tb-1ra-1LockeF. MauthnerH. J. StörigK. VorländerG. Störring    
 
JAKOB FRIEDRICH FRIES
Nominalismus
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"Ockham erläutert über die Bestimmungen des Aristoteles hinaus, daß die Definitionen nicht auf Sachen, sondern nur auf Begriffe gehen, daß die Gattung von den der Art nach verschiedenen Dingen, die Art nur von Individuen prädiziert werden könne. Ebenso zeigt er über die platonische Lehre hinaus, daß die Ideen nur Individuen, keine Geschlechter, Arten oder sonst etwas Allgemeines vorstellen, denn nur einzelnen Dinge können geschaffen werden."

Dagegen bleibt nun hier immer, die langen Jahrhunderte hindurch der Traum einer Theologie und Kosmologie stehen, welche nicht erfahrungsmäßig, also nur ein metaphysisch entwickelt werden soll, in der man sich einbildet, eine Wissenschaft von Gottes Wesen und Eigenschaften und von der Erschaffung und Erhaltung der Welt nur im Denken und durch bloßes Denken entwickeln zu können.

Diese Theologie und Kosmologie hat nun aber keine anderen Quellen als die positiv gegebene Kirchenlehre und philosophisch die Metaphysik des ARISTOTELES und der Neoplatoniker. Daher haben wir für weit hinaus in der Geschichte der Philosophie von gar nicht neuen zu, als von der Umbildung der logischen Auffassungsweise im Streit des Realismus mit dem Nominalismus. So unzählige Male diese philosophische Theorie aus- und umgebildet worden ist, hat sie keine anderen Hilfsmittel, als die leeren Grundbegriffe der spekulativen Metaphysik, welche anfangs nur logisch, später auch physische angewendet werden.

Die ganze Scholastik ist also eine eben solche epistematische Umstellung des aristotelischen Dogmatismus ließ sich der Gehalt der Lehre (in Theologie und Physik), für den man anfangs nicht einmal den ARISTOTELES kannte, nicht mit in das System aufnehem. Es blieb nur die Logik und spekulative Metaphysik. Man wollte also aus bloßer Logik die Metaphysik rechtfertigen und suchte so eine wissenschaftliche Erkenntnis aus bloßen Begriffen. Nun gibt die Logik zum Begreifen nur die Form des Denkens und nicht den Gehalt, daher wird hier
    1) aller Scharfsinn nur darauf verwendet nach und nach immer schärfer zu definieren, unterschieden und dadurch beweisen zu lernen, mit der immer erneuten Hoffnung, dadurch die selbständigkeit der philosophischen endlich doch noch einmal zu erlangen.

    2) Aber sich selbst konnte dieses Philosophem gar keinen Gehalt der Wahrheit verschaffen, deswegen bleibt es unvermeidlich ein Werk der Gedankensklaverei; es konnte sich nur geltend machen, indem es die Kirchenlehre als positive Lehre aufnahm oder anderen, wie dann dem ARISTOTELES nachsprach. Und im Widerspruch steht hiermit doch eingentlich immer die Voraussetzung der  Selbständigkeit  der Begriffserkenntnis' im Hintergrund.
Eben hieraus ergibt sich auch das notwendige Gesetz für den Verlauf der Geschichte der Scholastik. Im Vertrauen zu den leeren logischen systematischen Hilfsmittel fängt man an, die Lehre zu bilden: da entdeckt der gesunde Menschenverstand, daß ja die Universalien nicht selbständige Erkenntnisse sind, daß wir uns vielmehr ihrer nur mittels der Sprache bedienen und sie durch Abstraktion erhalten. Wird aber dies geltende gemacht, so geht die Selbständigkeit der Methode verloren. Daher führt hier der hellere Gedanke zum Nomimalismus, aber Schule und Kirche finden ihn an, indem sie nur im Realismus ihr Heil finden. Eingewöhnt in den Realismus wird dann der Scholastizismus, nach TIEDEMANNs Beschreibung, diejenige Behandlung der Gegenstände a priori, wo nach Aufstellung der meisten für und wider aufzutreibenden Gründe in syllogistischer Form, die Entscheidung aus ARISTOTELES, den Kirchenvätern und dem herrschenden Glaubensgebäude genommen wird. Soll dann der Geist von diesem Zwang wieder loskommen und das Vertrauen zum Selbstdenken wieder erhalten, so muß ihm erst ein klares Gebiet wissenschaftlichen Gehaltes aufgehen, in dem ihm das freie Selbstdenken wieder erwacht. Dies konnten ihm nur die Naturwissenschaften zeigen. Aber eben für diese war es so schwer, die klaren Begriffe von der Naturgesetzgebung zu gewinnen und somit die  formae substantiales  zu vernichten.

