cr-3Mauthner - O. F. Gruppe    
 
OTTO FRIEDRICH GRUPPE
(1804-1876)
Vorteil und Gefahr der Sprachen

Antäus
Begriff 'Abstraktum'
Kein System
Wendepunkt
Relativität der Begriffe
"Ja, wenn Kant auch die völlige Scheidung der Erkenntniskräfte namentlich der Vernunft und des Verstandes bewerkstelligte, so sagte er selbst gar nicht einmal ausdrücklich, daß die Abstrakta nur dem Verstande angehörten."   Allgemeinheit
Falsche Logik
Spekulativer Irrtum
Die neue Methode
Empirischer Ausweg

Erst neue Mißverständnisse und Verkennungen, man kann nicht anders sagen, brachten die Sache wieder mehr in das alte Gleis. Von KANTs System abgeglittene Schüler und Schülers Schüler, welche des Meisters ausdrückliche Verwarnung und Lehre, es gebe kein Vermögen spekulativer Erkenntnis, weder innerhalb der Erfahrung noch über dieselbe hinaus, nur nicht auf sich zu bedürfen glaubten, diese, welche trotz der Hauptlehre der kritischen Philosophie wieder mutig spekulierten und in ihren spekulativen Deduktionen den scholastischen Systemen näher verwandt scheinen könnten, ließen wiederum den Gesichtspunkt der kritischen Philosophie, die Begriffe  a priori  fallen, größere Wichtigkeit auf den älteren Unterschied des Abstrakten und Konkreten legend.

Sie nahmen von KANTs Philosophie gerade auf, was ihnen am bequemsten und genehmsten schien, was sich mit ganz anderweitigen Entwicklungen der Zeit am leichtesten vertragen wollte. Daß KANT in der Vernunft ein selbständiges Vermögen für Erkenntnis der höchsten Dinge gefunden hatte, war ihnen gerade recht und willkommen, aber es behagte ihnen gar nicht, und wollte ihnen sogar sehr unbillig und sonderbar scheinen, daß der große kritische Philosoph der neuen Kraft sogleich die Flügel zu jedem spekulativen Aufflug radikal abschnitt und sie nur in dem engen Käfig seiner Postulate auffütterte, um damit das Begehrungsvermögen abzuspeisen.

Sie gingen daher in diesem Punkt der Unzufriedenheit einen Schritt zum Früheren und Allgemeineren zurück. Es sollte nun einmal wieder recht kühn spekuliert werden, und in der Ableitung, mit der sie ihr Recht behaupteten, bedienten sie sich hauptsächlich der Darstellung: es gebe zwei Erkenntnisvermögen, ein gemeineres für die Erfahrung und ein höheres für die Spekulation, jenes, der Verstand, habe es zu tun mit  abstrakten  Begriffen, die Vernunft aber - mit  konkreten. 

Diese Änderung ist nun unglaublich groß; viele anderweitige Ansichten, wild und ungeduldig verbunden, vermochten nur sie möglich zu machen. Aber die Masse dieser vermittelnden Vorstellungen kann hier nur angedeutet werden: sie liegen zunächst in dem Ausgangspunkt und den Anfängen der neueren Naturphilosophie. Über bloße Begriffe zu spekulieren, diese zu analysieren, das genügte seiner Zeit nicht, deren Anforderungen im allgemeinen auf das höchste gerichtet waren: Die Welt selbst sollte durch die Philosophie erkannt werden, diese sollte selbst deren Gestalten begreifen lehren; man begann die Geschichte und die Natur zu konstruieren.

KANT selbst, wiewohl darin eigentlich mit sich nicht im Einklange, hatte beide Bestrebungen schon eingeleitet. Die Philosophie beschäftigte sich jetzt also auf einmal wieder mit  Realien  und deren begriffsmäßigem Erkennen; alle früheren Fäden waren plötzlich abgerissen; die neue Bahn aber war abschüssig, und was eben hierhergeführt hatte, lag bald hinter dem Berge. Das Handhaben bloßer Begriffe, wogegen KANT schon Mißtrauen erweckt hatte, dies kam nun in immer übleren Kredit; frische Gemüter, von poetischer Anschauung emporgetragen, warfen sich in das Lebendige selbst, in Natur und Geschichte, hier im Wirklichen wollten sie erkennen.

