ra-2Unmeßbare psychische GrößenMauthner - messenGustav Mally    
 
AUGUST DÖRING
(1834 - 1912)
Philosophische Güterlehre
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"Niemand kann zugleich heftige Affekte durchleben und sie mit naturwissenschaftlicher Schärfe beobachten. Hiermit ist eigentlich schon die ganze Sache abgetan, zumal wenn man bedenkt, daß diese Selbstbeobachtung nicht etwa nur an einem kleinen Bruchteil der Lebensmomente gleichsam probeweise geübt, sondern, um den Gefühlswert eines Menschenlebens vollständig zu ermitteln, während der ganzen Dauer desselben fortgesetzt werden und, ganz streng genommen, mit den ersten Gefühlseindürcken im Mutterleib beginnend und mit dem Abschluß des Todeskampfes enden müßte."

Zweiter Teil
Zusammenfassende Güterlehre
oder Glückseligkeitslehre


II. Die bedingte Möglichkeit eines Lustüberschusses
auf dem Standpunkt des populären Bewußtseins


2. Eine exakte Berechnung des Gefühlsbetrages
eines Menschenlebens ist unmöglich.

Man könnte nun auf den Ausweg verfallen, dieser Unsicherheit des unmittelbaren Urteils durch eine verschärfte Beobachtung zu Hilfe zu kommen und entweder durch eine genaue Registrierung der äußeren Tatsachen eines Menschenlebens, die das Gefühl affizieren oder durch eine genaue Verfolgung und Berechnung des Gefühlsverlaufs selbst ein gewissermaßen induktiv begründetes Urteil über das Gesamtverhältnis von Lust und Unlust im menschlichen Leben zu erhalten suchen.

Die erstere Bedingungsweise würde, wenn an einem fremden Indviduum vorgenommen, um ein exaktes Resultat ergeben zu können, voraussetzen, daß nicht nur die Gesamtheit der im Leben desselben wirksamen äußeren Gefühlsursachen nach Zahl, Intensität und Dauer, sondern auch die individuelle Reaktionsweise des betreffenden Individuums auf jede einzelne dieser äußeren Gefühlsursachen, die bei den verschiedenen Individuen so verschiedene subjektive Empfänglichkeit und Empfindlichkeit für die verschiedenen Arten der Lust und Unlust, vollständig und genau bekannt wäre. Wenn an der eigenen Person vorgenommen, würde sie nur einen unnötigen Umweg durch die äußere Ursache zur inneren Wirkung darstellen, da die Selbstbeobachtung viel leichter und sicherer den Gefühlsverlauf selbst zum Objekt nehmen könnte. Die zweite Verfahrensweise könnte überhaupt nur durch Selbstbeobachtung bei Identität des beobachtenden Subjekts mit dem Beobachtungsobjekt stattfinden.

Beide Verfahrensweisen müßten, wenn einmal angewandt, nicht nur sporadisch, ungenau und mit Unterbrechungen vorgenommen, sondern mit absoluter Vollständigkeit und Exaktheit durchgeführt werden, damit die Sache nicht wieder auf bloßes Mutmaßen und Gerede hinausliefe, sondern ein wissenschaftlich überzeugendes und haltbares Ergebnis herauskäme. In der Tat hat von HARTMANN den Mut gehabt, eine direkte Gesamtberechnung der Gefühlszustände eines Individuums, also im Sinne der zweiten Verfahrensweise, mit bemerkenswerter Zuversichtlichkeit nicht nur für möglich zu erklären, sondern auch Regeln für das dabei einzuhaltende Verfahren aufzustellen. Am vollständigsten hat er diesen Gegenstand in dem Aufsatz "Zur Pessimismusfrage" (Philosophische Fragen der Gegenwart) behandelt. Er ist der Ansicht, daß durch dieses Verfahren eine induktive Bestätigung eines bereits auf metaphysischem Weg gewonnenen negativen universellen Werturteils gewonnen werden würde, indem unzweifelhaft jede einzelne der berechneten Individualbilanzen konstant ein Überwiegen der Unlust ergeben würde und daß eben wegen dieser Konstanz schon nach Ausführung einer mäßigen Zahl von Individualbilanzen die Negativität als allgemeine Formel des menschlichen Schicksals als erwiesen würde gelten können.

