ra-2P. ReeA. RitschlJ. KaftanR. GeijerF. BrentanoF. Klein    
 
JONAS FRIEDMANN
Die Lehre vom Gewissen
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"Es kann in strengem Sinn von einer Pflicht ein  Gewissen zu haben,  nicht die Rede sein. Ein Gewissen hat man schlechterdings. Es ist die Folge der intelligiblen Freiheit, allerdings, wie wir wissen mit der Einschränkung, wenn die Vernunft das Unrecht einer Handlung, noch bevor diese ausgeführt wird, eingesehen hat. In diesem Fall läßt das Gewissen seine Donnerstimme hören und verstummt die Entschuldigungen des "Advokaten" in der Person des empirischen Menschen."

Wesen und Bedeutung des Gewissens

Es liegt auf der Hand, daß es KANT demnach ganz nahe liegen mußte, das Gewissen für die angewandte Ethik zu benützen. Wir wissen, daß KANT den Begriff der  Pflicht  in die angewandte Ethik eingeführt hat. Das Sittengesetz, auf den empirischen Menschen übertragen, heißt Pflicht. Es muß daher zwischen Gewissen und Pflicht ein gewisser Zusammenhang vorhanden sein. Dies drängte sich auch KANT auf, aber erst in der Religion, innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1) spricht er davon und somit gelangen wir zu der zweiten Stelle, wo vom Gewissen die Rede ist.

Unter der Überschrift "Vom Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen" behandelt KANT das Gewissen hier. Er gibt eine Definitioin. Doch ist diese eine derartige, daß sie die Ausführungen in der praktischen Vernunft voraussetzen muß. Denn wenn hier gesagt wird,  "das Gewissen ist ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist,"  so muß doch der Wert dieses Phänomens, Gewissen genannt, schon nachgewiesen worden sein. Es obliegt ihm nur die Bedeutung dieses psychischen Prozesses, der seinen Ursprung der Freiheit, dem Sittengesetz verdankt, darzutun. Es wird nach der Bedeutung des Gewissens für das moralische Handeln geforscht. In diesem Zusammenhang verstehen wir den Satz "das Gewissen ist ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist." Es ist Pflicht, dem Gewissen Folge zu leisten. Und nach dem Gewissen handeln heißt, im Sinne des Sittengesetzes handeln.

Damit begnügt sich aber KANT nicht. Wenn ein Gewissen, als Ausdruck des Sittengesetzes, an Pflicht erinnert, so wird uns das Gewissen vielleicht auch darüber Aufschluß geben können, ob etwas Pflicht sei oder nicht. Das Gewissen würde daher nicht nur an die Pflicht erinnern, indem es das Pflichtbewußtsein wachhält und nicht nur in dem Sinne wäre es ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist, daß es Pflicht sei, dem Gewissen zu gehorchen und dem Sittengesetz gemäß zu handeln, sondern das Gewissen muß auch darum gehört werden, weil es auch imstande ist darüber zu entscheiden, ob etwas und was Pflicht sei. Diese Fähigkeit muß das Gewissen besitzen. Ist es doch das sich im Menschen offenbarende Sittengesetz. Der Mensch muß daher bei ihm anfragen, ob die zu vollführende Handlung eine rechte oder unrechte sei. Und das Gewissen wird ihm die Antwort erteilen. Man darf nicht handeln, ehe das Gewissen gesprochen hat, denn sonst wird man handeln, ohne die Sicherheit zu besitzen, ob eine Handlung eine rechte oder unrechte sei und so sagt KANT (2) "es ist ein moralischer Grundsatz, der keines Beweises bedarf, man soll nicht auf die Gefahr wagen, daß es unrecht sei, das Bewußtsein also, daß eine Handlung, die ich unternehmen will, recht sei, ist unbedingte Pflicht."

