des Erfolgs zu handeln, was wohl auch kaum möglich wäre. Endlich geht es auch nicht an, das Ethische gleich dem zu setzen, was dem Individuum das Natürlichste, das Ansprechendste ist. Denn soll der Begriff "des Ethischen" nicht vollständig zersprengt werden, so muß es offenbar heißen: Nicht, was das Individuum  tatsächlich  am meisten anspricht, sondern was es am meisten ansprechen  sollte,  ist das Ethische.

Wir müssen unsere Untersuchungen daher von neuem beginnen, und, um uns zu orientieren, wird es am besten sein, ein paar allgemeine Bemerkungen vorauszuschicken.

Unsere Hauptfrage war die: Ist eine wissenschaftliche Ethik möglich?

Im Vorhergehenden bestimmten wir nun, was wir unter einer solchen Lehre verstehen wollten. Die Ethik ist - ihre Wirklichkeit vorausgesetzt - eine praktische Wissenschaft, ganz wie jede andere, insofern jede Wissenschaft doch wohl dazu beitragen sollte, Licht über das Leben zu verbreiten, mithin praktischen Nutzen bringen sollte. In einem anderen Sinn ist sie nicht "praktisch". Sie ist aber eine Lehre, eine Theorie vom "Praktischen", vom menschlichen Wollen, Handeln, Betragen. Auch die Psychologie ist jedoch eine Lehre vom menschlichen Wollen usw., und die Ethik ist deshalb noch etwas enger zu bestimmen. Wie aus der Lehre der Psychologie vom menschlichen Denken eine speziellere Lehre vom  rechten  Denken: die Logik, entspringt, so entspringt aus der Lehre von der Psychologie vom menschlichen Wollen eine speziellere Lehre vom  rechten  Wollen, die Ethik. Dieser Disziplin wird also die Aufgabe, wissenschaftlich nachzuweisen, wie sich unter Bezugnahme auf die Menschennatur eine Art des Wollens, eine Art des Betragens muß aufstellen lassen können, die im Gegensatz zu allen anderen Arten  die rechte  genannt werden kann,  d. h. die mit dem innersten bleibenden Wesen des Menschen übereinstimmende, die zuguterletzt widerspruchslose.  An ein solches Betragen dachte das allgemeine Bewußtsein augenscheinlich, als es seine Vorstellungen vom Ethischen bildete; ein solches Betragen wird deshalb auch  das ethische  genannt werden können, und in demselben Maß, wie es den Vorstellungen des gewöhnlichen Bewußtseins von demselben ähnlich werden wird, sind diese Vorstellungen auch als berechtigt zu kennzeichnen. Dagegen liegt es ganz außerhalb der Aufgabe der Ethik, dafür zu sorgen, daß die Leute ethisch werden. Nicht einmal die Pädagogik, welche die Lehre, die Theorie ist, wie das rechte Betragen hervorgerufen wird, hat damit zu schaffen, sondern überläßt das dem praktisierenden Pädagogen und den vielen anderen erziehenden Mächten des Lebens. Ebensowenig ist es die Aufgabe der Ethik oder deren Pflicht, eine Theorie des Betragens zu gestalten, nach welcher jeder mit Notwendigkeit oder mit größter Wahrscheinlichkeit ethisch werden müßte. Im Gegenteil! Würde dies das Resultat, so könnte man schon daraus schließen, daß die Theorie falsch wäre. Denn die Erfahrung lehrt uns mit hinlänglicher Deutlichkeit, daß das menschliche Betragen auf sehr verschiedener ethischer Höhe steht. Auch diese Erscheinung, auch das tatsächliche Vorhandensein des Unethischen muß die Ethik aber zu erklären vermögen. Sie erschaut jedoch das Unethische mit demselben unparteiischen Interesse wie das Ethische. Sie lobt nicht, sie tadelt nicht, sie "wertet" nicht um das geringste mehr als jede andere Wissenschaft; ja es ist nicht einmal völlig genau, wenn man sagt, sie handle davon, was  sein soll  oder was  sein sollte.  Denn sie wünscht noch gebietet sie. Sie spricht nur die  seiende  Wahrheit aus, daß wer so oder so handelt, in Streit mit sich selbst gerät, während ein anderer, der so oder so handelt, bleibende Übereinstimmung mit sich selbst bewahrt.

So muß die in Frage stehende Disziplin aussehen. Wir schreiten jetzt zu dem Versuch, eine solche aufzubauen.