Eine Ausführung dieser für das Menschengeschlecht so bedeutsamen Berechnung hat von HARTMANN bis jetzt nicht geliefert und man könnte daher die Sache als einen müßigen Einfall auf sich beruhen lassen, wenn sie nicht mit einer so außerordentlichen, für den Laien vielleicht irreleitenden Zuversicht aufträte und wenn nicht außerdem gerade im vorliegenden Zusammenhang die Frage der Berechnung lehrreich und bedeutend wäre.

HARTMANN stellt an der angeführten Stelle im wesentlichen drei Prinzipien auf, nach denen die Berechnung vorgenommen werden soll. Dieselben lauten in möglichst kurzer Fassung folgendermaßen:
    1. Jedes Gefühl ist nur mit demjenigen Größenwert in die Bilanz einzustellen, den es zur Zeit seiner Aktualität im Bewußtsein wirklich besaß. Es macht dabei keinen Unterschied, ob es auf Jllusion, falscher Beurteilung der Vergangenheit, falscher Erwartung in Bezug auf die Zukunft - dies sind auch nach von HARTMANN zwei Spezialformen der Jllusion, wie sie auch im vorstehenden als Formen der primären Jllusion auf geführt worden sind - beruhte. Dagegen soll beachtet werden, ob ein Gefühl etwa durch andere gleichzeitige gehemmt wird oder obe es als gegenwärtiges neu entsteht oder nur in der Erinnerung mit schwächerer Intensität reproduziert wird.

    2. "Lust und Unlust sind mathematische Größen von entgegengesetzten Vorzeichen, aber sonst kommensurabel [vergleichbar - wp]."

    3. "Der Größenwert eines Gefühls ist das Produkt aus Intensität und Dauer."
Nach dieser Anleitung würden also, die Richtigkeit der gemachten Voraussetzungen einmal angenommen, folgende Prozeduren vorzunehmen sein:
    1. Vollständige Analyse des aus einer Mannigfaltigkeit von Einzelgefühlen bestehenden Gesamtgefühlszustandes für jeden Lebensmoment, da der Gesamtzustand als eine unklare Mischung von ineinandergreifenden, aus einem Moment in den anderen hinüberragenden Einzelgefühlen einer Messung nicht unterworfen werden kann. Dasjenige Gefühl, das einen eigenen, aus dem Produkt von Intensität und Dauer resultierenden "Größenwert" besitzt, kann nur ein der Zahl und Qualität nach schlechthin einfaches sein.

    2. Bestimmung des Größenwerts nach einem einheitlichen, für Lust und Unlust gemeinsamen Maßstab, also Reduzierung sämtlicher einzelner Gefühle auf einen Zahlenausdruck.

    3. Addition
Von diesen Prozeduren ist die dritte nach Ausführung der ersten und zweiten ein Kinderspiel; die erste und zweite aber sind schlechthin unausführbar.

Zunächst könnten beide Prozeduren, nach dem vorhin Bemerkten, wenn nicht ein hellsehendes, die Seelenzustände eines anderen mit absoluter Deutlichkeit durchschauendes Wesen zu Hilfe genommen werden soll, nur durch das die Gefühle erlebende Individuum selbst vorgenommen werden. Dieses Individuum müßte imstande sein, während des gleichzeitigen Erlebens einer Unzahl von Gefühlen, die dem gemeinen Bewußtsein nur als unklare Mischung entgegentreten, nicht nur die Analyse vollständig und korrekt durchzuführen, sondern auch für jedes einzelne einfache Gefühl den Größenwert zahlenmäßig zu berechnen. Es müßte die Fähigkeit objektiver Selbstbeobachtung bis zum Auseinandergehen des Bewußtseins in zwei völlig gesondert nebeneinander herlaufende Reihen von Prozessen völlig heterogener Art besitzen, die einander weder hemmten, noch alterierten [änderten - wp]; es müßte ferner in der objektiven Reihe mit einem an Allwissenheit grenzenden, blitzschnell arbeitenden Vermögen der sondernden und verdeutlichenden Analyse und - die Meßbarkeit immer vorausgesetzt - einer wunderbar schnellen und nie ermüdenden Fertigkeit des Messens und Rechnens ausgestattet sein.