Aber die folgenden Worte KANTs sollen uns bald lehren, daß KANT dem Gewissen nicht diese Macht beilegen will. Trotzdem das Gewissen, nach KANT, eine unbedingte Folge der menschlichen Handlung ist, sofern sich der empirische, der Naturkausalität unterworfene Mensch, vom intelligiblen, freien Menschen entfernt, demnach der Mensch (selbst) ohne daß der Verstand hinzukommen müßte, mit Hilfe des Gewissens allein, schon fühlen und wissen muß, ob er eine rechte oder unrechte Tat vollführt hat, meint doch KANT, "ob eine Handlung recht oder unrecht sei, darüber urteilt der Verstand und nicht das Gewissen." Was soll das heißen? Sagt uns denn das Gewissen nicht, ob wir recht oder unrecht gehandelt haben? Besteht ja darin das Gewissen (das böse) daß es das Bewußtsein der unrechten Handlung ist.

Oder soll vielleicht zwischen dem Gewissen, von dem hier in der Religion innerhalb der Grenzen usw. gesprochen wurde und dem Gewissen in der Kritik ein Unterschied bestehen? Dort ist vom Gewissen nach der Handlung die Rede, während hier vom Gewissen vor der Handlung gesprochen wird. (3) Dort ist das Gewissen gleichsam eine notwendige Konsequenz der Handlung, das der Handlung auf dem Fuße folgt, sofern diese eine schlechte war, während hier vom Gewissen, das noch nicht da ist, von dessen Vorhandensein man nur Notiz nehmen soll, die Rede ist. Und wenn es dem Ursprung nach nichts anderes ist, als das Gefühl oder besser das Bewußtsein der Möglichkeit des Handelns nach Freiheit, welches Bewußtsein vor und nach der Handlung ein gleiches ist, so kann der Unterschied dennoch gemacht werden. Habe ich eine Handlung, die dem Sittengesetz zuwider war, begangen, so regt sich in mir der homo noumenon, das Sittengesetz, ohne daß ich darüber Reflexionen angestellt habe, ob die Handlung eine rechte oder unrechte war. Ganz anders verhält sich das Gewissen vor der Handlung, es tritt nur dann auf, wenn der Verstand darüber sein Urteil abgegeben hat, ob die Handlung eine rechte oder unrechte sei.

KANT will aber den Unterschied nicht gelten lassen, das Gewissen soll kein Kriterium der Pflicht sein. Das Gewissen kann nur eintreten, wenn der Verstand geurteilt hat. Welche Bedeutung hat aber dann das Gewissen für die Handlung? Es ist dasjenige Gefühl, welches den Menschen dazu treibt, darauf zu achten, daß sich sein Verstand vor jeder Handlung darüber Gewißheit verschaffe, ob die Handlung recht oder unrecht, sittlich oder unsittlich sei.

Diese neue Bedeutung des Gewissens, als der  Glaube Recht zu handeln,  kann nur dann recht begriffen werden, wenn man bedenkt, daß KANTs Ausführungen an dieser Stelle vom Gewissen als Leitfaden in Glaubenssachen handelt. KANT will hier, wie das Beispiel vom Ketzerrichter bezeugt, gegen das Unbestimmte, Ungewisse, welches die auf Glauben beruhenden Pflichten, die die Religion befiehlt, charakterisiert, auf die größere Sicherheit, welche die auf Vernunft basierenden Pflichten auszeichnet, hinweisen. Fest davon überzeugt zu sein, daß die Handlung, die man unternimmt, eine rechte sei, das ist eine Forderung des Gewissens.

Das Gewissen ist also da, um zu erinnern, daß ich vor jeder Handlung gewiß sein muß und nicht nur meinen, daß die Handlung, die ich unternehmen will, nicht unrecht sei. Tritt nun nach der Handlung Gewissenspein ein, so ist dies ein Zeichen dafür, daß ich nicht behutsam genug geurteilt habe. "Das Gewissen ist die sich selbst richtende Urteilskraft." "Das Gewissen richtet nicht die Handlungen als Kasus, die unter dem Gesetz stehen; denn das tut die Vernunft, sofern sie subjektiv praktisch ist, sondern hier richtet die Vernunft sich  selbst,  ob sie auch wirklich jene Beurteilung der Handlung mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe und stellt den Menschen, wider oder für sich selbst, zum Zeugen auf, daß dieses geschehen oder nicht geschehen sei." (4)

