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LEW SEMJONOWITSCH WYGOTSKI
Denken und Sprechen
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Ursprung des Denkens und Sprechens
Experimente zur Begriffsentwicklung
Die kindliche Begriffsentwicklung
Gedanke und Wort
Die innere Sprache
"Ein Wort bezieht sich niemals auf irgendeinen einzelnen Gegenstand, sondern auf eine ganze Gruppe oder eine ganze Klasse von Gegenständen. Infolgedessen bildet jedes Wort eine indirekte Verallgemeinerung; jedes Wort verallgemeinert also bereits.

Forschungsprobleme und Forschungsmethoden

Das Problem des Denkens und der Sprache gehört zum Kreis der psychologischen Probleme, bei denen die Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen psychologischen Funktionen und verschiedenen Arten der Bewußtseinstätigkeit in den Vordergrund tritt. Im Vordergrund steht natürlich die Frage nach dem  Verhältnis zwischen Gedanke und Wort. 

Das Problem des Denkens und der Sprache - es ist genau so alt wie die Wissenschaft der Psychologie selbst - ist gerade in diesem Punkt, in der Frage nach dem Verhältnis zwischen Gedanke und Wort, am wenigsten geklärt. Die atomistische und die Funktionsanalyse, die in der wissenschaftlichen Psychologie im letzten Jahrzehnt vorherrschte, führten dazu, daß die einzelnen psychologischen Funktionen isoliert betrachtet wurden und daß psychologische Methoden zur Untersuchung dieser isolierten Prozesse erarbeitet und vervollkommnet wurden, während das Problem ihrer Organisation in einer ganzheitlichen Struktur des Bewußtseins, außerhalb der Betrachtung der Forscher blieb.

Man muß zwei Arten der Analyse in der Psychologie unterscheiden. Die eine ist unserer Meinung nach an allen bisherigen Fehlschlägen schuld, dieses jahrhundertealte Problem zu lösen. Die andere dagegen eignet sich gut, um zumindest den ersten Schritt zur Lösung zu tun.

Man könnte die erste Art psychologischer Analyse als Zerlegung des komplizierten psychologischen Ganzen in seine  Elemente  bezeichnen und mit der chemischen Analyse des Wassers in Wasserstoff und Sauerstoff vergleichen. Wesentliches Merkmal einer solchen Analyse ist es, daß ihre Ergebnisse dem zu analysierenden Ganzen fremd sind - d.h. Elemente sind, die der Merkmale entbehren, die dem Ganzen eigen sind, dagegen aber eine ganze Reihe neuer Eigenschaften aufweisen, die das Ganze niemals besaß.

Wer die Sprache und das Denken der Elemente behandelt, dem geht es genauso wie einem Menschen, der etwa auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung bestimmter Eigenschaften des Wassers - zum Beispiel: Warum löscht Wasser Feuer, oder warum gilt das Archimedische Prinzip? - bei der Analyse des Wassers in Sauerstoff und Wasserstoff anlangt. Er würde mit Erstaunen erkennen, daß Wasserstoff selbst brennt und Sauerstoff den Verbrennungsprozeß unterstützt; er wäre aber nie in der Lage, aus solchen Eigenschaften die dem Ganzen eigenen Merkmale zu erklären.

Genauso vergeblich bemühte sich die Psychologie, wenn sie das sprachliche Denken in solche einzelnen Elemente zerlegte. Die für das Ganze charakteristischen Eigenschaften hätten sich bei der Analyse verflüchtigt, und es bliebe nichts anderes übrig, als eine äußere mechanische Verbindung zwischen den Elementen zu suchen, um so rein intellektuell die bei der Analyse verlorengegangenen Eigenschaften zu rekonstruieren.

Im Prinzip ist eine solche Analyse keine Analyse im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern eher eine erkenntnisvermittelnde Methode, die in entgegengesetzter Richtung zur Analyse verläuft. Denn die chemische Formel des Wassers, die sich auch auf alle seine Eigenschaften bezieht, trifft in gleichem Maße auf seine verschiedensten Formen zu, auf den Stillen Ozean wie auf einen Regentropfen. Deshalb kann die Auflösung von Wasser in seine Elemente nicht der Weg sein, der uns seine konkreten Eigenschaften erklären kann. Es ist eher ein Weg,  der zum Allgemeinen hinführt,  als eine Analyse, d.h. eine Gliederung im eigentlichen Sinne des Wortes.