Von diesen Erfordernissen ist nun schon die bloße Selbstbeobachtung gerade bei den Gefühlen als den subjektivsten Seelenzuständen am wenigsten möglich. Niemand kann zugleich heftige Affekte durchleben und sie mit naturwissenschaftlicher Schärfe beobachten. Hiermit ist eigentlich schon die ganze Sache abgetan, zumal wenn man bedenkt, daß diese Selbstbeobachtung nicht etwa nur an einem kleinen Bruchteil der Lebensmomente gleichsam probeweise geübt, sondern, um den Gefühlswert eines Menschenlebens vollständig zu ermitteln, während der ganzen Dauer desselben fortgesetzt werden und, ganz streng genommen, mit den ersten Gefühlseindürcken im Mutterleib beginnend und mit dem Abschluß des Todeskampfes enden müßte.

Gehen wir jedoch trotzdem auch auf das Problem der Analyse näher ein. Wenn wir den Versuch machen, die den Gefühlszustand eines einzigen Lebensmomentes zusammensetzenden Bestandteile zu überblicken, so zeigen sich dieselben als eine völlig unübersehbare Mannigfaltigkeit sowohl der Zahl als der verhältnismäßigen Größe nach.

Was zunächst die Zahl angeht, so lassen sich die in einem einzelnen Daseinsmoment wirksamen Lust- und Unlustursachen in zwei große Gruppen einteilen, in dauernd wirksame und in solche, die dem besonderen Lebensmoment eigentümlich zukommen und daher mit den Momenten wechseln.

Die dauernd wirksamen Gefühlsursachen bilden nicht eine unveränderliche Masse, sondern nehmen in jedem Lebensmoment gleichsam das Gefühlsergebnis des Lebensprozesses in sich auf. Sie beginnen am Anfang des Lebens mit einem gegebenen Bestand von Lust- und Unlustursachen, den jeder Lebensmoment vermehrt und sofern diese Vermehrung teils in Lust-, teils in Unlustursachen besteht, je nach dem Überwiegen der einen oder anderen im Zuwachs auch verändert.

