ra-3R. GoldscheidJ. H. KoosenTh. AchelisE. BoutrouxE. F. ApeltE. König    
 
BASTIAN SCHMID
Der Wille in der Natur

"Bei den einfachst organisierten tierischen Organismen, denen eine konsequente Rückverfolgung geistiger Funktionen ein, wenn auch nur aufdämmerndes Bewußtsein nicht versagen kann, tritt unter den psychischen Faktoren der Wille derart in den Vordergrund, daß sowohl die Bewegung der pulsierenden Zellorganellen als auch jene der Wimperhaare als Willensakte anzusehen sind. Und so kann man das Fliehen vor Licht und Aufsuchen des Schattens (oder umgekehrt) gewisser einzelliger Algen, die Bewegungen des Protoplasmaleibes der Amöbe und noch andere solche Erscheinungen auf einen Willen zurückführen, der tatsächlich noch den ganzen Organismus beherrscht. Eine physikalische oder chemische Erklärung dieser Vorgänge ist ausgeschlossen. Auch bei den niedersten vielzelligen Tieren, deren Leib noch eine ziemlich gleichmäßige Organisation aufweist, wo teilweise nur eine geringe Arbeitsteilung herrscht, kann dem Willen noch eine große Wahlfähigkeit in Bezug auf die meisten Handlungen zugeschrieben werden."

Es war kein Zufall, vielmehr entsprach es einem Charakterzug des ganzen geistigen Lebens des 19. Jahrhunderts, daß das Willensproblem den Kern der meisten philosophischen Probleme bildete. Besonders trifft diese ganze Erscheinung dann zu, wenn man den Willensbegriff im weiteren Sinn faßt und in all dem Werden, Entwickeln ein tätiges Prinzip sieht, im Gegensatz zur starren, unveränderlichen Substanz. KANT wie FICHTE, SCHELLING und HEGEL wie EDUARD von HARTMANN und NIETZSCHE, sie alle sind von der Macht und Bedeutung des Willens überzeugt und geben dieser Tatsache mindestens in der praktischen Philosophie Ausdruck.

Zweimal wurde der Wille als der letzte Seinsgrund überhaupt angesehen, als das treibende Prinzip, das sich eine Welt schuf und sich in unzähligen Formen vermannigfaltigte, bei SCHOPENHAUER und WUNDT. Merkwürdigerweise erfährt jedoch der beiden Philosophen zugrunde liegende Gedanke in der Durchführung eine so große Verschiedenheit, daß beide Weltanschauungen nichts mehr als den Namen gemeinsam haben.

"Der Wille in der Natur" betitelt SCHOPENHAUER eine längere Abhandlung, die im Jahre 1835 erschien und die den im Hauptwerk mit fraglicher Konsequenz durchgeführten Gedankengang an den Resultaten der einzelnen Naturwissenschaften mit Beispielen illustriert. Ein seltsames Buch für uns Nachgeborene! Wenn wir auch heutzutage mit Recht dieses Werk mit beredtem Stillschweigen übergehen, wenn wir über Ausgang und Begründung des Problems sowohl, als auch über die Art und Weise nachträglicher Beweisführungen und Folgerungen die Achsel zucken, so mag es doch nicht uninteressant sein, diese Lösung des Willensproblems kurz zu charakterisieren, um so recht den Kontrast gegenüber den Vorzügen einer Willenstheorie, die in der Erfahrung wurzelt, zu verspüren, nämlich gegenüber dem WUNDTschen Voluntarismus.

Bekanntlich ist nach SCHOPENHAUER der Wille das Unerkennbare, unabhängig von Erkenntnisgesetzen, grundlos, unbewußt, er ist  einer,  jedoch nicht Eins im Begriff einer Zahl, sondern jenes Eine, welches aller Vielheit zugrunde liegt, und welches unserem Intellekt unter unzähligen Objektivatioinen erscheint. In einfachster Form äußert er sich als Kraft, sei es als Schwere, Undurchdringlichkeit, Magnetismus, Elektrizität, chemische Qualität; aber in allen Fällen hat man im Auge zu behalten, daß die Kraft kein physischer, sondern ein metaphysischer Begriff (Wille) ist. Ansich grundlos, sind ihre Erscheinungen dem Satz vom Grund unterworfen gleich den Handlungen der Menschen; die Kräfte sind die Bedingungen von Ursachen und Wirkungen, ohne selbst jemals dem Kausalitätsgesetz untergeordnet zu sein. Die Tatsache nun, daß die elektrischen und magnetischen Kräfte für die Wissenschaft ein größeres Rätsel bilden, als die mechanischen (wo der kausale Zusammenhang mathematisch einfacher ist, "Wirkung gleich Gegenwirkung"), gibt der Phantasie des Philosophen Anlaß zu der mystischen Anschauung, es sei in diesen geheimnisvollen Vorgängen bereits eine höhere Stufe der Objektivation des Willens zu verspüren. Der Wille strebt nun weiter! Er macht im Kristall den Anlauf zum Leben, erstarrt aber in der Form. In der Pflanze jedoch kommt er zu einem dumpfen Selbstgenuß und im Tier und Menschen, wo bereits das Medium der Erkenntnis dazu tritt, zum Handeln nach Motiven. Und wie jede Tiergestalt einer Sehnsucht des Willens, sich gerade so und nicht anders zu objektvieren, Ausdruck gibt, so auch wieder jedes einzelne Organ. Er wollte stoßen, deshalb gab er dem Stier Hörner, er wollte auf Bäume klettern, sich dort nähren, friedlich leben, dem bemoosten Ast gleichen und stellte sich deshalb im Faultier dar. Um als Affe auf den Ästen leben zu können, streckte er Ulna [Elle - wp] und Radius [Unterarmknochen - wp] unverhältnismäßig in die Länge, verkürzte sie aber und stattete sie mit Wurfschaufeln aus, wenn er unter der Erde als Maulwurf graben wollte.

Noch ist der intelligenzlose, dumpfwaltende Wille nicht am Ziel angelangt, sich selbst zu erkennen, um sich hierauf, schaudernd vor dem Elend der Welt zurückschreckend, zu verneinen; es fehlte noch das Licht des Verstandes, das er sich im menschlichen Gehirn ansteckt. Er will erkennen und objektiviert sich als Gehirn, das die Funktion hat eine Welt vorzustellen (und schließlich zu begreifen): "Die Welt als Vorstellung, die auf der schwachen Linie schwebt, zwischen der äußeren Ursache (Motive) und der hervorgerufenen Wirkung (Willensakte) bei erkennenden (tierischen) Wesen, als bei welchen ein deutliches Auseinandertreten beider erst anfängt". (1) Demnach ist der Wille das Primäre, das Ding ansich, das von ehedem ist, die Objektivation desselben, der Leib, ist das Sekundäre und endlich drittens die Funktion dieses Leibes, das Erkennen, ist das Tertiäre und zwar ist letzteres nichts anderes, als der Ausdruck des Erkennenwollens.

