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GUSTAV GERBER
(1820 - 1901)
Die Sprache als Kunst

Kritik der Sprache
Sprache und Erkennen
"...was Kant als  Kritik der reinen Vernunft  zu untersuchen begann, ist fortzuführen als Kritik der unreinen Vernunft, der gegenständlich gewordenen, also als  Kritik der Sprache."

Einzelnes und Allgemeines

Um zu finden, was und wie Sprache bezeichnet, haben wir die bildliche Natur des Wortes wie des Satzes noch weiter zu untersuchen. Sagen wir nun zunächst genauer, daß die Wörter nicht nur nach ihrem Ursprunge Allgemeines bedeuten, sondern daß sie als Laut bilder  notwendig und immer die Vorstellung  nur allgemein  zu bezeichnen imstande sind. Wie allerdings schon in der Natur der Sprachwurzeln die ganze Fortentwicklung der Wörter in Bezug auf ihre Funktion, die Vorstellungen darzustellen, gegeben ist, werden wir später noch sehen.

Sodann aber ist nötig, daß der Sinn bestimmt werde, in welchem wir das Wort  allgemein  hier zu nehmen haben. Wenn wir sagen,  das Wort bedeute ein Allgemeines,  so ist keineswegs gemeint, daß seine Bedeutung  alles Einzelne  in sich schließe, worin die Vorstellung zur Erscheinung kommt, sondern gerade dies, daß es mit den Einzelnen als solchen  nichts  zu tun habe. Die Vorstellung ist kein Einzelnes, sondern ein Bild,  veranlaßt  freilich durch eine Erscheinung oder durch einen Vorgang; und so ist das Wort ein Lautbild dieses Innenbildes, aber weder die Vorstellung noch das Wort ist  ein Ausdruck  des  Dinges

Antrum  ist also nicht Bezeichnung für alle einzelnen Höhlen, sondern es ist ein Lautbild, welches die  Vorstellung  von einem Innerhalb darstellt und deshalb  für die Zwecke der Mitteilung  geeignet ist, um Höhlungen zu bezeichnen. Das Wort: "Der Mensch bezeichnet keinen einzelnen Menschen, aber ebensowenig  alle  Einzelnen; - an diese denkt das Wort gar nicht - sagen wir aber etwa: der Mensch ist sterblich, und meinen wir so alle Menschen, oder die Menschheit, so haben wir es schon mit einer Figuration der Sprache zu tun.

Nichts ist falscher, als anzunehmen, daß wir durch die Sprache die Dinge in der Welt bezeichnen. Wir haben an der Sprache freilich ein Mittel, um uns mit allen Dingen theoretisch in Verbindung zu setzen, aber ein durchaus künstliches, künstlich in dem doppelten Sinne, daß die Sprache wesentlich nur Menschenwerk ist, Naturgültigkeit nicht besitzt, nur  unsere  Beziehung zu den Dingen ausdrückt; und daß es nur Werke der  Kunst  sind, durch welche dies gelingt: mittelst eines Einzelnen, nämlich mittelst eines Lautbildes, ein Allgemeines, nämlich die vorgestellte Idee, zu bezeichnen.

Dieses Lautbild kann als Symbol nur  allgemein , d.h.  unbestimmt bezeichnen, es ist, innerhalb gewisser Grenzen, mehrfach zu deuten, bleibt mannigfacher näherer Bestimmung zugänglich, paßt auf alle  ähnlichen  Vorgänge und Dinge, wie diejenigen, welche zu Vorstellung Anlaß gaben. Man kann sagen, daß die Vorstellung von den Dingen nur dasjenige entnimmt, auf was sie  merkt,  daß die Lautbilder nur Bezeichnungen dieser Merkmale sind, und daß sie also an sich auf alles anwendbar sind, was nur in die Sphäre ihrer Merkmale gerät. Baum ist Baum, ob Feigenbaum oder Zeder, glänzen heißt glänzen, ob es von einem Feuer ausgeht oder aus einem Auge hervorzubrechen scheint. Aus dieser Unbestimmtheit der Lautbilder erklären sich die Synonyma in den Sprachen.