Für den Streit um Mystik und Scholastik, um Nominalismus und Realismus sind uns zuerst ANSELM von CANTERBURY, HILDEBERT von LAVARDIN, ROSCELLINUS, WILHELM von CHAMPEAUX, ABÄLARD und BERNHARD von CLAIRVEAUX zu beachten.

ANSELM von CANTERBURY ist 1034 zu Aosta in Piemont geboren, war nachmals Prior und Abt im Kloster Bec und später als Nachfolger seines Lehreres LANFRANC Erzbischof von Canterbury, als welcher er 1109 starb. HILDEBERT von LAVARDIN, Erzbischof von Tours, geboren um 1055, gestorben gegen 1134, war ein Mann von ausgezeichneter Geistesbildung, vorzüglich klaren Gedanken, prosaisch und poetische durch bessere lateinische Schriftsteller geführt. Er schrieb eine  moralis philosophia de honesto et utili,  worin er mit hellem Geist CICEROs  de officiis  folgt. Daneben schrieb er einen  tractatus theologicus,  den ersten Versuch eines Systems der Theologie, in der Weise, die nachher scholastisch so oft wiederholt wurde. Er stellt die Dogmen auf, deckt sie mit einigen Stellen der Bibel und der Kirchenväter, macht dann Einwürfe und schlägt diese durch Autoriäten, besonders die des AUGUSTINUS, nieder. JOHANNES ROSCELLINUS oder ROUSSELIN war um 1089 Kanonikus zu Compiegne, wurde 1092 genötigt, seine ketzerischen Meinungen über die Dreieinigkeit zu Soissons abzuschwören, widerrief aber dieses gleich wieder und zog sich nach England zurück, wohin ihn jedoch dieser Streit doch auch verfolgte. WILHELM von CHAMPEAUX war ein berühmter Lehrer der Dialektik an der hohen Schule zu Paris und starb 1120 als Bischof von Chalons. Sein Schüler PETER ABÄLARD (geboren zu Palais bei Nantes 1079) trat in Paris gegen ihn auf und brachte ihn durch die überwiegende Kunst seiner Dialektik zum Schweigen und zur Änderung seiner Ansicht. ABÄLARD wirkte als lebendiger sehr beliebter Lehrer sowie zum Aufblühen der Universität in Paris, so auch zur Weckung der Lust am Philosophieren und sammelte eine große Zahl von Schülern ums sich. Er war freisinnig genug, die Verdienste der griechischen Philosophen, die er aus CICERO und AUGUSTINUS kannte, anzuerkennen, ja eine nähere Verwandtschaft der christlichen Lehre mit diesen als mit der mosaischen Lehre zu behaupten, sowohl wegen ihrer Moral, als wegen der Lehre von der Einheit Gottes und der Dreieinigkeit, welche jene aus der Vernunft eingesehen hätten und förderte die Lehre selbst, indem er in seiner  christiana theologia  und  ethica  die Weise des HILDEBERT und ANSELM fortsetzte und der Lehre mehr Bestimmtheit und Vollendung gab. Er starb 1142 zu Clugny. Durch seinen Freisinn und seine aristotelische Dialektik hatte er die strenger kirchliche und mystische Partei, an deren Spitze der  heilige  BERNHARD stand, lebhaft gegen sich aufgeregt, so daß ihn dieser Streit fast zeitlebens verfolgte. Doch söhnte er sich endlich noch mit BERNHARD aus.

