ra-2cr-4Raoul RichterMartin Havenstein    
 
HARALD HÖFFDING
(1843-1931)
Die Wertungsphilosophie
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"Die Bedeutung der Geschichte liegt nicht da, wo man sie gewöhnlich zu finden wähnt, im endlosen Entwicklungsprozeß oder in den Geschicken der großen Masse. In den einzelnen in Wahrheit großen Menschen konzentriert sich der ganze Wert der Geschichte; in ihnen hat sie ihren Zweck erreicht, und der lange historische Prozeß kommt nur in Betracht, weil er den Anlaß und die Kraft gibt, die zum Auftreten solcher Menschen nötig sind. Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende der Geschichte liegen, sondern nur in den höchsten Exemplaren der Menschheit. Das viele Reden von geschichtlicher Entwicklung ist von Übel, es vergeudet unsere Kraft und wiegelt die Massen auf. Die großen Massen der Menschen sind nur Mittel oder Hindernisse oder Kopien, -  im übrigen hole sie der Teufel und die Statistik! -  Größe beruth nicht auf Massenwirkung; das Edelste und Beste wirkt gar nicht auf die Massen."


II. Friedrich Nietzsche

A. Charakteristik und Biographie

Ob wir hier zunächst einen Dichter oder einen Denker vor uns haben, möchte Gegenstand des Streites sein und ist dies auch gewesen. Jedenfalls läßt sich behaupten, daß es dem bleibenden Wert der Werke NIETZSCHEs besser gedient hätte, und daß der Dichter in ihm mit dem Denker in eine größere Harmonie gekommen wäre, wenn er die Form des Dramas oder die des Dialogs oder vielleicht eine ähnliche Form wie KIERKEGAARDs Pseudonyme zur Darstellung seiner Ideen angewandt hätte. Denn es sind verschiedene streitige Gedanken, die sich in ihm regen, und zwar mit derselben Leidenschaftlichkeit; es ist, als ob nicht nur in seinen verschiedenen Schriften, sondern oft sogar in einer und derselben Schrift verschiedene Persönlichkeiten auftreten. Seinen Hauptgedanken - allenfalls was ich als seinen Hauptgedanken nachzuweisen versuchen werde - kleidete er aber in eine poetische Form, da er nur in großen bildlichen Zügen auszusprechen vermochte, was ihm am innigsten am Herzen lag. ERWIN ROHDE, der bedeutendste MMann unter seinen Jugendfreunden, betrachtete ihn zunächst als Dichter und war deshalb erfreut, als "Zarathustra" zu erscheinen begann. "Ich habe längst das Gefühl, also ob NIETZSCHE wesentlich leidet . . . a einer Fülle von Poesie, die sich nicht in eigentliche Dichtung niederschlagen will und ihm nun im Innern Fieber und Not macht." Sehr klar äußerte NIETZSCHE sich selbst über die Beziehung des dichterischen zum philosophischen Element in ihm und über die Bedeutung beider Elemente für ihn in der Vorrede (aus 1886) zu einer neuen Auflage seiner Jugendschrift "Die Geburt der Tragödie", indem er es als seine fortwährende Aufgabe bezeichnet, die Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt der Kunst und die Kusnt unter dem Gesichtspunkt des Lebens zu erblicken. Diese Äußerung zeigt zugleich, daß ich mit Recht seine Richtung nebst derjenigen GUYAUs als Wertungsphilosophie kennzeichne. Ebenso wie bei GUYAU sind die Kraft und die Fülle des Lebens sein innerster Grundgedanke; NIETZSCHE hat dann auch mehrere Schriften GUYAUs mit großem Interesse gelesen. Was er erstrebt, ist eine neue, positive Wertung des Lebens auf der Grundlage einer kulturgeschichtlichen Betrachtung. Im Vergleicht hiermit ist das den größeren Kreisen am meisten in die Augen Springende, die Lehre von der Herren- und Sklavenmoral, der soziale Dualismus und die Verachtung des großen Haufens (der "Herde"), abgeleitet und untergeordnet, und zwar, wie ich zu zeigen versuchen werde, falsch abgeleitet. An diesem Punkt, in der Beziehung seines eigentlichen Grundgedankens zu seinen speziellen Anschauungen und Antipathien, finden sich seine größten Widersprüche. Diejenigen seiner Schriften, in welchen diese in ihrer Beziehung zum Grundgedanken abgeleiteten (zudem falsch abgeleiteten) Äußerungen vorkommen, sind jedoch die meistgelesenen. Seine literarische Wirkung beruth auf dieser Seite seiner Schriftstellertätigkeit. Ohne hier den Streit erneuern zu wollen, den ich vor einigen Jahren wegen NIETZSCHE mit GEORG BRANDES führte, kann ich doch nicht die Bemerkung unterlassen, daß NIETZSCHEs Einführung in die dänische Literatur unter Betonung dieser Seite keine glückliche war. Dem Auffälligsten bei ihm, und nicht dem Fundamentalen wurde das Gewicht beigelegt. Jetzt, wo man - besonders nach der Herausgabe so vieler der hinterlassenen Schriften und Entwürfe NIETZSCHEs - seine Produktion einigermaßen zu übersehen imstande ist, erweist sich mir das Humoristische, daß sozusagen das einzige, worüber unter meinem damaligen Widersacher und mir Einigkeit bestand, eine Sache war, in der wir alle beide unrecht hatten. Wir waren darin einig, daß NIETZSCHE ein Gegner der Wohlfahrtsmoral sei, jetzt ergibt sich aber, daß NIETZSCHE in der Tat ein Wohlfahrtsmoralist in großem Stil war. Dies ist hier hervorzuheben, wo wir nichts damit zu schaffen haben, was in literarischer Beziehung vielleicht am meisten epochemachend sein mag, dagegen behandeln sollen, was in philosophischer Beziehung das Entscheidende ist: die Grundgedanken, ihre Begründung und ihr Kampf.

Die Bedeutung, die das literarische und das poetische Element bei NIETZSCHE haben, bereitet der Darstellung und Charakteristik größere Schwierigkeiten als dies mit anderen Philosophen der Fall ist. Um ein einigermaßen richtiges Bild von ihm zu geben, muß meine Darstellung ausführlicher werden, als sie zu sein brauchte, wenn es sich nur darum handelte, mit seinen Gedanken Abrechnung zu machen. Es wird jedoch von großem psychologischem Interesse sein, die Beziehungen zwischen Denken, Kunst und Leben bei einem Genie zu studieren, dessen Trachten es war, alles Denken und Dichten der Vertiefung und der Erhöhung des Lebens dienstbar zu machen. Eine psychologische Ausbeute wird hier auch von philosophischer Bedeutung sein. -

FRIEDRICH NIETZSCHE wurde am 15. Oktober 1844 aus einem alten Predigergeschlecht in Preußisch-Sachsen geboren. Er selbst wollte gern vornehmerer Herkunft sein, und er glaubte, sein Urgroßvater sei ein polnischer Edelmann gewesen. Einige seiner Kritiker meinen dagegen, in seinem Gedankengang gerade den Predigersohn zu finden. Sehr jung wurde er anderen Einflüssen als den kirchlichen untergeben, indem er sich in der Schule und an der Universität mit Eifer den klassischen Studien widmete. Die Bekanntschaft aus erster Hand mit dem griechischen Geistesleben und die Begeisterung über dasselbe wurden für das Dichten und Trachten seines ganzen Lebens entscheidende. Daneben erhielt aber das Studium SCHOPENHAUERs, das er gleichzeitig mit den philologischen Studienn betrieb, eine tief eingreifende Bedeutung. Unter anderen Philosophen übten DÜHRING und F. A. LANGE einen Einfluß auf ihn; SCHOPENHAUER wurde aber sein eigentlicher "Erzieher". Mit Bezug auf sein SCHOPENHAUER-Studium schreibt er (1869) seinem Freund PAUL DEUSSEN: "Eine Philosophie, die wir aus reinem Erkenntnistrieb annehmen, wird uns nie ganz zu eigen, weil sie nie unser eigen  war.  Die rechte Philosophie jedes Einzelnen ist  anamnesis  (Erinnerung)." Der Erkenntnisdrang äußerte sich bei NIETZSCHE stets in unzertrennlicher Verschmelzung mit dem Kunstdrang und dem Lebensdrang. Dies ist seine Stärke, zugleich aber auch seine Schwäche - als Denker, namentlich da ihm die Gedanken wegen seiner impulsiven und disharmonischen Natur so oft von der augenblicklichen Stimmung oder von einer Reaktion gegen Tendenzen der Außenwelt diktiert wurden.

NIETZSCHEs zweiter großer Erzieher wurde RICHARD WAGNER. Schon während seiner Studienjahre zu Leipzig hatte er die persönliche Bekanntschaft des großen Meisters gemacht, und als er 1869 Professor für Philologie in Basel wurde, verkehrte er vertraulich mit WAGNER und dessen Gattin, die während dieser Jahre in der Nähe von Luzern wohnten.

Noch einen dritten Erzieher erhielt er: die Krankheit, die viele Jahre lang an seiner Kraft zehrte und mit unheilbarer Geisteskrankheit endete. Er soll sich dieselbe zugezogen haben, während er als Krankenwärter am deutsch-französischen Krieg teilnahm. Ansteckung war die Ursache, und MÖBIUS ("Über das Pathologische bei Nietzsche") behauptet deshalb, die Hirnkrankheit, an der er zu leiden hatte, lasse sich nicht mit seiner ursprünglichen Persönlichkeit in Verbindung setzen, obschon sie auf deren spätere Entwicklung einen bestimmten Einfluß erhielt, und obschon anzunehmen ist, daß er erblich prädisponiert war. Nach MÖBIUS verschlimmerte sich NIETZSCHEs Zustand durch falsche ärztliche Behandlung und durch seinen eigenen Mißbrauch von Chloral [schmerzstillend und schlafbringendes Mittel - wp]. Wenn MÖBIUS zugleich meint, in NIETZSCHEs Schriften eine bestimmte Stelle angeben zu können, wo die Krankheit angefangen haben sollte, ihren Einfluß zu äußeren, so halte ich dies für durchaus unbegründet; doch hierüber später. - Die Krankheit machte es NIETZSCHE nach langem Kampf unmöglich, seine Tätigkeit an der Universität fortzusetzen; auch war das Gebiet der Philologie im zu eng geworden, da die großen Probleme ihm keine Ruhe ließen, sondern seine Phantasie und sein Denken anspornten. 1879 nahm er seinen Abschied und lebte nun während der folgenden Jahre des Sommers gewöhnlich im Engadin, im Winter an der Riviera. In der wunderbaren Gebirgsnatur des Engadin mit ihrer leichten Luft und ihren prachtvollen Beleuchtungen, hoch über dem gewöhnlichen Treiben der Menschen in den Tälern, - hier oben "in den Weiten", wurden nach seiner eigenen Aussage einige seiner bedeutendsten Ideen ins Leben gerufen.