Hält man fest, daß die Sprachwurzeln Darstellungen waren, Aussagen, Sätze, und daß die aus ihnen gebildeten Wörter nur mit beständiger Beziehung auf den Satz geformt wurden, so sieht man, daß diese Lautbilder nichts ausdrücken wollten und konnten, dem eine bestimmtes, einzelnes Ding entsprochen hätte, sondern daß es Gemälde, Welanschauungen sind,  welche wir selber schaffen;  - selber schaffen, denn auch unsere  Vorstellungen  bilden ja nicht die Wirklichkeit ab, selbst unsere Farben- und Ton ;empfindungen  reduzieren sich ja auf Schwingungen des Äthers, der Luft, wie die Naturforscher zeigen, auf Schwingungen selbst, sind sie nicht wieder nur Gesichtsempfindungen von uns? - Alles nun, was die Harmonie einer solchen Bild-Schöpfung in uns nicht stört, sollte es auch unter anderen Umständen noch so viele anderweitige Betrachtung gestatten, wird leicht von demselben Lautbilde mitgemeint und bezeichnet.

Und so entdeckt sich an der Allgemeinheit der Bedeutung des Lautbildes die allgemeine, d.h. die unbestimmte Natur der menschlichen Vorstellungsbilder selbst, welche die Dinge der Welt ideell erfassen, nicht individuell, symbolisch, nicht real, sie darum auch nicht stückweise bezeichnen, sondern bündelweise. Hierin ist die notwendige Erleichterung der Weltauffassung gegeben, wie sie dem Menschengeiste verliehen ist, hierin auch die feste Begrenzung seiner Fähigkeit, die Dinge sich anzueignen. Natürlich meint in jedem konkreten Falle der Redende das Einzelne, Individuelle, nie aber kann er es  sagen,  und die sinnliche Welt, die Umgebung, der Zusammenhang muß seine Meinung ergänzen. Darum versteht auch keiner den anderen vollständig durch die Rede; er versteht ihn nur, soweit er seine Stimmung teilt, seine Weltauffassung, Erfahrung; soweit er imstande ist, sich in seine Seele zu versetzen.

WILHELM von HUMBOLDT sagt:
"Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehn ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen."
Wie wenig die Dinge sich decken mit den Lautbildern, durch welche wir sie bezeichnen, ist leicht zu sehn. Es gibt eine unzählige Menge von Dingen und eine unzählige Menge verschiedener Zustände der Dinge, unzählige Vorgänge zwischen ihnen, und nur eine beschränkte zahl von Wörtern, von Kunstwerken, welche wir zu ihrer Bezeichnung verwenden. So fehlt für vieles, was wir doch empfinden, das Wort - man denke z.B. an die Empfindungen des Geruchs und Geschmacks, oder daran, wie entschiedene Abweichungen in der Art der Sinnesempfindung unbezeichnet bleiben, wenn wir gewisse Farben blau oder grün nennen, oder wenn wir gewisse Lust- oder Schmerzgefühle kenntlich machen wollen; dann wieder, als sei auf unserer Seite der Überfluß, haben wir für dasselbe Ding zahlreiche Synonyma, bilden auch besondere Namen für dasselbe Tier aus verschiedenen Wurzeln, nur um Geschlecht oder Alter zu bezeichnen und dergleichen mehr.

Auch wechseln die Dinge, während das Wort für sie dasselbe bleibt, wie wenn von  vepna  gesprochen wird zur Zeit der Goten, im Ahd. von  wafan,  jetzt von  Waffen;  es wechseln die Vorstellungsbilder, ohne daß das Wort davon berührt wird, wie z.B. bei  himins, himil, Himmel;  und ebenso ändern die Wörter ihre Bedeutungen, obwohl die Dinge in ihrem Wesen beharren.