ANSELM und HILDEBERT suchten eine philosophische Ausbildung der Theologie, ANSELM mit größerer dialektischer Kunst. Er kannte die Syllogistik genau und strebte nach freier Vernunfterkenntnis der Religionswahrheiten, aber unter der Bedingung, daß die Vernunft nur unter der Voraussetzung des Kirchenglauben und in der strengsten Gebundenheit an ihr Ziel erreichen können. Die Vernunft dürfe dienen, den Unglauben zu bestreiten, aber nicht um den Glauben zu sichern. So fesselte er sich besonders an die Worte AUGUSTINUS. Seine philosophischen Hauptschriften sind ein  Monologium  und ein  Proslogium.  Das erste sucht das Dasein und die Eigenschaften Gottes wissenschaftliche dialektisch zu erkennen, das andere zieht denselben Gedankengang enger zusammen und enthält seine viel beachtete Darstellung des jetzt sogenannten ontologischen Beweises für das Dasein Gottes. Seine Dialektik ist dabei nicht ohne Schärfe und die Bemühung, die positiven Glaubenslehren dadurch zu fassen, nicht ohne Witz.

Die Lehre des SCOTUS erregte zunächst in den Schulen den Streit zwischen dem materialen Realismus der Thomisten und dem formalen der Scotisten, indem die Dominikaner dem THOMAS, die Franziskaner der SCOTUS folgten. Aber des SCOTUS ausgezeichner Schüler, der Franziskaner WILHELM von OCKHAM (einer Ortschaft in der Grafschaft Surrey in England), gab den Angelegenheiten eine andere neue Wendung, indem er die Lehre wieder auf den Nominalismus zurückführte. OCKHAM lehrte zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts in Paris und war ein kühner Gegner des päbstlichen Despotismus. JOHANNES XXII. verfolgte ihn mit dem Bann, er fand aber Schutz bei Kaiser LUDWIG dem BAIERN, den er sich mit den Worten ausbat:  tu me defendas gladio, ego te defendam calamo.  [Wenn du mich mit dem Schwert verteidigst, verteidige ich dich mit der Feder. - wp] Er starb 1347 zu München.