Die neue Wendung der deutschen Poesie, welche sich von abstrakten Charakteren ebenso fernhalten zu müssen glaubte als vom Subjektiven und sich dem Wirklichen und Objektiven vertrauensvoll in die Arme warf, diese unterstützte und bedingte hauptsächlich die entsprechende Richtung in der Philosophie. Ein doppeltes Erkenntnisvermögen hatte man schon; und leicht ward es nach Bedarf der allerneuesten Ansicht zurechtgestutzt und gemodelt.

Der Verstand blieb für die nunmehr ziemlich verlassene und verrufene analytische Erkenntnis nach Begriffen, deren Leerheit und Zweideutigkeit KANT teilweise aufgedeckt hatte; für den versuchten neuen Weg ließ sich die Vernunft unterschieben, und es schien weder ein Sprung zu sein noch etwas Auffallendes an sich zu haben, wenn man lehrte: die Vernunft, als höheres und wahres spekulatives Vermögen, habe es mit Konkretem zu tun; denn nur auf dem Felde der Wirklichkeit baute sich nunmehr die Spekulation an.

Dies festgehalten, worin gerade das hauptsächliche Interesse und der wesentliche Mittelpunkt der neueren Naturphilosophie liegt, so war man bald auch zu noch anderem Gebrauche der Worte veranlaßt, ja beinahe genötigt, der ihrem ursprünglichen Sinn nun vollends Hohn sprach. Es war jetzt auch die Rede von konkreten Begriffen, und es war sogar die Rede von abstrakten Dingen. Die ursprüngliche Hindeutung auf die Entstehung der Begriffe hatte man ganz aus den Augen verloren, und  abstrakt  heißt bei HEGEL nur noch, mit sehr unbestimmter und leiser Rückdeutung auf die Herkunft dieses Wortes, nichts anderes als unvollkommen, leer, unwahr, mit wenigen Bestimmungen erfüllt;  konkret  aber heißt: wahr, wirklich, reich an Bestimmungen.

Hierbei ist erstens zu merken, daß man sich, ähnlich wie die scholastische Vorstellung, von der wir ausgingen, und welche dem Wort "konkret" seinen wunderbaren Ursprung gab, die Dinge gleichsam aus einzelnen für sich bestehenden Bestimmungen zusammengesetzt und gebildet denkt, so daß sie vollkommene und unvollkommene, konkrete und abstrakte sind, je nachdem sie derselben mehr oder weniger an sich haben. Sodann steht diese ganz neue Ansicht und Bedeutung von Konkret und Abstrakt in wesentlichem Zusammenhange mit Hegels Lehrsatz:
    der Gedanke und dessen Fortschritt sei überhaupt das Erzeugende, er gehe selbst zur Realität über und nehme hier eine höhere Stufe ein, nach Maßgabe seines eigenen Inhaltes, seiner Vollendeung und seiner Wahrheit; also ferner: der konkrete vernünftige Gedanke sei wirklich, das Wirkliche, Konkrete sei vernünftig.
Jetzt erst läßt sich denn auch die Möglichkeit absehen, wie man, was in HEGELs Philosophie allerorten geschieht, die in Rede stehenden Ausdrücke im Komparativ gebrauchen könne, was doch nach ihrem Ursprung und ihrem wahren historischen Sinn untunlich scheinen muß.

So wunderliche Schicksale haben also diese Begriffe erlebt, die mehrmals, hin und zurück, zu ganz Entgegengesetztem übergegangen sind. Anfangs war der Begriff des Abstrakten gemeint im Gegensatz gegen die  Universalien,  dann überhaupt gegen die scholastische Spekulation zugunsten der empirischen Induktion, darauf gegen die angeborenen Begriffe, sodann in gewissem Gegensatz gegen das Vermögen der Vernunft, welches letztere nach KANT ausdrücklich keine Beziehung auf die Erkenntnis haben sollte, endlich im Gegensatz ebendieser Vernunft, als eines besonderen spekulativen Vermögens, so daß im Munde der neuesten philosophischen Schule  abstrakt  und  in Weise des Verstandes,  und wiederum  konkret  und  in Weise der Vernunfterkenntnis  gleichbedeutend sind.

