p-4Ernst MeumannJoseph ChurchClara u. William Stern    
 
LEW SEMJONOWITSCH WYGOTSKI
Die innere Sprache
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Forschungsprobleme und -methoden
Ursprung des Denkens
Experimente zur Begriffsentwicklung
Gedanke und Wort
Die kindliche Begriffsentwicklung
"Wenn alles, was wir sagen wollen, in den formalen Bedeutungen der benutzten Wörter enthalten wäre, dann bräuchten wir, um jeden einzelnen Gedanken auszudrücken, mehr Wörter als das in Wirklichkeit der Fall ist. Wir sprechen nur in den notwendigen Andeutungen."

Wir müssen noch etwas tiefer in die innere Seite der Sprache eindringen. Die semantische Seite der Sprache ist lediglich die Ausgangsebene. Dahinter steht die Ebene der inneren Sprache. Ohne das richtige Verständnis der psychologischen Natur der inneren Sprache kann es keine Möglichkeit geben, die komplizierten Beziehungen des Gedankens zum Wort zu klären. Dieses Problem enthält wohl die verwickeltsten Fragen auf dem Gebiet des Denkens und Sprechens. Es verdient daher speziell untersucht zu werden. Wir wollen einige grundlegende Daten dieser Untersuchung mitteilen, da wir ohne sie die Beziehung zwischen Gedanke und Wort nicht verstehen könnten.

Die Verwirrung beginnt bei der terminologischen Unklarheit. Der Terminus "innere Sprache" wird in der Literatur auf die verschiedensten Erscheinungen angewandt. Daraus ergeben sich viele Mißverständniss, da sich die Autoren häufig über verschiedene Dinge streiten, die sie aber mit dem gleichen Terminus belegen. Es ist unmöglich, unter Wissen über die Natur der inneren Sprache in irgendein System zu fassen, wenn wir nicht vorher terminologische Klarheit schaffen. Da sich noch niemand dieser Aufgabe unterzogen hat, finden wir bei keinem Autor eine systematische Darstellung selbst einfacher Angaben über die Natur der inneren Sprache.

Der ersten Bedeutung dieses Terminus lag die Auffassung von der inneren Sprache als dem verbalen Gedächtnis zu Grunde. Ich kann ein auswendig gelerntes Gedicht rezitieren, aber ich kann es auch nur im Gedächtnis reproduzieren. Ebenso kann das Wort durch die Vorstellung davon oder durch ein Gedächtnisbild ersetzt werden wie jedes andere Ding. In diesem Fall unterscheidet sich die innere Sprache von der äußeren ebenso wie die Vorstellung von einem realen Ding.

So wurde die innere Sprache von den französischen Autoren aufgefaßt. Sie untersuchten, in welchen Gedächtnismustern - akustischen, optischen, motorischen und synthetischen - das Erinnern an Wörter erfolgt. Wie wir im folgenden sehen werden, bildet das sprachliche Gedächtnis ein Moment, das die Natur der inneren Sprache bestimmt. Aber es erschöpft diesen Begriff nicht und deckt sich nicht damit. Die älteren Autoren setzen stets die Reproduktion von Wörtern und die innere Sprache einander gleich. Es handelt sich jedoch um zwei verschiedene Prozesse.

Die  zweite Bedeutung der inneren Sprache wird gewöhnlich mit der Verkürzung des normalen Sprechakts in Verbindung gebracht. Als innere Sprache bezeichnet man in diesem Fall die nicht ausgesprochene, stumme Sprache, d.h. - nach den bekannten Definition MILLERs - Sprache minus Laut. Nach WATSON ist sie dasselbe wie die äußere Rede, nur ist sie nicht zu Ende geführt. BECHTEREW definierte sie als einen in seinem motorischen Teil nicht geäußerten sprachlichen Reflex. SETSCHENOW als einen nach zwei Drittel seines Weges abgebrochenen Reflex. Doch auch diese Auffassung kann nur ein Moment der inneren Sprache bezeichnen. Wörter lautlos aussprechen macht diese in keiner Weise zur inneren Sprache.