Eigentümlich ist es NIETZSCHE, daß alle seine drei Erzieher am entschiedensten mittels der Reaktion, die sie auslösten, oder mittels der Kontrastwirkung, die sie bedingten, auf ihn wirkten. Die Krankheit stählte seinen Willen, und die Tapferkeit unter Leiden wurde seine Haupttugend. Aus erster Hand lernte er den Schmerz des Lebens kennen, zugleich aber auch die überströmende Kraft des Lebens, die ihm trotz allem gestattete, sich zu behaupten. Der Erziehung der Krankheit entwuchs er nie mehr; von seinen beiden anderen Lehrmeistern konnte er sich trennen, zumindest dem Anschein nach. Mit dem lebenden Erzieher, mit RICHARD WAGNER, wurde der Bruch ein schmerzhafter. Bei SCHOPENHAUER war es des Pessimismus, der an einem gewissen Punkt seiner Entwicklung abstoßend auf ihn wirkte; von WAGNER entfernte ihn sowohl dessen Pessimisus als auch die Zuneigung zum mittelalterlichen Christentum, die er bei dem großen Tonkünstler zu finden glaubte, dessen menschlichen Schwächen sich nach und nach seinem scharfen Blick offenbarten. Den "Siegfried" hatte er bewundert und geliebt; schon WOTAN - der Gott als Pessimist! - hatte sein Bedenken erregt; den "Parzival" haßte er. Anfangs hatte er WAGNERs Kunst als "dionysisch" bewundert; später betrachtete er sie als eine Äußerung des Verfalls.

Wenn man NIETZSCHEs Biographie studiert, sucht man ganz natürlich nach Erlebnissen, die ihn mit de Volk, dem großen Haufen, der "Herde", wie er später sagte, in Berührung gebracht haben könnten. Man könnte ja doch erwarten, daß ihm besonders oft die Gelegenheit geworden sei, Menschen massenweise auftreten zu sehen. Man findet nur zwei solche Gelegenheiten, und alle beide erregten Verachtung in ihm. Das eine Mal waren es bierbezechte deutsche Studenten. Das andere Mal war es das Bayreuther Theaterpublikum, das seinen Erwartungen von einem idealen Zuhörerkreis bei der Wiedergeburt der großen Kunst nicht entsprach. - Dagegen hat NIETZSCHE nie die Gelegenheit gehabt, unter dem Volk zu leben und dessen Streben, dessen Fähigkeit zur Entwicklung und Organisation kennen zu lernen; den größten sozialen Ereignissen des 19. Jahrhunderts stand er völlig fremd gegenüber.

Im Verlauf der Krankheit wird man mehrere Perioden unterscheiden können. Eine Zunahme der Kränklichkeit findet um 1879 statt, darauf während der folgenden Jahre eine Abnahme und dann wieder eine Steigerung im Jahr 1888. Jetzt trat eine Katastrophe ein. Er schickte an mehrere Bekannte Briefe, die bald "Dionysos", bald "der Gekreuzigte" zur Unterschrift trugen. In Turin fiel er eines Tages ohnmächtig auf der Straße um. Ein Freund brachte ihn nach Basel, von wo er später in seine Heimat geführt wurde. Die letzten Jahre verlebte er im Zustand völliger Stumpfheit in Weimar, von seinen Angehörigen sorgfältig gepflegt. Er starb am 25. August 1900. - Da keine Obduktion unternommen wurde, ließen sich die Art und der Sitz der Krankheit nicht mit völliger Sicherheit feststellen. Die Schwester NIETZSCHEs finde die Hauptursache der letzten Krankheit in seinem übermäßigen Gebrauch von Chloral.

NIETZSCHE war ein Mann der Gegensätze. Der Gegensatz, der vorzüglich bei ihm hervortritt, der sein ganzes Treiben prägt und für sein Leben und seine Bedeutung verhängnisvoll war, ist der Gegensatz zwischen hoher Begeisterung und tiefem Ekel. Unter gesunden Verhältnissen sind diese beiden Gegensätze zwei verschiedene Seiten derselben Grundstimmung; bei NIETZSCHE waren sie feindliche Mächte, die um die Herrschaft über sein Gemüt und über seinen Willen miteinander rangen. In diesem Ringen ging er zugrunde. Bewunderung des Großen und Hohen, Sehnsucht nach diesem, der Wunsch, für dasselbe zu wirken, bildeten wohl den innersten Kern seiner Seele; die Antipathie gegen das Niedrige und Schwache und dessen Verachtung überwältigten, hypnotisierten ihn aber, und die Folge wurde, daß die Sache, für die er kämpfen wollte, vor dem, was er bekämpfen wollte, zurücktrat. Die "reaktiven" Stimmungen - die er selbst doch bei anderen verachtete - gewannen bei ihm immer wieder die Oberhand. Er selbst fühlte, welche Gefahr hier seinem geistigen Leben drohte. 1874 schreibt er dem Fräulein von MEYSENBUG: "Wir wird mir zumute sein, wenn ich erst alles Negative und Empörte, was in mir steckt, aus mir herausgestellt habe, und doch darf ich hoffen, in fünf Jahren ungefähr diesem herrlichen Ziel nahe zu sein." Diese Hoffnung ging nicht mehr in Erfüllung, selbst nachdem er angefangen hatte, die positive Darstellung seiner Ideen auszuarbeiten. Noch im letzten Jahr vor der Katastrophe unterbrach er seine zusammenhängende Arbeit, um seinen Antipathien Luft zu schaffen, obschon er seine Ventile vorher oft genug geöffnet hatte.

Der vorherrschende Platz, den die Antipathien in seiner Produktion einnehmen, steht nicht nur zu seiner Begeisterung im Gegensatz, sondern auch zu seiner liebevollen und innigen Gesinnung, wie sie sich in seinen engsten Verhältnissen äußerte. Auch dies fühlte er selbst. In einem Brief an Fräulein von MEYSENBUG (1875) heißt es: "Diesen Herbst nahm ich mir vor, jeden Morgen damit zu beginnen, daß ich mich fragte: Gibt es keinen, dem du heute etwas zugute tun könntest? . . . Mit meinen Schriften mache ich zuvielen Menschen Verdruß, als daß ich es nicht versuchen müßte, es irgendwie gutzumachen." Einige Jahre später (1883) schreibt er an ERWIN ROHDE, er wisse wohl, daß das Bild, welches seine Bücher jetzt [während er in seiner Schriftstellertätigkeit die heftigste Polemik führte] von ihm gäben, nicht mit dem Bild übereinstimmt, das sein Freund von ihm im Herzen trage. Er habe wirklich eine "andere Natur" [als diejenige, die sich zu dieser Zeit in seinen Schriften äußerte]; bei der "ersten" allein würde er schon längst zugrunde gegangen sein!

Nicht nur der Begeisterung und der Liebe widerstritt das starke Vorherrschen der Antipathien, sondern auch dem Optimismus, den NIETZSCHE in seinen späteren Jahren so leidenschaftlich verfocht. In steigendem Maße und in überschwänglichen Ausdrücken verlangte er eine Bestätigung des Lebens, eine Anerkennung des Wertes desselben. Wie konnte er das aber verlangen, wenn die Welt so von Ekel und Elend erfüllt ist, wie er immer wieder äußerte und wie er zu äußern nie aufhörte?

Die streitigen Stimmungen bei ihm konnten zu keiner Versöhnung kommen, weder in der Form des großen Humors noch in der der tiefen Wehmut. Von SHAKESPEARE hat man gesagt, sein Humor sei der Ausdruck seiner Treue gegen das Leben. So seine Treue zu zeigen, dazu war NIETZSCHE nicht imstande; vielleicht kam es daher, daß er weder entschiedener Dichter noch entschiedener Denker war, und daß auch hier zwei Naturen in ihm miteinander rangen. Sein Zeitgenosse GUYAU, in vielen Beziehungen auch sein Denkgenosse, fand in der Wehmut und dem ewigen Streben des Denkens den harmonischen Ausgleich. Auch diese Form war NIETZSCHE versagt. Eine Klangfarbe, welche die streitigen Töne in sich sammelte, erlangte er nicht. Schwankungen zwischen dionysischem Rausch und verzehrender Disharmonie brachten ihn der Auflösung immer näher. Hier wird es berechtigt sein, eine Wirkung der Krankheit zu suchen. Redlich kämpfte er gegen dieselbe an, denn er war ein tapferer Mann, ein Willensmensch. Er fühlte tief "die Vehemenz der inneren Schwingungen"; wenn seine Kritiker ihn aber "exzentrisch" nannten, sagte er mit Stolz: "Diese Herren, die keinen Begriff von meinem Zentrum, von der großen Leidenschaft haben, in deren Diensten ich lebe, werden schwerlich einen Blick dafür haben, wo ich bisher außerhalb meines Zentrums gewesen bin, wo ich wirklich  exzentrisch  war." Seine Tapferkeit zeigte er beim Arbeiten und Leiden, in Versenkung und Einsamkeit: "Kein Schmerz hat vermocht und soll vermögen, mich zu einem falschen Zeugnis über das Leben, wie ich es erkenne, zu verführen." (Aus einem Brief 1880). "Meine Existenz ist eine fürchterliche Last; ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem Gebiet gerade in diesem Zustand des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte; - diese erkenntnisdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit siege. Im Ganzen bin ich glücklicher als je in meinem Leben." (Aus einem Brieb 1880) Und später schrieb er einmal: "Man gebe acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein."