OCKHAM geht in den dialektischen Lehren genau den subtilen Lehren seines Lehrers weiter nach und wird denn dadurch zu der Behauptung zurückgeführt, daß die allgemeinen Begriffe nur subjektive Realität und Bedeutung im Verstand haben. Allein diese Verschiedenheit seiner Lehre von den früheren würde ebensowenig entschiedene Klarheit erhalten haben, als die der anderen, wenn er nicht rücksichtlich des  principium individuationis  endlich den richtigen Ausdruck gefunden hätte. Seine Betrachtung führt ihn nämlich endlich wieder bestimmt auf den Unterschied der Erkenntnistätigkeit im Wahrnehmen (im actus apprehensivus) und im Urteilen (im actus iudicativus) zurück. Dem unmittelbaren Erkennen im Wahrnehmen stellt er das Beifallgeben und Beifallentziehen im Urteil entgegen. Hiermit verbindet er den Unterschied der anschauenden und abstrakten Erkenntnis (notitia intuitiva und abstractiva). In einigen Urteilen wird nur das Verhältnis des Subjekts und Prädikats, in anderen das Sein oder Nichtsein eines Dings ausgesagt. Die letzten zufälligen Wahrheiten sind nur unter Voraussetzung von Anschauungen möglich, aus notwendigen Wahrheiten kann nie das Dasein oder Nichtsein eines Dings erkannt werden. So läßt er die Erkenntnis der Individuen nur durch die  notitia intuitiva  entstehen und alle Erfahrung und Wissenschaft hat darin ihren Anfang. Dadurch erläutert er richtig über die Bestimmungen des ARISTOTELES hinaus, daß die Definitionen nicht auf Sachen, sondern nur auf Begriffe gehen, daß die Gattung von den der Art nach verschiedenen Dingen, die Art nur von Individuen prädiziert werden könne. Ebenso zeigt er über die platonische Lehre hinaus, daß die Ideen nur Individuen, keine Geschlechter, Arten oder sonst etwas Allgemeines vorstellen, denn nur einzelnen Dinge können geschaffen werden. Daß Ideen als etwas Allgemeines vorgestellt werden, kann nur in endlichen vorstellenden Wesen subjektiv vorkommen. So erkennt er auch genau die Verschiedenheit des numerischen und spezifischen Unterschiedes an. Zwei Dinge, die verschieden sind als Individuen, brauchen eben nicht durch unterscheidende Merkmale verschieden zu sein, sondern sie können auch schlechthin zwei oder mehrere sein. Wiewohl er nun solche Lehren in der spitzfindigen und weitschichtigen Weise seines Lehrers entwickelt, so gewinnt er doch für die Theorie der menschlichen Erkenntnis manche treffende Ansichten. Dahin gehört vorzüglich die Anerkennung der unmittelbar anschauenden Erkenntnis zwischen dem Objekt und dem denkenden Verstand und die Nachweisung der inneren Anschauung unserer Vorstellungen. Das Sehen des Steins, sagt er, wird durch ein anderes Sehen gesehen, doch kann dies nicht ins Unendliche fortgehen, sondern man muß bei einem Anschauen als dem unmittelbar ersten stehen bleiben.

Hiermit würden sehr gute Unterlagen für eine freiere Bewegung der Gedanken und eine klarere Auffassung der menschlichen Erkenntnis gewonnen worden sein, wenn es dem OCKHAM gelungen wäre, die Untersuchung unabhängig von der rationalen Theologie auf das menschliche Erkenntnisvermögen zu führen. Aber anstatt dessen stehen ihm diese Untersuchungen ganz nur in der Gotteslehre; das Ganze bleibt ungeachtet allen Scharfsinns der Begriffsunterscheidungen doch nur Scholastik, welche sich nicht zur Wissenschaft erheben kann. Die Lehre weiß noch die von ihr selbst anerkannte anschauliche Erkenntnis nicht als Unterlage von Erfahrungswissenschaften zu brauchen, indem sie göttliche Wahrheit und Naturgesetz nicht zu unterscheiden versteht. Gerade indem man anfängt, die Rechte menschlicher Erfahrungserkenntnis neben dem Autoritätsglauben gelten zu lassen, wird der Unterschied der Gegenstände der Wissenschaft und Glaubens übersehen und die Wissenschaft immer noch als Kosmologie unter der Idee des göttlichen Waltens gefaßt.