Wir sind der Meinung, daß eine entscheidende Wende in der Lehre von Denken und Sprache in einem Übergang von der bisher erläuterten Analyse zu einer anderen besteht. Diese könnten wir als eine Analyse bezeichnen, bei der das komplizierte einheitliche Ganze  in Teileinheiten  organisiert wird.

Darunter verstehen wir ein Produkt der Analyse, das zum Unterschied von den Elementen über  alle Eigenschaften  verfügt, die  dem Ganzen eigen  sind, und die weiter nicht zerlegbare lebendige Teile dieses einheitlichen Ganzen darstellen. Nicht die chemische Formel des Wassers, sondern das Studium der Moleküle und der Molekularbewegung erklärt die einzelnen Eigenschaften des Wassers. Ebenso ist die lebendige Zelle, die alle Hauptmerkmale des Lebens in sich birgt, welche dem lebendigen Organismus eigen sind, eine echte Teileinheit als Ergebnis der biologischen Analyse.

Gerade die Psychologie sollte die Methoden der Zerlegung in Elemente durch eine auf die Gliederung in Teileinheiten bezogene Analyse ersetzen. Sie sollte die Einheiten mit Merkmalen des betreffenden Ganzen herausfinden, also die Teileinheiten, in denen diese Merkmale in anderer Art in Erscheinung treten, und mit Hilfe einer solchen Analyse bestrebt sein, die vor ihr auftauchenden konkreten Fragen zu lösen. Wir sind der Meinung, daß eine solche Teileinheit in der Bedeutung eines Wortes gegeben ist.

Diese innere Seite des Wortes wurde bisher kaum speziell untersucht. Die Wortbedeutung hat sich in dem Meer aller übrigen Vorstellungen oder Gedanken unseres Bewußtsein ebenso aufgelöst, wie sich die Laute, die der Bedeutung beraubt wurden, im Meer aller übrigen Naturlaute verloren haben. So verhielt es sich in der Assoziationspsychologie, und so verhält es sich grundsätzlich auch in der neueren Strukturpsychologie. Uns war an einem Wort lediglich seine äußere, uns zugewandte Seite bekannt. Die innere Seite, seine Bedeutung blieb, bis in unsere Zeit weitgehend unbekannt. Dabei bietet gerade sie die Möglichkeit, die uns interessierenden Probleme zu lösen, denn in der Wortbedeutung ist die Teileinheit verankert, die wir  sprachliches Denken  nennen.

Ein Wort bezieht sich niemals auf irgendeinen einzelnen Gegenstand, sondern auf eine  ganze Gruppe oder eine ganze Klasse von Gegenständen.  Infolgedessen bildet jedes Wort eine indirekte Verallgemeinerung; jedes Wort verallgemeinert also bereits. Doch die Verallgemeinerung ist in überaus starkem Maße ein  wortgebundener Akt des Gedankens , der die Wirklichkeit völlig anders widerspiegelt, als sie in den unmittelbaren Empfindungen und Wahrnehmungen wiedergegeben wird.

Die Auffassung eines dialektischen Sprungs von der Empfindung zum Gedanken will zum Ausdruck bringen, daß das Denken die Wirklichkeit qualitativ anders widerspiegelt als die unmittelbare Empfindung. Wahrscheinlich ist es völlig berechtigt zu behaupten, daß diese qualitative Unterscheidung der Teileinheit im Wesen die  verallgemeinerte Widerspiegelung der Wirklichkeit  ist. Folglich stellt die Wortbedeutung in ihrer Verallgemeinerung einen Denkakt im eigentlichen Sinnes des Wortes dar.

Doch gleichzeitig ist die Bedeutung ein integrierender Teil des Wortes als solches, sie gehört in gleichem Maße zum Sprach- wie zum Denkbereich. Ein Wort ohne Bedeutung ist kein Wort, sondern ein leerer Klang. Ein Wort, das seine Bedeutung verloren hat, gehört bereits nicht mehr zur Sprache. Deshalb kann die Bedeutung auch in gleichem Maße als eine ihrer Natur nach sowohl sprachliche als auch gedankliche Erscheinung betrachtet werden. Von der Wortbedeutung kann man nicht in der gleichen Weise sprechen wie von den einzelnen Elementen des Wortes. Was stellt sie dar? Sprache und Denken? Sie ist gleichzeitig Sprache und Denken, weil sie eine  Teileinheit des sprachlichen Denkens  verkörpert. Wenn es sich so verhält, dann kann unsere Methode nur in der semantischen Analyse bestehen, als  Methode des Studiums der Wortbedeutung .