Ohne schon jetzt auf eine Kritik einzugehen, müssen wir uns die Frage vorlegen, welche Bewandtnis diese Tätigkeit des Bewußtseins nun hat, dem die Aufgabe zufällt, darüber zu wachen, ob die zu unternehmende Handlung eine rechte oder unrechte sei, das Gewissen als dies sich selbst richtende Urteilskraft mit dem Gewissen, wie wir es von der Kritik her kennen, wo es auf den Widerstreit zwischen dem empirischen und intelligiblen Menschen zurückgeführt wurde. Es scheint, daß diese beiden Gewissenserscheinungen miteinander nichts gemein haben. Dort bezieht sich das Gewissen auf die Handlung, hier auf "die Beurteilung der Beurteilung der Handlung" (5) dort sind die Gewissensqualen, weil man die Handlung nicht unterlassen hat und hier, weil nicht behutsam genug geurteilt wurde.

Nichtsdestoweniger muß dieses Gewissen jenes zur Bedingung haben. Denn, wenn auch das Gewissen sich nicht unmittelbar auf die Handlung bezieht, so würde ich doch keine Qual hierüber empfinden, daß ich nicht behutsam geurteilt habe, wenn nicht zugleich das Bewußtsein vorhanden wäre, daß ich gegebenenfalls, der Unrechtmäßigkeit meiner Handlung bewußt geworden, diese zu unterlassen vermocht hätte. Die Gewissensbisse wegen der Unbehutsamkeit meines Urteils sind letzten Endes nichts anderes, als der Schmerz, daß ich selbst die Schuld daran trage, daß ich die Handlung begangen habe.


Gewissen und sittliche Urteilskraft

Aus diesen Ausführungen über das "zum Leitfaden in Glaubenssachen" dienende Gewissen erwächst uns eine für die kantische Theorie des Gewissens hochbedeutsamste Unterscheidung: die Unterscheidung zwischen Gewissen und sittlicher Urteilskraft. Der Verstand oder die Vernunft - KANT nimmt es hier nicht mehr genau, mit der Unterscheidung beider - belehrt den Menschen, was Pflicht ist, nicht das Gewissen. Dieses wacht nur darüber, ob und wie der Verstand geurteilt hat. Ferner kann nur dann das Gewissen auftreten,  wenn ich eine als Pflicht erkannte Handlung übertreten oder eine als Unrecht erkannte Tat vollführt habe.  Mit anderen Worten, das Phänomen Gewissen setzt einen Menschen voraus, der schon ein Pflichtbewußtsein hat. Es tritt auf, wenn ich eine von mir erkannte Pflicht verletzt habe, daß aber ein Gewissen bei der kausalen Notwendigkeit der menschlichen Handlungen überhaupt möglich ist, das ist nur auf das Noumenon, auf die Freiheit zurückzuführen. Der intelligible Charakter, die Freiheit, das Sittengesetz ist - um kantisch zu reden -  die Bedingung der Möglichkeit des Gewissens überhaupt,  das aber nur dann eintritt, wenn die Verletzung einer von der Vernunft als Pflicht erkannte Handlung vorliegt.


Das Gewissen als Pflicht

Wir waren Zeugen bei de Geburt des Gewissens, dessen Erzeuger, der Widerstreit zwischen intelligiblen und empirischem Charakter, zwischen homo noumenon und phänomenon, mit anderen Worten, die Freiheit oder Sittengesetz ist. Es ist das notwendige Ergebnis jenes eigentümlichen Zwiespalts im Menschen. Seine ethische Bedeutung war: sich an seinen Ursprung zu erinnern, d. h. frei zu werden, (dem Sittengesetz gemäß zu handeln). Frei werden, heißt, pflichtgemäß im Sinne des Sittengesetzes handeln. Das Gewissen erinnert uns an die Pflicht. Es ist Pflicht, es ist "ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist." Das Gewissen hat auch darüber zu wachen, daß die zu unternehmende Handlung eine unbedingt rechte sei. Die Vernunft entscheidet darüber, diese ist daher für den nach der Handlung eintretenden Gewissensbiß verantwortlich. Das Gewissen ist also auch die für sich selbst richtende moralische Urteilskraft.