Dem OCKHAM folgten viele, anfangs besonders Franziskaner. So erneuerte sich der Streit um Realismus und Nominalismus zwischen den freier denkenden Nominalisten und den thomistischen und scotistischen Realisten. Aber er tritt aus unseren Interessen herau und wird mehr politisch. Im Grunde stand dem Nominalismus nur schlechthin die Scheu vor Neuerungen und das alte Vorurteil entgegen, daß der Realismus eine Stütze der Kirchenlehre sei. Die Nominalisten wurden das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert hindurch durch Bann und Verbote wiederholt von Pabst und Schule angefeindet. Bei der Universität zu Paris folgten sich solche Verbote in den Jahren 1339, 1340, dann 1409, endlich noch 1473. Indessen war die Schule nicht mehr in jener innigen Vereinigung mit den römischen Interessen, die Gelehrten waren nicht mehr nur Mönche und die Mönche nicht mehr einig im päbstlichen Interesse. So konnte der freie Gedanke doch nicht unterdrückt werden. Besonders auf den deutschen Universitäten fand der Nominalismus fortwährenden Schutz. Aber auf der anderen Seite blieb doch immer dem freien Gedanken ein harter Kampf. Der philosophische Geist hatte eigentlich die Hilfsmittel gefunden, um der großen Entscheidung näher zu kommen, in welcher dem Wissen und dem Glauben ihre gegenseitigen Rechte anerkannt werden, aber im Gebrauch dieser Hilfsmittel blieb seine freie Bewegung lange fort gehemmt. Die alte Eifersucht und der Argwohn der geistilichen Behörden hinderte forwährend so manches freie Aufstreben; wo es auch dies nicht ganz hemmte, verdarb wieder die Abgeschmacktheit der Schulstreitigkeiten den gesunden Sinn und Geist der Forschung und überall drohten die Schrecken der Inquisitioin den Verketzerten und für Hexen erklärten, mit dem Scheiterhaufen; endlich auch ohne diese Drohungen der äußeren Gewalt hinderte vielfältig die eigene abergläubische Furcht. Daher werden fortwährend so viele edle Bestrebungen um ihren glücklichen Erfolg betrogen oder wenigstens wird er ihnen verkümmert. In der jüngeren Zeit ist die Koalition des physischen Aberglaubens an Hexerei und Zauberei mit dem kirchlichen die gefährlichste hemmende Kraft geworden, welche die freie Fortbildung des Geistes niederhielt und unterdrückte. Doch fanden sich stets kühne Geister, die diesen Gefahren Trotz boten und die freie Bildung des philosophischen Geistes weiter führten.

Der erste Gewinn war in dieser Zeit, daß die Untersuchung der Selbstdenkenden vom Positiven der Kirchenlehre frei kam oder weggewendet wurde. Dadurch konnte sich in mannigfaltigerer Weise originelle neue Versuche hervorheben, durch welche dem philosophischen Geist an die Stelle des Streites um Nominalismus und Realismus zwei andere Aufgaben gebracht wurden, nämlich die philosophische Ausbildung der Erfahrungswissenschaften und die Fortbildung der Wissenschaft vom menschlichen Geist, besonders in der Theorie der Erkenntnisvermögen. Aber hier spielt bei der Fortgestaltung des Geistes im Völkerleben die Fortbildung der philosophischen Wissenschaft lange eine sehr untergeordnete Rolle.

Bis auf OCKHAM ging die dialektische Fortbildung ihren gleichen Gang in den Mönchsschulen. Aber die Zeit nach OCKHAM, in welcher der Nominalismus in den Schulen wieder empor kam, hatte gegen die frühere wesentlich veränderte Verhältnisse der Völkerausbildung. Die Stiftung der Universitäten hatte den wissenschaftlichen Geist lebendig angeregt und bewegt, jetzt nun befreite ihre höhere Ausbildung die Wissenschaft von den Banden des Mönchslebens und nahm das ganze Volksleben in Anspruch. Der unternehmende Geist der deutschen Völkerstämme gewann mit der ruhigeren Ordnung des Handels allmählich jene republikanische Ordnung des bürgerlichen Lebens, die den dritten Stand bildete und deren Seele der Kunstfleiß ist, jener erfinderische Kunstfleiß, dem die Naturwissenschaften zu wichtigsten Aufgabe werden. So forderte das bürgerliche Leben die Fortbildung der Naturwissenschaften und diese haben dann endlich die neuere Zeit selbst über das griechische hinausgeführt und die Waffen gegen den Priesterzwang und allen Aberglauben geliefert. Endlich brachte die Geschichte der Menschheit im fünfzehnten und im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts vermöge der durch die genannten Momente begünstigten Fortbildung des Geistes noch mehrere andere entscheiden wichtige Ereignisse. Hier steht die neue ästhetische Geistesbildung in Italien, deren Führer die Dichter DANTE (starb 1321), PETRARCA (starb 1374) und BOCCACIO (starb 175) waren und welche allmählich den Geschmack der europäischen Völker neu weckte. Diesem kam sehr die Erscheinung der Griechen in Italien zu Hilfe (GEORGIUS GENASTHUS PLETHO und BESSORION kamen 1438 nach Florenz) und die Weckung der Liebe zur klassischen Literatur der Alten durch diese. Daneben steht die Erfindung der Buchdruckerkunst und die große Fortbildung der Schiffahrtskunst, welche endlich naturwissenschaftlich und politisch den Blick des Menschen rund um die Erde führte. Endlich kommt zu all diesem die Reformationi der Kirche.