Nur eines fürchtete er: das Mitleid. An diesem hatte er sich während seiner pessimistischen Zeit und unter SCHOPENHAUERs "Erziehung" versehen. Diese Furcht, die zu seiner Tapferkeit in einem sonderbaren Gegensatz steht, findet zum Teil ihre Erklärung in seiner eigenen Abhärtung, hängt aber auch mit seinem weichen Gemüt zusammen, dem das Mitleid zur Versuchung werden konnte. Unter Mitleid versteht er zunächst die passive, sentimentale Form des Mitgefühls, die sowohl den Mitleid-Fühlenden wie auch das Objekt des Mitleids schwächt. Schließlich erschien das Mitleid ihm als die letzte große Sünde, der man noch verfallen kann, wenn andere Sünden unmöglich geworden sind. Die eigentümliche hypnotische Wirkung, welche NIETZSCHEs Antipathien auf ihn hatten, äußert sich auch hier. Zuletzt spürte er Krankenluft in ganz Europa, wo er auch ging und stand.

Die Form der Schriftstellertätigkeit NIETZSCHEs wurde durch sein Temperament und seine Kränklichkeit bestimmt. Er fühlte das Bedürfnis der Konzentration, und es gibt in seiner Produktion gewisse positive Hauptgedanken, die er vollständig durchzuarbeiten trachtete. Er war aber nicht imstande, die überschwängliche momentane Stimmung den Forderungen des Grundgedankens und der Grundstimmung zu unterwerfen. Die Begrenzung, die den Meister ausmacht, stand ihm nicht zur Verfügung. Daher der Zwiespalt seiner Äußerungen; der Rausch des einen Augenblicks stimmt nicht immer zu dem des anderen. Der Aphorismus wurde ihm zur Lieblingsform. Jeder einzelne Aphorismus läßt einen Gesichtspunkt zu völligem, oft schlagendem Ausdruck gelangen, um dann anderen Aphorismen Raum zu geben, die ohne weiteres das Entgegengesetzte aussagen. Die eigentliche Arbeit des Denkens kommt nicht zur Ausführung. Mit Recht hat man die Form des Aphorismus als für NIETZSCHE gefährlich bezeichnet. Er geriet auf dieselbe teils durch die Nachahmung älterer französischer Schriftsteller, namentlich des von ihm hoch bewunderten LA ROCHEFOUCAULD, teils durch seine Kränklichkeit, die ihm eine zusammenhängende Arbeit unmöglich machte. Er produzierte auf Spaziergängen und schrieb seine Gedanken in losgerissener Form auf; andere mußten sie dann redigieren. "Ich kritzle auf meinen Wegen hie und da etwas auf ein Blatt; ich schreibe nichts am Schreibtisch; Freunde entziffern meine Kritzeleien." (Brief an EISER, 1880) Zum großen Teil verdankt NIETZSCHE seine Popularität wohl dieser Form, die es so leicht macht, allenfalls eine "Grüßbekanntschaft" mit seinen Büchern zu stiften. Selbst sagt er von einem seiner in dieser Form verfaßten Werke: "Ein Buch wie dieses ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen." ("Mörgenröte", Aphorismus 454) Es ist, wie er selbst gesagt hat, nicht leicht, sein eigentliches Zentrum zu finden; seine eigene Darstellungsform hat dies aber schwieriger gemacht, als es an und für sich sein würde.


B. Nietzsches Schriften

Es folgt aus NIETZSCHEs disharmonischem und schwingendem Temperament, daß seine Schriften sich nicht rein chronologisch ordnen lassen, sondern in Gruppen zu teilen sind, die wir durch die verschiedenen Beziehungen zwischen den im Ganzen bei ihm vorherrschenden Grundgedanken zu charakterisieren haben.

 1. Erste Gruppe.  Das Problem wird gestellt und die definitive Lösung angedeutet. Charakteristisch ist dieser ersten Gruppe die kulturgeschichtliche Grundlage der Problemstellung, die NIETZSCHE aus seinen philologischen Studien herholt. Er stützt sich auf die Soziologie, während GUYAU sich wesentlich auf die Biologie stützt. "Die Geburt der Tragödie" (1872) ist nicht allein NIETZSCHEs erste bedeutende Schrift, sondern zugleich auch - was die wirkliche Problemstellung betrifft - vielleicht die bedeutendste aller seiner Schriften. Sein Hauptgedanke einer neuen Wertung des Lebens kommt schon hier zum Vorschein. In einer seiner letzten Schriften ("Götzendämmerung") sagt er selbst: "Die  Geburt der Tragödie  war meine erste Umwertung aller Werte." Die tragisch-pathetische Lebensauffassung - durch DIONYSOS und APOLLON symbolisiert - wird als Gegensatz des von SOKRATES vertretenen intellektuellen Optimismus aufgestellt. Die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Kunst und Leben werden in diesen drei Gestalten personifiziert, und DIONYSOS nimmt den höchsten Platz ein, obschon das apollinische, gestaltende und begrenzende Element größere Anerkennung findet als in den späteren Werken.

Der somit gewonnene Gesichtspunkt wird in den "Unzeitgemäßen Betrachtungen" (1873 - 1876) auf die damalige deutsche Geisteskultur angewandt. Unter den vier Betrachtungen enthält die erste eine scharfe Kritik über STRAUSS, die zweite eine Polemik gegen die Überschätzung der geschichtlichen Betrachtungsweise, die dritte und vierte verherrlichen SCHOPENHAUER und WAGNER als die großen Erzieher. Die trachtenden, tragisch gestimmten Persönlichkeiten stehen hier als Gegensatz des wegen seiner kritischen Resultate selbstzufriedenen Forschers und der rein objektiven Beschäftigung mit der Vergangenheit. - Später meinte NIETZSCHE, er habe seine eigene hoffnungsvolle Stimmung in SCHOPENHAUER und WAGNER hineingelegt, die in der Tat Dekadenten seien, und in seiner späteren Produktion nimmt sein Reagieren gegen seine eigene vorige Bewunderung kein Ende. Er verbrennt, was er angebetet hat, und zündet den Scheiterhaufen immer wieder an.

In dieser ersten Gruppe kommen - außer der Grundbeziehung zwischen Wissenschaft, Kunst und Leben - noch andere der NIETZSCHE'schen Grundgedanken zum Vorschein: der radikale Aristokratismus, der in den großen Menschen den Zweck der Geschichte erblickt, und der damit zuzusammenhängende soziale Dualismus zwischen Herren und Sklaven.

 2. Zweite Gruppe.  Hier treten die Gegensätze in NIETZSCHEs Gedankengang stärker hervor, zugleich auch sein Gegensatz zu anderen Standpunkten. Besonders wurde hier der Bruch mit SCHOPENHAUER und mit WAGNER von Wichtigkeit. NIETZSCHE spricht später von einer antiromantischen Kur, der er sich unterwirft, weil er an der gefährlichsten Form der Romantik leide. Es gelte die Verteidigung des Lebens gegen die Schlüsse, die man aus Schmerz, Täuschung und Isolation zu ziehen pflegt. Er meint hier gewiß dasselbe wie in einem Brief aus dem Jahre 1883, wo er von einer langen und schweren geistigen Askese spricht, der er sich seit sechs Jahren unterwirft. Die erwähnte Kur oder Askese bestand in realistischen Studien. Er stiftete eine Bekanntschaft mit der Naturwissenschaft, mit er älteren französischen und der modernen englischen Philosophie. Hierdurch gelangte ein neues Element in seinen Gedankengang, das sich mit den bereits vorhandenen Elementen nicht leicht vereinen ließ, und es gab Veranlassung zu neuer Polemik und neuer Reaktion. Zu diesem Zeitpunkt begann er die Form des Aphorismus anzuwenden, und er vermochte nicht, sich wieder von ihr zu befreien. Die Herrschaft desselben mußte natürlich umso stärker werden, je mehr verschiedene Tendenzen, Sympathien und Antipathien bei ihm zum Vorschein kamen und jeweils ihren Ausdruck verlangten.

Die Kur, die er hier durchmachte, war aber keine nur vorübergehende. Das ethische Problem arbeitete sich entschiedener in ihm empor, nämlich als eine spezielle Form des in den ersten Schriften aufgestellten allgemeinen Kulturproblems. Es entstand in ihm ein gründlicher Zweifel an den bisher im Leben und im Denken gültigen moralischen Voraussetzungen ("Wertungen"). "Ich begann, unser Vertrauen zur Moral zu untergraben." (Vorrede von 1886 zur "Morgenröte")

Aus dieser Periode stammen die Schriften "Menschliches, Allzumenschliches" (1878 -1880), "Morgenröte" (1881), "Fröhliche Wissenschaft" (1882).

Am Schluß der "Fröhlichen Wissenschaft" findet sich zum erstenmal ein Gedanke, der in NIETZSCHEs späteren Jahren für ihn eine große Rolle spielte, der Gedanke, daß die Entwicklung des Daseins rhythmisch sei, so daß das einmal Geschehene in einer folgenden Periode auf dieselbe Weise in allen Einzelheiten wiederkehren werde. Hiermit in Verbindung tritt die Gestalt des ZARATHUSTRA als der große Prophet der Bejahung des Lebens hervor, der zu den Menschen herabsteigt, um ihnen zu verkünden, das Leben sei so schön, daß dessen Wiederholung gewollt werden kann und muß." (Fröhliche Wissenschaft 341 - 342). Kurz darauf arbeitete NIETZSCHE den ersten Teil seines ZARATHUSTRA-Werkes aus. An einen Freund schreibt er (Juni 1883): "Was jetzt noch vom Leben übrig ist (wenig, wie ich glaube!) soll nun voll und ganz das zum Ausdruck bringen, um dessentwillen ich überhaupt das Leben ausgehalten habe. Die Zeit des Schweigens ist  vorbei:  mein  Zarathustra,  der Dir in diesen Wochen übersandt sein wird, möge Dir verraten,  wie  hoch mein Wille seinen Flug genommen hat. Laß Dich durch die legendenhafte Art dieses Büchleins nicht täuschen: hinter all den schlichten und seltsamen Worten steht mein  tiefster Ernst  und meine  ganze Philosophie."  - Ich verstehe nicht, weshalb MÖBIUS glaubt, an jener Stelle in der "Fröhlichen Wissenschaft" habe NIETZSCHEs Geisteskrankheit angefangen, sein Vorstellungsleben anzugreifen, nachdem sie vorher nur sein Gefühlsleben erschüttert hat. Die Zarathustragestalt beschäftigte NIETZSCHE seit seiner Jugend, und überdies wird sie durch die Dionysosgestalt in der "Geburt der Tragödie" vorbereitet. Den Gedanken an die Wiederkehr aller Dinge verdankt NIETZSCHE seinen griechischen Studien, indem derselbe bei den Pythagoreern und den Stoikern vorkommt: jetzt erscheint er bei ihm ganz natürlich als ein Prüfstein, wie groß das Bedürfnis der Bejahung des Lebens ist. Die Idee kann einem grell vorkommen; gerade zu diesem Zeitpunkt ist sie aber bei NIETZSCHE psychologisch verständlich. Er selbst sagt in einer autobiographischen Aufzeichnung: "Die Grundkomposition des  Zarathustra,  der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann, gehört in den August des Jahres 1881; er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: 6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit! Ich ging an jenen Tagen am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen, pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke."