Wenn wir in diesen Worten die Zusammenfassung der uns bisher bekannten Ausführungen KANTs über das Gewissen finden, wird es uns bald einleuchten, in welchem Sinne KANT seine Worte, daß "Gewissen ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht sei," aufgefaßt haben wollte. Bei jeder Handlung ist es Pflicht, auf die Stimme des Gewissens als des diesseitigen Zeugen, des jenseitigen Sittengesetzes zu horchen. Es kann in strengem Sinn von einer Pflicht ein  Gewissen zu haben,  nicht die Rede sein. Ein Gewissen hat man schlechterdings. Es ist die Folge der intelligiblen Freiheit, allerdings, wie wir wissen mit der Einschränkung, wenn die Vernunft das Unrecht einer Handlung, noch bevor diese ausgeführt wird, eingesehen hat. In diesem Fall läßt das Gewissen seine Donnerstimme hören und verstummt die Entschuldigungen des "Advokaten" in der Person des empirischen Menschen.

Es ist daher keine  Pflicht,  ein Gewissen zu haben, sondern dem Gewissen zu gehorchen. Denn es erinnert uns an die Pflicht und gehört darum zu denjenigen - und nun befinden wir uns in der Tugendlehre - "die als subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff nicht als objektive Bedingung der Moralität zugrunde liegen." "Es sind solche moralische Beschaffenheiten", sagt KANT einige Zeilen früher, "die wenn man sie nicht besitzt, es auch keine Pflicht geben kann, sich in ihren Besitz zu setzen." Aber noch genauer sagt uns KANT, was er unter Gewissen versteht. "Es ist eine Anlage, welche zu haben nicht als Pflicht angesehen werden kann, sondern das jeder Mensch hat und kraft dessen er verpflichtet werden kann. Das Bewußtsein desselben ist nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf das eines moralischen Gesetzes, als Wirkung desselben auf das Gemüt folgen." (6) Das Gewissen kann also nicht erworben werden "sondern jeder Mensch als  sittliches Wesen  hat ein solches ursprünglich in sich." (7) Wohl gemerkt, das Gewissen ist nicht schlechterdings ursprünglich, ist kein Naturprodukt, aber auch nicht etwas Erwerbliches, sondern es gehört dem Menschen als sittlichem Wesen ursprünglich an.

Wir sehen also, daß Gewissen zu haben keine Pflicht sein kann, ja es wäre etwas Ungereimtes "zum Gewissen verbunden zu sein," das hieße: "die Pflicht auf sich zu haben, Pflichten anzuerkennen. Denn Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen, vorhaltende, praktische Vernunft. Seine Beziehung ist also nicht auf ein Objekt, sondern bloß auf das Subjekt als eine unausbleiblich Tatsache, nicht eine Obliegenheit und Pflicht." Das Gewissen ist keine Pflicht, sondern unausbleiblich folgt es einer Tat, die eine bewußte Pflichtverletzung war. Es hält dem Menschen seine Pflicht vor. Was bleibt nach all dem von der in der "Religion" gegebenen Definition: das Gewissen sei ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht" ist übrig? Hierüber geben uns die Schlußworte dieses Abschnitts Aufschluß, aus welchem wir am besten ersehen werden, daß sich KANT bei der Besprechung des Gewissens immer im engen Zusammenhang mit seinen Ausführungen in der praktischen Vernunft befunden hat. Es heißt da "die Pflicht ist hier nur, sein Gewissen zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden, (mithin nur indirekte Pflicht) um ihm Gehör zu verschaffen.


Unfehlbarkeit und Allgemeinheit des Gewissens

Nach all diesen Ausführungen können wir begreifen, daß KANT folgende zwei Behauptungen aufstellt: erstens, daß  ein irrendes Gewissen ein Unding sei,  zweitens  daß es keinen Menschen gebe, der kein Gewissen  hätte, denn "wenn man sagt, dieser Mensch hat kein Gewissen, so kann man damit nur meinen, er kehrt sich nicht an den Anspruch desselben."