Das menschliche "Handeln" beginnt, wie die Erfahrung lehrt, äußerst zusammenhangslos. Wie das kleine Kind noch nicht Mensch im eigentlichen Sinne ist, so ist sein Betragen noch kein eigentliches Handeln. Allmählich erst reift das Bewußtsein heran, so daß von eigentlichen Zwecken und von eigentlichem Wollen eines Zweckes die Rede werden kann. Einigen Zusammenhang erhält das uneigentliche Handeln nur, insofern es wesentlich aus Instinkt- und Triebhandlungen besteht, aus Handlungen, zu denen das Kind gleichsam von hinten vorwärtsgestoßen wird, ohne einen Zweck vor Augen zu haben, ein blindes Wirken also, das freilich auf die Erhaltung des Individuums abzielt. Sämtliche Formen der primitiven Triebe - dieses Wort im breitesten Sinn genommen - lassen sich bekanntlich in eine einzige zusammenfassen: in den Trieb der Selbstbehauptung. (8) Die ersten zerstreuten Strahlen eines Zweckwollens, die sich in dieses Triebleben einschieben, sind ferner in höchstem Grad an den Augenblick gebunden. Vergangenheit und Zukunft entstehen dem Individuum erst, wenn sein Vorstellungsleben eine Entwicklung erreicht hat, die es befähigt, sich Erinnerungen und Erwartungen zu bilden. Diese Erinnerungen und Erwartungen sind wiederum wegen der Armseligkeit der Assoziation anfangs schmächtig und blaß und deshalb auch nur von einer äußerst dünnen Gefühlsschicht umhüllt. Das Kind sagt mit dem KIERKEGAARDschen Pseudonymen:  "Sofort  ist die göttlichste aller Kategorien!" und stimmt vollständig OEHLENSCHLÄGERs ALADDIN bei: "Es dauert so lange bis morgen!" Es ruht daher über dem ersten Auftreten des Kindes ein Schimmer von Egoismus, der jedoch ein falscher Schimmer ist, denn es gebricht noch gänzlich an der Reife des Bewußtseins, die der Egoismus notwendigerweise voraussetzt.

Allmählich erhält jedoch sowohl die Erinnerung als die Erwartung größere Fülle und somit ganz natürlich reichere Gefühlsbetonung, und es entsteht jetzt die Möglichkeit, daß dieselben sich dem nur an den Augenblick gebundenen Vorstellen und Fühlen gegenüber geltend machen können. Bei jedem auftauchenden Antrieb erblickt das Individuum jetzt nicht nur die augenblicklichen, sondern auch die fernerliegenden Folgen. Jede dieser Vorstellungsmassen hat ihre Gefühlsatmosphäre, mit der sie als Motiv eines Wollens auftreten kann, und es kann mithin von einem Streit im Individuum, von einem Kampf zwischen verschiedenen Mächten in dessen Innerem die Rede werden. Verzehrt das Kind gar zu viele dieser wunderschönen grünen Stachelbeeren, so erkrankt es, wie es weiß, muß morgen vielleicht das Bett hüten, statt im Freien herumzulaufen, ja wird vielleicht nicht einmal wieder in den Garten gelassen, bis alle Stachelbeeren verschwunden sind. Das breitere Zukunftsinteresse steht auf diese Weise dem engeren Augenblicksinteresse feindlich gegebenüber, welches letztere jedoch wegen seiner sinnlichen Unmittelbarkeit mächtig wirkt.

Wie leicht zu ersehen ist, haben wir hier aber schon den ersten Anlauf zu einer ethischen Situation. Das Individuum hat sich als ein zusammengesetztes Wesen erwiesen; es ist gleichsam zweiteilig. Es gibt hier die Möglichkeit eines  Augenblickswollens,  und es gibt die Möglichkeit eines relativen  Totalitätswollens.  Der Augenblick ann als souverän, als absolut, als aus aller Verbindung mit den künftigen Augenblicken losgerissen Huldigung finden, es kann ihm aber auch als Glied der ganzen Reihe von Augenblicken, die das Leben ausmachen, gehuldigt werden. Ersteres ist ein  Widerspruch,  denn der Augenblick ist nicht souverän, steht nicht auf seinen eigenen Beinen, sondern ist mittels Tausender von Fäden mit den folgenden Lebensaugenblicken verwoben. Letzteres ist ein erster primitiver Ausdruck für "das Rechte", für ein Wollen dem Gesetz meines Wesens gemäß, ein erster Schritt in der Richtung des Allgemeinhandelns, des "eines wollen". Schon hier liegt der Gegensatz ethisch-unethisch im Keim. Das Ethische ist nicht, den Augenblick zu  verleugnen.  Auch das würde ein Widerspruch sein, denn das Leben besteht nur aus Augenblicken. Es ist aber das Ethische,  den Augenblick als Glied zu wollen.  Diese Berücksichtigung auch der Zukunft ist eine Selbstüberwindung, ein Sieg, den die Einheit meines Wesens über die Mannigfaltigkeit davonträgt, eine Einübung des Sichselbstgebietens, das auch zur Erhöhung meiner ethischen Beschaffenheit seinen wenn auch unendlich kleinen Beitrag leisten wird.

Sind die Stachelbeeren mein Eigentum, so wird die Gesellschaft wahrscheinlich weder die Forderung, daß ich dieselben essen, noch daß ich sie nicht essen solle, an mich stellen. Hierauf kann man sich aber offenbar nicht beziehen, wenn man die Grenze des Ethischen abstecken will. Auch die Selbstbeherrschung, das Sichselbstgebieten, die Pflege der Gesundheit und der Stärke haben doch ganz augenscheinlich ethischen Wert; ja alle diese Eigenschaften des Individuums werden zuletzt im allgemeinen doch auch eben der Gesellschaft zugute kommen.