Auf den ersten Blick nun liegt die Frage nahe, ob nicht SCHOPENHAUER trotz aller metaphysischen Verschrobenheiten als ein Vorläufer DARWINs anzusehen ist, wie etwa GOETHE oder OKEN; denn sowohl die "Welt als Wille und Vorstellungen" als auch das Buch "der Wille in der Natur" weist, letzteres die Resultate der einzelnen Naturwissenschaften zusammenfassend, auf eine Entwicklung von Stufe zu Stufe hin. Wenn man sich aber SCHOPENHAUER näher ansieht, so findet man, daß er in dieser Hinsicht ebenso, wie der von ihm gehaßte HEGEL, PLATOs Schüler ist und die Offenbarungen des Willens als nicht zeitlos und plötzlich ansieht, als Objektivationen, in denen sich die Idee auf verschiedenen Stufen entäußerte. HEGEL sagt ungefähr: "Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so, daß die eine aus der anderen natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren den Grund der Natur ausmachenden Idee. Solcher nebulöser im Grunde sinnloser Vorstellungen, wie das sogenannte  Hervorgehen  der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das  Hervorgehen  der entwickelten Tierorganisation aus den niedrigeren usw., muß sich die denkende Betrachtung enthalten".

Weicht SCHOPENHAUER von dieser Überzeugung ab, wenn er, nach einer abfälligen Kritik über LAMARCK und seine Ansicht über die Zweckmäßigkeit in der natur, dahin kommt zu behaupten: ... "Denn hier ist der Meister, das Werk und der Stoff ein und dasselbe. Daher ist jeder Organismus ein überschwenglich vollendetes Meisterstück. Hier hat nicht der Wille erst die Absicht gehegt, den Zweck erkannt, dann die Mittel ihm angepaßt und des Stoff besiegt; sondern sein Wollen ist unmittelbar auch der Zweck und unmittelbar das Erreichen: es bedurfte sonach keiner fremden, erst zu bezwingenden Mittel: hier war Wollen, Tun und Erreichen ein und dasselbe" (Vgl. Anatomie). Spricht SCHOPENHAUER nicht im HEGELschen Sinne, wenn er behauptet, daß die Stufen der Objektivation keineswegs friedlich nebeneinander ruhten, sondern daß "im Bestreben der einzelnen Ideen, ihre Gebiete zu erweitern, ein heftiger Kampf auf dem Gebiet der Materie entbrennt, daß jeder Organismus die Idee, deren Abbild er ist, nur darstellt nach Abzug des Teils seiner Kraft, welche verwendet wird auf Überwältigung der niedrigeren Ideen, die ihm die Materie streitig machen" (Vgl. Anatomie).

Und dieser Wille nun, der durchaus unvorstellbar ist, der außer der Zeit steht und in einem bewußten Drang, intelligenzlos ohne vorhergehenden Zweck zweckmäßig schafft, sollte sich in unendlich vielen Variationen vergegenwärtigt haben? Die Starrheit seiner Formen schließt ebenso eine Weiterentwicklung aus, wie seine Intelligenzlosigkeit eine Selbstentwicklung des Geistes aus der Natur. Da ist es nun allerdings nicht zu verwundern, daß eine so eng mit dem Schaffen der Natur verknüpfte Frage wie die nach der Zweckmäßigkeit, nicht ohne große Widersprüche mit dem Willen verknüpft wurde. Hören wir nur einige Beispiele SCHOPENHAUERs: "Das Termitennest ist das Motiv, welche die lange Zunge des Ameisenbären hervorgerufen hat; die Eierschale das Motiv, für den gefangenen Vogel einen Schnabel zu schaffen; die schwarze Haut verursacht die Farbe der darauf wohnenden Läsue, und die heiße Wüste die Beschaffenheit der wasserhaltigen Zellen im Magen des Kamels". Die Deutung dieser Beispiele könnte übrigens noch immer doppelsinnig sein und unter Umständen zugunsten der Entwicklungsgeschichte ausfallen; aber sobald man der SCHOPENHAUERschen Aufforderung nachkommt, die Erklärung rückwärts zu gebrauchen, zeigt sich erst deren Unzulänglichkeit: "Es ist nicht nur anzunehmen, daß jede Spezies sich nach den vorgefundenen Umständen bequemte, sondern daß diese in der Zeit vorangegangenen Umstände selbst ebenso Rücksicht nehmen auf die dereinst kommenden Wesen" (Welt als Wille und Vorstellung I, Seite 190). Demnach bequemte sich ahnungsvoll das Termitennest dem Ameisenbären, die Schale dem Vogel, die Wüste dem Kamelmagen, die Negerhaut den Läusen an. Die Reihe ist bequem rückwärts zu verfolgen, die Ideen sind zeitlos,  ein  Akt des Willens; schon die Rotation der Urnebel mußte sich dem kommenden Geschlecht gemäß verrichten.

Eine Kritik dieser Ansichten ist ebenso überflüssig, wie eine erkenntnistheoretische Untersuchung der Begründung von SCHOPENHAUERs Willensmetaphysik, in ihrer Unbeweisbarkeit, ihren Widersprüchen, ihrer Dogmatik. Man darf sich ja nur daran erinnern, wie er den Willen einführt, wie er den Satz vom Grunde auf das Unerkennbare anwendet usw.

Es wird uns hier vielmehr die Frage beschäftigen, in welcher Weise ein anderer Philosoph es unternahm, in der Natur das werktätige Schaffen des Willens zu erkennen. Dabei wollen wir die Gründe, die ihn dazu veranlassen, kennenlernen und prüfen, ob wirklich die Empirie für ihn spricht und ob die über die Erfahrung hinausgehenden Spekulationen notwendig sind. Zu diesem Zweck dürfte es förderlich sein, die WUNDTsche Willenstheorie kurz vorzuführen, um sie hernach an anderen Anschauungen über das Naturwollen, dem Darwinismus und der modernen Entwicklungstheorie zu messen.

Während dort bei SCHOPENHAUER das Zweckproblem nur eine sekundäre Bedeutung hat und ohne erkenntnistheoretische Erwägungen oft nur rein äußerlich an die Tätigkeit des Willens anschließt, um dieses Wirken nachträglich zu beleuchten, finden wir bei WUNDT Wille und Zweck so eng miteinander verknüpft, daß beide Begriffe nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Der Grund zu einer derartigen Verknüpfung beider Begriffe ist leicht ersichtlich. Im ersteren Fall haben wir es mit einem blinden, intelligenzlosen Willen zu tun, der sich auf einmal objektivierte, im letzteren mit einem von Anfang an mit Intelligenz begabten Wollen, dessen Entwicklung erörtert, erwiesen ist. Folgen wir einer kurzen Charakterisierung des WUNDTschen Zweckbegriffs.

Im Gegensatz zur bekannten äußeren Teleologie, die sich an die rationelle Theologie des vorigen Jahrhunderts anlehnt, aber auch im Gegensatz zur sogenannten rein mechanischen Naturauffassung stellt WUNDT einen Zweckbegriff auf, der vom Gesichtspunkt der aktuellen Kausalität eine bloße Umkehrung der Kausalbetrachtung ist. Danach kann man eine Folge von Ereignissen sowohl unter dem Gesichtspunkt der Kausalität als auch unter dem der Teleologie betrachten, womit Ursache und Mittel, Wirkung und Zweck zu äquivalenten Begriffen geworden sind. (System der Philosophie I, 2. Auflage, Seite 312)