Dieser dauernd einwirkende Grundstock von Gefühlsursachen hat nun wiederum zweierlei Bestandteile, die unbewußt wirkenden oder Stimmungsursachen und die in deutlichem Vorstellen bewußten Ursachen. Erstere sind wieder teils körperliche, teils unbewußt seelische. Der Gesamtzustand des  Körpers  nach seiner mit dem Anfang des Lebens gegebenen Grundlage und den Veränderungen derselben durch jeden Moment des Lebensprozesses wirkt nicht nur durch die ins Bewußtsein fallenden Schwankungen, sondern auch unbewußt als körperliche Gesamtstimmung auf den Gefühlszustand. Die unbewußte  seelische  Stimmung ist das unmittelbar fortwirkende Resultat sämtlicher aktueller Gefühlszustände der Lebensmomente vom Anfang des Daseins an. Nur die intensivsten dieser Gefühlszustände haften isoliert im Gedächtnis und sind erinnerungsfähig, alle ohne Ausnahme aber liefern ihren Beitrag zu dem Gesamtergebnis einer unmittelbar wirksamen seelischen Stimmung. Eine ungetrübt glückliche Kindheit, eine frische, freudige Jugendzeit bilden ein unschätzbares Stimmungsinventarstück fürs ganze Leben, Lebensabschnitte gedrückten, leidensvollen Existierens oder außergewöhnliche furchtbare Erlebnisse und Schicksale geben der gesamten Stimmung einen unvertilgbaren Bestandteil trüber Wehmut. In beiden Fällen ist diese Nachwirkung früherer Gefühlszustände von der durch bewußte Erinnerung vermittelten, ebenso wie von den etwaigen rein körperlichen Nachwirkungen durchaus verschieden. Es gibt Menschen, die nicht mehr lächeln können, ohne daß sie darum sich fortwährend durch bewußte Erinnerung an die erschütternden Ereignisse ihrer Vergangenheit zermarterten. Ebenso liegt auf manchen Gesichtern ein dauernder Sonnenglanz als unbewußte Nachwirkung genossenen Glücks. Manchmal genügt ein einziges heilvolles oder unheilvolles Erlebnis, um fürs ganze Leben diese Nachwirkung zu erzielen, die sich natürlich auch jederzeit wieder in bewußte Erinnerung umsetzen kann, weil die betreffenden Vorgänge stets im Hintergrund des Bewußtseins zum Hervortreten bereit liegen und durch tausend Fäden mit dem gesamten aufgespeicherten Gedächtnisinhalt verknüpft sind.

Diesem doppelten stimmungsmäßigen Bestandteil der dauernden Gefühlsmomente stehen als bewußter Bestandteil die Erinnerungsvorstellungen über unser vergangenes Leben und die Zukunftsbilder in Bezug auf den noch bevorstehenden Teil desselben gegenüber, jene als Ursachen der mannigfachen Formen der Erinnerungsgefühle, diese der Arten und Grade von Hoffnung und Furcht, sowie die aus beiden Arten von Vorstellungen sich abstrahierende Allgemeinvorstellung unseres individuellen Lebensgeschicks als ganzem mit den daraus entspringenden Gefühlen und der noch allgemeineren aus einem weiteren Kreis von Erfahrungen abgeleiteten Vorstellung des allgemeinen Menschenschicksals und den entsprechenden Schicksalsgefühlen. Es wird wenige Lebensmomente geben, an deren Gefühlszustand nicht dieser bewußte Teil der Gefühlsursachen irgendeinen Anteil hätte.

Diesen dauernd wirksamen Gefühlsursachen stehen sodann die jedem Moment neu und eigentümlich angehörigen wechselnden gegenüber. Jede Empfindung hat ihren Gefühlston, jeder ins Bewußtsein tretende körperliche, intellektuelle oder dem Gebiet des Strebens angehörige Vorgang seinen Gefühlsreflex, der zugleich wieder einen Beitrag liefert zum großen Fonds der dauernden, den Gefühlscharakter der folgenden Lebensmomente bestimmenden Gefühlsursachen.

Soviel über die numerische Mannigfaltigkeit. Nun tritt aber diese Mannigfaltigkeit keineswegs als eine nur der Zahl nach vielfache Summe gleich großer Bestandteile auf, die sich, wenn die Anzahl bekannt wäre, wie Einheiten zu einer bloßen Ziffer zusammenfassen ließe, sondern jedes Gefühl hat wieder seine besondere Größe, seinen Intensitätsgrad und seine Dauer, die ihm einen besonderen Größenwert verleihen. Es ist nicht eine bloße Einheit, sondern ein Quantum von individueller Größe, die zwecks der nachfolgenden zahlenmäßigen Berechnung schon in der Analyse auch nach ihrer quantitativen Besonderheit aufgefaßt werden muß.