Drei Dinge sind dadurch nach und nach gewonnen worden: Bildung des Geschmacks, Freiheit des Geistes, die sich vom Autoritätsglauben und dem hierarchischen Despotismus losreißt und eine sichere und klare Führung des neu aufstrebenden Selbstdenkes. Für all dieses bedurfte es vieler Vorbereitungen, ehe für unseren Zweck das Selbstdenken in neue feste Bahnen eingewiesen werden konnte. Unter diesen Vorbereitungen verläuft die Zeit bis weit in das siebzehnte Jahrhundert hinein bis zu BACO von VERULAM, GALILEI und DESCARTES. Das dritte nämlich, die sichere und klare Führung des Selbstdenkens, ohne welche auch wahre Befreiung vom Autoritätsglauben unmöglich blieb, war am schwersten zu erlangen. Der Geist mußte wahrhaft in die Schule der großen attischen Denker zurückgeführt werden, er mußte in Rücksicht der Logik und der Quellen der Erfahrungserkenntnis nicht nur das bessere Recht des ARISTOTELES gegen den PLATON anerkennen lernen, sondern sich noch weit über die Einseitigkeit des ARISTOTELES erheben und noch mehr, er mußte fest und klar bleiben bei der über die aristotelische Weltansicht erhabenen christlichen, welche Gott nur im Geiste verehrt und die Selbständigkeit der unsterblichen Seele glaubt, dabei mußte ihm aber auch aus den Philosophemen der letzten Jahrhunderte diese Achtung der  methodus mathematica  des DESCARTES bleiben, mir ihren klareren Gesetzen der systematischen Ordnung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das alles konnte in höchster Instanz nur durch die unwiderlegliche Wahrheit der Erfahrungswissenschaften gewonnen werden.

Die Gelehrtengeschichte jener Zeiten hat uns also zunächst die Männer zu loben, welche uns wieder mit der Literatur der Griechen und Römer bekannt machten; dann diejenigen, welche im allgemeinen Geschmack ein freies Urteil gegen den Aberglauben weckten und bildeten; ferner die einzelnen kühnen Geister, welche nach Anleitung der Alten oder auf eigene Hand selbständige philosophische Gebilde wagten. Aber für das letzte bot die vorhandene gelehrte Ausbildung anfangs nur die zwei einseitigen Methoden des leeren logischen Rationalismus der Scholastiker und die sich immer mehr mit physikalischen Träumen verschlingenden Phantasien der Mystiker. Da mußten sehr unvollkommene Versuche gemacht werden, ehe das Bessere gelingen konnte und gar schwierig wird hier die unparteiische Kritik.

Der gesunde Sinn für die philologischen Studien und die Freiheit des Geistes im Kampf mit dem hierarchischen Despotismus treten zuerst klar hervor, aber die Freiheit des Geistes gegen den Autoritätsglauben und den Aberglauben war schwer zu erringen. Selbst die Führer unter den Reformatoren jeder Partei wußten nur Glaubensbekenntnisse in neue Formeln fassen und für die neuen Formeln zu streiten. So mächtig gleich die Reformatoren für die Befreiung des Geistes im Großen und Ganzen wirkten, so konnte doch der neue philosophische Geist nicht durch die Theologie, sondern zunächst nur durch die Erfahrungswissenschaften geweckt werden. Die theologische Dogmatik, der die Philosophie der Scholastiker so ganz zu dienen gekommen war, trennt sich vielmehr jetzt von der Philosophie.
LITERATUR - Jakob Friedrich Fries, Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Halle 1837