Man könnte gegen das soeben entwickelte möglicherweise den Einwurf erheben, der allgemeinere Zweck sei keineswegs ohne weiteres für mehr ethisch zu halten als der engere. Beherrscht der Geizhals den Augenblick und unterwirft er sich Kummer und Leiden, um immer mehr Geld zusammenzuscharren, so handelt er offenbar doch nicht ethisch. - Dies ist an und für sich wahr, der Einwurf ist aber dennoch verfehlt. Auch die Selbstbekämpfung des Geizhalses ist eine an und für sich wertvolle Handlung, freilich aber im Dienst einer schlechten Sache. Wir lernen hieraus, daß wir der Bestimung des Ethischen noch nicht auf den Grund gekommen sind; eines wollen ist noch nicht das Rechte wollen. Bisher haben wir das Ethische nur von einer einzigen Seite aus betrachtet, sozusagen dessen eine Dimension bestimmt - es hat aber auch noch eine andere. Das Ethische ist eine Art Überwindung nicht nur der Äußerlichkeit der Zeit, sondern auch - man gestatte mir einen unschädlichen bildlichen Ausdruck - der Äußerlichkeit des Raumes. Bisjetzt beschäftigten wir uns nur mit der Zeit. Das obengenannte Individuum stand in gewissem Sinne für sich allein im Dasein. Es war keine Rede von anderen lebenden Wesen, von keinem Gebot oder Verbot der Eltern oder ähnlichen Dingen. Diese Einseitigkeit müssen wir entfernen.

Vorerst aber noch eine Bemerkung mit Bezug auf das Vorhergehende! Dieses zeigte uns, daß die  Behauptung des Augenblicks  oder, genauer, die absolute Behauptung des Augenblicks einen Widerspruch enthält. Den Augenblick kann ich ohne Widerspruch nur als Glied der Lebenstotalität behaupten, weil der Augenblick tatsächlich nur ein Glied ist. Dies wird mir klar einleuchten, sobald ich es ruhig und objektiv überlege, und ich muß deshalb das Urteil bilden: So mußt du offenbar handeln, wenn du dein eigenes Wohl willst, d. h. wenn du der Täuschung und dem Schmerz entgehen willst, die mit dem Widerspruch verbunden sind! - Da es nun kraft der Uranlage des Daseins gegeben ist, daß jedes fühlende Wesen sein eigenes Wohl will, wenn es aus Verblendung auch oft in entgegengesetzter Richtung handelt,  so läßt dieses hypothetische Gebot sich wieder in das kategorische umschreiben:  hat anscheinend noch nicht die volle ethische Klangfarbe, und mancher möchte es vielleicht ein dürftiges  "Muß der Klugheit"  nennen; auf diesen und auf andere naheliegende Einwürfe werden wir jedoch später zurückkommen. Hier betonen wir nur, daß die genannte Einsicht mehr oder weniger deutlich im Bewußtsein jedes normalen Individuums auftreten muß. Damit ist aber keineswegs gegeben, daß sie der momentanen Forderung gegenüber mit hinlänglicher Klarheit und genügendem Gefühlston in der Hitze des Streites, im Augenblick des Handelns auftreten wird, und ob mein tatsächliches Betragen in dieser oder in jener Richtung gehen wird, ist deshalb noch unsicher. Sowohl das ethische als auch das unethische Wollen steht als möglich da.

Bevor wir diesen Umstand weiter verfolgen, müssen wir jedoch die soeben erwähnte Einseitigkeit aufheben.

Das Individuum steht im Dasein nicht allein, sondern findet sich stets in einen Kreis anderer lebenden und fühlenden Wesen gestellt, vor allen Dingen in die menschliche Gesellschaft, deren es selbst ein einzelnes Glied ist. Selbst wenn es gelingen sollte, das durchgängige Ich im Gegensatz zum momentanen Ich zu behaupten, würde es darum doch dem Widerspruch nicht entgehen, wenn es dieses Ich nur in dessen  Isolation  behauptet. Denn auch das durchgängige Ich ist nicht souverän. Dieses ist wieder nur ein Glied einer größeren Totalität und mittels vielfacher Bande mit dieser verknüpft, die, wie schon angedeutet, im eigenen Inneren des Ich ihre Vertreter, ihre Fürsprecher hat. Diese Fürsprecher werden sich deshalb wider die isolierte Selbstbehauptung erheben und fortwährend mit größerer oder geringerer Stärke suchen, dieselbe zum allgemeinen Handeln umzugestalten, das nicht nur sämtliche Augenblicke des Lebens berücktsichtigt, sondern auch das Wohl sämtlicher Menschen, im weitesten Sinne sogar das Wohl sämtlicher fühlenden Wesen.

Es gibt besonders  drei derartige Mächte im Indiviuum,  die jede auf ihre Art dazu beitragen, diese  wahre Selbstbehauptung  zu erzeugen.