Was die erste Behauptung betrifft, daß es kein irrendes gäbe, entspricht dem kantischen Gewissen, welches rein formalen Charakters ist. Es urteilt nicht über die Handlung, sondern setzt die Entscheidung über die Recht- oder Unrechtmäßigkeit einer Handlung durch den Verstand voraus. Nur dieser kann irren. "In dem objektiven Urteil, ob etwas recht sei oder nicht, kann man wohl bisweilen irren, aber im subjektiven, ob ich es mit meiner praktischen Vernunft behufs jenes Urteils verglichen habe, kann ich nicht irren." Ich kann also nicht irren, ob ich etwas als Pflicht betrachtet, auch nicht, ob ich mich vor der Handlung vergewissert habe, daß die zu unternehmende Handlung eine rechte oder unrechte sei. Schon in einer früheren, im Jahre 1791 verfaßten Schrift "Über das Mißlingen aller Versuche in der Theodizee" [Rechtfertigung Gottes - wp] hat KANT diese Ansicht vom irrenden Gewissen ausgesprochen. "Moralisten reden von einem irrenden Gewissen", heißt es dort, "aber ein irrendes Gewissen ist ein Unding. Ich kann zwar selbst in dem Urteil irren, in welchem ich glaube, Recht zu haben, denn das gehört dem Verstande zu, der allein urteilt; aber in dem Bewußtsein, ob ich in der Tat glaube, Recht zu haben, kann ich schlechterdings nicht irren." (8)

Wir werden uns mit diesen Ausführungen noch ganz besonders beschäftigen müssen, ebenso auch mit der anderen Behauptung, daß es einen Menschen ohne Gewissen nicht gibt. "Gewissenslosigkeit ist nicht Mangel an Gewissen, sondern Hang, an dessen Urteil sich nicht zu kehren." Doch wir wollen schon an dieser Stelle darauf hinweisen, daß diese Behauptung nur mit einer gewissen Einschränkung angenommen werden darf. Allerdings hat jeder Mensch ein Gewissen, "denn Gewissen ist nicht etwas Erwerbliches, sondern etwas Ursprüngliches." Wir haben aber die Worte "sittliches Wesen" betont.  Der  Mensch als sittliches Wesen, sofern er Vernunft besitzt, um sittlich urteilen zu können, hat ein ursprüngliches Gewissen." Wir können uns daher sehr gut einen Menschen vorstellen, dessen Gewissenlosigkeit eben darin besteht, daß es ihm an Gewissen mangelt. Und der Mangel an Gewissen rührt vom Mangel an sittlichen Vorstellungen her, weshalb es ihm an sittlicher Urteilskraft fehlt, um hierüber entscheiden zu können, ob etwas recht oder unrecht sei. Da das Gewissen nur dann eintritt, wenn der Verstand geurteilt hat. Und sollte sich dann der Mensch wie immer entschuldigen, daß er nicht anders handeln konnte, so erinnert ihn das Gewissen an seine Freiheit. Das ist ja letzten Endes das Wesen des Gewissens. Es ist Zeuge der Freiheit, des Sittengesetzes; aber die sittliche Urteilskraft, das sittliche Vermögen, mit einem Wort: die Kenntnis von Pflicht, das Pflichtbewußtsein, muß vorangehen. Das lehrt uns die tägliche Erfahrung. Wohl hat jeder Mensch ein Gewissen und dennoch kann eine in meinen Augen gewissenlose Handlung von einem anderen ohne Gewissensbisse verübt werden, ohne die Behauptung aufstellen zu müssen, daß er sich nicht am Urteil des Gewissens kehre, sondern, weil das Gewissen bei  ihm  überhaupt nicht auftritt und zwar aus dem ganz einfachen Grund, weil er ganz andere sittliche Vorstellungen hat, als ich. Daß KANT dies gemeint hat, zeigen auch seine Worte, die er zur Begründung seiner Behauptung, daß es keinen Menschen ohne Gewissen gebe, anführt, "denn hätte er wirklich keines, so würde er sich auch nicht als pflichtmäßig zurechnen oder pflichtwidrig vorwerfen." (9) KANT setzt daher ein Pflichtbewußtsein voraus.