Es war vor allem das Gebiet der Biologie, auf welchem die teleologischen erklärungen sich so lange zu behaupten vermochten und zwar wohl deshalb, weil hier eine Umkehrung der kausalen Betrachtung, also ein Ausgehen von den Folgen und ein Schließen auf die unbekannte Ursachen naheliegend und beim damaligen tiefen Stand dieser Wissenschaften möglich war. Man übersah, indem man dem Weltbaumeister vorausgedachte Zwecke unterschob und sich denselben als einen Mechaniker dachte, der die Maschine erst in seinem Kopf nach all ihrer Zweckmäßigkeit entstehen läßt, die Tatsache, daß die Zeugungs- und Entwicklungsvorgänge einem inneren Naturzusammenhang angehören, der erst vom Gesichtspunkt des außenstehenden Naturbeobachters beurteilt wird. Auf diese Weise wird also die Zweckidee nachträglich in die Dinge hineingetragen und schließliche wird unser Körper nicht als Produkt einer Zweckidee, wohl aber als ein zweckmäßiges Produkt angesehen (System der Philosophie I, Seite 314).
    "Die Interpretation bleibt überall solange eine kausale oder bloß subjektiv-teleologische, als man sich auf die Naturseite der Erscheinungen beschränkt; sie wird objektiv-teleologisch erst in dem Augenblick, wo man auf die Triebe und Vorstellungen Rücksicht nimmt, die vom Standpunkt subjektiver Wahrnehmungen aus als die zureichenden Motive der äußeren Handlungen erscheinen. Auf diese psychologische Interpretation sind wir aber immer dann genötigt zurückzugreifen, wo es sich um die Feststellung eines umfassenden Zusammenhangs von Entwicklungserscheinungen handelt". (System 498) (2)
Bekanntlich hat von Seiten der mechanischen Naturauffassung, die Ansicht, es sei durch eine kausale Erklärung die teleologische hinfällig geworden, mehr und mehr um sich gegriffen. Diese Auffassung ist deshalb nicht ganz vorurteilsfrei zu nennen, weil sie unter der teleologischen Erklärung wohl nur die bekannte rationelle, metaphysische Deutung versteht. Die Vertreter der mechanischen Weltauffassung bedenken nicht, daß man von einer Zweckmäßigkeit überall da sprechen kann, wo ein Eintreten bestimmter Tatsachen und Schlußeffekte und in der Verbindung dieser Resultate eine Wirkung gesehen wird, die ihre Ursache hat, Wirkungen, die in einem kausalen Zusammenhang stehen, der in diesem Fall rückwärts betrachtet wird. (System 317)

Eine andere Frage nun, die zugleich an die Verwertung des Zweckbegriffs große Anforderungen stellt, ist die, welche auf das Werden der Organismen gerichtet ist. Hier stehen sich die mechanische und die animistische Auffassung, von welch letzterer auch LAMARCK beeinflußt ist, gegenüber. Das Hauptprinzip des genannten Naturforschers "Übung stärkt die Organe, Nichtübung schwächt dieselben", sowie eine Anzahl seiner Ideen gingen an DARWIN über, der im Besitz eines großen Tatsachenmaterials stehend, hierzu noch seine bekannten, dem Mechanismus mehr oder minder angehörigen Erklärungsgründe fügte.

Unbegrenzte Variabilität und Vererbung erworbener Eigenschaften einerseits und Kampf ums Dasein andererseits sind die drei wesentlichen Faktoren, von welchen die Entwicklung getragen wird, und zwar sind die beiden ersten vom Standpunkt DARWINs mechanisch, d. h. zufällig und zwecklos. Die dritte Annahme ist ein Gemisch von mechanistischen und animistischen Ideen, mechanistisch dann, wenn man einen stummen Kampf ums Dasein in jenen Wirkungen erblickt, wie sie durch Klima, Bodenbeschaffenheit und Nahrungsverhältnisse namentlich auf Pflanzen ausgeübt werden und wodurch dann jene Exemplare erhalten bleiben, die unter den günstigsten Bedingungen leben; animistisch, wenn es sich um einen wirklichen Kampf handelt, wie ihn z. B. Hirsche um den Besitz des Weibchens kämpfen, und der Starke, der Leistungsfähigste siegt. Hier entstehen durch die Übung des Kampfes neue Eigenschaften, die die geübten Organe noch mehr vervollkommnen. In diesem aktiven Kampf dominieren aber nicht mehr die äußeren Einflüsse, sondern es machen sich bereits innere - ein Wollen nach Zweckvorstellungen - geltend, aber solcher Zweckvorstellungen, die im wollenden Wesen selber liegen, mit anderen Worten die zwecktätige Kraft ist der Wille. (System 320)

Somit enthält die DARWINsche Theorie einen Gedanken, welcher das Freiwerden von Willenseinheiten ausspricht, und damit macht er den Animismus mit seiner Zweckidee hinfällig. Hingegen ist der Voluntarismus durch die Tatsache, daß psychisches auf physisches mit äußeren Erfolgen hinüberwirkt, in seine Rechte eingesetzt worden. Jener Willenseinfluß zeigt sich vor allem im Nahrungs- und Geschlechtstrieb, dann aber auch noch, wie namentlich bei niederen Wesen, in anderen Erscheinungsformen des tierischen Lebens.

Der Gedanke, daß Organisation und Lebensweise in steter Wechselwirkung stehen, tritt nun in eine neue Beleuchtung. Als oberstes Prinzip wirkt der Wille, der durch äußere Reize veranlaßt die Lebensweise und damit nach und nach die Organe modifiziert. Je mehr sich ein Tier vervollkommnet, desto größer wird auch die Zahl der Triebe und damit wird auch die Individualität insofern ausgeprägter, als den Willenshandlungen ein größerer Spielraum gelassen wird. Nun erweitern sich fortwährend die Wechselwirkungen zwischen Organisation und Lebensweise und zugleich die Fähigkeit des Organismus, verschiedene Leistungen zu kombinieren. Hingegen werden die bei den verschiedenen Einflüssen maßgebenden Faktoren immer versteckter, und zuletzt ist es nur noch die Tatsache der Wechselwirkung zwischen Organisation und Funktion, die als Resultat bestehen bleibt.

Allerdings hat die Annahme, die organische Zwecktätigkeit auf den Willen zurückzuführen, auf den ersten Blick sehr viel gegen sich, und zwar genügt schon der Einwand, daß eine Menge von Lebensformen unter Bedingungen vorkommen, die einen Willenseinfluß nicht erkennen lassen. Abgesehen davon, daß das ganze Pflanzenreich an sich schon als willenlos gilt, sind auch eine Menge zweckmäßiger Einrichtungen des tierischen Körpers wie Herz, Lunge und alle übrigen vegetativen Organe dem Willen entzogen, so daß höchstens noch von einem Einfluß des Willens auf die willkürlichen Muskeln gesprochen werden könnte. Zu einem unbewußten Willen zu greifen, hieße dem Vitalismus und metaphysischen Willen Tür und Tor öffnen. Infolgedessen kann nur dann der Wille als Erklärungsprinzip zweckmäßiger Wirkungen angesehen werden, wenn er empirisch nachweisbar ist. Dabei kommen zwei Gesichtspunkte in Betracht: die Verbreitung und objektive Zweckmäßigkeit der Willenshandlungen.