Die erste derselben ist  die einfache, rein selbstsüchtige Berechnung,  die mich belehrt, daß ich eine gewisse Rücksicht auf meine Mitmenschen zu nehmen habe, da diese mir in der Regel mit gleicher Münze zahlen werden. Natürlich wird dieser Faktor für sich allein nie zum Ethischen führen. Es wird ein Anschein eines allgemeinen Handelns entstehen und sonst nichts. Da nur die Furcht vor Vergeltung und Strafe mich antreibt, werde ich meinem Handeln die ethische Form geben, wo ich es nicht zu unterlassen wage; dem Wehrlosen und Schwachen gegenüber werde ich es vielleicht aber ganz anders machen. Besonders sind es natürlich die Gebote und die Verbote der organisierten Gesellschaft, mit denen in Übereinstimmung zu leben ich mich aufgefordert fühlen werde. Wir können deshalb das Betragen, das durch diese Macht erzeugt werden kann, das  legale  nennen. Bis zum Ethischen selbst gelangen wir, wie gesagt, nicht; eine erste Behandlung mittels des Schrobhobels als Vorbereitung auf das Ethische können wir aber auf Rechnung dieser Macht schreiben.

Die zweite Mach im Individuum, die dieses über die isolierte Selbstbehauptung hinaus zu führen versuchen wird, ist der Inbegriff  der verschiedenen tuistischen  [Tuismus = Duismus nach Feuerbach - wp]  oder sozialen Triebe,  die sich in höherem oder geringerem Grad bei jedem Menschen geltend machen. Wir leiden, wenn wir andere leiden sehen, und helfen ihnen keineswegs nach Kräften, rein unmittelbar, ohne Berechnung. Das Band zwischen Eltern und Kindern, die gegenseitige Anziehung der beiden Geschlechter, die unwillkürlich gefühlte Sympathie für andere, bei denen ich z. B. meine Meinungen und Neigungen wiederfinde, usw. usw., das alles sind Faktoren, die unter diese Macht fallen. Kraft dieses sympathischen Bandes wird eben die Rücksicht auf die Gebote oder Verbote der Gesellschaft, auf das Lob und den Tadel meiner Mitmenschen eine neue Färbung erhalten, so daß ich mein Betragen danach einrichte, nicht mehr allein aus Furcht und mit Unwillen, sondern mehr oder weniger unmittelbar und willig, indem der Befehl nun nicht mehr dieselbe Äußerlichkeit hat wie vorher. Das Äußere und das Innere sind in der Einheit der Sympathie gleichsam miteinander verschmolzen.

Auch diese Macht wird uns aber nicht ganz bis ins Ethische hineinführen können. Neben der unwillkürlichen Sympathie besteht die unwillkürliche Antipathie, die sich ebenfalls in jedem Individuum zur Geltung bringt und der Sympathie feste, vielleicht sogar ziemlich enge Grenzen absteckt. Wo man das ethische Betragen auf die Sympathie allein zu begründen gesucht hat, legte man deshalb immer viel mehr in diesen Ausdruck hinein, als der gewöhnliche Sprachgebrauch es mit sich bringt. Die Sympathie kann mich bewegen, meine Freunde zu lieben; zugleich hasse ich vielleicht aber meine Feinde und hege Antipathie gegen alle Andersmeinenden und Andersfühlenden. Die Grenzen meines Wohlwollens und meines Rücksichtnehmens werden sich freilich fortwährend erweitern können; ob das aber geschieht, wird in hohem Grad auf Zufälligkeiten beruhen. Wie die erste Macht uns zur Legalität führen konnte, kann diese zweite Macht uns zu dem führen, was man  Sozialität, Liebenswürdigkeit  nennen möchte. "Was für ein liebenswürdiger Mensch"! bricht die öffentliche Meinung vielleicht aus. Die öffentliche Meinung kann aber, wie gesagt, kein ethisches höchstes Gericht sein, und in dem möglicherweise gewonnenen Standpunkt liegt noch etwas Ästhetisch-Unzuverlässiges, über das wir hinweg müssen.

Es findet sich nun aber auch in jedem menschlichen Individuum noch eine dritte Macht, die wichtigste und wesentlichste unter allen drei:  das  Gewissen. Indem wir diesen Faktor einführen, gilt es jedoch, achtzugeben, daß wir uns nicht in einem Kreis drehen. Denn das Gewissen im weitesten Sinne ist ja eben der Inbegriff all unserer halbbewußten und völlig klaren Gedanken vom ethischen Betragen nebst den damit verknüpften Gefühlen der Lust und der Unlust, mithin ein äußerst zusammengesetzter, konkreter Faktor, an und für sich bereits ein wesentliches Stück des Charakters des Menschen. Im kleinen Kind ist dieser Faktor noch nicht vorhanden; Schritt für Schritt wird er während der Entwicklung des Lebens aufgebaut, anfangs ganz und gar durch die Einwirkungen der Außenwelt, fortwährend unter beständiger Wechselwirkung mit diesen. Er ist also in hohem Maße ein geschichtlich bestimmtes Gefühl, das mit Ort und Zeit und von Individuum zu Individuum wechselt, und es sieht deshalb aus, als wäre es ein unvernünftiges Verfahren, sich auf sein Zeugnis zu berufen, wenn es darauf ankommt, das rechte Betragen zu ermitteln, zu erfahren, ob es überhaupt ein solches gibt, und im bejahenden Fall: ob dieses denn mit dem Betragen zusammenfällt, welches die Menschen nun einmal das ethische getauft haben. Denn gerade unter dem Einfluß der geschichtlich vorliegenden Anschauungen vom Ethischen ist das Gewissen ja im Menschen hervorgerufen und ausgestaltet worden, und es kann daher weder besonders überraschend noch entscheidend sein, daß es wiederum als eine Macht im Gemüte dasteht, die eben dieses Betragen erfordert.