In letzter Zeit hat SCHILLING vorgeschlagen, innere Sprache und inneres Sprechen gegeneinander abzugrenzen; dabei wird mit letzterem Terminus der Inhalt bezeichnet, den die eben erwähnten Autoren dem Begriff der inneren Sprache beilegten. Von der inneren Sprache unterscheidet sich dieser Begriff quantitativ dadurch, daß er nur die aktiven, nicht aber die passiven Prozesse der Sprachtätigkeit umfaßt, und qualitativ dadurch, daß er die beginnende motorische Tätigkeit der sprachlichen Funktion bezeichnet, den die eben erwähnten Autoren dem Begriff der inneren Sprache beilegten.

Von der inneren Sprache unterscheidet sich dieser Begriff quantitativ dadurch, daß er nur die aktiven, nicht aber die passiven Prozesse der Sprachtätigkeit umfaßt, und qualitativ dadurch, daß er die beginnende motorische Tätigkeit der sprachlichen Funktion bezeichnet. Das innere Sprechen ist von diesem Standpunkt aus eine Teilfunktion der inneren Sprache, ein sprach-motorischer Akt mit Initialcharakter, dessen Impulse keinen Ausdruck in Artikulationsbewegungen finden oder sich in unklaren und lautlosen Bewegungen manifestieren, die die Denkfunktion begleiten, unterstützen oder hemmen.

Die  dritte und verschwommenste Auffassung gibt der inneren Sprache eine sehr breite Deutung. Wir wollen nicht ihre Geschichte, sondern kurz ihren gegenwärtigen Stand beschreiben, wie er aus vielen Arbeiten zu entnehmen ist.

Als innere Sprache bezeichnet GOLDSTEIN alles, was dem motorischen Sprechakt vorausgeht, die gesamte innere Seite der Sprache, in der er zwei Momente unterscheidet: erstens die innere sprachliche Form der Linguisten oder die Sprechmotive WUNDTs und zweitens ein nicht näher zu definierendes, nicht sensorisches oder motorisches, aber spezifisch sprachliches Erleben, das jeder zwar sehr gut kennt, das sich jedoch einer exakten Charakterisierung entzieht.

So vereint GOLDSTEIN im Begriff der inneren Sprache die gesamte innere Seite jeder Sprachtätigkeit, wirft die innere Sprache der französischen Autoren und den Wort-Begriff der deutschen in einen Topf und macht so die innere Sprache zum Mittelpunkt der ganzen Sprache. Die negative Seite der Definition trifft hier zu, nämlich, daß die sensorischen und motorischen Prozesse in der inneren Sprache von untergeordneter Bedeutung sind; verworren und daher unzutreffend aber ist die positive Seite.

Man muß sich dagegen wenden, daß der Hauptpunkt der ganzen Sprache einem intuitiven Erleben gleichgesetzt wird, das keiner funktionellen, strukturellen und überhaupt keiner objektiven Analyse zugänglich sei. Man muß sich auch gegen die Gleichsetzung dieses Erlebens mit der inneren Sprache wenden, in der die in einer psychologischen Analyse gut zu unterscheidenden einzelnen strukturellen Ebenen restlos untergehen.

Dieses sprachliche Erleben ist aller Sprachtätigkeit gemeinsam und kann daher nicht die spezifischen Funktionen der inneren Sprache bezeichnen. Wenn man konsequent GOLDSTEINs Standpunkt zu Ende denkt, wird man erkennen, daß seine innere Sprache überhaupt keine Sprache, sondern eine affektiv-willentliche und Denktätigkeit ist, da sie Sprachmotive und solche des sprachlich ausgedrückten Denkens enthält. Bestenfalls umfaßt sie in ungegliederter Form alle bis zum Augenblick des Sprechens ablaufenden Prozesse, d.h. die ganze innere Seite der äußeren Sprache.