Bei den einfachst organisierten tierischen Organismen, denen eine konsequente Rückverfolgung geistiger Funktionen ein, wenn auch nur aufdämmerndes Bewußtsein nicht versagen kann, tritt unter den psychischen Faktoren der Wille derart in den Vordergrund, daß sowohl die Bewegung der pulsierenden Vakuolen [Zellorganellen - wp] als auch jene der Wimpernhaare als Willensakte anzusehen sind. Und so kann man das Fliehen vor Licht und Aufsuchen des Schattens (oder umgekehrt) gewisser einzelliger Algen, die Bewegungen des Protoplasmaleibes der Amöbe und noch andere solche Erscheinungen auf einen Willen zurückführen, der tatsächlich noch den ganzen Organismus beherrscht. Eine physikalische oder chemische Erklärung dieser Vorgänge ist ausgeschlossen. Auch bei den Coelenteraten [niederste vielzellige Tiere - wp], deren vielzelliger Leib noch eine ziemlich gleichmäßige Organisation aufweist, wo teilweise nur eine geringe Arbeitsteilung herrscht, kann dem Willen noch eine große Wahlfähigkeit in Bezug auf die meisten Handlungen zugeschrieben werden. Wie sich nun nach und nach eine Arbeitsteilung einstellt, wie sodann gewisse Zentren, wie Ernährung, Atmung, Herztätigkeit in mechanischer Selbstregulierung funktionieren, ist ebenso erwiesen, wie die Annahme, daß diese Einrichtungen  allmählich  entstanden sind. Und wenn erst der Wille den ganzen Organismus beherrschte, so ist infolge der Mechanisierung psychischer und physischer Funktionen auch anzunehmen, daß diese Akte nach und nach dem Bereich des Willens entzogen wurden und er dagegen durch die Mechanisierung und Entlastung Gelegenheit fand, zu höheren Stufen zu klimmen und auch diese wieder seinem Machtbereich einzuverleiben.

Es spielen also tatsächlich empirische Willenshandlungen im zweckmäßigen Aufbau der Organismen eine Hauptrolle. Selbstverständlich kann nicht angenommen werden, daß der Körper, der durch unendlich viele Zweckhandlungen aus einem einfachen psychophysischen Organismus hervorging, schließlich von subjektiven Zweckvorstellungen bestimmt worden wäre, die einige Entwicklungserfolge antizipiert hätten. Die Erfolge waren unbeabsichtigt. Es ist ein Nebenerfolg, wenn sich ein Organ durch Übung stärkt oder wenn die Muskeln durch Arbeitsleistungen verändert werden und auf die Skelettteile und auf die sie beherrschenden Nervenzentren verändernd eingreifen. Von Stufe zu Stufe wird angezeigt, daß die objektive Zweckmäßigkeit durchaus verschieden ist von der subjektiven, die dieselbe hervorbrachte, denn der objektive Erfolg überschreitet regelmäßig das ihm vorausgehende Zweckmotiv. Jenes Gesetz, das die geistige Entwicklung beherrscht, das Prinzip der  Heterogonie  [Motivverschiebung - wp]  der Zwecke,  bewährt sich also schon auf der physischen Seite der organischen Entwicklung.

Es werden also von jedem nach Zwecken handelnden Wollen Zwecke erreicht, die nicht beabsichtigt, weil nicht vorausgesehen waren, andererseits gelangen andere gewollte Zwecke durch die Widerstände, die sie finden, nicht zur Ausführung. Immer aber führt der gewollte Zweck eine Reihe von Nebenerfolgen herbei, die man in Bezug auf den zwecksetzenden Willen als zweckmäßig ansehen muß, und es kommt daher die Regel von der  Vervielfältigung der Zwecke  in Betracht, die in unmittelbarer Verbindung steht mit dem alles geistige Leben beherrschenden "Prinzip des Wachstums geistiger Werte". Wenn sich also der Wille als tätige geistige macht die Natur dienstbar macht, so befestigt er die Erfolge des geistigen Wirkens bleibend, und er gewinnt neues Material für die Steigerung dieses Wirkens. "So erscheint die Selbstschöpfung der organischen Welt in jeder Beziehung als eine Vorstufe der geistigen Entwicklung." (System 329)

Das Prinzip der Heterogonie der Zwecke darf nicht etwa dahin verstanden werden, daß jede aus einer zwecksetzenden Tätigkeit hervorgehende Wirkung als objektiver Zweck zu betrachten wäre. "Vielmehr ist nur immer derjenige Erfolg ein objektiver Zweck zu nennen, der in der Richtung der vorausgehenden subjektiven Zweckvorstellungen liegt, so daß er im Sinne derselben als zweckmäßig anerkannt werden muß." (System 331)

Einige Beispiele werden diese Anschauung illustrieren. Die Protistenformen [Einzeller - wp] haben bekanntlich in physischer und psychischer Hinsicht in jenen Übergängen von Tier- und Pflanzenreich schon vieles voraus, und sie haben sich gerade deshalb, weil sie angewiesen sind, sich selbst Nahrung zu erwerben, und somit durch einen fortwährenden Gebrauch ihres Organismus, ihrer Wimpernhaare diese Vervollkommnung verschafft, die den undifferenzierten Übergängen fehlt. Ohne Zweifel sind die pflanzlichen Urformen durch die Gewohnheit, mittels Chlorophyllkörner sich selbst Nahrung zu verschaffen, zunächst in ihren psychischen Funktionen zurückgeblieben und zwar in dem Maße, als rein physikalische Einflüsse überhandnahmen und jene Vorgänge mechanisierten, die früher von einer freien Willensbestimmung abhängig waren. Und je mehr diese einseitige Entwicklung überhand nimmt, desto gleichförmiger gestaltet sich diese Organismenwelt, desto niedriger ist die Zweckmäßigkeit, die nur noch den Nachwirkungen derselben unterworfen ist, wie ja ein Blick auf die Pflanzenwelt ohne weiteres lehrt. Nur noch die Befruchtungsvorgänge, d. h. die Verschmelzung zweier  einzelliger Wesen,  denen sowohl freie Bewegung als auch Willensakte damit zukommen, erinnern an die ursprüngliche Herrschaft des Geistigen.

In gewisser Hinsicht besteht nun bei höher entwickelten Tieren eine gewisse Übereinstimmung mit den Pflanzen darin, daß eine Reihe von Organen den physikalischen und chemischen Einflüssen, überlassen bleibt, aber deshalb, weil hier der Geist ohne diese Entlastung keine weiteren Entwicklungsphasen eingehen önnte. So wurden die anfangs vielleicht noch mit Bewußtsein ausgeführten Akte des Verdauens nach und nach in rein mechanische Geschehnisse umgewandelt, d. h. sie wurden nach und nach als reflektorische und automatische Bewegungen niederen Nervenzentren übertragen, die sich in zweckmäßiger Selbstregulierung dem Ganzen fügen. Auf diese Weise entstand die natürliche Maschine, deren erste Einrichtung als denkbar einfachstes Gebilde noch in all ihren Bewegungen geistig beherrscht werden konnte, die aber nach und nach, weil sich das Geistige ein immer weiteres Arbeitsfeld schaffte, zum automatenhaften Handlanger herabsank.