Die Kommunikation, die auf rationaler Erkenntnis und der bewußten Wiedergabe eines Gedankens oder von Erlebnissen beruht, erfordert immer ein  System von Mitteln,  dessen Prototyp die menschliche Sprache ist und die aus dem Bedürfnis heraus entstand, sich im Arbeitsprozess zu verständigen. Doch entsprechend den in der Psychologie üblichen Ansichten wurde dieses Thema bis in die jüngste Zeit in zu vereinfachter Form dargestellt. Man nahm an, daß Zeichen, Wort und Laut Kommunikationsmittel seien. Dieser Fehler beruhte auf der bei der Lösung des ganzen Sprachproblems falsch angewandten Analyse im Sinne der Auflösung in Elemente.

Das Wort stellt in der Kommunikation hauptsächlich nur die äußere Seite der Sprache dar, wobei angenommen wurde, daß die Lautfolge als solche sich mit jedem beliebigen Erlebnis, mit jedem Inhalt des psychischen Lebens assoziieren und infolgedessen diesen Inhalt oder dieses Erlebnis einem anderen Menschen übermitteln kann.

Eingehendere Untersuchungen über Fragen des Umgangs, über das Verstehen und der Entwicklung im Kindesalter zeigten jedoch, daß ein Verkehr ohne Zeichen ebenso unmöglich ist wie ein Verkehr ohne Bedeutungen. Um irgendein Erlebnis oder einen Bewußtseinsinhalt einem anderen Menschen mitzuteilen, gibt es nur den Weg, den wiederzugebenden Inhalt einer bestimmten Klasse bzw. einer bestimmten Gruppe von Erscheinungen zuzuordnen. Das setzt, wie bereits bekannt, stets eine  Verallgemeinerung und somit die Entwicklung der Wortbedeutung voraus.  Folglich sind die höheren, dem Menschen eigenen Formen des Verkehrs nur dadurch möglich, daß der Mensch denkend die Wirklichkeit verallgemeinert widerspiegelt.

Ein Beispiel für diesen Zusammenhang zwischen Verkehr und Verallgemeinerung: Ich möchte jemandem mitteilen, daß mir kalt ist. Das kann ich ihm mit Hilfe einer Reihe von Gesten zu verstehen geben; aber ein wirkliches Verstehen und Mitteilen wird erst dann möglich sein, wenn ich das Erlebnis verallgemeinern und benennen kann, d.h. wenn ich imstande bin, das von mir erlebte Kältegefühl einer bestimmten Klasse von Zuständen zuzuordnen, die meinem Gesprächspartner bekannt sind.

Daher ist das Ganze nicht mitteilbar für Kinder, die noch keine bestimmten Verallgemeinerungen besitzen. Es fehlen hier nicht entsprechende Wörter und Laute, sondern die entsprechenden Begriffe und Verallgemeinerungen, ohne die ein Verstehen eben unmöglich ist. Nach TOLSTOI ist meistens nicht das Wort selbst unverständlich, sondern der durch das Wort ausgedrückte Begriff. Das Wort ist fast immer vorhanden, wenn der Begriff vorhanden ist. Darum können wir die Wortbedeutung nicht nur als die  Einheit von Denken und Sprechen  betrachten, sondern auch als die  Einheit der Verallgemeinerung  und des Verkehrs, der Kommunikation und des Denkens.

Die Bedeutung dieser Fragestellung für alle genetischen Probleme des Denkens und Sprechens ist gar nicht abzusehen. Sie besteht vor allem darin, daß nur mit dieser Annahme erstmalig eine  Kausalanalyse der Entstehung von Denken und Sprechen  ermöglicht wird. Wir beginnen den wirklichen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des kindlichen Denkens und der sozialen Entwicklung des Kindes erst dann zu verstehen, wenn wir die Einheit von Verkehr und Verallgemeinerung sehen lernen. Beide Probleme, das Verhältnis des Gedankens zum Wort und das Verhältnis der Verallgemeinerung zum Verkehr, müssen also auch Gegenstand unserer Untersuchungen sein.