Ebenso verschieden nun sind auf diesen verschiedenen Punkten die Ausdrücke, welche den Gegensatz des Abstrakten bezeichnet haben, und die wenigstens gleichzeitig auch in ihrer Bedeutung verändert wurden, wenn sie vielleicht dem Wort nach dieselben blieben. Erst das  particulare, singulare  und  individuum,  dann bald das  concretum,  doch in ganz anderer Bedeutung als jetzt.

Bei den Scholastikern, wie wir gesehen haben, steht der Ausdruck "abstrakt" der Realität der allgemeinen Begriffe entgegen, bei BACON gegen die falschen übereilten allgemeinen Prinzipien, bei LOCKE gegen die angeborenen Begriffe, bei KANT tritt er ziemlich der Erkenntnis a priori gegenüber.

Wir sahen: denselben Weg, den die Wissenschaft genommen, eben diesen nimmt auch die Sprache, in beiden spiegelt sich auf gleiche Weise die Natur menschlicher Erkenntnis.

Wir sahen aber auch, daß die Wissenschaft unter dieser Natur durchaus nicht leidet; man muß sich nur ihrer bewußt sein. Dies allein schirmt und schirmt vollkommen; jede andere Abhilfe ist einseitig und hat Gefahr und Irrtum in ihrem Gefolge. Und das gilt für alle Wissenschaften und für viele vewandte Fälle. Aus Gründen, die auf tiefliegende Naturgesetze zurückweisen, ist es unmöglich, eine Thermometerröhre zu ziehen, welche vollkommen Kaliber hielte: also wirds kein richtiges Thermometer geben können.

Bewahre: an nimmt das erste beste Rohr, probiert es genau aus und notiert sich die Abweichungen, so ist die Sache gehoben; nicht ganz unähnlich mit der Sprache. Die Abstrakta lassen sich nicht abstellen, sie sind notwendig, solange es Menschen gibt, die menschlicherweise erkennen, urteilen, forschen. Wir forschen überall nur durch Abstraktion, deren wir uns dann weiter erst genau bewußt werden müssen, um das Brutto unseres Ertrags in ein Netto zu verwandeln, um die Hülle, das Mittel und Exzipiens zu entfernen.

Die ganze reine Mathematik ist nur eine solche Abstraktion, eine besondere Sprache mit einer feinen ausgebildeten Grammatik, in der sich Geist und Genialität vieler Männer ausgedrückt hat, eine Sprache, welche nach einer Seite hin die Vorteile der gewöhnlichen unendlich überbietet. Allein man verwechsle auch hier nicht Grammatik mit Logik. Die Sprache setzt uns in den Stand zu denken, entlegenere Dinge und Verhältnisse derselben zu verbinden, zusammenzuhalten; es entsteht dann oft die Illusion, als ob uns das Denken in der Sprache Neues kennen lehrte und auf unmittelbarem Wege, durch ein ursprüngliches Vermögen: doch ist dies bloße Illusion.

Von der Mathematik gilt das alles noch in höherem Grade; man muß in ihr zunächst alles Faktische aussondern, wie denn die Geometrie vieles der Art enthält. Bei umsichtigem Vergleich kann sie viel Aufklärung geben für die Natur der Sprache, des Schließens und Denkens; bei unmittelbarem und ungeschicktem, wie denn immer noch, gab und gibt sie nur Irrtum.

Endlich die empirische Methode selbst, die personifiziert wird durch den Versuch. Auch er ist Abstraktion und spile in menschlicher Erkenntnis genau dieselbe Rolle. Wir zwingen eigentlich nur durch den Versuch die Natur, mit uns die menschliche Sprache zu reden; die Natur, welche gleichsam in Sätzen mit unendlichen Subjekten und Prädikaten spricht, soll uns auf eine einfache Frage antworten mit einem Satz von einfachem Subjekt und Prädikat. Das ist der Versuch, wenn sie mich anders verstehen.