Auch in der schon erwähnten Abhandlung "Über das Mißlingen aller Versuche in der Theodizee" finden sich einige interessante Ausführungen, die bezeugen, daß es wohl Menschen geben kann, die nie Gewissensbisse verspüren. Es handelt sich dort darum, die Rechtfertigung es Weltrichters gegen die Anklage der Ungerechtigkeit zu entkräften. Das Vorgeben der Straflosigkeit des Lasterhaften in der Welt, sagen die Anhänger der Theodizee, hat keinen Grund, "weil jedes Verbrechen schon hier die angemessene Sühne bei sich führe, indem die inneren Vorwürfe des Gewissens den Lasterhaften peinigen und ihn ärger als Furien plagen." Hierauf sagt KANT, daß diese Verteidigung offenbar auf einem Mißverständnis beruth. Im Gegenteil, je tugendhafter der Mensch ist, umsomehr wird er vom Gewissen gepeinigt. Jede Handlung gegen eine vom sittlichen Gesetz erkannte Pflicht wird bestraft. Allein, wer diese Denkungsart nicht hat, dem fehlt auch der Peiniger für vergangene Verbrechen. Die kleinen Vorwürfe, die er sich bisweilen macht, macht er sich nicht durchs Gewissen. (10)


Die Betätigung des Gewissens oder das Bewußtsein
eines inneren Gerichtshofes und die Religion

Wir haben bisher den Ursprung des Gewissens, sein Wesen und seine Bedeutung geprüft und gefunden. Doch wissen wir noch nichts von der Art und Weise der psychischen Betätigung des Gewissens. KANT gibt uns nun auch eine anschauliche Beschreibung des inneren Mechanismus des Gewissens, die zwar mit seinen Ausführungen nur in einem ganz losen Zusammenhang steht und eben deshalb die meisten Angriffe zu erleiden hatte.

Es ist hier von der Stelle in der Tugendlehre die Rede, welche die Überschrift trägt: "Von der Pflicht des Menschen als den geborenen Richter über sich selbst." (11) KANT gibt am Anfang eine kurze Zusammenfassung seiner bisherigen Auführungen über das Gewissen. Er meint, daß das, was wir von der Tätigkeit des Gewissens kennen, seine Verurteilung und Lossprechung einem Gerichtshof zu vergleichen sei und gelangt zu der Definition:  "Das  Gewissen ist das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen,' vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen." Diese Definition soll eine Zusammenfassung der bisher bekannten Ausführungen sein. Vom Gewissen, als inneren Richter, sprach schon KANT in der praktischen Vernunft. Das Neue, was hier auftritt, ist die Verknüpfung des Gewissens mit dem Gottesbewußtsein. Auf welche Weise KANT das Gewissen, das als Ausdruck des Sittengesetzes mit Gott am allerwenigsten zu tun haben darf, mit der Annahme des Daseins Gottes in Berührung bringt, sollen wir aus den folgenden Ausführungen erfahren.