Man sieht, wie die Frage, ob die Wörter individuelles bezeichnen oder Allgemeines, schief gestellt ist; weder Individuelles bedeuten sie, noch Allgemeines, bedeuten überhaupt nicht die Dinge, sondern - und zwar bildlich - nur  uns selbst, unsere Welt.  Allerdings  sollen  unsere Worte die Dinge bedeuten - und dies gibt dann die rastlose Arbeit ür das Menschengeschlecht, welche gleichbedeutend ist mit der Aufgabe der geistigen Entwicklung überhaupt.

Wie demnach schon früher das Verhalten der Sprache uns daran erinnerte, daß der Gegensatz von Sinnlich und Unsinnlich nur unserer Abstraktion angehört, so entnehmen wir ihr jetzt, daß der Gegensatz von Individuum und Gattung eben nur von uns so gesetzt wird.


Sprache und Denken

Es erscheint die Sprache mehr als eine Macht, welche  durch die Menschen  hervorgebracht ist, als  von  ihnen; man möchte sagen, daß sei nur  an  ihnen sich entfaltet. - Wenig oder nichts schaffen Verstand, Einsicht oder menschlicher Wille an den eigentlichen Bestande der Sprache. Hätte Reflexion einen wesentliche Anteil an ihr, so würde ihr Ursprung, ihr Wesen der Reflexion sich leicht wieder erschließen. Vergebens aber versucht diese einzudringen; dunklere Arten des Vorstellens, Empfindens, Fühlens, Merkens verhelfen zu einer Vorstellung von ihrem Weben und Wesen.

Wenn dennoch der logische Verstand Grammatiken aufstellt, Lexika sammelt und etymologisch ordnet, so kann ja solche Rubrizierung auch bei jeder Gattung der Naturgebilde erfolgen, denn alles ist irgendwie auch unserm Verstande homogen geschaffen oder doch zum Teil zugänglich. Auch die Botanik ordnet die freie Pflanzenwelt nach Merkmalen und nach Reflexion, aber am wenigsten doch ist es Menscheneinsicht, ist es Verstand, in welchem die Idee der Pflanze wurzelt.

Und wenn es schließlich gelingt, in der Grammatik eine vollständige, angewandte Logik zu finden - freilich mit zahlreichen Unverständigkeiten gemischt - so entnehmen wir doch nur dies heraus, daß, da durch den  ganzen  Menschen die Sprache zur Entwicklung kam, sicherlich auch jene Bestimmtheit und Konsequenz des Denkens, welche als logischer Verstand gern wie eine besondere, bevorzugte Abteilung des menschlichen Geistes gefaßt wird, in ihr sich wirksam bewies, und als die  Ordnung  in dem Sprachmaterial- namentlich in dem Gebiete der Syntax - abgesondert werden kann.

Die gewöhnliche Ansicht denkt sich das Verhältnis des Gedankens zur Sprache derart, wie sie Form und Materie einander entgegenzustellen pflegt, daß nämlich das Denken als bestimmend, die Sprache als bestimmt, jenes als das Empfangende und gehorsam Darstellende gefaßt wird. Es ist dies unrichtig, und muß nach dem von uns entwickelten Gesetz der Wechselwirkung der Seelentätigkeit und unserer Lautäußerung beurteilt werden. Es ist nämlich deshalb hier von keinem Prius des Denkens die Rede, weil es sich als theoretisches eben nur  an  und  mit  der Sprache zugleich entwickelt.

Mit den auf vorangegangenen Stufen der Sprachbildung durch Laute fixierten und somit wirklich gewordenen Bildern operiert die Seele, und sie zieht aus den Erfolgen dieser Operationen Schlüsse, trennt endlich die Operation selbst von den Objekten und kommt so zu einer Welt von Abstraktionen, von ihr eigentümlichen Begriffen. Wir erschließen uns ebenso die Welt des Sichtbaren, Hörbaren, Tastbaren, Schmeckbaren zunächst durch die Anwendung der Sinnesorgane; unsere Wahrnehmungen bringen wir dann zur Korrektheit durch reflektierende Vergleichung, und endlich sondern wir den Sinn und seine Tätigkeit von den objektiven Bedingungen, unter denen er wirkt.