Nach der von von HARTMANN selbst geforderten Genauigkeit der "Einstellung in die Bilanz" könnte mit dem Gefühlsbestand der einzelnen Lebensmomente nicht anders verfahren werden, als so, daß diese nach Zahl und Größe unendliche Mannigfaltigkeit der Bestandteile in der Analyse genau auseinandergehalten, daß für jeden Moment die tausend Fäden des Gefühlsknäuels auseinandergewirrt und alle Wandlungen dieses in jedem kleinsten Zeitteilchen sich verändernden Chaos genau konstatiert würden. Als besondere Schwierigkeiten müßten dabei u. a. die Umstände hervortreten, daß die Intensität eines Gefühls teils durch Veränderung der Intensität seiner äußeren Ursache, teils durch Veränderung der subjektiven Empfänglichkeit oder Empfindlichkeit in jedem kleinsten Zeitteilchen Schwankungen ausgesetzt ist, daß ferner, wie schon PLATO im PHILEBUS bemerkt hat, die meisten, scheinbar nur  einer  Gefühlsqualität, der Lust oder der Unlust, angehörigen Gefühle in Wirklichkeit auch der Qualität nach gemischt sind, wie z. B. der Zorn neben dem Unlustmoment auch ein Lustmoment enthält. Vielleicht würde die nach den Gefühlsursachen vollständig durchgeführte Analyse diesen gemischten Charakter beseitigen und z. B. das Lustmoment des Zorns auf Erregungslust zurückführen, immerhin aber bliebe bei der Analyse zu beachten, daß das schlechthin einfache Gefühl jedenfalls kein gemischtes sein kann und daß der gemischte Charakter eines Gefühls schon ein hinreichendes Zeichen wäre, daß die Analyse noch nicht zum Ende gelangt wäre. Es wäre schon eine ganz hübsche Leistung, wenn einmal auch nur ein einziges, schlechthin einfaches Gefühl herauspräpariert und vorgezeigt werden könnte.

Der Gefühlsinhalt des Lebens aber setzt sich aus einer unzähligen Menge solcher momentanen Gefühlskomplexe zusammen und so stehen wir hier abermals vor einen Problem, zu dessen Lösung die ganze Virtuosität des von HARTMANNschen hellsehenden Unbewußten aufgeboten werden müßte.

Hat nun die Analyse die schlechthin einfachen Gefühlselemente nicht nur ihrer Qualität als Lust oder Unlust nach, sondern auch ihrer individuellen Intensitäts- und Dauergröße nach wenigstens intuitiv aufgefaßt, so ist nun die nächste Aufgabe, die beiden Faktoren des Größenwerts durch die Zurückführung auf die Einheit zu messen und auf einen zahlenmäßigen Ausdruck zu bringen. Hinsichtlich der Dauer könnte dies, die unermeßliche Behendigkeit des beobachtenden Subjekts einmal vorausgesetzt, keine sonderliche Schwierigkeit bereiten, da die Zeit ja meßbar ist, obschon allerdings die genaue Feststellung der Dauer für die einzelnen Gefühle beim krausen und irregulären Durcheinander der Anfangs- und Endmomente derselben auf für die unbegreifliche Fertigkeit dieses Subjekts keine kleine Aufgabe bilden würde. Intensität aber kann in den gewöhnlichen Fällen, wo wir mit ihr zu tun haben, nicht direkt gemessen werden, sondern immer nur dann, wenn entweder ihre Wirkung oder ihre Ursache meßbar ist. Diese gewöhnlichen Fälle aber sind solche, wo die Intensität sich unserer unmittelbaren intuitiven Wahrnehmung entzieht, wie bei den physikalischen Kräften. Bei den Gefühlen aber werden Intensitätsunterschiede in der Tat intuitiv wahrgenommen und es ist nur die Frage, ob es möglich ist, eine Intensionseinheit aufzustellen und an dieser als Maß die einzelnen Intensitätsgrade zum zahlenmäßigen Ausdruck zu bringen. Beides ist gleich schwierig. Wie sollte doch dieser unveränderliche, gleichsam geeichte Maßstab beschaffen sein? Aus welchem Gebiet des Gefühlslebens sollte man ihn entnehmen? Und in welcher Weise könnte er als Norm dem Gefühl gegenwärtig sein?