Jeder Mensch hat ein Gewissen, sagt KANT, dessen furchtbare Stimme er hören muß. Es bedroht ihn, flößt ihm eine mit Furcht verbundene Achtung ein. Er kann sich seiner nicht entschlagen, es folgt ihm wie ein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt, denn es ist seinem Wesen einverleibt. Nun hat das Gewissen das Besondere an sich, daß obgleich es eine Privatangelegenheit des Menschen ist, die sich in seinem Inneren abspielt, er doch gezwungen wird, es als ob es die Stimme einer anderen Person wäre, zu hören. Der Mechanismus des Gewissens gleicht der Verhandlung einer Rechtssache vor Gericht, wo doch Angeklagter und Richter nicht eine und dieselbe Person sein kann. Denn, "dann würde ja der Angeklagte jederzeit verlieren". Also muß sich der Mensch einen anderen als Richter denken, mag diese Person eine wirkliche oder bloß ideale sein. Und diese Person kann nur Gott sein. Denn die Eigenschaften, mit denen diese Person ausgestattet sein muß, besitzt nur Gott. Er muß vor allem ein Herzenskundiger sein, um unser Inneres zu kennen. Ferner muß der "autorisierte Gewissensrichter" auch "allverpflichtend" sein, da er sonst nicht als Richter in all unseren Handlungen gedacht werden kann. Endlich muß er allmächtig sein "weil er sonst nicht ... seinen Gesetzen den ihnen angemessenen Erfolg verschaffen könnte. Ein solches über alles Macht habende, moralische Wesen aber heißt: Gott". Natürlich vergißt KANT nicht, seiner Gewohnheit nach, wenn er einen Gottesbeweis erwähnt, zu betonen, daß dieser Gott ein Gott der praktischen Vernunft sei, denn es wäre doch nicht richtig aus Bedürfnis eine solche idealische Person anzunehmen, einen theoretischen Beweis für das Dasein Gottes zu konstruieren. Der Begriff der Religion, der hier eingeführt wird, will nicht mehr sein als  "ein Prinzip der Beurteilung aller seiner (des Menschen) Pflichten als göttliche Gebote.  (12)

Die letzten Worte geben uns den Schlüssel zur Lösung des Rätsels, wie KANT nun plötzlich vom Gewissen zu Gott gelangt ist. Denn die Argumente, die er hier ins Treffen führt, ergeben nicht nur keinen theoretischen Gottesbeweis, sondern es lag für KANT auch gar kein Bedürfnis vor, das Gewissen, wenn auch nur in praktischer Absicht, auf Gott zurückzuführen.

Der ganze Beweisgang fußt auf dem Argument "denn würde der Mensch sich selbst aburteilen, würde der Ankläger jederzeit verlieren", was schon SCHOPENHAUER, eine "petitio principii" [Unbewiesenes dient als Beweisgrund - wp] genannt hat und wir noch hinzufügen möchten, daß die Prämisse eben im Licht der kantischen Philosophie besehen eine falsche ist. Ist der irrende, sündige Menschengeist imstande, das Sittengesetz zu erzeugen, so muß er auch die Kraft haben, es vor der letzten Instanz der Menschenvernunft zu verantworten.

Aber KANT hat aus ganz anderem Grund den Gottesbegriff und den Begriff der Religion mit dem Gewissen in Verbindung gebracht. Er wollte die gewöhnliche Auffassung vom Gewissen, die stets voll theologischer Vorstellungen war, mit seiner Ethik in Zusammenhang bringen und womöglich ethisch erklären. Er wollte nicht das Gewissen auf Gott zurückführen, vielmehr zeigen, daß das moralische Selbstbewußtsein die Quelle des Gottesbegriffes ist, wie die Ausführung dieses Gedankens "ja es ist der letzte Begriff (Gott) (wenngleich auf dunkle Art) in jedem moralischen Selbstbewußtsein enthalten", zeigt.

Es war vorsichtig von KANT, daß er seine Ausführungen über das Gewissen und seine Bedeutung, nicht in seinem ethischen Hauptwerk, sondern erst in der Religion innerhalb usw. aufgenommen hat. Es würde zu Mißverständnissen geführt haben, wenn das Gewissen, welches gewöhnlich mit religiösen Vorstellungen in Verbindung gebracht wird, in der Ethik Raum gefunden hätte. HEGLER bemängelt, daß KANT nicht das Gewissen als dasjenige Moment hingestellt hat, welches neben dem Gefühl der Achtung und noch eher als dieses als Vermittlung des Sittengesetzes und des empirischen Menschen angesehen wird. Das Gewissen ist ja der Vertreter des Sittengesetzes im empirischen Bewußtsein des Menschen. (13) Doch KANT hütete sich, das zu tun. Das vom Menschen erzeugte, auf Freiheit beruhende Sittengesetz verlöre von seiner Hoheit, wie überhaupt seine ganze Bedeutung, wenn sich der Mensch aus Furcht vor Gewissensqualen ihm verpflichtet fühlte. Dies wäre demnach keine Verpflichtung aus Freiheit, da sie auf Furcht beruth. Achtung allein kann das subjektive Motiv für das Pflichtbewußtsein sein. Dennoch hat das Gewissen seine  erzieherische  Bedeutung. Und gerade die Religion soll auf das Gewissen, als etwas mit der Ethik zusammenhängendes hinweisen. Der Vollständigkeit halber wollen wir noch erwähnen, wie sich KANT diese Gerichtssitzung vorstellt. Vor der Tat tritt das Gewissen als warnendes auf, wenn die Tat beschlossen ist, tritt im Gewissen zuerst der Ankläger, aber zugleich mit ihm auch der Anwalt auf und den Beschluß macht der rechtskräftige Spruch des Gewissens über den Menschen, ihn lossprechend oder verdammend. Zu bemerken ist noch, daß die Belohnung, das ist mit anderen Worten  das gute Gewissen nicht ein positives, sondern ein negatives Gefühl ist.  (14)