Eben dadurch, daß wir die Sinne gebrauchen, gewinnen wir sie zu unserem bewußten Eigentum. Aus dem Gesetz der Wechselwirkung ist andererseits auch, wie wir hier einschalten, der neuerding aufgestellte Satz zu verwerfen, welcher umgekehrt behauptet, daß die Sprache es ist, durch welche die Vernunft verursacht würde. Wir können uns die Anschauung der interessanten Schrift nicht aneignen, welche ihn aufstellt. Es heißt da unter anderem (bei GEIGER, "Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft, Stuttgart 1868"):
"Die sprachliche Einzeldarstellung der Begriffsentwicklung - wird es zur zweifellosesten Sicherheit und Deutlichkeit erheben, daß so lange die Sprache nicht unter Einwirkung von Schrift und Literatur wiet über den eigentlichen Zustand ihrer Reife hinausgeschritten ist, zwischen dem Bemerken und seinem Ausdrucke im Laute nicht nur eine lange Zwischenzeit, wie bisher noch als möglich angenommen worden, nicht verfließt, sondern es auch noch viel zu wenig wäre, wenn wir sagen wollten, er folge demselben unmittelbar wie der Schrei der Schmerzempfindung.

Von allen den Verstandesobjekten, die wir in welcher noch so alten Zeit auch immer in einem Sprachlaute dargestellt erkennen, erscheint keines ihm wirklich als Ursache oder Veranlassung voraus: vielmehr, wie alle Entwicklung die Dinge zunächst aus ihnen ähnlichen unmerklich, alsbald aber, wenn sich die Reihe viele Glieder hindurch fortsetzt, bis zu gänzlicher Verschiedenheit verändert, so durchlebt ein jeder Laut für sich, unabhängig von jedem Zweck des Bezeichnens, Schilderns oder Äußerns, eine rein lautliche und körperliche Generationskette von Verwandlungen, in welchen sich Vernunft und Geistestätigkeit so wenig wie bei dem Wachstum der Tier- und Pflanzenkörper wirksam zeigen.

Auf der anderen Seite bleibt die Vermehrung des Bemerkens hinter der Fortentwicklung des Lautes stets einen Schritt zurück und rankt sich gleichsam an ihm empor, so daß jeder einzelne Teil der Sprache dem ihm entsprechenden Einzelteile der Vernunft vorausgeht, und also auch  nicht die Vernunft die Sprache,  sondern  nur die Sprache die Vernunft,  wenn auch nicht vollendet und fertig die vollendete, verursacht haben kann."
Wir halten dieser Auffassung gegenüber die tiefere Anschauung WILHELM von HUMBOLDTs fest:
"Da die Sprachen unzertrennlich mit der innersten Natur des Menschen verwachsen sind und weit mehr selbsttätig aus ihr hervorbrechen als willkürlich von ihr erzeugt werden, so könnte man die intellektuelle Eigentümlichkeit der Völker ebensowohl ihre Wirkung nennen. Die Wahrheit ist, daß beide zugleich un in gegenseitiger Übereinstimmung aus unerreichbarer Tiefe die Gemüts hervorgehen." (Versch. d. menschl. Sprachb. S.33)
Wir kehren indes zu unserer Erörterung zurück.

Es ist leicht einzusehen, woher es kommt, daß der Gedanke der Sprache gegenüber als das Prius erscheint. Die Bewegung der Seele ist nicht sofort auch schon, was wir Gedanke nennen. Ein Reiz mach sich geltend, wird empfunden, wahrgenommen, wirkt Lust oder Unlust, äußert seine Anregung in Bezug auf Einsicht und Willen, und die Reihe, welche er so durchläuft, wird keineswegs in gerader Linie durchmessen. Der Reiz kann z.B.je nach den Ideen-Assoziationen, welche zu ihm treten, verschieden anregen, stimmen und bestimmen, endlich aufgefaßt werden; zwischen mancherlei Möglichkeiten scheint die Seelenbewegung zu schwanken, und erst, wenn sie bestimmt ist und sich bestimmt weiß, verdichtet sie sich zum Wort, vermag sie sich auszusprechen.