Ursprung des Denkens und Sprechens

Bei der genetischen Betrachtung des Denkens stößt man immer wieder darauf, daß die  Beziehungen  zwischen diesen Prozessen während der gesamten Entwicklungsdauer nicht konstant sind, sondern sich sowohl in ihrer quantitativen als auch in ihrer qualitativen Bedeutung wandeln. Die Entwicklung des Sprechens erfolgt also nicht parallel, sondern vollzieht sich ungleichmäßig. Ihre Entwicklungslinien laufen zusammen und wieder auseinander, überschneiden sich, gleichen sich in einigen Perioden an, decken sich stellenweise sogar in ihrem Verlauf und verzweigen sich dann wieder. Das gilt sowohl für die Phylo- als auch für die Ontogenese.

Genetisch haben Denken und Sprechen völlig verschiedene Ursprünge. Dies kann durch eine ganze Reihe von tierpsychologischen Untersuchungen als belegt gelten. Die Entwicklung dieser oder jener Funktion hat nicht nur verschiedenen Ursprung, sondern nimmt auch im gesamten Tierreich einen verschiedenen Verlauf.

Dafür sprechen wesentlich Untersuchungen über die Intelligenz und die Sprache der Menschenaffen, besonders die Anhandlungen von KÖHLER und YERKES.

W.M. BOROWSKI fragt sich bei seiner Stellungnahme gegen die Ansicht von L.T. HOBHOUSE, der den Tieren ein "praktisches Urteil" zuschreibt, und gegen die von YERKES, der bei den höheren Affen Prozesse einer "Ideation" findet.
"Gibt es bei den Tieren etwas den sprachlichen Fertigkeiten des Menschen Ähnliches? ... Mir scheint, es wäre insgesamt richtiger zu sagen, daß es bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse keinen ausreichenden Grund gibt, den Affen oder irgendwelchen anderen Lebewesen außer dem Menschen sprachliche Fertigkeiten zuzuschreiben." (1)
Das Problem wäre einfach zu lösen, wenn wir bei den Affen keine Rudimente einer Sprache und nichts fänden, was zu ihr in einem entwicklungsgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnis stände. Tatsächlich finden wir aber bei den Schimpansen eine relativ hochentwickelte "Sprache", die in mancher Beziehung (am ehesten in phonetischer) auch bis zu einem gewissen Grade menschenähnlich ist.

Bemerkenswert ist wieder, daß die Sprache des Schimpansen unabhängig von seiner Intelligenz besteht. KÖHLER schreibt über die "Sprache" der Schimpansen, die er jahrelang auf der Anthropoiden-Station der Insel Teneriffa beobachtete:
"Daß ihre  phonetischen  Äußerungen ohne jede Ausnahme  subjektive  Zustände und Strebungen ausdrücken; also sogenannte Affektlaute sind und niemals Zeichnung oder Bezeichnung von Gegenständlichem anstreben, ist schlechthin gesichert." (2)
Wir finden in der Phonetik der Schimpansen eine so große Zahl von Lautelementen, die der menschlichen Phonetik ähnlich sind, daß man mit Sicherheit annehmen darf, daß das Fehlen einer "menschenähnlichen" Sprache bei den Schimpansen nicht mit peripheren Ursachen zu erklären ist. Der Hinweis von DELACROIX, der KÖHLERs Schluß für absolut richtig hält, ist durchaus berechtigt, daß Gebärden und Mimik der Affen - gewiß nicht aus peripheren Ursachen - in keiner Weise erkennen lassen, daß sie irgendetwas Gegenständliches zum Ausdruck bringen, d.h.  die Funktion eines Zeichens ausüben  könnten (3).

Der Schimpanse ist ein Gemeinschaftstier, sein Verhalten ist nur dann wirklich zu verstehen, wenn er mit anderen zusammen ist. KÖHLER hat die vielfältigsten Formen der "sprachlichen Kommunikation" unter Schimpansen beschrieben. An erster Stelle stehen die markanten und reichen emotionalen Ausdrucksgebärden (Mimik und Gebärden, lautliche Reaktionen). Dann folgen die sozialen Ausdrucksgebärden (Gesten der Begrüßung usw.). Aber sowohl "ihre Gesten", schreibt KÖHLER, "als auch ihre expressiven Laute bezeichnen und beschreiben nie irgend etwas Objektives."