Ja. die Schwierigkeiten scheinen sich noch viel weiter zu erstrecken. Denn ist das Gewissen ein solchs, geschichtlich bedingtes Gefühl, eine Art Kunsterzeugnis, so müssen wir ja erwarten, allerlei höchst verschiedene Formen des Gewissens anzutreffen, so verschiedene, daß es uns, selbst wenn wir unser Interesse auf die mehr zivilisierte menschliche Gesellschaft beschränken und den "primitiven Mann" als noch nicht völligen Menschen (9) außer Betracht lassen, doch leicht ergehen könnte, wie es uns zu gehen drohte: wir würden, den verschiedenen ARten von Gewissen entsprechend, eine Menge Ethiken bekommen: die Ethik des Räubers, die des Diebes, des Lügners, des braven Mannes und noch viele andere. Damit würde unsere Aufgabe freilich auch ihre Lösung gefunden haben, denn sie lautete ja gerade: Ist die Vorstellung des Ethischen eine geschichtlich-zufällige Vorstellung, oder ist das Ethische ein mit dem innersten bleibenden Wesen des Menschen notgedrungen Zusammenhängendes, ein in allen wesentlichen Zügen konstanter Ausschlag der sämtlichen Individuen gemeinsamen Grundlage?

Indessen scheint wirklich letzteres der Fall zu sein. Wenn gewisse wilde Völkerschaften ihre bejahrten Eltern schlachten und verzehren, "damit die Würmer ihrer nicht habhaft werden", so ist das beim ersten Anblick allerdings eine etwas befremdende Erfüllung des Gebotes: Du sollst Vater und Mutter ehren! Sieht man näher nach, so schimmert jedoch die Gemeinschaftlichkeit hindurch, und ähnlicherweise verhält es sich gewiß überall. Erweisen die Verschiedenheiten zwischen Mensch und Mensch sich oft als so absolut groß, daß alle Einheit verschwunden zu sein scheint, rührt das gewiß zum großen Teil daher, daß die Verschiedenheiten eben das dem Äußeren Zugekehrte, das Peripherische sind. Das Zentrale sieht man, gerade weil es das Zentrale ist, lange nicht so direkt, und man wird hierdurch leicht zu dem Glauben versucht, daß es gar nicht existiere. Es ist indessen ja festgestellt, wir bereits bemerkt, daß jedes lebende Wesen, das unter den psychologischen Begriff "Mensch" gehören soll, im Besitz aller der aus der Psychologie bekannten Merkmale sein muß. Dasselbe muß ein vorstellendes fühlendes wollendes Wesen sein; sein Vorstellen, Fühlen und Wollen müssen den gewöhnlichen wohlbekannten Gesetzen gehorchen; es muß dieselben Formen der sinnlichen Wahrnehmung, der Assoziation, des Denkens, des Fühlens, dieselben Instinkte, Triebe usw. usw. besitzen, wie jedes andere Exemplar der Gattung, kurz, die Grundelemente und die Grundtätigkeiten müssen in allen menschlichen Individuen dieselben sein, selbst wenn die nach außen gekehrten Erscheinungen sich noch so verschieden ausnehmen.