Diese ohne Zweifel vorhandene, nach und nach entstandene Zweckmäßigkeit kann nicht als eine subjektive, vorhergesehene gedeutet werden, nicht also als eine von vornherein beabsichtigte, vielmehr ist das Gesamtprodukt, der lebende Körper, ein unbeabsichtigter Nebenerfolg. Wenn das Tier Nahrung aufnimmt, so gehorcht es einem Trieb, den es im Interesse seiner Erhaltung zu stillen bemüht ist, wenn sich aber dabei gewisse physikalische und physiologische Veränderungen in seinem Organismus abspielen, oder wenn sich nach dem Vorhandensein eines einfachen Darms die Muskeln nach und nach mit den Nerven zu vollkommenen Verdauungsapparaten entwickeln, so bedeutet ein solches Hinausgehen über den Zweck ein Wachstum, eine Vervollkommnung, die nun ihrerseits wieder fortschreitet. In letzter Hinsicht ist dieses Fortschreiten ein Ausfluß der befestigten Willensmacht auf ihr körperliches Substrat. Er zwingt die Naturkräfte in seine Dienste und verwertet die Energien der objektiven Welt zum Aufbau des Organismus. So hat er als geistige Macht die Naturkräfte in seine Dienste gestellt, um seine Erfolge dauernd niederzulegen, um eine neue Wirksamkeit, um neues Schaffen hinzuzufügen; die Organismen aber werden, vom Willen geschaffen, "eine Vorstufe der geistigen Entwicklung" (System 329).

Eine derartige Interpretation des organischen Werdens und Selbstentwickelns des Geistes hat auch eine andere Auffassung des Zweckbegriffs zur Folge. Waren bei SCHOPENHAUER Zweck und Motiv insofern gleich, als der erreichte Zweck und die verwirklichte Vorstellung ein und dasselbe sein sollten, so wird hier, den Bewußtseins- und Erfahrungstatsachen entsprechend, das Wirkungsfeld erweitert.

Seit dem Auftreten der Entwicklungstheorie ist eine Zweckmäßigkeitslehre, wie sie sich lange in ihrer metaphysischen Rolle gefiel, nicht mehr möglich. Tatsächlich könnte man nach der alten Auffassung einen Organismus nur zweckmäßig nennen, wenn die Seele im Sinn eines Weltbaumeisters den Erfolg vorausdächte, also Motiv und Endergebnis übereinstimmten.

Dagegen würden nicht nur die Organismen, sondern auch alle gewordenen Geistesschöpfungen wie Staat, Religion, Sitte oder Sprache nicht mehr unter den Begriff des Zweckes fallen. Denn diese sind doch das Endergebnis unzähliger Willensbestrebungen und nicht die Realisierung vorausgedachter Vorstellungen. Gewiß, die subjektive Zweckvorstellung führt zum objektiven Erfolg, aber sie kann kein Bild des letzteren genannt werden, und sehr oft liegt die Hauptbedeutung des objektiven Zwecks in jenen Eigenschaften, von welchen die subjektive Vorstellung nichts enthält (System 331).

Demnach kann man die Organismen und die organischen Schöpfungen zweckmäßig nennen, weil sie zur Ausführung jener Lebensfunktionen befähigen, aus deren primitivster Betätigung sie selbst allmählich hervorgingen, die geistigen Schöpfungen zweckmäßig, weil sie die Verwirklung der geistigen Grundtriebe darstellen, aus deren Entfaltung sie sich allmählich entwickelt haben.
    "Die schöpferische Energie, die sich in der organischen Natur betätigt, besteht daher niemals in einer absoluten Neuschöpfung, sondern immer nur in einer fortdauernden Differenzierung und Potenzierung von Leistungen, die in ihren einfachen Formen ursprünglich gegeben sind." (System 332)
Daß nun die entwicklungstheoretischen Ansichten WUNDTs mit denen von DARWIN ausgesprochenen nicht in Einklang stehen, geht aus den bisherigen Darlegungen des Zweckgedankens sowohl als auch aus der  Erfahrung  hervor. Die geistigen Faktoren haben auf die Entwicklung des Einzelnen wie des großen Ganzen stets einen bedeutenden Einfluß ausgeübt. Es ist begreiflich, wenn sich unser Philosophe vor allem gegen die Selektion wendet.
    "Andererseits ist jedoch die Selektionstheorie selbst in dieser einseitigen (gemeint ist die äußere Selektion) den absoluten Zufall zum Schöpfer der organischen Welt erhebenden Gestalt ebenso sehr logisch unmöglich, weil die Wahrscheinlichkeit, daß bei ganz beliebigen, individuellen Variationen eine nützliche in einer hinreichenden Zahl von Fällen auftreten werde, um sich befestigen und fortpflanzen zu können, offenbar verschwindend klein ist. Man glaubt zwar diese Wahrscheinlichkeit dadurch erhöhen zu können, daß man auf die fast unbegrenzten Zeiträume hinweist, die zur Verfügung stehen. Dies ist aber deshalb ein Irrtum, weil die Größe der Zeiten die Fälle ungünstiger ebensogut wie die Fälle günstiger Variation vermehrt." (System 321).
Und nun folgt in viel gewichtigeren Gründen ein Einwand gegen die DARWINsche Theorie, der ein stets wiederkehrender und nie zu beseitigender sein wird: Mit der Erfahrung steht die Zufallshypothese deshalb im Widerstreit, weil jene überall lehrt, daß Selektion, geschehe sie nun durch äußere Natureinflüsse oder durch künstliche Züchtung, immer erst da ihre Hebel einsetzen kann, wo ein  Anfang  in bestimmter Richtung gegeben ist. Ein solcher Anfang schließt aber notwendig irgendeinen objektiven Zweck bereits ein. Es entsteht daher die Frage: wo nimmt dieser ursprüngliche Zweck, ohne den alle sekundären Einflüsse nichts ausrichten würden, seinen Ursprung? (System 321).

Lassen wir vorderhand diese Frage offen, und gehen wir jetzt auch an diesen beiden Einwänden vorüber, um die gegen den Darwinismus gerichteten Angriffe der Naturforscher zu hören. Da haben wir zunächst solche Ansichten zu verzeichnen, welche in der Zweckmäßigkeit kein Forschungsproblem sehen. War ansich der Zweckgedanke nicht gerade die stärkste Seite DARWINs, so glaubten doch viele Forscher ihn überhaupt negieren zu müssen, wie KÖLLIKER und NÄGELI. So sagt KÖLLIKER in seinem Aufsatz: "Über die Darwinsche Schöpfungstheorie" in der "Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, Bd. 14, Seite 174 - 186 Jahrgang 1884":
    "Die teleologische allgemeine Anschauung DARWINs ist eine verfehlte. Die Varietäten entstehen ohne Einwirkung von Zweckbegriffen oder eines Prinzips des Nützlichen nach allgemeinen Naturgesetzen und sind nützlich oder schädlich oder indifferent".
Und NÄGELI (Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre 1884):
    "Die anorganische Natur im Ganzen und im Einzelnen wird von der exakten Wissenschaft zuweilen als ein System von Kräften und Bewegungen angesehen, die sich gegeneinander ins Gleichgewicht gesetzt haben und, wo dasselbe gestört wird, einem neuen Gleichgewicht zustreben. Die organische Natur ist ebenfalls sowohl als Ganzes wie in jedem einzelnen Teil als solches ein viel komplizierteres System von Kräften und Bewegungen, und die Aufgabe der phylogenetischen Wissenschaft ist es vor allem, die Ursachen der Gleichgewichtsströmungen und damit der stets fort eintretenden Veränderungen, nicht irgendwelcher anderer daraus sich ergebender Beziehungen aufzusuchen".
Abgesehen davon, daß ein solcher Standpunkt jeglichen Zweckgedeanken in unberechtigterweise ausschließt, übersieht er auch die große Kluft, die sich zwischen der organischen und anorganischen Natur auftut und damit die bei der ersteren waltenden neu hinzugekommenen Komplikationen (Kräfte), und zwar diejenigen, auf Reize zu antworten im allgemeinen und die psychischen (Tierwelt) im Besonderen. Sodann gibt auch noch der Umstand zu denken, daß durch eine rein mechanische physikalische Naturbetrachtung die Wesen nicht von einem höheren Standpunkt aus, der die Biologie im großen Stil, das große Naturganze betrachtet, aufgefaßt werden.