Das Buch "Zarathustra" selbst zähle ich nicht zu dieser Gruppe. Die Ausarbeitung desselben wurde immer wieder durch das Bedürfnis unterbrochen, polemischen und antipatischen Stimmungen durch neue Aphorismen Luft zu schaffen. Es gelang ihm nicht, "seinen großen Ernst und seine ganze Philosophie" völlig auszusprechen. "Jenseits von Gut und Böse" (1886) sollte ein Kommentar zum "Zarathustra" sein (der noch nicht vollendet war, - und nie vollendet wurde). Es ist aber ein Kommentar, der voraussetzt, daß man das zu kommentierende Buch, das unfertige, versteht. NIETZSCHE schreibt in einem Brief (im Oktober 1886): "Hast Du Dich in meinem  Jenseits  umgetan? Es ist eine Art von Kommentar zu meinem  Zarathustra.  Aber wie gut müßte man mich verstehen,  inwiefern  es zu ihm ein Kommentar ist!" - Man kann die Frage nicht zurückhalten, wieviele derjenigen, die als gute Nietzscheaner getrost "jenseits von Gut und Böse" zu leben begannen, wirklich diese von ihrem Meister gestellte Forderung erfüllt haben. Die Aufgabe, die ihnen gestellt wird, ist aber auch keine leichte. Und es ist eine neue Form der Tragödie in NIETZSCHEs Leben und Denken, daß er Kommentare zu Werken schrieb, die er nicht vollführte, Kommentare, die dennoch die Werke selbst benötigten - als Kommentare! - Die "Genealogie der Moral" (1887) sollte wieder eine Ergänzung des "Jenseits" sein. Dieselbe ist ein Versuch, den sozialen Dualismus, der in NIETZSCHEs aphoristischen Schriften so stark in den Vordergrund tritt, geschichtlich zu begründen.

In diesen beiden Schriften kommen die Theorien von Sklavenaufständen in der Moral und von der Notwendigkeit des absoluten Neuerschaffens von Werten deutlich zum Vorschein, obschon NIETZSCHE selbst dieselben auf "Menschliches - Allzumenschliches" und auf seinen Aufenthalt in Süditalien im Jahre 1876 zurückführt. Dies sind die Ideen, durch welche NIETZSCHE in größeren Kreisen am meisten Aufsehen erregte. Am stärksten tritt hier NIETZSCHEs großer Drang, sich fern von der Menge, im "Pathos der Distanz" zu fühlen hervor, und seine Kastenmoral äußert sich in der krassesten Form. Wohl zu beachten ist aber, daß die beiden Schriften nur Ausschnitte eines schon seit 1881 geplanten Werkes sind und deshalb nicht als NIETZSCHEs letztes Wort betrachtet werden können. Die Stimmung, die sich in denselben kundgibt, steht schließlich gerade in einem entschiedenen Widerspruch mit seinem tiefsten Trachten, welchen Widerspruch er selbst zuweilen fühlte. - Frau ELISABETH FÖRSTER-NIETZSCHE gibt nun in der Vorrede zum 15. Band von NIETZSCHEs Werken Aufschlüsse über den literarischen Zusammenhang seiner Produktion von 1881 - 1888 und besonders über die Beziehung der verschiedenen Werke zum Hauptwerk und zu dessen positivem Abschluß. Hieraus ist auch zu ersehen, daß eine Reihe heftiger polemischer Schriften aus seinem letzten gesunden Jahr (1888) ebenfalls Ausschnitte des Hauptwerkes sind. So: "Der Fall Wagner", "Götzendämmerung", "Nietzsche kontra Wagner" und "Antichrist".

 3. Dritte Gruppe.  Seinen Antipathien und seinen polemischen Stimmungen in vollem Maße Ausdruck zu verleihen, fiel NIETZSCHE schwer. Gerade im Begriff, sein Hauptwerk zu vollenden, unterbricht er seine Arbeit, um in fieberhafter Hast seine Proteste zu entsenden. Und doch mußte es dem Mann, der eine Umwertung (sogar  aller  Werte!) unternehmen wollte, nahe liegen, sich selbst und anderen klarzumachen, auf welcher Grundlage und nach welchem Maßstab diese Umwertung stattzufinden hätte. Eine solche Grundlage hat NIETZSCHE nun auch gesucht, wenngleich er nicht zu deren völligen Darstellung gelangte. Er sah aber nicht klar, daß der radikale Aristokratismus und der soziale Dualismus, die er in seinen Schriften verkündet hatte, und denen er seine größten literarischen Triumphe verdankte, mit seinem Hauptgedanken, seinem Grundwert: der Kraft, der Gesundheit und dem Glück des Lebens in einem unlöslichemm Widerspruch standen. - In zwei unvollendeten Werken arbeitete er daran, diesen Hauptgedanken als letzten Wertmesser durchzuführen. Das eine ist "Also sprach Zarathustra. - Ein Buch für Alle und Keinen", vom dem 1883 - 1886 vier Teile erschienen. Mit diesen vier Teilen ist der äußerst bedeutende Entwurf zu einem abschließenden Teil zusammenzuhalten, der im 12. Band der Werke (Seite 321) gedruckt ist. Das andere Werke, das in mehr philosophischer Form leisten sollte, was "Zarathustra" in poetischer Form gab, ist "Der Wille zur Macht. - Versuch einer Umwertung aller Werte"; es existiert nur in Fragmenten, die jetzt im 15. Band der Werke erschienen sind. Es sollte denselben Abschluß haben wie "Zarathustra", indem für das letzte Buch die Überschrift bestimmt war: "Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft". - NIETZSCHE hatte sich aber durch seine Antipathien dermaßen erschöpft, daß es ihm jetzt an Kraft gebrach, sein eigenes positives Ideal in Bild und Gedanken zu gestalten. Namentlich war er alles zusammenhängenden Denkens so entwöhnt und hegte gegen dieses, wie gegen jede bestimmte Form überhaupt, so großes Mißtrauen, daß schließlich APOLLON ebensowenig wie SOKRATES auszudrücken vermochte, was DIONYSOS meinte. In seiner Ekstase zerriß DIONYSOS daraufhin sich selbst.


C. Kulturhistorischer Ausgangspunkt

NIETZSCHE wolle eine neue Renaissance, und ebenso wie die italienische Renaissance beginnt er mit der Lopreisung der Griechen. Seine philologischen und seine philosophischen Interessen schlossen hier einen Bund. Nachdem er als ganz junger Mann ein Professorat der Philologie in Basel erhalten hatte, fürchtete er, ein Philister und "Herdenmensch" zu werden, wenn er sich in Spezialitäten vertiefte. Er wollte seine Wissenschaft mit frischem Blut beleben, indem er sie zur Beleuchtung der großen Lebensprobleme benutzte. Bei diesem Versuch sollten SCHOPENHAUER und RICHARD WAGNER seine Lehrmeister sein.

In der "Geburt der Tragödie" wird als das wichtigste Moment der Geschichte der griechischen Kultur die Verschmelzung dionysischer Begeisterung mit apollinischer Harmonie hervorgehoben. Die bacchantische Schwärmerei, die Äußerung überströmender Lebensfälle wurde durch delphischen Einfluß, der ihr bildliche und künstlerische Ausdrücke verlieht, in klare Formen gebracht. Die tragische Kunst entstand aus den dionysischen Satyrchören; der Inhalt der Chorgesänge drückte anfänglich die Visionen des Chores aus, indem dieser die Verfolgung, Zerreißung und das Wiederauferstehen seines Gottes in großen Bildern erschaute. So wurde die Tragödie vom Geist der Musik geboren, als Auslegung der großen Schicksale des Lebens. Die herrschende Auffassung des Griechentums, die wir namentlich WINCKELMANN, GOETHE und SCHILLER verdanken, übersah den titanischen Hintergrund der antiken Harmonie: DIONYSOS als Vorgänger von APOLLON! Bild, Wort und Gedanke sind sekundär abgeleitet im Vergleich mit dem großen Lebensdrang.

Die griechische Tragödie fand ihren Untergang durch den Sokratismus, welcher einschärfte, es komme auf das Wissen, das Verstehen an. Unter seinem Einfluß wurde EURIPIDES der erste nüchterne Tragiker; allmählich mußte die Tragödie der nüchternen, bürgerlichen Komödie weichen, und PLATON ironisiert über die dichterische Begeisterung, die selbst nicht weiß, was sie tut. Es tritt hier ein neuer Typus der Menschheit ein: der theoretische Mensch, der Forscher, dem schließlich das Suchen vielleicht höher steht als das Finden. Von dieser Zeit an ist der Kampf zwischen der tragischen und der theoretischen Weltbetrachtung ein beständiger, bis die Befreiung kommt durch GOETHEs  Faust,  KANTs Vernunftkritik, SCHOPENHAUERs Lebensanschauung und WAGNERs Musik. Am höchsten unter diesen befreiendenn Mächten steht aber die Kunst der Musik, wie WAGNER sie geübt hat: in ihr halten wir das Ohr an die Herzkammer des Daseins, in ihr regt sich das Dionysische, das bacchantische, nie ruhende Trachten, als innerste Kraft und Grundlage des gesamten Daseins. Es ist wichtig, daß das Bedürfnis nach Bildern erweckt wird; das Trachten geht aber über jegliches Bild hinaus. Die Kunst ist nicht nur Nachahmung der Natur, sondern auch deren Ergänzung und Überwindung.