Und etwas ganz Ähnliches muß notwendigerweise von demjenigen Bau im Menschen gelten, den wir dessen Gewissen nennen.  Auch hier werden wir bei näherer Betrachtung etwas Wechselndes und etwas Bleibendes, ein Peripherisches und ein Zentrales finden.  Es verhält sich richtig, daß im kleinen Kind noch keine Spur von Gewissen anzutreffen ist; dieser äußerst zusammengesetzte Faktor ist weder ein verborgen noch ein offenkundig "angeborenes Vermögen" des Menschen. Hieraus folgt aber noch nicht, daß er eine geschichtlich-zufällige Hinzufügung zum Wesen des Menschen ist, eine Zugabe, die kommen oder ausbleiben oder jede beliebige aller möglichen Gestalten annehmen könnte. Auch vom sexuellen Trieb zeigt das kleine Kind keine Spur; dessen Bedingungen, dessen Elemente sind aber so vorhanden, daß er später eintritt, und zwar mit Notwendigkeit und im wesentlichen auf eine und dieselbe ganz bestimmte Weise. Etwas Ähnliches gilt vom Gewissen. Dieses ist aus dem Denken und dem Gefühl aufgebaut. Beide diese Arten von Elementen werden sich aber mit Notwendigkeit einstellen, und aus denselben lassen sich freilich sehr verschiedene Bauten aufführen; man kann aber nicht alles Beliebige aus ihnen erbauen. Auch aus gewöhnlichen Backsteinen kann man einen anscheinend zylindrischen Brunnen oder Schornstein bauen; sieht man aber näher nach, so werden sich allenthalben die geradlinigen Formen der Steine geltend machen. Ebenso wird die Ureigentümlichkeit des Denkens sowohl als des Fühlens an zahlreichen Punkten in jeder noch so eigentümlichen Form des Gewissens auf entscheidende Weise zum Durchbruch kommen. Das Denken ist bekanntlich der objektive, der allgemeine Faktor des Menschen. In der Phantasie hat jedes Individuum seine Welt; die Welt des Denkens ist aber nur eine einzige - wenn anders richtig, d. h. der eigenen Natur des Denkens gemäß gedacht wird. Am Denken haben wir daher den ersten primitiven Ausdruck für den "homo noumenon", den "unparteiischen Zuschauer", den dem Menschen innewohnenden "Vertreter der Menschheit", den alle Philosophen von PLATON an bis zu den allerjüngsten unter höchst verschiedenen Namen angenommen und besprochen haben. Das Denken ist aber noch nicht der gesamte Vertreter; auch das Gefühl muß hinzukommen, wie wir sehen werden; einstweilen betrachten wir aber das Denken allein. Nehmen wir nun ein eigentümliches Gewissen vor, z. B. das eines italienischen Räubers! Er findet z. B. in seinem Gewissen, daß es besonders verdienstlich ist, möglichst viele seiner Mitmenschen zur Zielscheibe zu nehmen. Jedesmal tut er das aber vielleicht mit einem Gebet zur Madonna, sie möge ihm doch ja die Gunst erweisen, daß er gut treffe und somit seine Schuldigkeit im vollsten Maße erfülle. Ganz wie KANT und sonst jeder hat er ein Gefühl, daß man hier in der Welt Pflichten habe; auch er bestrebt sich, das Verdienstliche zu tun; es ist nur seine Definition des Verdienstlichen, die eine kleine Mißweisung geschichtlich-zufälligen Ursprungs enthält. Den Kameraden gegenüber ist sein Gerechtigkeitsbewußtsein und Gerechtigkeitsgefühl vielleicht sowohl klar als lebhaft, den Hilflosen und Schwachen erweist er vielleicht sowohl Mitgefühl als auch Selbstverleugnung, und sollte dies auch nicht der Fall sein, hätten wir uns zu denken, daß er in noch höherem Grad vom Durchschnittlichen abweiche, so ist doch soviel sicher, daß er fortwährend in allem Wesentlichen ein Mensch wie alle anderen Menschen ist. Es geht mit einem solchen Individuum fast wie mit einer Uhr, welche eine ganz verkehrte Zeit angibt. Sie hat dieselben Räder, dieselbe Anzahl Zähne, überhaupt dieselbe Maschinerie wie jede andere Uhr, und wie jede andere Uhr geht sie durchaus genau; vielleicht verliert sie täglich ein Dutzend Sekunden. Wird sie nun aber niemals geregelt, ja, dann kann sie eines schönen Tages sechs Uhr zeigen, während die meisten anderen zwölf Uhr angeben.

Wieviel folgt nun hieraus?

Zwei Dinge können wir meines Erachtens mit Recht feststellen. Erstens: Alle tatsächlich vorkommenden Gewissen sind als Varietäten einer einzigen Art und nicht als verschiedene Arten zu betrachten. Auch Varietäten derselben Art können bei oberflächlicher Betrachtung ja äußerst verschieden sein, während im mehr Zentralen dennoch Einheit stattfindet. Und zweitens: Wie man in der Tier- und der Pflanzenwelt oft von der reinen Art im Gegensatz zu den mehr oder weniger abweichenden Varietäten redet, so muß man auch eine Form des Gewissens aufstellen können, die man das wahre, das ideale Gewissen nennen könnte, das Gewissen, wie es sich würde ausgestaltet haben, wenn die Umstände stets die möglichst günstigen gewesen wären, oder  das Gewissen, so wie der Forscher es zeichnen muß, wenn er jeden Widerspruch mit dem fundamentalen Wesen des Menschen fernhalten will.  Das heißt: es muß in jedem menschlichen Gewissen z. B. ein Stückchen Gerechtigkeitsbeweußtsein zu finden sein. Dasselbe kann äußerst schwach hervortretend und äußerst begrenzt sein, indem es sich vielleicht nur auf die allernächsten Gleichgesinnten erstreckt. Kein menschliches Wesen wird aber von Grund auf der Ungerechtigkeit als  Grundsätze  zu huldigen vermögen, bestünde sein tatsächliches Handeln auch aus lauter Ungerechtigkeiten. Sogar SHAKESPEAREs RICHARD III. faßt seine Handlungsweise ja als eine Art gerechter Rache am Dasein auf, weil dieses ihn so abstoßend gebildet hat. Und umgekehrt: je mehr das Individuum mit dem Fundamentalen des menschlichen Wesens in Harmonie steht, umso stärker wird sein Gerechtigkeitsbewußtsein sein. Dasselbe gilt von der Billigkeit, die ja weiter nichts ist als Gerechtigkeit in einer höheren Potenz, Gerechtigkeit, wenn alle konkreten Umstände hinlänglich mit in Betracht gezogen werden. Als dem Denken voller Widerspruch erscheinend müssen Ungerechtigkeit und Unbilligkeit stets mehr oder weniger verleugnet werden. Je mehr Unklarheit im Individuum ist, umso schwächer wird dies geschehen, - umso kräftiger aber, je mehr Klarheit gefunden wird.