Prüfen wir jetzt den Einwand, daß kleine Abänderungen nicht imstande seien, eine Auslese zu veranlassen, oder deutlicher gesprochen, daß DARWIN uns nicht erklären könne, aus welchem Grund sich diejenigen Organe, welche noch in ihren Anfangsstadien begriffen sind, also noch nicht selektionswertig sind, sich fortbilden, um sodann bei der Auslese mit dem Prädikat "tüchtig" bedacht werden zu können. Hören wir hierüber DARWIN selbst (Entstehung der Arten, Seite 101):
    "Kann man es denn, wenn man sieht, daß viele für den Menschen nützliche Abänderungen unzweifelhaft vorgekommen sind, für unwahrscheinlich halten, daß auch andere mehr oder weniger einem jeden Wesen selbst im großen und zusammengesetzten Kampf ums Leben vorteilhafte Abänderungen im Lauf vieler aufeinander folgender Generationen zuweilen vorkommen werden? - Wenn solche aberb vorkommen, bleibt dann noch zu bezweifeln (wenn wir uns nur daran erinnern, daß offenbar viel mehr Individuen geboren als möglicherweise fortleben können), daß diejenigen Individuen, welche irgendeinen, wenn auch noch so geringen Vorteil vor anderen voraus besitzen, die meiste Möglichkeit haben, die anderen zu überdauern und wieder ihresgleichen hervorzubringen? Andererseits können wir sicher sein, daß eine im geringsten Grad nachteilige Abänderung unnachsichtlich zur Zerstörung der Form führt."
Wenn also Variationen vorkommen - und deren Auftreten ist ohne Zweifel - so ist der Selektionswert der variierenden Organe erst eine sekundäre Erscheinung. Die Zufälligkeit der ersteren, um im Sinne DARWINs zu sprechen, ist beim Auftreten mitunter für die Art gleichgültig, sie können auch wieder verschwinden. Es kann aber sein, daß unter den neu hinzugetretenen Merkmalen einige für das Wohl des Individuums von Vorteil sind, und diese bleiben daher bestehen. Es wird sich also stets darum handeln, ob ein Organ auf die Stufe "Selektionswert" zu besitzen erhoben wird oder nicht. Erst dann kann von einer weiteren Entwicklung, die die künftige Art betrifft, die Rede sein. Nehmen wir Beispiele: Eine bestimmte Dichte des Pelzes oder des Gefieders, hervorgerufen durch strenge Kälte, läßt die so ausgerüsteten Individuen den Winter leicht überleben, eine derartige Beschaffenheit des Kleides wird also ohne Zweifel Selektionswert haben. Veränderte Ernährungsverhältnisse, wie sie bei Raumpen öfters vorkommen, rufen eine andere Färbung hervor; (hierzu treten die zahlreichen Beispiele, die uns die Haustiere liefern).

Gute Konstitution, ansich eine Selektion, erträgt Hunger und Durst, ungünstige klimatische und sonstige Verhältnisse viel leichter, als schwache, und ist auch den durch diese Verhältnisse hervorgerufenen Veränderungen zugänglich und somit für Selektionswerte schon präpariert. Unter den Vögeln, welche viel Nachstellungen von Raubvögeln ausgesetzt sind, werden diejenigen, welche durch fortgesetzten Gebrauch ihrer Organe Sternum und Pneumatizität [Lufträume - wp] der Knochen vervollkommnen, stets im Vortel sein und denselben auch auf ihre Nachkommen übertragen. Tiere, welche sich gegen Nachstellungen nicht durch Verteidigungsmittel, auch nicht durch Schutzfärbung oder Mimikry schützen können, sondern die lediglich auf die große Produktion von Nachkommen angewiesen sind, werden durch jede Vervollkommnung dieser Anlage ihre Art über andere Arten den Sieg davon tragen lassen. Und so können verschiedene Vervollkommnungen von Organen, kleine Abänderungen an den Flug-, Schwimmapparaten, am Schnabel, am Gebiß, Abänderungen, die aus verschiedenen äußeren Ursachen hervorgerufen wurden, sich zum Selektionswert erheben, ohne von der Stammform endgültig abzuweichen.

Stets wird also die Variation das Erste, das Vorausgehende, die Selektion das Zweite sein; ohne erstere ist an eine Auswahl, an einen Fortschritt nicht zu denken. Zugleich muß außer den großen Zeiträumen noch die Möglichkeit von Pluralvariationen angenommen werden, verbunden mit verschiedenen anderen Verhältnissen wie Begünstigung und Festhalten erworbener Merkmale durch geschlechtliche Zuchtwahl, Kombinationen verschiedener Selektionsfaktoren an ein und derselben Art, so daß z. B. scharfes Gesicht, gutes Gehör, Stärke usw. sich in einer Raubtierart vereinigen. Andererseits soll nicht vergessen werden, daß es der Natur ganz gleichgültig ist, wenn der Kampf ums Dassein zu stark wütet, wenn Hunderte von Arten aussterben, oder wenn durch Kreuzung bereits erworbene Merkmale wieder vernichtet werden.

Wenn auch die Möglichkeit der Entstehung von Selektionswerten immerhin eine mehr als beachtenswerte Hypothese bleiben wird, so ist doch ein anderer Einwand nicht aus dem Weg zu räumen, nämlich der von EIMER, WUNDT u. a. gemachte, die Ursache der Variationen zu erklären.