NIETZSCHE wendet die Kulturgeschichte in großen Zügen an; dies gilt nicht nur von seinen Äußerungen über die griechische Kultur, sondern auch von seiner Besprechung des Christentums, der Reformation und der Revolution in späteren Schriften. In DIONYSOS, APOLLON und SOKRATES hat er drei Tendenzen personifiziert, die im Menschenleben stets miteinander kämpfen und ringen. Rein geschichtlich hat er nicht das Recht, den Sokratismus für die Hauptursache des Verfalls der griechischen Kultur zu halten. Die Hauptursache lag darin, daß das griechische Leben in den Wirbel der großen Weltbegebenheiten hineingezogen wurde, und daß es ihm wegen seiner (wenn man so will: apollinischen) Ausgestaltung in kleine Staaten an der Bedingung gebrach, sich unter den neuen Verhältnissen zu behaupten. Psychologisch ist es dann auch einseitig, die Energie von der Phantasie geformt und beide vom Denken belehrt werden zu lassen. Es findet sich zu jeder Zeit, im Einzelnen und in der Gattung, auch eine entgegengesetzte Strömung vom Denken durch das Bild zum Gefühl und Willen. SOKRATES selbst war ja eine positive Kraft, das Vorbild der großen harmonischen Charaktere während der Schlußperiode des klassischen Altertums, wo es nicht mehr darauf ankam, im Chor mitzusingen, wo dagegen die Stimme des Einzelnen (wie in der völlig dramatisierten Tragödie) bezeugen sollte, welchen Gewinn er aus dem Leben gezogen hatte.


D. Der Zweck der Geschichte
und der soziale Dualismus

Gegen die übertriebene Bedeutung, die nach NIETZSCHEs Ansicht die historische Bildung in der neueren Zeit erhalten hat, ruft er aus: Denkt doch daran, das Leben zu leben! (Memento vivere!) Laßt die Vergangenheit nicht allzu stark auf euch lasten, so daß Instinkt, Persönlichkeit, Kunst und Denken darunter leiden! Sonst wird - wie schon HESIODOS befürchtete - eine Zeit kommen, wo die Menschen als Greise geboren werden!

Die Bedeutung der Geschichte liegt nicht da, wo man sie gewöhnlich zu finden wähnt, im endlosen Entwicklungsprozeß oder in den Geschicken der großen Masse. In den einzelnen in Wahrheit großen Menschen konzentriert sich der ganze Wert der Geschichte; in ihnen hat sie ihren Zweck erreicht, und der lange historische Prozeß kommt nur in Betracht, weil er den Anlaß und die Kraft gibt, die zum Auftreten solcher Menschen nötig sind. Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende der Geschichte liegen, sondern nur in den höchsten Exemplaren der Menschheit. Das viele Reden von geschichtlicher Entwicklung ist von Übel, es vergeudet unsere Kraft und wiegelt die Massen auf. Die großen Massen der Menschen sind nur Mittel oder Hindernisse oder Kopien, - "im übrigen hole sie der Teufel und die Statistik!" - Größe beruth nicht auf Massenwirkung; das Edelste und Beste wirkt gar nicht auf die Massen.

Hier äußerte NIETZSCHE seinen radikalen Aristokratismus (aristokratischer Radikalismus ist eine unrichtige Benennung) ("Unzeitgemäße Betrachtungen", zweites Stück). Radikal ist dieser Aristokratismus im Sinne eines durchgeführten Aristokratismus. Das Substantiv "Radikalismus" würde NIETZSCHE schwerlich anerkannt haben, da er im Gegenteil in allem, was die "Herde" betrifft, sehr konservativ ist. Hier muß man eine Wahl treffen; man kann nicht Anhänger von NIETZSCHE und zugleich in sozialer und politischer - eigentlich auch nicht in kirchlicher - Beziehung "radikal" sein. Unter seinen Anhängern hat der pseudonyme PETER GAST, der mehrere seiner Schriften redigiert, herausgegeben und kommentiert hat, dies klar eingesehen.

Die erste Motivierung des Aristokratismus bei NIETZSCHE steht also im Zusammenhang mit seiner Auffassung der Geschichte, deren Bedeutung er auf das möglichst Wenige zu reduzieren sucht, was ja unstreitig gelingt, wenn der große Mensch dasteht, über Vergangenheit und Zukunft erhaben, ohne Wirkung der ersteren und ohne Ursache oder Mittel der letzteren zu sein. Eine Inkonsequenz liegt doch darin, daß die große Masse ja nicht nur Hindernis oder Kopie, sondern auch Mittel sein soll. Welches Interesse die Statistik "im übrigen" daran haben sollte, sich mit der Masse zu beschäftigen, wenn diese nicht einmal als Mittel oder Hindernis oder Kopie betrachtet wird, ist nicht leicht zu ersehen; auch nicht, welches Vergnügen sie dem Teufel bereiten kann, wenn sie nicht als Hindernis dasteht. - SCHOPENHAUERs Einfluß, dem NIETZSCHE sich nie recht zu entziehen vermochte, liegt hint er seiner Geschichtsphilosophie. Sonderbar ist es, daß NIETZSCHE nicht gewahrte, wie pessimistisch diese Auffassung ist, obschon er während des ganzen letzten Teils seiner Tätigkeit dahin arbeitete, sich vom Pessimismus freizumachen. Ein scharfer Widerspruch kommt deswegen, wie wir im folgenden sehen werden, an diesem Punkt bei ihm zum Vorschein.

Später gibt er eine etwas andere Motivierung seines Aristokratismus als diese historisch-philosophische und pessimistische. In "Menschliches - Allzumenschliches" geht er von der Kraft des Lebens und der Ursprünglichkeit der Kultur als Maßstab aus: Soll das Leben überhaupt fort- und aufwärtsschreiten, so kann sein Fortschritt und Ansteigen nur von einer höheren Kaste repräsentiert werden, welche freie Arbeit üben kann, und welche eine niedere Kaste voraussetzt, die - als eine Art Zyklopen - die materielle Arbeit üben kann, welche doch stets mehr oder weniger eine Zwangsarbeit ist. Nur jene höhere Kaste besitzt die Möglichkeit der Geistesfreiheit. "Die oberste Kaste", sagt NIETZSCHE in einer seiner späteren Schriften ("Antichrist", § 57), "- ich nenne sie die Wenigsten - hat als die vollkommene auch die Vorrechte der Wenigsten: dazu gehört es, das Glück, die Schönheit, die Güte auf Erden darzustellen." Die beiden Kasten sind wohl auseinanderzuhalten. Ihr Antagonismus ist notwendig. Die untere Kaste ist soweit möglich mit Maschinentugendenn oder Herdentugenden auszustatten. Die Religion, die übliche Moral und die bürgerlichen Tugenden eignen sich für die Herde, nicht für die Auserwählten. "Ich möchte", sagt NIETZSCHE ("Der Wille zur Macht", Aphorismus 472), "die liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen; aber die Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen."

Die oberste Kaste ist nur Zweck, nicht zugleich Mittel, Es ist nach NIETZSCHE ein Anzeichen der Korruption, wenn eine Aristokratie sich nicht mehr als den eigentlichen Sinn und die Berechtigung der Gesellschaft betrachtet und sich nicht auf ihr Recht verläßt, unzählige andere Menschen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven und Werkzeugen zu machen. Die Gesellschaft existiert nur als Unterbau und Gerüst für die ausgesuchten Wesen, aus denen die Aristokratie besteht, wie jene Kletterpflanze auf Java sich auf eine Eiche stützt, um mit ihrer Krone das Licht zu erreichen und dort ihr Glück zur Schau zu tragen!" ("Jenseits von Gut und Böse", Aphorismus 258) Schon durch ihre Existenz allein drückt diese Aristokratie aus, was dem Leben Wert verleiht. Dagegen liegt ihre Bedeutung nicht (was z. B. mit der von PLATON und COMTE in ihren Staatsidealen geschilderten Aristokratie der Fall ist) darin, daß sie die anderen Stände leiten und heben soll. Im Gegenteil. Noch zu allerletzt ("Wille zur Macht", Aphorismus 12) erklärt NIETZSCHE es für einen "Hauptgesichtspunkt", die Aufgabge der höheren Spezies bestehe nicht in der Leitung der niederen, sondern letztere sei die Basis, auf der eine höhere Spezies ihrer eigenen Aufgabe leben könne. Doch hat auch diese höhere Spezies einen Zukunftszweck: für das Kommen des Übermenschen zu arbeiten. "Oh, meine Brüder," sagt ZARATHUSTRA ("Also sprach Zarathustra", III), "ich weihe euch zu einem neuen Adel: ihr sollt mir Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zukunft! . . . Eurer Kinder Land sollt ihr lieben, diese Liebe sei euer neuer Adel!" - Also gibt es in der Zukunft doch noch einen Zweck, und mit der Aristokratie ist das Ziel der Geschichte nicht erreicht: die Bildung einer neuen Rasse innerhalb der höheren Rasse wird verlangt. Es erweist sich, daß das Problem schwieriger ist, als es anfangs schien.

Die untere Rasse, die Demokratie, dient zur materiellen Grundlage, hat die materielle Arbeit zu verrichten. Demokratische Institutionen haben - trotz ihrer Langweiligkeit - die nützliche Eigenschaft, die Tyrannei fernzuhalten. Wie es aber möglich sei, die untere Rasse innerhalb bestimmter Grenzen zu halten, das erfahren wir nicht. NIETZSCHE selbst sagt in seiner ersten Schrift, es gebe nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sklavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich darauf vorbereitet, Rache zu nehmen. Kann man es aber den Zyklopen verwehren, wissen zu werden und zu vergleichen? Stets wird es gewiß leichter sein, die Herren zu überzeugen, daß sie der Sklaven bedürfen, als die Sklaven zu überzeugen, daß sie die Herren nötig haben. NIETZSCHE ist hier gar zu kindlich romantisch, oder vielleicht zu barbarisch. Die Aufrechterhaltung des Militärstaates wird von ihm für das letzte Mittel erklärt, die große Tradition hinsichtlich des obersten, des starken Typus Mensch festzuhalten ("Wille zur Macht", Aphorismus 327), - eine Äußerung, die auf NIETZSCHES inneren Zusammenhang mit modernen deutschen Verhältnissen ein Licht wirft. Sein Freund PETER GAST preist dann auch das Militär als "die herrlichste, straffste, männlichste Einrichtung unserer plebejisch und merkantilisch effeminierten Zeit!" - Die Volksaufklärung ist daher von Übel, da sie die untere Rasse abgeneigt macht, sich - als Mittel oder Kopie - in ihr Schicksal zu fügen! -

Doch wird von der obersten Rasse strenge Arbeit und große Selbstbeherrschung verlangt, damit sie ihre Stellung behaupten kann. Der Adel muß seinen Wandel auf bestimmte Weise regulieren, wenn sich der Respekt vor ihm erhalten soll. Die höheren Kasten dürfen nicht wie der Pöbel leben. Sie sollen mäßig und ohne zur Schau gestellte Üppigkeit leben. Vergoldete Roheit und närrische Aufgeblasenheit erschüttern den Respekt vor der Kultur. Ebenfalls sind plötzliche Bereicherung ohne Arbeit und eine schlechte Verteilung des Eigentums mißlich ("Menschliches - Allzumenschliches"). Es wird also doch ein Rücksichtnehmen verlangt, und die höhere Kaste oder Rasse kann nicht ohne weiteres das Leben aus sich selbst herausleben. Sie muß sich selbst "regieren", vielleicht aber auch die anderen Kasten (nämlich wenn Militär requiriert wird).