Allerdings also ist der Geist, ist die Bewegung der Seele, die Voraussetzung für das Eintreten der Sprache, aber diejenige Bestimmtheit der Seele, welche einem Lebensmoment den unwiderruflichen Abschluß durch das Wort gibt, kann ihn sich eben nicht anders geben, als durch das Wort.

Man wird demnachsagen müssen, daß die Bildung der Begriffe nicht weniger ein Sprachakt ist als ein Denkakt. Die ganze Bestimmtheit, welche den Begriff als solchen konstituiert, welche ihm im Fortleben durch Erweiterung, Einengung, Zuspitzung, Umwandelung zu teil wird, empfängt er dadurch, daß er  Sprachakt  ist, und dauch die Seele mußte ihn zum  Sprachakt  reif gekocht haben, damit er gesprochen werden  konnte,  d.h. ein  sinnlich bestimmtes  Dasein erhalten, an welchem nun zunächst die unendliche Bestimmbarkeit der Seele ihre Grenze fand; er  mußte  aber dann auch gesprochen werden, denn solche Bestimmtheit verträgt und trägt die Seele nicht mehr ohne Hilfe des Lautes.

Nun leugnen wir nicht, daß das Wort  Geist  allgemeinere Bedeutung hat, als das Wort  Begriff,  aber wir leugnen, daß dieser allgemeine Geist einerseits gleichsam über unseren Worten schwebe, andererseits irgendwie unserer Begriffswelt angehöre. Diese vielmehr finet, wenn sie eine gewisse Bestimmtheit, Festigkeit erlangt hat, man kann sagen, wenn sie vor dem Bewußtsein als ei Erkanntes steht, ihre Darstellung durchaus in der Sprache, und was darüber zu schweben scheint, ist entweder eine Seelenbewegung, welche die Reife zum Worte nicht zu erlangen vermochte, und deren Wellen noch nachzittern, oder welche in weiteren noch dargestellt werden kann.

Jener allgemeine Geist, den wir ahnen mögen, kommt gar nicht bei uns zur Form des Denkens, d.h. zur bildlichen Erfassung, darum auch ncht der Sprache. Wenn HEYSE schreibt: "Für ihn (den reinen, allgemeinen Geist) wird die  besondere  sprachliche Anschauungs- und Vorstellungsweise zu etwas Gleichgültigem" - so ist richtig, daß der Gebildete ebenso lautlos zu denken, als der Geübte lautlos zu lesen imstande ist ist, vom Laute also zu abstrahieren vermag; aber sobald er den Gedanken sich klar und bestimmt erneuern will, ist er, wie ursprünglich, an das Wort, ja an den Buchstaben des Wortes verwiesen. Solches Begreifen, dem der sprachliche Ausdruck gleichgültig wäre, schwebt dann freilich über den Worten, wir nennen es aber Gefasel.

Es gibt also freilich keine allgemeine, absolute Sprachform, aber ebensowenig gibt es eine reine, allgemeine Denkform. Zwar sind es gewisse Grenzen, innerhalb deren sich alles menschliche Denken bewegt, und es können Formeln aufgestellt werden, wie die, daß A = A, welche nirgend zu bestreiten sind, aber ist denn damit ein "reines, allgemeines Denksystem" konstituiert, ein Schema, nach welchem ein in Wirklichkeit noch nie beobachtetes  reines  Denken jedenfalls zu verfahren hätte?

Das  reine  Denken ist eben solches Hirngespinst, wie eine  reine Sprache  sein würde, welche anzunehmen freilich noch niemand eingefallen ist. Das ganze rein wissenschaftliche Interesse sowohl, wie demgemäß auch die Erfolge auf dem Gebiete der Wissenschaft, wie sie vornehmlich den Völkern der indogermanischen Sprachfamilie zu eigen sind, erwuchsen an und mit ihrer flektierenden  Sprache.  Nur sie haben auch ein  reines  Denken erfinden können, nur bei ihnen hat eine Lostrennung des abstrakt Logischen in voller Schärfe sich zu vollziehen vermocht.