Die Tiere "verstehen" untereinander ihre Mimik und Gebärden ausgezeichnet. Mit Hilfe von Gebärden "bringen" sie ihren Gefühlszustand "zum Ausdruck", wie KÖHLER sagt, und verstehen auch den Ausdruck der "Wünsche und Triebe ohne weiteres, sowohl wenn diese dynamischen Ansätze oder Vorgänge sich vom Schimpansen auf seinesgleichen, wie wenn sie sich auf andere Wesen oder Dinge richten."

Das in diesen Fällen verbreitetste Verfahren besteht darin, daß der Schimpanse eine beabsichtigte Bewegung oder Handlung andeutet, zu denen er ein anderes Tier veranlassen möchte (er stößt z.B. ein anderes Tier an und macht die ersten Gehbewegungen vor, wenn er "bittet", mit ihm zu gehen; der macht Greifbewegungen, wenn er von einem anderen eine Banane haben möchte usw.). Das sind Gebärden, die  unmittelbar  mit den Handlungen selbst verbunden sind.

Diese Beobachtungen bestätigen den Gedanken WUNDTs, daß die  hinweisende  Gebärde "Beim Tiere kaum vorkommt oder höchstens auf eine Art Zwischenstufe zwischen der ursprünglichen Greifbewegung und der hinweisenden Bewegung stehengeblieben ist" (4). Wir neigen dazu, in dieser  Übergangsgebärde  einen genetisch wichtigen Schritt von der rein emotionalen zur objektiven Sprache zu sehen.

KÖHLER weist an anderer Stelle darauf hin, daß mit Hilfe derartiger Gebärden eine primitive Belehrung vorgenommen werden kann, die eine Verbalinstruktion ersetzt (5). Diese Gebärde steht der menschlichen Sprache  näher , als die direkte Befolgung der verbal erteilten Befehle der spanischen Wörter durch die Affen, die sich im Grunde durch nichts von der Befolgung durch Hunde unterscheiden (Come! - Friß! Entra - Komm herein! usw.)

Die Schimpansen, die KÖHLER beim Spielen beobachtete, "malten" mit farbigem Ton, wobei sie zuerst Lippen und Zunge als Pinsel benutzten und dann einen richtigen Pinsel nahmen (6); aber die Tiere, die in der Regel die von ihnen in ernsten Situationen (in Experimenten) erarbeiteten Verhaltensweisen (Gebrauch von Werkzeugen) ins Spiel und umgekehrt Verfahren des Spiels in das "Leben" übertrugen, ließen nie erkennen, daß sie beim Malen ein Zeichen schaffen. "... aber daß je ein Schimpanse", sagt BÜHLER, "den Fleck einer zerdrückten Beere irgendwie als ein graphisches Zeichen gedeutet hätte, ist nach dem, was wir wissen, unwahrscheinlich". (7)

Dies ist nach BÜHLER von allgemeiner Bedeutung für die richtige Beurteilung des "menschenähnlichen" Verhaltens der Schimpansen.
"Doch gibt es Tatsachen, die vor einer Überschätzung der Schimpansenleistung warnen. Man weiß, daß noch nie ein Forschungsreisender Gorillas oder Schimpansen mit Menschen verwechselt hat, man hat noch keinerlei traditionelle Werkzeuge oder von Volk zu Volk wechselnde Verfahrensweisen, die auf das Weitergeben einer einmal gemachten Erfindung von Generation zu Generation hindeuten, bei ihnen gefunden. Keine Ritzen auf Sand oder Lehm, die den Wert einer darstellenden Zeichnung, oder auch nur eines spielend hervorgebrachten Kritzelornaments gehabt hätten, und keine  darstellende Sprache , z.B. Laute, denen der Wert von Namen zukäme. Alles zusammen muß doch wohl innere Gründe haben" (8).
YERKES nimmt als einziger unter den Kennern von Menschenaffen als Ursache für das Fehlen einer menschenähnlichen Sprache beim Schimpansen nicht "innere Gründe" an. Seine Intelligenzuntersuchungen an Orang-Utans führten ihn im großen und ganzen zu Ergebnissen, die denen von KÖHLER sehr ähnlich sind (9). In ihrer Deutung ist er jedoch weiter gegangen als KÖHLER. Er meint, daß beim Orang-Utan eine "höhere Ideation" festzustellen sei, die allerdings nicht über das Denken eines dreijährigen Kindes hinausgehe.