DARWIN selbst hat über dieses Problem, ohne es der Lösung näher zu bringen, viel nachgedacht und es schließlich für unlöslich erklärät. Hören wir PLATE, der in seinem lehrreichen Buch "Über Bedeutung und Tragweite des Darwinschen Selektionsprinzips", Leipzig 1900, Seite 14, sagt unter anderem:
    "Billigerweise ließe sich gegen DARWIN nur etwa Folgendes sagen: Die Frage nach dem Ursprung der Abänderungen ist ungleich wichtiger als diejenige, welche Variationen erhalten bleiben, jene stellt das eigentliche Problem dar, diese ist nur von untergeordneter Bedeutung. In diesem Sinne meint WOLFF (Beiträge zur Kritik der Darwinschen Lehre, Leipzig 1898, Seite 37): Wenn gezeigt ist, daß die Theorie von der Auslese des Besseren nichts erklärt, so hat die Frage, ob eine solche Auslese überhaupt stattfindet, nur ein sehr untergeordnetes Interesse. - Ich kann mich einer solchen Ansicht nicht anschließen, namentlich dann nicht, wenn sie, wie bei WOLFF, so einseitig in der Wertschätzung über das Ziel hinausschießt. Es handelt sich hier wieder um den alten Streit, ob die direkte Ursache einer Erscheinung oder die Bedingung für das Inkrafttreten der Ursache wichtig ist. Der Streit ist offenbar müßig, denn beide sind gleich wichtig. Wenn ein Körper von einer schiefen Ebene hinabgleitet, so ist die Schwerkraft die direkte Ursache, aber die Neigung der Unterlage die notwendige Bedingung zu ihrer Betätigung, und ohne daß beide zusammentreffen, kommt der Körper nicht ins Gleiten. In der organischen Natur ist das Problem der Probleme die Zweckmäßigkeit. Diese direkt aus der Variabilität zu erklären, geht nicht an, weil es zahllose Unvollkommenheiten und indifferente Merkmale gibt, welche beweisen, daß das organische Geschehen nicht überwiegend Zweckmäßiges erzeugt. Wenn nun trotzdem die Anpassungen die Organismen in erster Linie beherrschen, so kann das nur die Folge besonderer Bedingungen sein, welche DARWIN im Kampf ums Dasein und in der Selektion nachgewiesen hat und die als solche für die Erklärung der Anpassungen ebenso wichtig sind wie die Faktoren, welche die Variabilität veranlassen."
So sehr derartige Ansichten geeignet sind, den Darwinismus zu rechtfertigen, und so sehr die Entwicklungstheorie gewinnt, wenn man mit dem Darwinismus den Lamarckismus verbindet, so macht sich doch am ganzen Lehrgebäude ein bedenklicher Mangel geltend, die Abwesenheit des geistigen Faktors. Die Einflüsse des Psychischen auf das Physische wurden bereits oben zur Genüge angewendet, und sie sind überall da zu verspüren, wo wir überhaupt auf ein Vorhandensein des Geistigen schließen können. So sind wir bei der einzelnen freilebenden Zelle, bei jenem Wesen, das nicht Tier, nicht Pflanze ist, zur Annahme psychischer Funktionen berechtigt, und man könnte kaum eine zwingendere Annahme für die Entwicklung höher stehender Formen finden, als die Mitwirkung geistiger, spezieller Willenserscheinungen. Das Ausstrecken von Pseudopodien [Scheinfüßchen - wp], das Auftreten von Wimperhaaren, das Pulsieren von Vakuolen, das sind Funktionen, die sich nie aus äußeren Reizen, aus Variationen mit darauf folgender Selektion allein erklären lassen, sie fordern vielmehr einen inneren Anlaß, der nach und nach eine Herrschaft über das Physische ausübt, die nicht ohne Folgen auf den Organismus bleiben kann. Dieser Beherrschung durch das Seelische haben sich die Pflanzen nach und nach entzogen. Ausgenommen dürften außer den Algen nur noch die Geschlechtsprodukte aller Pflanzengattungen sein. Die willkürliche Bewegung der männlichen Zellen, das Zusteuern zum Ei, das durch äußere Reize, zum Teil chemische veranlaßt wird, ist ein Vorgan, der nicht ohne Ausnahme eines, wenn auch nur aufdämmernden Bewußtseins erklärt werden kann. Was aber die anderen Bewegungen der Pflanze anlangt, sei es Geotropismus, Heliotropismus, Rheotropismus [Hinwendung zur Sonne - wp] usw., Schlingbewegung, Schlaf- und Wachbewegung, Bewegung wie die Mimosa sie hervorbringt, so ist eine rein physikalische Interpretaion viel einfacher und ausreichender, weil die Annahme eines Gesamtbewußtseins, das den ganzen Organismus beherrscht, eine willkürliche, unbegründete und der psychische Zusammenhang nicht denkbar wäre. Umso mehr tritt hier der Darwinismus in den Vordergrund. Hier sind es Bodenbeschaffenheit und klimatische Verhältnisse und der stille Kampf ums Dasein usw., Kreuzung, Vererbung, die Variation und Selektion bewirken.

Anders im Tierreich. WUNDT selbst führt als Beispiel das Axolotl an, einen Kiemenmolch, dessen Atmungswerkzeuge noch wenig differenziert sind, so daß er sich zum Land- und Wassertier entwickeln kann. Die Beispiele ließen sich natürlich mehren.

Man darf aber nie vergessen, daß die erreichten Erfolge ein Produkt verschiedener Faktoren sind. Wenn eine Raupe aus äußeren Anlässen gezwungen ist, eine andere als die gewohnte Pflanze aufzusuchen, so wird sie wahrscheinlich eine auswählen, die der vorhergehenden an Geschmack ähnlich ist, oder wenigstens eine solche, die ihren Bedürfnissen behagt; wenn nun die veränderten Nahrungsverhältnisse eine Farbenveränderung hervorrufen, so ist das ein unbeabsichtigter Nebenerfolg. Um großer Kälte zu entgehen, können nicht nur die Vögel, sondern auch die Säugetiere Wanderungen antreten; werden aber größere Landstriche von diesen ungünstigen klimatischen Verhältnissen betroffen und stellen sich noch andere Hindernisse dem Tier entgegen, wie etwa hohe Gebirgszüge, größere Ströme, dann ist das Tier gezwungen zu bleiben und es können nun verschiedene Möglichkeiten eintreten. Es kann die ganze Art aussterben, es kann aber auch nach einer tüchtigen Auslese ein Winterkleid durch die Kältereize hervorgerufen werden. Wäre es nun schon einem Teil dieser Tiere gelungen zu entkommen, so hätten sich dieselben in einem günstigeren Klima nicht verändert, und wir hätten nun zwei Arten. In sochen wie den eben erwähnten Beispielen haben die Willenseinflüsse eine geringe Rolle gespielt. Nehmen wir andere Umstände an. Die Anpassung an die Umgebung, die Schutzfärbung ist wohl großenteils durch eine psychische Betätigung mitbedingt. Es sind bekanntlich die Wüstentiere gelb, die Tiere im Norden und in den Schneeregionen weiß und solche, die auf unseren Feldern leben, haben die Färbung derselben angenommen. Eine landläufige Erklärung würde nun die sein: diejenigen Tiere, welche von Anfang an der Umgebung am meisten glichen, konnten sich leichter vor feindlichen Nachstellungen sichern als die anderen, und von den Nachkommen der Geschützteren werden wieder diejenigen, welche die beste Schutzfarbe hatten, die größte Aussicht im Kampf ums Dasein gehabt haben usw. Es ist also nicht berücksichtigt, inwieweit die geistigen Fähigkeiten der Tiere mitgespielt haben; sicher aber ist, daß sich die Geschöpfe ihrer Färbung bewußt sein. Eine verfolgte Fliege wird sich nach längerem Herumjagen im Zimmer auf das schwarze Ofenrohr setzen, ein junger Hase, ein junges Rebhuhn legen sich instinktiv auf die Erde, wie eben auch die alten Tiere zu diesem Mittel greifen. Gerade derartige Instinkte zeugen von geistigen Betätigungen, die durch Generationen hindurch geübt und auf das Nervensystem übertragen wurden.

Aus diesen Beispielen, die sich natürlich aus den verschiedensten Gebieten herbeibringen ließen, geht hervor, daß das Geistige, speziell der Wille durch fortwährend Übung (im obigen Fall durch Anpassung) die Schutzfärbung nicht nur erhält, sondern auch fortwährend begünstigt.

Noch mehr tritt das Geistige bei der Anlage von Wohnungen in den Vordergrund und gerade diese nähere Umgebung ist dann nicht wieder ohne Einfluß auf die Lebensweise und zum Teil auch auf die äußere Körperbeschaffenheit. Ich erinnere an die rationell angelegte Bienenwabe zum Unterschied vom Hummelnest und an die in Hülsen steckenden Phryganidenlarven [Köcherfliegen - wp], an den nicht verhärteten Hinterleib des Pagurus [Einsiedlerkrebs - wp], soweit er in der Schale steckt.