Eine richtigere Auffassung muß davon ausgehen, daß die innere Sprache ein  seiner psychologischen Natur nach ein besonderes Gebilde, eine besondere Art der Sprachtätigkeit ist, die ihre spezifische Eigenart besitzt und in einer komplizierten Beziehung zu anderen Arten der Sprachtätigkeit steht. Um diese Beziehungen der inneren Sprache einerseits zum Denken und andererseits zum Wort zu ergründen, muß sie vom einen wie vom anderen unterschieden, muß ihre spezielle Funktion ermittelt werden.

Es ist nicht irrelevant, ob man zu sich selbst oder zu anderen spricht. Die innere Sprache ist eine Sprache für den Sprechenden selbst. Dieser grundlegende Unterschied zwischen der inneren und der äußeren Sprache kann nicht ohne Folge für die strukturelle Natur beider Sprachfunktionen bleiben. Es ist daher falsch, die innere Sprache von der äußeren nur dem Grade, aber nicht dem Wesen nach zu unterscheiden, wie JACKSON und HEAD das tun.

Es geht hier nicht um die Vokalisierung. Das Vorhandensein oder das Fehlen einer Vokalisation selbst begründet nicht die Natur der inneren Sprache, sondern ist deren Folge. In gewissem Sinne kann gesagt werden, daß die innere Sprache nicht der äußeren vorausgeht oder diese im Gedächtnis reproduziert, sondern der äußeren Sprache entgegengesetzt ist. Die äußere Sprache ist die Verwandlung eines Gedankens in Worte, ist seine "Materialisierung" und Objektivierung. Hier aber handelt es sich um einen entgegengesetzt verlaufenden Prozeß, der von außen nach innen verläuft, eine "Verdampfung" der Sprache in den Gedanken. Daraus ergibt sich auch die Struktur dieser Sprache mit allen Unterschieden von der Struktur der äußeren Sprache.

Die innere Sprache darf nicht als Sprache minus Zeichen betrachtet werden, sondern als eine in Aufbau und Ablauf besondere sprachliche Funktion, die wegen ihrer besonderen Qualität mit der äußeren Sprache in einer unlösbaren dynamischen Einheit des Übergangs von einer Ebene in die andere steht. Die erste Eigenart der inneren Sprache ist ihre ganz spezielle Syntax. Bei der Untersuchung der Syntax der inneren Sprache in der egozentrischen Sprache des Kindes fanden wir eine Tendenz, die in der scheinbaren Zusammenhanglosigkeit, dem fragmentarischen Charakter und der Verkürzung der inneren Sprache im Vergleich zur äußeren.

Im Grunde ist diese Beobachtung nicht neu. Alle Autoren, die die innere Sprache, und sei es vom Standpunkt des Behaviorismus wie WATSON untersucht haben, sind auf diesen wesentlichen Zug der inneren Sprache eingegangen. Nur Autoren, die die innere Sprache auf eine Reproduktion der äußeren Sprache in Gedächtnisbilder reduzieren, betrachten sie als Abspiegelung der äußeren. Aber über diese deskriptiven Feststellungen ist unseres Wissens niemand hinausgegangen. Es hat sogar niemand eine gründliche deskriptive Analyse dieses Phänomens der inneren Sprache vorgenommen, so daß eine ganze Reihe verschiedener Phänomene in einen Topf geworfen wurde, weil sie in ihrer äußeren Erscheinung, in der Zusammenhanglosigkeit und dem fragmentarischen Charakter ihren gemeinsamen Ausdruck finden.

Wir haben versucht, auf genetischem Wege das Wesen der inneren Sprache zu ergründen und ihre Erscheinungen zu erklären. Angeregt durch die Erscheinung der Verkürzung beim Erwerb von Fertigkeiten glaubt WATSON, daß das gleiche auch beim lautlosen Sprechen und Denken eintritt. Selbst wenn wir alle verborgenen Prozesse sichtbar machen oder sie auf einer empfindlichen Schallplatte registrieren könnten, gäbe es darin noch so viele Verkürzungen, Kurzschlüsse und Einsparungen, daß sie nicht wiederzuerkennen wären, wenn man sie nicht vom sozialen Ausgangspunkt bis zu ihrem individuellen Endstadium verfolgt. Die innere Sprache wäre also, selbst wenn wir sie auf einer Schallplatte aufzeichnen könnten, im Vergleich zur inneren verkürzt, fragmentarisch, zusammenhanglos und unverständlich.