Dies jedoch einmal zugegeben, so ist ferner die genaue intuitive Auffassung der Intensität bei der Analyse zwar vorstehend hypothetisch zugestanden worden, in der wirklichen Erfahrung jedoch ist diese Auffassung nur ganz vage und unbestimmt und durchaus nicht genau genug, um für die Anlegung eines Maßstabes standzuhalten. Wir könnten ebensogut die Größe der Wolken mit dem Zollstock messen wollen.

Setzen wir uns jedoch auch über dieses Bedenken hinweg, so bleibt als letzte Schwierigkeit die Anlegung des Maßstabes, um zu ermitteln, das Wievielfache der Einheit die betreffende Intensität ausmacht. Auch diese Schwierigkeit würde für eine bis zum Hellsehen gesteigerte Intuition nicht unlösbar sein. Eine solche würden den Intensitätsgrad eines beliebigen Gefühls gleichsam unmittelbar als das Soundsovielfache der Maßeinheit ablesen und z. B. ein Problem, wie das von HORWICZ in seiner Kritik der von HARTMANNschen Messungstheorie vorgelegte, wieviel Nativaustern einem patriotischen Deutschen der Sieg von Sedan wert wäre, durch Zurückführung der beiderseitigen Gefühlsintensitäten auf die Gefühlseinheit spielend lösen.

Da die Größe eines bestimmten Gefühls nun das Produkt aus Intensität und Dauer sein soll, die Intensität aber unzweifelhaft auch schon während des kleinsten Zeitverlaufs Schwankungen ausgesetzt ist, so muß das hellsehende Bewußtsein beim Messen auch diese Schwankungen berücksichtigen und zwecks Vereinfachung der Rechnung auf eine einheitliche Durchschnittszahl zurückführen, die den durchschnittlichen Intensitätswert des Gefühls für die Dauer seines Verlaufs ausdrückt. Auch diese an sich gewiß überaus verwickelte Operation wird diesem Bewußtsein bei der ihm zugeteilten Ausstattung keine Schwierigkeiten bereiten.

Gegen die gegebene Bestimmung des Größenwerts eines Gefühls an sich ist nichts einzuwenden. Durch die Bezeichnung als Produkt aus Intensität und Dauer wird der Gefühlsvorgang in die Klasse derjenigen Vorgänge eingereiht, bei denen nicht durch Hinzutritt neuer Wirkungen zu der beharrenden des ersten Zeitmoments in jedem folgenden eine stetige Steigerung der Gesamtgröße stattfindet, sondern nur der in jedem einzelnen Zeitmoment wirkende Impuls in Anrechnung kommt. Ein Beispiel für die Vorgänge der ersteren Art bildet der freie Fall, für die der letzteren die gleichförmige, d. h. keinen Zuwachs erhaltende Bewegung, bei der der Weg eines gewissen Zeitraums das Produkt aus Geschwindigkeit und Zeit (ct) ist. In der Tat darf ja wohl angenommen werden, daß die in einem Zeitmoment geübte Wirkung einer Gefühlsursache sich nicht, wie die einer physischen Kraft für die folgenden Zeitmomente erhält, sondern mit dem Zeitmoment, in dem sie stattfindet, erlischt oder sich in etwas anderes, z. B. in Streben umsetzt, daß es also ein Beharren der Intensitätswirkung, wenigstens in der Form der Gefühlsintensität, nicht gibt. Dies vorausgesetzt und angenommen, daß der Zahlenausdruck für die Durchschnittsintensität jedes Zeitteilchens der Dauer gefunden ist, kann die weitere Berechnung keine Schwierigkeit mehr bereiten.