Es ist nicht leicht zu ersehen, weshalb die Größe kleiner werden sollte durch das Ausüben einer Funktion. Als ob die Würde der Kraft durch den Gebrauch der Kraft litte! Wo es wirklich einen Überschuß an Kraft gibt, wird es auch das Vermögen geben, Zweck und Mittel zugleich, und zwar im großen Stil, zu sein. An der Tragweite der Wirkung haben wir nun einmal den einzigen Maßstab der Kraft.

An diesem Punkt kommt der Grundunterschied zwischen NIETZSCHE und GUYAU zum Vorschein. Beide stimmen darin überein, daß sie der Kraft und der überströmenden Fülle des Lebens großes Gewicht beilegen. Dies ist der Gegenstand ihres gemeinschaftlichen Glaubens. NIETZSCHE hat in seinen Exemplaren von GUYAUs Büchern dessen Äußerungen in dieser Richtung mit Randglossen versehen, welche seine Anerkennung und seinen Anschluß ausdrücken. Wenn GUYAU aber in der unwillkürlichen Expansion eine Grundlage der Hingebung und der Sympathie sowohl für Menschen als auch für Ideen findet, so protestiert NIETZSCHE in seinen Noten, und wenn dieser Gedanke bei GUYAU wieder zurückkehrt, schreibt NIETZSCHE am Rande: "Fixe Idee!" Er selbst erklärt nämlich den unwillkürlichen, durch Überschuß der Kraft bedingten Tätigkeitsdrang als einen "Willen zur Macht", und näher als einen Drang, seine Macht über andere ausgehen zu lassen. Wie LA ROCHEFOUCAULD will er alle Gefühle und Triebe auf den Egoismus zurückführen, und den Egoismus faßt er speziell als den Drang auf, "Macht auszulassen". Zweifelsohne sah GUYAU hier richtig, wenn er meint, jener unwillkürliche Drang liege tiefer als der Unterschied zwischen Egoismus und Altruismus. NIETZSCHE ist hier dogmatischer als der französische Philosoph. -

Ein großer Widerspruch liegt im sozialen Dualismus, wenn er von der unteren Kaste verlangt wird, sie solle eine Kultur bewundern und ehren, deren sie selbst gar nicht teilhaft wird. Wie kann die Herde vor den großen Erscheinungen Respekt haben, wenn sie in gar keiner geistigen Beziehung zu denselben steht? - CARLYLE sah hier richtiger als NIETZSCHE, wenn er ("Past and Present" I, 5) über das Schlagwort "die Aristokratie des Talents" bemerkt: "Der wahre Blick für das Talent setzt den wahren Respekt vor demselben voraus und - o Himmel - setzt so viele Dinge voraus!" Diese vielen Dinge läßt NIETZSCHE ruhig liegen, ganz vom "Pathos der Distanz" in Anspruch genommen.


E. Der Sklavenaufstand in der Moral

Der soziale Dualismus ist nach NIETZSCHE nicht nur das Rechte und Wünschenswerte, sondern auch das Natürliche. Derselbe findet seiner Erklärung durch den geschichtlichen Ursprung der Moral ("Genealogie der Moral"). Die moralischen Begriffe und Bezeichnungen rühren von den Herrschenden, Kräftigen und Glücklichen her und drücken deren Glücksgefühl und Selbstgefühl im Kontrast zu den Schwachen und Ohnmächtigen aus. Die "Guten" waren ursprünglich die Vornehmen, die Mächtigen, die Hohen. "Gut" bedeutet "ersten Ranges"; mit unegoistischen Handlungen hat es dagegen anfangs nichts zu schaffen. Die höhere Kultur beginnt oft damit, daß eine kräftige Rasse eine schwächere unterjocht, wodurch ein Verhältnis des Abstandes entsteht, das die Vorzüge fühlbar macht. Der Begriff des politischen Vorrangs wird zu einem Begriff des seelischen Vorrangs.

Das eifrige Studium des THEOGNIS, das NIETZSCHE in früher Jugend betrieb, hat hier Spuren hinterlassen. Bei THEOGNIS, dem eingefleischten Aristokraten, der aus seiner Vaterstadt Megara vertrieben wurde, bezeichnen "die Guten" die Männer der Aristokratie, "die Bösen" die Männer des Volkes. Übrigens benutzt NIETZSCHE die Völkerwanderung, die Renaissance und NAPOLEON als historische Beispiele. Möglicherweise haben auch Eindrücke aus seiner Kindheit mitgewirkt. Naumburg, seine Vaterstadt, war ein bürokratischer Knotenpunkt der Provinz, und das Selbstgefühl der Geheimratskreise war die erste Art der "Vornehmheit", die der angehende Apostel der Geistesaristokratie kennen lernte. Charakteristisch ist es jedenfalls, daß er das Abstandsverhältnis nur von der einen Seite aus betrachtet und untersucht und gar nicht daran denkt, wie derselbe Abstand auf die andere Partei wirken mag, welche Gefühle der Furcht und der Ehrfurcht, des Vertrauens und der Bewunderung die großen und strahlenden Gestalten zu erregen vermögen. Zunächst ist es doch diese Seite des Verhältnisses, in der die moralischen Vorstellungen ihren geschichtlichen Ursprung haben. Am konsequentesten wäre es auch gewesen, wenn NIETZSCHE selbst dies angenommen hätte, da die "vornehmen" Naturen, seiner Auffassung zufolge, in sich selbst ruhen, aus sich selbst leben sollen, ohne reaktive Gefühle. Dann ist es nicht konsequenzt, sie Beziehungsbegriffe bilden oder überhaupt zu einem Bewußtsein des Abstandes kommen zu lassen. - Übrigens muß die herrschende Rasse schon vor der Eroberung eine Gesellschaft gebildet haben, und in dieser werden bereits moralische Vorstellungen entstanden sein auf Grundlage einer Wertung derjenigen Eigenschaften (z. B. der Tapferkeit), die für die betreffende Gesellschaft den größten Wert hatten. -

Die natürliche Wertung, die von den Kräftigen und Glücklichen herrührt, bei denen der Wille zur Macht sich frei regen kann, ist nun nach NIETZSCHE durch einen moralischen Sklavenaufstand umgestürzt worden, an dessen Folgen unsere Kultur noch jetzt leidet. Daran sind namentlich die Juden schuld, - dieses Volk, das sich selbst das auserwählte nannte, das TACITUS aber mit größerem Recht als zur Sklaverei geboren bezeichnete; ihre Propheten waren es, die verkündeten, reich und mächtig sei dasselbe wie gottlos und böse zu sein. Die "Welt" wurde ein Schimpfwort, Armut und Elend wurden gepriesen. Die Fortsetzung und die volle Entwicklung dieser Richtung kam mit dem Urchristentum. In der Offenbarung des JOHANNES spürt man besonders den Haß der Ohnmacht. Hier wurde der Krieg erklärt zwischen Judäa und Rom, zwischen der Schwäche und der Stärke. Freiheit, Stolz und geistige Selbstheit wurden geopfert. Namentlich PAULUS hat diesen Gedankengang durchgeführt. Die Apostel hatten kein Verständnis für JESU Tod, der gerade eine große Freiheitshandlung war; sie machten ihn zu einem Sühneopfer, zu einer Verherrlichung des Leidens. - In seinen späteren Schriften häuft NIETZSCHE bei seiner Besprechung des Christentums eine solche Menge von Schmähungen an, daß seine Schwester dies nur durch den übermäßigen Gebrauch des Chlorals während des letzten Jahres vor der Katastrophe zu erklären vermag.

Es hat aber nach NIETZSCHE nicht nur  ein  moralischer Sklavenaufstand stattgefunden, sondern mehrere. Vor dem Christentum sind schon der Buddhismus und der Sokratismus solche Aufstände, nur vornehmerer Art. Später ist die Reformation ein Aufstand gegen die vornehme Weltlichkeit der katholischen Kirche und der Renaissance; ja auch die Freigeisterei, die Revolution, die Demokratie und - die Naturwissenschaft (die wegen ihres Prinzips der allgemeinen Gesetzmäßigkeit eine Demokratisierung der Natur ist!) sind derartige Aufstände. In reißender Hast entwickelt NIETZSCHE den Begriff des moralischen Sklavenaufstandes; nachdem er wie eine fixe Idee, die auf höchst verschiedene, sich gegenseitig widerstreitende Bestrebungen angewandt wird. - Ist es irgendwo berechtigt ein Zeugnis von NIETZSCHEs krankhaftem Zustand in seinen Ideen zu finden, so ist es an diesem Punkt, wo er den Ast durchsägt, auf dem er selbst sitzt. -

Was NIETZSCHE aber nicht gewahrt hat, ist, daß das "Leben" sich gerade bei denen reich und kräftig regt, die er Sklaven nennt. Das Urchristentum ist gerade, was NIETZSCHE eine dionysische Bewegung, als einen geistigen Durchbruch bezeichnet, zum Teil in der Form der Ekstase, eine Äußerung der großen Sehnsucht, ein Exzelsior! Eine ähnliche Rolle, wie Delphi dem Bacchantismus gegenüber, hat die Hierarchie und die kirchliche Organisation gespielt, indem sie den gewaltigen Strom eindämmte, nicht immer freilich auf apollinische Weise, trotz der Vornehmheit, die in NIETZSCHEs Augen die organisierte Hierarchie kennzeichnet. - Analoge Bemerkungen lassen sich mit Bezug auf die anderen "Sklavenaufstände" machen. -

Eine Begründung seiner Theorie von den Sklavenaufständen fand NIETZSCHE in der vermeintlichen Beobachtung, die Glücklichen seien bessere Menschen als die Unglücklichen. Die Glücklichen lebten aus sich selbst heraus, entfalteten ihre Tätigkeit unwillkürlich als eine im Innern bestimmte Aktivität. Sie bedürften weder des Hasses noch der Verdrehung, da sie nicht abhängig sind. Die Tätigkeit der Unglücklichen werde von außen bestimmt, sei reaktiver Art; Neid, Mißtrauen, Haß und Trug lägen ihm nahe, da sie ja abhängig sind. Die Glücklichen bejahten, die Unglücklichen verneinten. - Bestreiten läßt es sich natürlich nicht, daß wenn die aktiven und glücklichen Naturen ihre "Macht auslassen" auf eine Weise, die um sie herum Leiden verursacht, das Vergessen ihnen leichter fällt als denjenigen, an denen sie die Macht ausgelassen haben. Inkonsequent ist es aber, wenn die Verachtung in der Psychologie der Glücklichen eine so große Rolle spielen soll; denn diese ist doch ein entschieden reaktives Gefühl. -

Diese Begründung ist jedoch nicht die definitive. Die entscheidende Begründung des sozialen Dualismus und der Theorie von den Sklavenaufständen findet NIETZSCHE - sonderbarerweise - im Wohlfahrtsprinzip.