Eine ganz analoge Erscheinung ist in der egozentrischen Sprache des Kindes zu beobachten, nur mit dem Unterschied, daß sie anwächst, von einer Altersstufe in die andere übergeht und in dem Maße, wie sich die egozentrische Sprache der inneren nähert, an der Schwelle des Schulalters ihr Maximum erreicht. Ihr Anwachsen läßt keinen Zweifel darüber, daß sie, verlängert man diese Kurve weiter, schließlich völlig unverständlich, bruchstückhaft und verkürzt erscheinen muß.

Der Vorteil der Untersuchung der egozentrischen Sprache besteht gerade darin, daß wir Schritt für Schritt verfolgen können, wie diese Eigenarten der inneren Sprache stufenweise entstehen. Die egozentrische Sprache ist auch, wie bereits PIAGET bemerkte, unverständlich, wenn man nicht die Situation kennt, in der sie entsteht, und im Vergleich zur äußeren Sprache fragmentarisch und verkürzt.

Die genetische Untersuchung zeigt unmittelbar, wie und woraus die Verkürzung entsteht. In Form eines allgemeinen Gesetzes, könnten wir sagen, daß die egozentrische Sprache, in dem Maße, wie sie sich entwickelt, nicht eine einfache Tendenz zur Verkürzung des Satzes unter Beibehaltung des Prädikats und der dazu gehörigen Wörter auf Kosten der Auslassung des Subjekts und der dazugehörigen Wörter.

Diese Tendenz zum prädikativen Charakter der Syntax der inneren Sprache zeigt sich in allen unseren Versuchen mit einer strengen und fast ausnahmslosen Regelmäßigkeit, so daß wir schließlich zuletzt unter Verwendung der Interpolationsmethode den reinen und absoluten prädikativen Charakter als syntaktische Grundform der inneren Sprache annehmen müssen.

Um sich dies klarzumachen, muß man ein analoges Bild verwenden, das unter bestimmten Umständen in der äußeren Sprache entsteht. Der rein prädikative Charakter entsteht in der äußeren Sprache in zwei Hauptfällen: entweder in der Situation der Antwort oder in einer Situation, bei der das Subjekt des ausgesagten Urteils den Gesprächspartnern im voraus bekannt ist. Auf eine Frage, ob man ein Glas Tee wünsche, wird niemand mit dem vollen Satz antworten: "Nein, ich möchte kein Glas Tee haben", sondern die Antwort wird rein prädikativ lauten: "Nein". Sie wird nur das Prädikat enthalten.

Offensichtlich ist ein solcher rein prädikativer Satz nur deshalb möglich, weil sein Subjekt - das, worüber in diesem Satz etwas ausgesagt wird -, von den Gesprächspartnern hinzugedacht wurde. Genau so wird auf die Frage: "Hat ihr Bruder dieses Buch gelesen" niemals die Antwort folgen: "Ja, mein Bruder hat dieses Buch gelesen", sondern die rein prädikative Antwort: "Ja", oder "Jawohl".

Ganz analog ist die Situation auch im zweiten Fall, bei der das Subjekt des ausgesagten Urteils den Gesprächspartnern von vornherein bekannt ist. Stellen wir uns vor, daß einige Leute an der Haltestelle auf die Straßenbahn warten, um in eine bestimmte Richtung zu fahren. Niemals wird jemand von diesen Leuten, wenn er die nahende Straßenbahn bemerkt hat, in voller Form sagen: "Die Straßenbahn B, auf die wir warten, um da oder dort hinzufahren, kommt", sondern die Aussage wird stets auf das Prädikat verkürzt werden: "Sie kommt" oder "Die B."