Wie bereits erwähnt, haben Tiere, welche vielen Nachstellungen ausgesetzt sind und geringe Verteidigungsmittel besitzen, viele Nachkommen und umgekehrt. So legt der Adler, auf hohen unzugänglichen Klippen wohnend und durch Körperstärke ausgezeichnet, nur 2 - 3 Eier, die auf der Erde nistenden Vögel dagegen eine ziemliche Anzahl und das Haushuhn endlich, weil man ihm fortwährend die Eier wegnimmt, brachte es zu einer erstaunlichen Virtuosität gegenüber seinen nahen Verwandten. Derartige Verhältnisse greifen allerdings schon auf die Organisation über. Und gerade die ist es, welche durch den Willen so sehr beeinflußt wurde.

Freilich darf man auch hier die äußeren Anlässe nicht unterschätzen, man darf nie vergessen, daß dieselben oft stärker sind als die inneren, und daß der Wille manchmal gar nicht mehr in Betracht kommt. Andererseits hat man stets in Erwägung zu ziehen, daß es sich, wie WUNDT oft erwähnt, nicht um beabsichtigte Erfolge bei einer Interpretation handelt, sondern großenteils um unbeabsichtigte, und gerade diese sind in ihren Wirkungen unberechenbar. So erstarken durch den Gebrauch die Sinnesorgane; Tiere mit unvollkommenen Schwimmwerkzeugen entwickeln dieselben durch Übung zu zweckmäßigen Gebilden, Flugapparaate, waren sie noch so unvollkommen, haben sich allmählich zu erstaunlicher Leistungsfähigkeit gesteigert und dabei auf die ganze Körperbeschaffenheit und die Lebensweise großen Einfluß ausgeübt. Leichtes Körpergewicht, erreicht durch Pneumatizität [Lufträume - wp] der Knochen, durch Fortfall eines Eileiters, eines Dickdarms, der Zähne usw., starke Brustmuskeln - alle diese Abänderungen sind nach obiger Lehre unbeabsichtigt.

Den in all diesem Werden hervorstechenden Anteil des Geistigen kann man bei einiger Überlegung nicht ableugnen. Am tierischen Organismus arbeiten, wie hervorgehoben, nicht nur die äußeren Einflüsse allein mit, er stelbst ist es, der durch die Betätigung dieser oder jener Organe eine Umwandlung herbeischafft, und alle diese Tätigkeit geht schließlich direkt oder indirekt auf den Willen zurück, von dem der tierische Organismus beherrscht wird.

Wie eingangs des Aufsatzes erwähnt, dürfte es nicht geeignet sein, WUNDT hinsichtlich seines Evolutionismus mit SCHELLING oder HEGEL zu vergleichen. Der innere Abstand ist zu groß. Aber auch von SPENCER trennt ihn eine gewaltige Kluft. Abgesehen davon, daß bei diesem Denken der Entwicklungsbegriff nur eine phänomenale Bedeutung hat, ist derselbe nur der äußeren Erfahrung entnommen. Daher die Leugnung jeglichen Zweckes und der naturalistische, materialistische Charakter.

Hingegen verknüpfen bekanntlich WUNDT mit FECHNER wichtige Punkte. Wenn auch FECHNER auf eine Allbeseelung hinauskommt und vor einem Hylozoismus [belebte Materie - wp] nicht zurückschreckt, wenn er seine Probleme manchmal sehr merkwürdig begründet (auch wenn er nicht als Dr. MIESES spricht) und sein wissenschaftliches Denken nicht frei von religiösen Einflüssen ist, und wenn ferner manche seiner Ansichten einer vernünftigen Naturbetrachtung hindernd im Weg stehen, so können seine Gedanken und seine Weltanschauung in Bezug auf die Anregung, die sie gaben, und den Kern, der in ihr enthalten ist, auf dauernden Wert Anspruch erheben.

Es ist charakteristisch für ihn, wenn er als Mann der Wissenschaft behauptet, daß man den einzelnen Zellen, aber nicht der ganzen Pflanze ein dunkles Bewußtsein zuschreiben kann, sodann aber doch wieder Sätze wie folgende niederschreibt:
    "Wie spärlich würde überhaupt nach Wegfall der Pflanzen aus dem Reich der Seelen die Empfindung in der Natur verstreut sein, wie vereinzelt das Tier dann nur als Reh durch die Wälder streifen, als Käfer um die Blumen fliegen; und sollten wir der Natur wirklich zutrauen, daß sie eine solche Wüstenei ist, sie, durch die Gottes lebendiger Odem weht? Wie anders dies, wenn die Pflanzen Seelen haben und empfinden; nicht mehr wie blinde Augen, taube Ohren in der Natur dastehen, in ihr, die sich so vielmal selbst erblickt und empfindet, als Seelen in ihr sind, die sie empfinden; wie anders für Gott selbst, der die Empfindungen all seiner Geschöpfe gewiß in einem Zusammenspiel und Zusammenklang vernimmt, wenn die Instrumente dazu nicht mehr in weiten Zwischenräumen voneinander stehen."
Es braucht nach den bisherigen Auseinandersetzungen wohl kaum bemerkt zu werden, daß sich WUNDT, sobald er zum empirisch gegebenen Ausgangspunkt die von der Vernunft geforderte Totalität hinzufügt, diese Forderung als eine unbedingte ansieht, aber auch zugleich diese ideale Fortsetzung der realen Forschung als hypothetisch bezeichnet.

Zu solchen Hypothesen geben z. B. die auf scheinbar sehr realem Boden stehenden Vorgänge der Zeugung, Zellteilung Anlaß, die nach WUNDT eine dreifache Interpretation zulassen und die in letzter Hinsicht nur in unbestimmten Theorien ihre Erklärung finden. Ein anderes Beispiel, welches eine Ergänzung der empirischen Tatsachenreihe bietet, ist die Frage nach der Beseeltheit der Materie. Wenn die einfachsten Organismen eine Art Bewußtsein haben, so ist es denkbar, daß das Psychische nicht mit einem Mal in die Welt kam, daß dasselbe in einer noch tieferen Stufe, als man gewöhnlich annimmt, zu finden ist, und daß schließlich selbst die Atome irgendeiner psychischen Qualität nicht entbehren.

Diese für eine physikalische und chemische Betrachtung ganz bedeutungslose Folgerung - bedeutungslos in dem Sinne, als die Annahme einer Beseeltheit die Wissenschaften nicht im geringsten fördert, sondern im Gegenteil eher hinderlich sein würde, ist nur in dem oben erwähnten Sinn beachtenswert. Sie würde aber auch formell unrichtig sein, wenn sie etwa mit FECHNER darauf hinauslaufen würde, eine Beseelung der Erde oder der Gestirne überhaupt anzunehmen, weil hierzu in der Erfahrungsweilt alle Anhaltspunkte fehlen und eine solche Annahme deshalb die größten Widersprüche in sich schlösse.

WUNDTs Naturauffassung ist uns gerade insofern sehr sympathisch, als sie vom Naturforscher angenommen werden kann und sich andererseits in eine Welt- und Lebensanschauung einordnet, wie sie in ihrer empirischen Begründung wohl noch nie aufgestellt wurde.
LITERATUR - Bastian Schmid,Der Wille in der Natur, Philosophische Studien, Bd. 20, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) Vgl. Anatomie, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Seite 190, § 28; ebenda II: zur Teleologie, Kap. 26, Seite 373 - 386
    2) "System" bezieht sich folgenden stets auf "System der Philosophie I", 2. Auflage.