F. Philosophische Begründung des sozialen Dualismus

NIETZSCHE nennt sich oft einen Immoralisten und erklärt, er wolle alle Moral aufheben, und bekanntlich nennt er eine seiner Schriften "Jenseits von Gut und Böse". Aus dem Vorhergehenden muß jedoch klar sein, daß es nur die Sklavenmoral ist, die er vertilgen will. An einer Stelle sagt er auch (in Analogie mit einem bekannten Epigramm von SCHILLER), er wolle die Moral abschaffen "aus Moralität". Umwerten will er, hierzu ist aber ein Maßstab, ein Prinzip erforderlich, das notwendigerweise einen Grundwert ausdrücken muß. Fragen wir nun, welches dieses Prinzip der Wertung ist, so finden wir zu unserer Überraschung, daß es das Wohlfahrtsprinzip ist ("das menschliche Gedeihen", siehe die Vorrede zur "Genealogie der Moral"). Seine Grundfrage ist die, ob die frühere moralische Wertung der menschlichen Gattung zur Wohlfahrt gedient hat oder nicht. Es ist sein Hauptgesichtspunkt, ob eine Handlung oder eine Persönlichkeit ein Steigen oder aber ein Sinken der Lebenskraft ausdrückt. Er stellt sich nun - freilich etwas spät - die Aufgabe, die Werte wissenschaftlich zu ordnen nach einer Stufenreihe, welche durch die Stärke und den Umfang der Kraft ("Zahl- und Maßskala der Kraft" in "Wille zur Macht", Aphorismus 353) bestimmt wird. Leider nahm das Deklamieren wider die Sklavenmoral und die Herde ihn so in Anspruch, daß er nicht dazu kam, diese Aufgabe ernsthaft zu behandeln, und somit in einer bestimmteren Form zu entwickeln, was er seinen  moralistischen Naturalismus  nennt ("Wille zur Macht", Aphorismus 192). Es wird eine dionysische Wertung verlangt, eine Ethik der Lebenskraft und der Lebensfreude. Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbstrechtfertigung der Natur fühlt, bis hinab zur Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmenschtiere, - diese ganze lange, ungeheure Licht- und Farbenleiter des Glücks nannten die Griechen, nicht ohne die dankbare Ehrfurcht des in ein Geheimnis Eingeweihten:  Dionysos!  ("Wille zur Macht", Aphorismus 482). Es handelt sich also darum, das Glück zu schaffen, das der gegebenen Lebensstufe entspricht. Die Wohlfahrtsethik, die NIETZSCHE so oft verspottet, kann - gewisse "Vornehmheiten" abgerechnet, die ungelöste Probleme verbergen - dieser Auffassung beitreten, besonders da ausdrücklich erklärt wird, es kommt nicht auf das Glück des Einzelnen oder einer Kaste an, sondern das verlangte kräftige Entfalten und Glück des Lebens werde um der Gattung willen, "nur des Gesamtlebens willen" verlangt. Nur um der gesamten Gattung willen könne der Selbsterhaltung des Einzelnen Wert beigelegt werden; eigentlich stütze sich der Begriff des Individuums, des Einzelnen, wie man ihn bisher verstanden hat, auf einen Irrtum ("Götzendämmerung", Aphorismus 33).

Der soziale Dualismus und die Herrenmoral finden nun hierin ihre letzte Begründung. Die Herren und die Übermenschen haben dann nicht nur ihren Zweck in sich selbst; wie sie schließlich gewertet werden, beruth darauf, ob sie in der ansteigenden Linie des Lebens der Gattung liegen oder nicht, beruth also auf ihrer Beisteuer zur Entwicklung des Menschenlebens. - PETER GAST, NIETZSCHEs Schüler und Ausleger gibt zu, der Meister sei in gewissem Sinne ein Utilitarianer, doch trenne er sich vom gewöhnlichen Utilitarismus, der nur den allernächsten Nutzen berücksichtigt. (Wo dieser "gewöhnliche Utilitarismus" zu finden sei, wird leider nicht mitgeteilt. Unter allen seinen Formen verlangt der Utilitarismus, daß man die Wirkungen der Handlungen möglichst weit verfolgt.)

Nun wäre es an und für sich sehr wohl möglich, daß die Wohlfahrt der Gattung einen scharfen Gegensatz zwischen Herren und Sklaven verlangte, obschon es schwer zu ersehen ist, wie ein solcher Gegensatz sich bei der westeuropäischen Kulturstufe behaupten und durchführen ließe. Ein ernsthafter Versuch, dies nachzuweisen, wird aber nicht gemacht. Der Versuch, den JOHN STUART MILL seinerzeit von seiner demokratischen Grundanschauung aus unternahm, die Notwendigkeit der individuellen Freiheit, Eigentümlichkeit und Größe darzutun, war weit ernsthafter als der Vesucht, den NIETZSCHE von seiner aristokratischen Grundanschauung aus machte, die Notwendigkeit eines Sklavenaufstandes zu zeigen. Aber dennoch verhöhnt NIETZSCHE sowohl MILL als auch die anderen englischen Denker, deren Schuhriemen zu lösen er - als strenger, methodischer Forscher betrachtet - nicht würdig ist.

Eins steht jedenfalls fest: es wäre denkbar, daß der menschlichen Gattung mit einem sozialen Dualismus am besten gedient wäre; es ist aber undenkbar, weil sich selbst widersprechend, daß man den letzten Zweck in einzelnen Individuen oder Kasten allein und doch in demselben Augenblick zugleich die Wohlfahrt der ganzen Gattung als letzten Zweck erblicken kann.

An den letzten, entscheidenden Punkten ist NIETZSCHE aber nicht mehr Philosoph, sondern Dichter. Was er nicht mit seinem Denken durchzuarbeiten vermochte, ist ihm als eine große Zukunftsvision erschienen, und zu dieser müssen wir uns kehren, um sein letztes Wort zu vernehmen.


G. Das letzte Ja - und Zarathustras Tod

Was NIETZSCHE zu einem Gedanken oder einer Vision vorwärtstreibt, die mit allem, was er vorher oder zu gleicher Zeit als Polemiker behauptet, in so scharfem Widerspruch steht, ist eine große Kontrastwirkung, ein ungestümes Trachten, die Lebensanschauung, auf die er während seiner ersten Jugend unter SCHOPENHAUERs und WAGNERs Einfluß geraten war, gänzlich zu bezwingen. Als Polemiker reagiert er gegen seine Zeitgenossen; durch seine Visionen reagiert er gegen sich selber, und für diese Reaktion kann er keine Ausdrücke finden, die stark genug wären. Die Form des Gedankens genügt hier nicht; dafür steht ihm aber eine hohe, von gewaltiger Stimmung getragene Poesie zu Gebote. Es ist der Grundgedanke seiner Jugendschrift über die Geburt der Tragödie, zu dem er jetzt zurückkehrt. Das Leben soll verherrlicht werden. Der Lebensdrang äußert sich als Wille zur Macht, und dieser Wille kann und soll so stark und mutig sein, daß er sogar den Schmerz wählen kann - und zwar nicht bloß als Mittel - und daß er die Wiederholung des Lebens wählen kann, ganz desselben Lebens, welches er schon einmal mit seiner Mühseligkeit und seinem Schmerz kennengelernt hat.

ZARATHUSTRA, der Prophet, hat droben in seiner Gebirgshöhle die höheren Menschen versammelt, diejenigen, die unter der Verkennung und Verfolgung des demokratischen Pöbels gelitten haben. Er erklärt ihnen, daß sie es immer schlimmer und härter haben werden, daß ihrer immer mehr zugrunde gehen werden. Es kommt nämlich nicht auf die Erhaltung des Menschen, sondern auf die Entstehung des Übermenschen an. Was wir am Menschen lieben können, das ist ein Übergang und ein Untergang. Es sind so große, ferne und hohe Kräfte in Tätigkeit, daß es kein Wunder ist, wenn das zerbrechliche Gefäß, in welchem sie sich entwickeln, zerschlagen wird. Das Mitleid mit diesen höheren Menschen ist ZARATHUSTRAs letzte Sünde ("Also sprach Zarathustra", IV).