Offensichtlich ist in diesem Fall der rein prädikative Satz in der lebendigen Sprache entstanden, weil das Subjekt und die dazu gehörigen Wörter unmittelbar aus der Situation bekannt waren, in der sich die Gesprächspartner befanden. Häufig geben derartige prädikative Aussagen Anlaß zu komischen Mißverständnissen, weil der das ausgesagte Prädikat nicht auf das Subjekt bezieht, das der Sprechende meinte, sondern das seiner eigenen Gedanken.

In diesen beiden Fällen entsteht der rein prädikative Charakter dort, wo das Subjekt der Aussage in den Gedanken des Gesprächspartners enthalten ist. Wenn beider Gedanken übereinstimmen und ein und dasselbe meinen, ist die Verständigung mit Hilfe der Prädikaten allein vollkommen. Wenn sich das Prädikat in ihren Gedanken auf verschiedene Subjekte bezieht, so führt das unweigerlich dazu, daß sie einander nicht verstehen.

Sinnfällige Beispiele für solche Verkürzungen der äußeren Sprache und für ihre Reduktion auf die Prädikate allein finden wir in den Romanen TOLSTOIs, der wiederholt auf die Psychologie des Verstehens eingegangen ist.
"Niemand hatte deutlich gehört, was er (der sterbende Nikolai Lewin) gesagt hatte, nur Kitty hatte erfaßt, was er meinte. Sie hatte es verstanden, weil ihre Gedanken fortwährend darauf gerichtet waren, was er wohl gerade nötig haben möge". Wir könnten sagen, daß in ihrem Denken, das dem Denken der Sterbenden folgte, dasjenige Subjekt war, auf das sich sein von niemand verstandenes Wort bezog. Das bemerkenswerteste Beispiel dürfte jedoch Kittys und Lewins Liebeserklärung mit Hilfe der Anfangsbuchstaben von Wörtern sein.

"Ich wollte Sie schon lange etwas fragen" ... "Fragen Sie, bitte!" "Bitte sehen Sie her", sagte er und schrieb folgende Anfangsbuchstaben: A, S, m, a; E, k, n, s, b, d, n, o, n, d? Diese Buchstaben bedeuteten: "Als Sie mir antworteten:  Es kann nicht sein, bedeutete das  niemals oder nur  damals?" Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie diesen langen Satz sollte verstehen können... "Ich habe es verstanden", sagte sie endlich errötend. "Was ist das für ein Wort?" fragte er und zeigte das n, das  niemals bedeutete.

"Dieses Wort heißt  niemals", antwortete sie. "Aber dieses Wort sagt nicht die Wahrheit." Er wischte das Geschriebene schnell weg, reichte ihr die Kreide und schrieb mit solcher Erregung, daß er die Kreide dabei zerbrach, die Anfangsbuchstaben folgender Sätze hin: "Ich habe nicht zu vergeben und zu vergessen; ich liebe Sie noch unverändert."

Sie sah ihn mit regungslosem Lächeln an.

"Ich habe verstanden", flüsterte sie.

Er setzte sich hin und schrieb einen langen Satz. Sie verstand alles, und ohne zu fragen, ob sie auch alles richtig aufgefaßt habe, nahm sie die Kreide und antwortete sofort.

Er konnte das, was sie geschrieben hatte, trotz längerer Bemühung nicht verstehen und blickte ihr oft in die Augen. Er war von seinem Glück ganz benommen und schlechterdings nicht imstande, für die Anfangsbuchstaben die Worte einzusetzen, die sie gemeint hatte; aber in ihren reizenden, glückstrahlenden Augen las er alles, was er zu wissen brauchte. Und nun schrieb er drei Buchstaben. Aber er hatte noch nicht zu Ende geschrieben, als sie schon das Geschriebene hinter seiner Hand las, es selbst zu Ende brachte und auch gleich die Antwort dazu schrieb: "Ja" ...