Die kritische Analyse der Theorie von YERKES deckt leicht den Fehler dieses Gedankens auf: es gibt keinen Beweis dafür, daß der Orang-Utan Probleme mit Hilfe einer "höheren Ideation", d.h. mit Hilfe von "Vorstellungen" oder Nachwirkungen von Reizen löst. In letzter Instanz hat die auf der äußerlichen Ähnlichkeit des Verhaltens von Orang-Utans und Menschen beruhende Analogie für YERKES bei der Bestimmung der "Ideation" im Verhalten entscheidende Bedeutung.

Aber das ist eine wissenschaftliche Argumentation, die keine ausreichende Überzeugungskraft besitzt. Wir sagen nicht, daß sie bei der Untersuchung des Verhaltens höherer Tierformen  überhaupt  nicht in Anwendung kommen kann: KÖHLER hat sehr gut gezeigt, wie man sie  in den Grenzen wissenschaftlicher Objektivität  anwenden kann. Aber es gibt keine wissenschaftlichen Fakten, die es gestatten, die ganze Folgerung auf eine derartige Analogie zu  gründen. 

KÖHLER hat durch exakte experimentelle Analyse nachgewiesen, daß besonders der Einfluß einer aktuellen optischen Situation für das Verhalten der Schimpansen maßgebend ist. Man braucht (besonders zu Beginn der Versuche) nur einen Stock, den die Schimpansen als Werkzeug benutzen, um eine hinter dem Gitter liegende Frucht zu erreichen, ein wenig weiter fortzulegen, so daß Stock (Werkzeug) und Frucht (Ziel) nicht gleichzeitig im Gesichtsfeld lagen, und die Lösung der Aufgabe war sehr erschwert, ja wurde häufig ganz unmöglich.

Man braucht zwei Stöcke (die der Schimpanse ineinander zu schieben hatte, um mit Hilfe des verlängerten Werkzeugs das entfernte Ziel zu erreichen) in den Händen des Schimpansen nur in X-Form überkreuzt zu legen, um die bereits bekannte und mehrmals vollzogene Handlung der Verlängerung des Werkzeugs für das Tier unmöglich zu machen.

Es ließen sich viele experimentelle Ergebnisse anführen die das gleiche besagen, aber es genügt daran zu erinnern, daß KÖHLER erstens das Bestehen einer aktuellen optischen und recht primitiven Situation für eine grundlegende und unbedingte methodische Voraussetzung hielt, ohne die intelligentes Verhalten des Schimpansen überhaupt nicht auftreten kann, und zweitens daß gerade die  prinzipielle Begrenztheit  der "Vorstellungen" (der "Ideation") nach KÖHLER der allgemeine, das intelligente Verhalten des Schimpansen charakterisierende Grundzug ist. Man braucht sich dies nur vor Augen zu führen, um YERKES Folgerung für mehr als fragwürdig zu halten.

Es ist nun wichtig, daß der Schimpanse dennoch seine reiche und in manchen Beziehungen sehr menschenähnliche Sprache besitzt; aber diese relativ hochentwickelte Sprache hat direkt nicht viel mit seiner ebenfalls relativ hochentwickelten Intelligenz gemein.

LEARNED hat sein Wörterverzeichnis der Schimpansensprache zusammengestellt, das aus 32 Sprachelementen oder "Wörtern" besteht, die nicht nur in phonetischer Beziehung stark an Elemente der menschlichen Sprache erinnern, sondern auch für bestimmte Situationen kennzeichnend sind, wie z.B. für Situationen oder Gegenstände, die einen Wunsch oder Lust, Unlust oder Ärger, das Streben zu entkommen oder Angst usw. erwecken (10). Diese "Wörter" wurden bei der Erwartung des Futters, während der Fütterung, in Gegenwart eines Menschen und beim Zusammensein zweier Schimpansen gesammelt und aufgezeichnet.