Wenn daher in unserer Zeit wissenschaftliche Untersuchungen, welche von bloßen Begriffen, Abstraktionen ausgehen, in Mißkredit gekommen sind und mit Unglauben aufgenommen werden, wenn empirische Forschung als grundlegend gefordert wird, so ist auch klar, daß, was KANT als "Kritik der reinen Vernunft" zu untersuchen begann, fortzuführen ist als Kritik der unreinen Vernunft, der gegenständlich gewordenen, also als  Kritik der Sprache. 

Die Verschiedenheit der wissenschaftlichen, moralischen, religiösen Begriffe, die Eigentümlichkeit des ganzen Volkslebens, die verschiedene geschichtliche Entwicklung bei den Nationen sind an sich genügend deutliche Zeichen, daß ein allgemeines Denksystem dieselbe Abstraktion ist, wie es ein allgemeines Sprachsystem sein würde. "Es  sollte  doch - unserer Idee nach - allgemein so gedacht, so gesprochen werden" - so mag allerdings hier gedacht werden, wie dort, und mit gleichem Rechte. Wilhelm von Humboldt aber hat in seiner zurückhaltenden Darstellung recht, welche nichts behauptet, was sie nicht weiß.

HERDER sagt in seinen "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit":
Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat. Die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition einverleibet:  eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land.  Mit den Leidenschaften des Herzens, mit allen Neigungen der Gesellschaft ist es nicht anders. Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht, indem sie die ungeheure Flut seiner Affekte in Dämme einschloß und  ihr  durch Worte vernünftige Denkmale setzte."
Als zu demselben Geschlechte der Menschen gehörig werden natürlich alle Volksstämme die Hauptpunkte des logischen Denkens anerkennen, aber ebenso ist ja auch die Verschiedenheit der Sprache eine begrenzte. Stoffwörter, Tätigkeitswörter, Wörter, welche Beziehungen bezeichnen, sind überall vorhanden und werden  nach allgemeinen Denkgesetzen  verwandt, d.h. nach solchen, welche  in allen besonderen  sich finden.

Wir sehen uns so mit dem scheinbar schrankenlosen Denken an ein scheinbar Äußerliches gebannt, an die Sprache, und diese Sprache, obwohl von uns geschaffen und beständig neu geschaffen, bedingt und beherrscht uns, wie nur immer die Natur uns durch Klima, Nahrung und dergleichen bedingen mag. Aus Denken und Sprechen erbauen wir das Reich des Menschengeistes, in den Makrokosmos setzen wir einen Mikrokosmos, und, obwohl mit den Wurzeln dieses Reiches ruhend in er Natur, obwohl gehalten von ihr nicht minder, als umgrenzt, empfinden wir doch nur zu deutlich, daß es lediglich Analoga des Universums sind, Bilder, mit denen wir uns behelfen.
"Das ist eben das wahre Geheimnis, das allen vor Augen
  Liegt, euch ewig umgibt, aber von keinem gesehen."
Und indem wir hier SCHILLERs Worte "An die Mystiker" zu den unsrigen machen, wie es so ja von jedem geschieht, der eines anderen Worte für sich anführt, können wir die Bemerkung nicht unterdrücken, daß eben nicht bloß Wörter ihrer bildlichen Natur wegen den verschiedensten Sinn in sich selber haben und je nach der Umgebung, in welcher sie auftreten, kundgeben, sondern daß auch ganze Gedanken - und Wortreihen - als erweiterte Bilder - sich mühelos und passend anderen Verbindungen einfügen, für welche sie ursprünglich nicht entfernt berechnet waren.
LITERATUR, Gustav Gerber, Sprache als Kunst, Berlin 1886