In ihrem Gespräch war alles Erforderliche gesagt worden; es war gesagt worden, "daß sie ihn liebe und ihrem Vater und ihrer Mutter sagen wollte, daß er morgen vormittag hinkommen werde." (1)
Dieses Beispiel ist von außergewöhnlicher psychologischer Bedeutung, weil es wie die ganze Episode der Liebeserklärung Lewins und Kittys aus TOLSTOIs eigener Biographie entnommen ist. Genau so erklärte er SOPHIA ANDREJEWNA BEHRS seiner späteren Frau, seine Liebe. Dieses Beispiel steht, ebenso wie das vorige, in engster Beziehung zum Problem der Verkürzung. Bei Gleichartigkeit der Gedanken der Gesprächspartner, bei gleicher Bewußtseinslage sind sprachliche Äußerungen auf ein Minimum reduziert. Aber dennoch verstehen sie sich fehlerlos. TOLSTOI macht in einem anderen Werk darauf aufmerksam, daß zwischen Menschen, die in einem sehr engen Kontakt stehen, ein solches Verstehen mit Hilfe einer verkürzten Sprache auf Andeutungen hin eher die Regel als die Ausnahme darstellt.
"Lewin war bereits daran gewöhnt, jetzt ohne weiteres seine Gedanken auszusprechen, ohne sich die Mühe zu machen, sie in exakte Worte zu kleiden: er wußte, daß seine Frau in solchen Augenblicken der Liebe wie jetzt aus Andeutungen verstehen wird, was er sagen will; und sie verstand ihn."
Die Untersuchung derartiger Verkürzungen in der dialogischen Sprache führte JAKUBINSKI zu dem Schluß, daß das Verstehen durch Mutmaßungen und dementsprechende Äußerungen in Andeutungen, falls man weiß, worum es sich handelt, im sprachlichen Umgang eine sehr große Rolle spielt. Das Verstehen der Sprache erfordert, daß man weiß, wovon die Rede ist. POLIWANOW sagt hierzu:
"Im Grunde braucht alles, was wir sagen, einen Zuhörer, der versteht, worum es geht. Wenn alles, was wir sagen wollen, in den formalen Bedeutungen der benutzten Wörter enthalten wäre, dann bräuchten wir, um jeden einzelnen Gedanken auszudrücken, mehr Wörter als das in Wirklichkeit der Fall ist. Wir sprechen nur in den notwendigen Andeutungen."
JAKUBINSKI hat recht, daß es sich bei den Verkürzungen um eine Eigenart der syntaktischen Struktur der Sprache handelt, um ihre objektive Einfachheit im Vergleich zu einem diskursiveren Sprechen. Der vereinfachte Charakter der Syntax, das Minimum an syntaktischer Gliederung, die Äußerung eines Gedankens in verdichteter Form, die bedeutend geringere Anzahl der Wörter, all das sind Züge, die die Tendenz zum prädikativen Charakter kennzeichnen, die in der äußeren Sprache in bestimmten Situationen in Erscheinung tritt.

Das Gegenteil des Verstehens bei vereinfachter Syntax sind die bereits erwähnten komischen Fälle des Nichtverstehens, wie auch die bekannte Parodie auf das Gespräch zweier Gehörloser, von denen jeder in seinen Gedanken völlig vom anderen isoliert ist.
"Ein Tauber brachte einen anderen Tauben vor einen tauben Richter.
Der Taube schrie: "Er hat mir meine Kuh gestohlen!"
"Aber ich bitte dich", schrie ihm der andere als Antwort ins Gesicht:
"Dieses Ödland besaß ja schon mein Großvater selig!"
Der Richter entschied: "Warum fällt hier ein Bruder über den andern her?"
Weder den einen, noch den anderen, sondern das Mädchen trifft die Schuld."
Stellt man diese zwei extremen Fälle - Kittys und Lewins Liebeserklärung und die Gerichtsverhandlung der Gehörlosen - einander gegenüber, dann lassen sich die beiden Pole finden, zwischen denen sich die Verkürzungen der äußeren Sprache bewegen. Wenn es ein gemeinsames Subjekt in den Gedanken der Gesprächspartner gibt, verstehen sie sich voll und ganz mit Hilfe einer maximal verkürzten Sprache mit einer extrem vereinfachten Syntax; im entgegengesetzten Fall kommt es selbst bei einer ausführlichen Sprache zu keinem gegenseitigen Verstehen.