Ganz einfach weil der Mensch fundamental betrachtet  ein denkendes Wesen  ist, wird er also gezwungen, sich die ersten und wesentlichsten  Denk elemente eines allgemeinen menschlichen Gewissens zu bilden. Selbst in den Herzen der Heiden steht, wie der Apostel sagt, das Gesetz geschrieben.

Diesen ersten Denkelementen des Gewissens werden sich aber die rechten  Gefühls elemente anschließen, eben infolge des Umstandes, daß alles noch so primitiv, so urmenschlich ist. Erst auf den weit mehr konkreten und zusammengesetzten Gebieten treten die entscheidenden Irrtümer und die widerspruchsvollen Verteilungen des Gefühls auf. Die primitive Vorstellung selbst, daß man Gerechtigkeit übt, wird lustbetont sein, die primitive Vorstellung, daß man Ungerechtigkeit übt, dagegen unlustbetont kraft der einfachen, der fundamentalen Gefühlsgesetze, die das Lustgefühl an das mit sich selbst Übereinstimmende, das Unlustgefühl an das sich selbst Widersprechende knüpfen. Das schließt keineswegs aus, daß sich wegen Verrechnens die  konkret  Ansicht bilden kann, es sei eine Art höchster Gerechtigkeit, möglichst viele seiner "schlechten" Mitmenschen zu erschießen, und wenn man so will, kann man dieses Verrechnen sogar sehr menschlich nennen. Nur muß man zugeben, daß es doch ein Verrechnen ist; irgendwo findet sich hier ein Widerspruch mit dem zentralen Wesen des Menschen. Denken wir uns nun aber alle derartigen Verrechnungen ausgeschlossen, so gelangen wir offenbar zu einer Grundform des menschlichen Gewissens, die füglich, eben weil der Ausschluß der Widersprüche vorausgesetzt wird, die echte, die ideale heißen könnte.

Ferner ist es klar, daß das Individuum in demselben Maße, in welchem dieses ideale Gewissen in ihm vorhanden ist, zu einem Handeln angespornt wird, das in allen wesentlichsten Zügen gerade ein solches ist, welches das allgemeine Bewußtsein das ethische nennt, zu einem Handeln, welches das Wohl sämtlicher fühlenden Wesen ins Auge faßt. Im Abstrakten wird sich offenbar kein Unterschied geltend machen. Erst wenn wir uns daran machen wollten, im einzelnen auszugestalten, was unter dem allgemeinen Wohl, dem Wohl sämtlicher fühlenden Wesen zu verstehen sei, würden sich vielleicht an diesem oder jenem Punkt Nichtübereinstimmungen zwischen der vom allgemeinen Bewußtsein und der von einem idealen Gewissen gegebenen Auslegung des Ausdrucks zeigen, und alsdann müßten wir selbstverständnich die Auffassung des allgemeinen Bewußtseins am betreffenden Punkt als einen Irrtum, eine geschichtlich bedingte Mißweisung kennzeichnen. Von solchen Einzelheiten reden wir aber noch nicht.

Dagegen können wir jetzt unseren obigen Gedankengang wieder aufnehmen und zum vorläufigen Abschluß bringen, indem wir aufs Neue hervorheben, daß als die dritte und wesentlichste Macht im Individuum, die dieses über die isolierte Selbstbehauptung hinaus zu führen sucht, das  Gewissen  dasteht. Es hat sich nun erwiesen, daß dieses mehr ist als ein geschichtlich-zufällig im Menschen entstandener Faktor; dasselbe kann hie und da freilich sowohl verkümmerte als auch äußerst wuchernde Formen annehmen, es kann sich aber auch, wie die Erfahrung lehrt, dem idealen Gewissen unbegrenzt nähern und solche Klarheit und Wärme bekommen, daß es im allerhöchsten Grad das Betragen des Individuums gestalten wird. In einem solchen Fall hat es sämtliche andere Mächte und Antriebe im Menschen in seine Dienste genommen und jedem derselben je nach dessen Verhältnisse zur Totalität Spielraum und Einfluß gewährt; die sympathischen Regungen, die religiösen Anschauungen und Gefühle, kurz, alles, was auf das Ethische gerichtet ist oder gerichtet werden kann, wird einem solchen Gewissen als Moment seiner Tätigkeit einverleibt werden; es wird das Salz im Charakter des Menschen, wie jenes primitive Gerechtigkeits- und Billigkeitsgefühl das Salz seines eigenen Wesens war.

Die genannten drei Mächte im Menschen werden mithin bemüht sein, das Betragen des Individuums Schritt für Schritt dem Ethischen näher zu bringen, demselben die "räumliche Erweiterung", die Erweiterung auf  das Wohl aller Menschen  zu geben, die wir vorher vermißten. Und alle wirken sie kraft des Widerspruchs. Das Individuum gerät mit sich selbst in Widerspruch, wenn es jener selbstsüchtigen Berechnung nicht gehorcht, denn es zieht sich dann die äußere Strafe und das begleitende innere Leiden zu. Es gerät in Widerspruch mit sich selbst, wenn es seine sympathischen Gefühle verleugnet, denn auch hierdurch verschafft es sich selbst Leiden. Endlich kommt es mit sich selbst in Widerspruch, wenn es den Geboten des Gewissens nicht gehorcht, denn dadurch verschafft es sich selbst das Unlustgefühl, welches das "böse Gewissen" begleitet oder dieses bildet.