In derselben Stellung unseres Geistes, welche die Abstrakta unerläßlich und unumgänglich macht, findet er seinen Grund und seine Notwendigkeit für wissenschaftliches Erkennen. In ihm nähern wir die Sprache der Natur und des Faktums nur unserer Vorstellung an, suchen jene zu dieser herabzuziehen; in der Mathematik dagegen suchen wir erweiternd und aufsteigend unsere Abstraktionen der Weise der Natur anzunähern.

Die Sprachen heben sich selbst auf, wie sie es müssen. Jede Art von Sprache in jeder Wissenschaft muß als Mittel zurücktreten, um reines Resultat zu ergeben, Reelles statt Formellem, Faktisches statt Hypothetischem. Ohne Hypothese aber hätte man nicht sprechen können, dagegen, wenn man von solchen Hypothesen nicht zu abstrahieren weiß, so gibt es auf keine Frage eine Antwort, welche nicht innerhalb der Frage selbst bliebe und immer nur auf das in ihr Vorausgesetzte zurückführte.

Von hypothetischen Hilfsvorstellungen ist die Sprachbildung unwillkürlich und unbewußt ausgegangen, und sie kann ihrer nie entraten: hierin liegt zugleich der Vorteil der Sprachen und ihre Gefahr. Von Hypothesen, ohne sie noch dafür zu erkennen, hub auch die Philosophie an, selbst dann, wo sie glaubte und strebte, sich ganz voraussetzungslos zu machen. Die Naturwissenschaften, sogar deren empirische Teile, konnten davon nicht ausgenommen sein; erst mühsam und allmählich haben sie ihre Hypothesen als solche erkannt und sie in Faktisches umgesetzt.

Dies geschieht noch alle Tage. Sie bedürfen wesentlich der Hypothesen, um sich verständigen zu können, sowohl der bildlichen und metaphorischen als der mathematischen: ohne sie kann man weder reden noch rechnen. Dynamismus und Atomismus sind nur solche Hypothesen; sieht man sie für etwas anderes an, so ist man im Irrtum. Immer ist die Gefahr da, spekulativ zu werden, bei jeder Teilung, Zerlegung, Klassifizierung, und daß man dem, was bloß mnemonisch ist, eignen Wert beilegt.

Es ist für die Wissenschaft ebenso wesentlich und förderlich, daß man frei und leicht mit all solchen Hypothesen schalte, weil man ohne sie weder nach weitern Zusammenhängen fragen noch forschen kann, ebenso als genaue Kontrolle aller dieser Mittel erforderlich ist, um sich nicht jeden Augenblick zu verirren. Nun ist aber oft ungemein schwer zu sagen, wie weit Faktum und wie weit Hilfsvorstellung geht; erst weitere Fortschritte bringen das manchmal ins klare.

Hier kann, aber ohne Zweifel in ganz anderm Sinn als es OCKHAM meint, sogar Studium des näheren psychologischen Erkenntnisaktes oft dem Forscher neue Wege an die Hand geben; denn die Schwierigkeit ist immer nur, die Redeweise der Natur der unsrigen anzunähern. Unsere forschende Wissenschaft aber ist eine stete  Regula falsi;  sie muß, um nur einen Ansatz ihres Exempels zu haben, von irgendeiner Voraussetzung und Annahme ausgehen, welche sie dann im Verfolg zu korrigieren und rektifizieren sucht. Hier bleibt noch viel übrig für uns, mein Freund, noch mehr freilich für andre Leute. -

Ich wiederhole nochmals und nochmals: In allen Wissenschaften ist bodenlose Täuschung, wenn man aus dem bloß Vorläufigen der Verständigung schon Prinzipien ableiten will, also das Mittel mit der Sache verwechselt, die Frage mit der Antwort. Noch schlimmer, wenn man aus solchen Prinzipien nun wiederum rücksichtslose Konsequenzen zieht: eine düstere Hierarchie von Worten und Begriffen wird so über alle Disziplinen verbreitet. Gleichwohl bleiben Worte die kurzen Füllhörner aller unserer Erkenntnis.
LITERATUR - O.F. Gruppe, "Antäus. Ein Briefwechsel über spekulative Philosophie in ihrem Conflict mit Wissenschaft und Sprache", Hrsg. Fritz Mauthner, München 1914