Es gelingt ebenso zwei Gehörlosen nicht, sich zu einigen, wie auch nicht zwei Menschen, die ein und demselben Wort einen verschiedenen Inhalt beilegen oder verschiedene Standpunkte vertreten. Wie TOLSTOI sagt, sind alle Menschen, die originell und einsam denken, schwer aufnahmefähig gegenüber anderen Gedanken und besonders eingenommen für ihre eigenen. Dagegen können sich Menschen, die Kontakt miteinander haben, in Andeutungen verständigen, die TOLSTOI als eine lakonisch und klare, fast wortlose Mitteilung der kompliziertesten Gedanken bezeichnete.

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Nachdem wir die Verkürzung in der äußeren Sprache an diesen Beispielen untersucht haben, können wir zu dem gleichen Problem in der inneren Sprache zurückkehren. Hier taucht dieses Problem immer auf, wenn die innere Sprache in Funktion tritt. Seine Bedeutung wird endgültig klar werden, wenn wir in dieser Hinsicht die äußere Sprache mit der geschriebenen und mit der inneren Sprache vergleichen.

Nach POLIWANOW würden wir zum Ausdruck jedes einzelnen Gedankens weitaus mehr Wörter als in Wirklichkeit vorhanden sind benötigen, wenn alles, was wir ausdrücken wollen, in den formalen Bedeutungen der von uns benutzten Wörter enthalten wäre. Dieser Fall tritt in der geschriebenen Sprache ein. Dort wird der auszudrückende Gedanke in weitaus größerem Maße als in der mündlichen in den formalen Bedeutungen der benutzten Wörter ausgedrückt. Die geschriebene Sprache ist eine Sprache ohne Gesprächspartner. Darum ist sie eine maximal entwickelte; die syntaktische Gliederung erreicht damit ihr Maximum.

In dieser Sprache wird auf Grund der Trennung vom Gesprächspartner eine Verständigung durch Andeutungen und prädikative Aussagen selten möglich. Die Gesprächspartner befinden sich bei der geschriebenen Sprache in verschiedenen Situationen, was die Möglichkeit eines gemeinsamen Subjekts in ihren Gedanken ausschließt. Daher ist die geschriebene Sprache im Vergleich zur mündlichen eine maximal entwickelte und syntaktisch komplizierte Sprachform, in der wir zum Ausdruck jedes einzelnen Gedankens weitaus mehr Wörter benötigen als in der mündlichen.

Wie THOMPSON sagt, werden in einer schriftlichen Darstellung gewöhnlich Wörter und Konstruktionen gebraucht, die in der mündlichen Sprache unnatürlich erscheinen würden. GRIBOJEDOWs "und spricht wie er schreibt" zielt auf diese Komik der Übertragung der wortreichen, syntaktisch kompliziert konstruierten geschriebenen Sprache in die mündliche ab. Die geschriebene Sprache ist eine  monologische Form der Sprache. Die mündliche dagegen in den meisten Fällen  dialogisch. 

Der Dialog setzt voraus, daß die Gesprächspartner den Kern der Sache kennen, was eine ganze Reihe von Verkürzungen gestattet, und in bestimmten Situationen zur Entstehung von rein prädikativen Aussagen führt. Der Dialog setzt stets die Wahrnehmung des Gesprächspartners, seiner Mimik, seiner Gesten und der Intonationsseite der Sprache voraus. Das ermöglicht jene Verständigung durch Andeutungen, jene Kommunikation durch Anspielungen, für die wir oben Beispiele angeführt haben. Nur in der mündlichen Sprache ist ein Gespräch möglich, das nach TARDE lediglich eine Ergänzung der einander zugeworfenen Blicke ist.
LITERATUR - Lew S. Wygotski, Denken und Sprechen, Berlin 1906
    Anmerkungen
  1. Tolstoi, Anna Karenina, Berlin 1959