Auch die weitere Annahme der Kommensurabilität von Lust und Unlust als mathematischer Größen von entgegengesetzten Vorzeichen kann, wenn es möglich ist, beide auf Zahlgrößen zurückzuführen, nicht beanstandet werden. Es ist durchaus berechtigt, den Einheitsmaßstab als einen für Gefühle überhaupt geltenden zu betrachten, der nur, wenn es sich um Unlust handelt, das Vorzeichen Minus erhält. Diese Annahme steht sogar in vollem Einklang mit der von mir gegebenen Ableitung beider Gefühle aus dem Bedürfnis, ebenso wie mit der logischen Unterordnung beider unter den gemeinsamen Gattungsbegriff des Gefühls. HARTMANN selbst will die Kommensurabilität nicht in dem Sinne verstanden wissen, daß ein gewisses Quantum Lust das entsprechende Quantum Unlust einfach aufhebe, austilge, ungeschehen mache, wie die Zahl  + a  die Zahl  - a  oder in bestimmtes Kapital eine gleich große Schuld oder wie ein sofort angewandtes Gegengift ein in den Körper gelangtes Gift chemisch bindet und dadurch unschädlich macht. Mit Recht ist ihm auch die Unlust ein reales Erlebnis, das als solches nicht ungeschehen zu machen ist. Er erkennt an, daß das Erleben zweier gleich großer Quanta der entgegengesetztn Gefühle nicht einem Zustand der Bewußtlosigkeit gleichkommt, mit einem Wort, daß auch die Unlust als Erlebnis, als Bewußtseinsvorgang positiv ist, wie es denn in diesem Sinne überhaupt keine negativen Größen, sondern nur einen Nullpunkt gibt. Die Weise der Ausgleichung wird ihm durch das konstante Verhalten aller fühlenden Wesen bezeichnet, die stets bereit seien, für eine gewisse Lust eine gewisse Unlust in Kauf zu nehmen und nur da schwankten, wo die Schätzung ungenau bleibe. Die Ausgleichung findet also nur statt im Sinne einer Modifikation des Gesamtgefühlszustandes, der je nach dem Hinzutreten von Lust oder Unlust ein mehr lust- oder unlustvoller sein wird; die Lust ist ein Heilmittel der Unlust, die sie nicht ungeschehen macht, aber in ihrer Bedeutung für den Gesamtzusatnd in gewissem Maße paralysiert oder unschädlich macht, wie man z. B. die Tränen eines Kindes, das sich den Kopf gestoßen hat, durch ein Stück Zucker stillt. Die gleiche paralysierende Wirkung kommt dann auch umgekehrt der Unlust hinsichtlich der Lust zu.

Die Berechnung des Gesamtgefühlszustandes für einen gegebenen Lebensmoment oder -abschnitt oder auch für das Gesamtleben würde sich also hiernach mit der größten Leichtigkeit durch Addition der sämtlichen Lust- und Unlustposten mit engegengesetzten Vorzeichen vollziehen. Überhaupt ist sowohl die Formel für die schließliche Berechnung der einzelnen Posten, wie für die Gewinnung der Bilanz als Gesamtresultat in bester Ordnung und das Ganze würde trefflich stimmen, wenn nicht leider für die Ermittlung der einzelnen Posten alle Vorbedingungen fehlten.

Die ganze Berechnungstheorie bietet ein psychophysisches Problem für überirdische Wesen von einer für uns völlig unvorstellbaren Vollkommenheit; für die sublunarische [unter dem Mond, irdische - wp] Welt ist sie ein abenteuerliches Phantom. Mit diesem Resultat aber fällt nicht nur die bei von HARTMANN daran geknüpfte Erwartung eines exakten Beweises für das Überwiegen der Unlust, sondern auch die Möglichkeit überhaupt, auf diesem Weg den gewünschten Aufschluß über den Gesamtgefühlszustand auf dem Standpunkt des populären Bewußtseins zu erhalten und wir sind daher abermals genötigt, ein anderes Auskunftsmittel zu suchen.
LITERATUR - August Döring, Philosophische Güterlehre - Untersuchungen über die Möglichkeit und die wahre Triebfeder des sittlichen Handelns, Berlin 1888