Es ist leicht festzustellen, daß hier ein Wortschatz emotionaler Bedeutung vorliegt. Es sind mehr oder weniger differenzierte emotionale Lautreaktionen, die mehr oder weniger in eine bedingtreflektorische Beziehung mit einigen um die Nahrungsaufnahme usw. gruppierten Reizen getreten sind. Wir erkennen in diesem Wortschatz wieder, was KÖHLER über die Sprache der Schimpansen gesagt hat, nämlich daß es eine emotionale Sprache ist.

Bei dieser Charakteristik der Schimpansensprache interessieren uns drei Momente.
Erstens: Der Zusammenhang der Sprache mit emotionalen Ausdrucksgebärden, der im Augenblick einer starken affektiven Reizung des Schimpansen besonders deutlich wird, ist nicht für den Menschenaffen spezifisch. Es ist vielmehr ein gemeinsamer Zug aller Tiere, die über einen Stimmapparat verfügen. Die gleiche Form stimmlicher Ausdrucksreaktionen liegt zweifellos auch der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Sprache zu Grunde.

Zweitens: Emotionale und affektive Zustände führen bei Schimpansen zu reichen sprachlichen Äußerungen, sind aber äußerst ungünstig für das Auftreten intelligenten Verhaltens. KÖHLER hat mehrmals bemerkt, wie eine affektive Reaktion das intelligente Handeln des Schimpansen zerstört.

Drittens: Mit der emotionalen Seite ist die Funktion der Sprache beim Schimpansen nicht erschöpft. Dies ist ebenfalls keine ausschließliche Eigenschaft der Sprache der Menschenaffen, sondern macht ihre Sprache ebenfalls der anderer Tierarten verwandt und bildet unzweifelhaft die genetische Wurzel entsprechender Funktionen der menschlichen Sprache. Die Sprache ist nicht nur eine expressiv-emotionale Reaktion, sondern auch ein Mittel des psychologischen Kontakts mit den Artgenossen.
Sowohl die von KÖHLER beobachteten Affen als auch die Schimpansen von YERKES und LEARNED haben diese Funktion der Sprache "entdeckt". Jedoch steht auch diese Funktion des Kontakts in keiner Weise mit dem intelligenten Verhalten, d.h. mit dem Denken des Tieres in Zusammenhang. Es handelt sich immer um die gleiche emotionale Reaktion, die deutlich einen Teil des gesamten emotionalen Symptomkomplexes bildet, aber einen Teil, der sowohl vom biologischen als auch vom psychologischen Standpunkt aus eine andere Funktion als die übrigen affektiven Reaktionen ausübt.

Am wenigsten kann diese Reaktion an eine beabsichtigte, bewußte Mitteilung oder an eine ebensolche Einwirkung erinnern. Im Grunde ist es eine instinktive Reaktion oder ihr etwas sehr Ähnliches. Es besteht kaum ein Zweifel darüber, daß diese Funktion der Sprache zu den biologisch ältesten gehört und entwicklungsgeschichtlich mit den optischen und akustischen Signalen von Leittieren in Tiergemeinschaften verwandt ist.
LITERATUR - Lew S. Wygotski, Denken und Sprechen, Berlin 1906
    Anmerkungen
  1. W.M. Borowski, Einführung in die vergleichende Psychologie, Moskau 1927
  2. Wolfgang Köhler, Zur Psychologie des Schimpansen, in: Psychologische Forschung, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1922, Bd. 1
  3. H. Delacroix, Le langage et la pensèe, Paris 1924
  4. Wilhelm Wundt, Die Sprache, in Völkerpsychologie, Leipzig 1911, Bd. 1
  5. Wolfgang Köhler, Die Methoden der psychologischen Forschung an Affen, in: Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, hrsg. von E. Abderhalden, Abt. VII, Methoden der experimentellen Psychologie, Teil D, Berlin-Wien 1932
  6. Wolfgang Köhler, Intelligenzprüfung an Menschenaffen, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963
  7. Karl Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1930
  8. Wolfgang Köhler, Intelligenzprüfung an Menschenaffen, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963
  9. R.M. Yerkes, The mental life of monkeys and apes, in: Behav. Monogr., NY/London/Paris/Leipzig 1916, Bd. 1
  10. Yerkes R. M. und Learned, B.W., Chimpanzee Intelligence and its vocal expressions, Baltimore 1925