Was ist denn der Übermensch? Er ist eine Existenzform, die sich zum Menschen verhält wie dieser zum Affen. Seine Entstehung ist "der Sinn der Erde". Er ist ein neuer Typus des Lebens, der verwirklicht werden soll, und durch das Wort "Übermensch" wird der Begriff oder das Symbol dieses Typus ausgedrückt ("Wille zur Macht", Aphorismus 390). Die Verwirklichung dieses Typus wird die Menschheit, wenn die große Mittagsstunde mitten im Weg der Entwicklung erscheint, als ihre Hoffnung und ihre Aufgabe erblicken. Er betont jetzt die Hoffnung, den Blick in die Zukunft mehr als vorher. Was aber namentlich von Wichtigkeit ist: die Andeutungen des neuen Lebenstypus, die NIETZSCHE in seinen mehr positiven Entwicklungen gibt, zeigen nach einer anderen Richtung hin als seine Schilderungen der Herrenmoral. Die bloße Kraft verlangt er nicht mehr, dagegen aber die hochsinnige Menschenliebe. Selbst im Christentum findet er jetzt zuwenig Liebe, weil es Weh über die Lachenden rief. - Sowie NIETZSCHE sein Ideal positiv entwickeln und die reaktiven Stimmungen fernhalten soll, erleidet der Begriff des Übermenschen eine Verschiebung. Dies ist vor allen Dingen an ZARATHUSTRA selbst zu gewahren. Nachdem er die höheren Menschen bewogen hat, sich seinem Gedanken anzuschließen, ahnt ihm, daß der große Mittag nahe sei. Nun kann er nicht mehr in seiner erhabenen Gebirgseinsamkeit bleiben. Es drängt ihn, wie die Sonne sein Licht auf die Welt ausstrahlen zu lassen. "Du großes Gestirn", redet er die Sonne an, "du tiefes Glücksauge, was wäre all dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!" ("Also sprach Zarathustra", VI. Das Zeichen). "Noch einmal will ich zu den Menschen: unter ihnen will ich untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben! Der Sonne lernte ich das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da ins Meer aus unerschöpflichem Reichtum, also daß der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert. Dies nämlich sah ich einst und wurde der Tränen nicht satt im Zuschauen!" ("Also sprach Zarathustra", III. Von alten und neuen Tafeln). Nun haßt ZARATHUSTRA seinen eigenen Haß. "Zum Segnenden bin ich geworden und zum Jasagenden: und dazu rang ich lange und war ein Ringer, daß ich einst die Hände frei bekäme zum Segnen!" (ebd. Vor Sonnenaufgang). - Hier äußert der Wille zur Macht sich unstreitig auf andere Weise, als wo die Verachtung der Herde das Wort führt. Eben der Lebensdrang, der Drang, den Pessimismus aus allen Winkeln zu verscheuchen, führt NIETZSCHE auf diesen Gipfel. Hier kommt die konsequente Entfaltung des NIETZSCHE'schen Grundgedankens zur Vollendung. -

Jetzt, da ZARATHUSTRA den Zweck und seine rechte Aufgabe so klar erblickt hat, stimmt er sein Mitternachtslied an. Dieses Lied (NIETZSCHE nennt es "das einsamste Lied, das je gedichtet wurde") dichtete NIETZSCHE in einer Nacht auf einer Loggia an der Piazza Barbarina in Rom; in seinem Werk verlegt er es in die Stunde der Mitternacht vor ZARATHUSTRAs Höhle. In dieser Strophe ist eine Totalstimmung angeschlagen und ein zusammenfassender Gedanke angedeutet, wie er sie sonst nicht festzuhalten und auseinanderzusetzen vermochte. Hier ist er einem großen, konzentrierten Ausdruck begeisterter Resignation und errungener Hoffnung so nahe gekommen, wie nur irgendwie denkbar ist. Das Lied lautet:
    O Mensch! gibt acht!
    Was spricht die tiefe Mitternacht?
    "Ich schlief, ich schlief -,
    Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
    Die Welt ist tief,
    Und tiefer als der Tag gedacht.
    Tief ist ihr Weh -,
    Lust - tiefer noch als Herzeleid:
    Weh spricht: Vergeh!
    Doch, alle Lust will Ewigkeit -,
    - will tiefe, tiefe Ewigkeit!"
Durch den Schmerz, den Kummer, den Zweifel und die Verachtung hindurch hatte NIETZSCHE sich in einem tiefen Glauben an das Leben hineingearbeitet. Er äußert hier in dichterischer Form die alte biologische Theorie vom Lustgefühl als einem Ausdruck von Kraft und des Fortschritts des Lebens. In jeder Regung von Lust sieht er einen Willen zur Erhaltung und Fortsetzung des Lebens.

Letzterer Gedanke, der Wille zur Erhaltung des Lebens, nimmt bei NIETZSCHE aber eine sonderbare Form an. Er wird eins mit einem Willen zur Wiederholung des Lebens. Es erschien NIETZSCHE schließlich als eine Notwendigkeit, daß das Geschehene einst in der Zukunft wieder auf dieselbe Weise wiederkommen muß. Er geht davon aus, daß die Welt aus einer bestimmten Anzahl von Elementen besteht, so daß nur eine bestimmte, endliche Anzahl von Kombinationen möglich wird. Sei diese erschöpft, so müsse die Wiederholung kommen. Der Weltlauf sei ein Kreislauf, der sich schon unendlich oft wiederholt hat und sich künftig ebenfalls wiederholen wird. Dieser Gedanke erfüllte NIETZSCHE mit Entsetzen, als er denselben erfaßte. Er betrachtete ihn als eine naturwissenschaftliche Notwendigkeit, die seinen Optimismus einer harten Prüfung unterwarf. Nicht nur sollte der Schmerz jetzt gewählt und genommen werden, sondern auch sollte alles Erlittene immer wieder geduldet werden. Umso größer wurde das Siegesjauchzen, als er die Furcht vor der Wiederholung überwand und in dieser Überwindung die höchste überhaupt mögliche Bejahung des Lebens fand. Auf interessante Weise trifft NIETZSCHE hier mit KIERKEGAARD zusammen, dem die Wiederholung ja ebenfalls ein Prüfstein der Kraft und des Ernstes des Lebens war. KIERKEGAARDs Satz: "Wer die Wiederholung will, der ist ein Mann," gehört auch zu NIETZSCHEs Grundsätzen. - Dieser Gedanke ist der Grundgedanke des ZARATHUSTRA-Werkes, wo er doch oft dadurch verundeutlicht wird, daß sich Aphorismen hervordrängen, die mit ihm in einem weniger klaren Zusammenhang stehen. Wäre es NIETZSCHE gelungen, den Schluß des Buches auszuarbeiten, so wäre die Idee des Werkes mehr zu ihrem Recht gekommen.

Diesem Gedanken der Wiederkunft verkündet ZARATHUSTRA erst den höheren Menschen, die er vor seiner Gebirgshöhle um sich versammelt hat. Nach einigem Widerstand bewegt er sie, auf denselben einzugehen, so daß selbst "der häßlichste Mensch" ausbricht:  "War Das  - das Leben? - Wohlan! Noch einmal!" Hierauf steigt ZARATHUSTRA nun hinab, um der großen Menschenmasse die Bedingungen des Lebens zu verkünden. Er versammelt die Menschen zu einem Fest und gibt ihnen neue Gesetze. Es wird eine Rangordnung festgestellt, deren Grundlage die wirklichen Lebenswerte sind. Der Kampf der Kasten ist nun glücklich überstanden. Es wird ausdrücklich als die Aufgabe der Herrscherkaste anerkannt, sich das tiefe, unbedingte Vertrauen der Beherrschten zu erwerben. Der Haß gegen das demokratische Nivellieren hat seine Zeit gehabt, die jetzt vorüber ist. ZARATHUSTRA schreitet darauf zu seiner eigentlichen Aufgabe. Erst verkündet er die große Hoffnung auf das Kommen des Übermenschen, das wegen der Durchführung der neuen Wertung möglich wird. Dann kommt der große, furchtbare Augenblick, wo er den Menschen verkündet, daß alles wiederkehren wird. Jetzt ist der Gedanke aber erträglich, nicht nur ihm selbst, sondern auch den Menschen. Denn auf seine Frage: "Wollt ihr das alles noch einmal?" antworten alle "Ja," und ZARATHUSTRA stirbt vor Freude. (Siehe die Entwürfe zum 5. und 6. Teile von "Also sprach Zarathustra", Werke XII, Seite 321f) -

In poetischer Form hat NIETZSCHE hier den sozialen Dualismus und die Herrenmoral zurückgenommen. Schon daß ZARATHUSTRA herabsteigt, um der Menge der Menschen die höchsten Wahrheiten zu verkünden, ist ein Beweis hierfür, wie es dann auch darin liegt, daß der Kampf der Kasten abgeschlossen ist. Jetzt hat die Gattung ein gemeinschaftliches Ziel.

Leugnen läßt es sich nicht, daß NIETZSCHE unseren Glauben ans Leben auf eine harte Probe stellt. Es ist ja doch möglich, einen großen Glauben ans Leben zu haben, wenn man auch nicht wünscht, dieselben Dummheiten oder oder Bubenstreiche wieder zu begehen und dieselben Schmerzen und Betrübnisse immer wieder zu erleiden. Wir haben aber auch keinen Grund, eine absolute Wiederholung anzunehmen. Die Erfahrung zeigt uns keine solche, und je mehr unsere Erkenntnis sich in das Dasein vertieft, umso unerschöpflicher erscheint dieses und bietet uns immer größere Mannigfaltigkeit und immer mehr fernere Möglichkeiten dar. Eine kämpfende sein - muß einen Hauptplatz für den Gedanken an das Neue und Unbekannte haben, das bald als drohende Gefahr, bald als anregende Aufgabe, bald als winkende Hoffnung auftaucht. Nichts spricht für so enge Grenzen des Daseins, daß eine beschränkte Anzahl von Existenzen sich in aller Ewigkeit ablösen sollten. Unser Glaube an das Leben braucht daher das Fegefeuer nicht durchzumachen, das NIETZSCHE in seiner dionysischen Begeisterung ihm bereitet.

Wie er sonst die Stimmung der Disharmonie und der Verachtung bis aufs äußerste potenziert hat, so hat er in seinen abschließenden Gedanken auch die Reaktion gegen allen Pessimismus die höchste Potenz erreichen lassen. Expansionen des Gefühls sind es, die an jedem Punkt sein Denken beherrschen. Nicht wegen einer wissenschaftlicher Problembehandlung, sondern wegen der leidenschaftlichen Weise und des oft genialen Pathos, womit sich gegenseitig widerstreitende Gesichtspunkte bei ihm zu Worte kommen und deshalb klar und scharf aufgestellt werden, hat er seinen Platz in der Geschichte der Philosophie. Seine Bedeutung ist symptomatisch. Er machte uns zu Zeugen eines inneren Dramas in einer Seele, die die Tendenzen der Zeit und des Lebens tief und energisch fühlte.
LITERATUR - Harald Höffding, Moderne Philosophen, Vorlesungen gehalten an der Universität in Kopenhagen im Herbst 1902, Leipzig 1905