Zusammenfassung der Ausführungen Kants über das Gewissen.

Ehe wir zu FICHTE übergehen, wollen wir kurz die Ergebnisse unserer Darstellung zusammenfassen. Es war vom Ursprung und Wesen, der Bedeutung und Betätigung und den mit ihnen zusammenhängenden Eigentümlichkeiten des Gewissens die Rede. Dem entsprechend können wir folgende Definitionen des Gewissens geben. Es ist:
    1. Der Vertreter des Sittengesetzes im empirischen Menschen. (15)

    2. Das Bewußtsein des Andershandelnkönnens oder Andershandelngekonnthabens.

    3. Das Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist.

    4. Der Glaube, recht zu handeln.

    5. Die dem Menschen seine Pflicht vom Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende praktische Vernunf oder

    6. dies sich selbst richtende Urteilskraft

    7. Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes.
    Der letzteren Definition entspricht, wenn KANT das Gewissen bezeichnet

    8. als einen inneren Richter;

    9. eine über die Gesetze in ihm wachende Gewalt;

    10. eine machthabende Person

    11. ein subjektives Prinzip einer von Gott zu leistenden Verantwortung;

    12. ein Prinzip der Beurteilung aller Pflichten als göttliche Gebote.
Ferner ergibt sich aus dieser Lehre, daß das Gewissen 1. ursprünglich, 2. allgemein und 3. unfehltbar ist.
LITERATUR - Jonas Friedmann, Die Lehre vom Gewissen in den Systemen des ethischen Idealismus historisch-kritisch dargestellt. Budapest 1904
    Anmerkungen
    1) KANT, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. (Ausgabe Kehrbach) Seite 201f
    2) KANT, Religion innerhalb usw. Seite 210f
    3) WILHELM GASS, "Lehre vom Gewissen", Seite 199 macht auch einen Unterschied zwischen dem vorangehenden und der Tat folgenden Gewissen.
    4) a. a. O. Seite 121
    5) Vgl. WILHELM WOHLRABE, a. a. O. Seite 10
    6) KANT, Metaphysik der Sitten, 2. Teil, Einleitung zur Tugendlehre (Ausgabe Kirchmann), Seite 233
    7) KANT, Metaphysik der Sitten, Seite 235
    8) KANTs sämtliche Werke, Leipzig 1838, Bd. 6
    9) KANTs Metaphysik der Sitten, Seite 235
    10) KANT, Sämtliche Werke, Bd. 6, Seite 145
    11) a. a. O. Seite 286
    12) Siehe COHEN, Vorrede zu F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus
    13) ALFRED HEGLER, a. a. O. Seite 249
    14) Vgl. KANT a. a. O. Damit stimmen mehrere neue Ethiker überein. Vgl. RITSCHLs "Vortrag über das Gewissen". HÖFFDING in seiner Ethik. "Das gute Gewissen", schreibt RITSCHL, "ist der Ausdruck für die Abwesenheit des bösen."
    15) Die ersten beiden sind nicht von KANT gebrauchte Definitionen, während die übrigen den Wortlaut KANTs wiedergeben. Vgl. LAAS, a. a. O Band II, Seite 147