Es gibt aber auch Kräfte im Menschen, die in entgegengesetzter Richtung wirken. Wie die Augenblicksforderung, wie  der Leichtsinn  und  die Ungeduld  des Menschen zu verhindern suchten, daß der Zweck sich auf sämtliche Lebensaugenblicke erweiterte, so wird der menschliche  Egoismus  sich der Erweiterung des Zweckes auf das Wohl aller Menschen entgegenstellen. Wie die Handlung im einzelnen Fall wird und wie das Betragen überhaupt wird, bleibt deshalb fortwährend unsicher. Nur was bereits oben hervorgehoben wurde, können wir hier nochmals betonen. Mit größerer oder geringerer Kraft und Klarheit wird das Individuum zu der Einsicht bewogen: So mußt du handeln, wenn du dein eigenes Wohl willst, d. h.: So mußt du handeln! In den ruhigeren Augenblicken der Selbstbesinnung ist dieser Gedanke verhältnismäßig klar gegenwärtig und deshalb am stärksten gefühlsbetont. Im Augenblick des Handelns ist er vielleicht aber nur schwach und unbetont zugegen, und die Entscheidung wird dann in eine unethische Richtung gehen können.

Man kann sich von den hier beschriebenen Verhältnissen ein geometrisch anschauliches Bild machen. Zeichnet man über der Grundlinie  AB  ein Quadrat oder Rechteck von der Höhe  AC  oder  BD,  so kann der Punkt  A  das menschliche Handeln auf der primitivsten Stufe bezeichnen, nämlich die vom kleinen Kind unternommene Behauptung des momentan isolierten Ich, während der Punkt  B  das auf sämtliche Augenblicke und Punkt  C  das auf sämtliche Individuen  einseitig  erweiterte Handeln angibt. Punkt  D  wird dann das sämtlichen Augenblicken und sämtlichen Individuen korrespondierende ideale ethische Handeln und die Diagonale von  A  bis  D  den  idealen  ethischen Entwicklungsgang angeben. So weit gelangt jedoch niemand, der Mensch bleibt immer eine Strecke hinter dem Ideal zurück. Der  tatsächliche  Entwicklungsgang wird für jedes Individuum eine Kurve  innerhalb  der Figur (10), von  A  mehr oder weniger weit nach  D  hinüber, bald in einer, bald in einer anderen schrägen Richtung. Zunächst längs  AB  verläuft die Kurve für die egoistisch-berechnende, zunächst längs  AC  die Kurve für die leichtsinnig-wohlwollende Natur.
LITERATUR - Kristian Kroman, Allgemeine Ethik, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) Ein bekannter dänischer Schriftsteller und Prediger.
    2) KANT, Kritik der praktischen Vernunft I, II, III
    3) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, von KIRCHMANNs Ausgabe, Seite 92
    4) KANT, Grundlegung etc. Seite 18 und 19; Kritik der praktischen Vernunft Seite 94, von KIRCHMANNs Ausgabe
    5) Die Gefahr dieser Zersprengung wird dadurch noch drohender, daß KANT das zentrale Menschenwesen, den  homo noumenon,  wie er es nennt, in eine ganz überflüssige Verbindung mit gewinnen ungeeigneten metaphysischen Bestimmungen bringt.
    6) In STARCKE, Das Gewissensleben, Kopenhagen 1894, findet sich freilich ein nicht unerhebliches Schwanken. Seite 120 heißt es: "Die Forderungen der Moral lauten streng ..., und das müssen wir dem Vorhergehenden zufolge für richtig halten, indem sie  von außen  zu ihm kommen." - "Im  Recht anderer Menschen,  das Individuum wegen seiner Handlungen zur Verantwortung zu ziehen, liegt der Schwerpunkt der Moral." - Derselbe rein soziale Standpunkt macht sich Seite 111 oben geltend: "... das sittliche Leben, d. h. das Leben den Forderungen der  Gesellschaft  gemäß." Etwas weiter unten heißt es aber auf derselben Seite: "Wir behaupten aber, daß die Tugend, d. h. das Leben den  rechten  Forderungen der Gesellschaft gemäß ...", und Seite 8 heißt es: "Soll die Autorität mit unserem Gewissen in irgendeiner Beziehung stehen, so kann ihre Gewalt  keine äußere  sein." - "... und soll sie in irgendeine Beziehung zum Gewissensleben in uns treten können, so ist sie nicht mehr nur eine Macht, die außer uns steht, sondern eine Gewalt, die sich  auf unsere eigene innere Anerkennung  ihrer Berechtigung stützt."
    7) Vgl. JOHN STUART MILL, On Liberty.
    8) Vgl. meine "Logik und Psychologie", Leipzig 1890, Seite 339 - 345
    9) Und den vermeintlichen italienischen "homo delinquens" als nicht Menschen mehr, könnte man hinzusetzen.
    10) Mit Bezug auf die hemmenden Kräfte siehe meine "Logik und Philosophie", Seite 352