tb-2G. Frege A. MeinongC. Hermann    
 
BERTRAND RUSSELL
Über das Kennzeichnen

"Der Sinn der ersten Zeile der Elegie von Gray  ist dasselbe wie  Der Sinn von -The curfew tolls the knell of parting day-,  nicht wie  Der Sinn von - die erste Zeile der Elegie von Gray-." 

Unter einer  Kennzeichnung  (denoting phrase) verstehe ich einen Ausdruck (phrase) wie einen der folgenden: ein Mensch, irgendein Mensch, jeder Mensch, alle Menschen, der gegenwärtige König von England, der gegenwärtige König von Frankreich, der Massenmittelpunkt des Sonnensystems im ersten Augenblick des 20. Jahrhunderts, die Umdrehung der Erde um die Sonne, die Umdrehung der Sonne um die Erde. Ein Ausdruck ist also nur kraft seiner  Form  eine Kennzeichnung. Wir können drei Fälle unterscheiden:
    1) Ein Ausdruck kann eine Kennzeichnung sein, ohne etwas zu kennzeichnen; z. B.  der gegenwärtige König von Frankreich. 

    2) Ein Ausdruck kann einen bestimmten Gegenstand kennzeichnen; z. B. kennzeichnet  der gegenwärtige König von England  einen bestimmten Mann.

    3) Ein Ausdruck kann unbestimmt kennzeichnen; z. B. kennzeichnet  ein Mensch  nicht viele Menschen, sondern einen unbestimmten Menschen.
Die Interpretation solcher Ausdrücke macht beträchtliche Schwierigkeiten; es ist sehr schwer, eine Theorie aufzustellen, die nicht formal widerlegt werden kann. Die Theorie, die ich nun entwickeln will, beseitigt, soweit ich sehe, alle mir bekannten Schwierigkeiten.

Das Thema des Kennzeichnens (denoting) ist von außerordentlicher Wichtigkeit nicht nur für Logik und Mathematik, sondern auch für die Erkenntnistheorie. Wir wissen zum Beispiel, daß der Massenmittelpunkt des Sonnensystems zu einer bestimmten Zeit ein bestimmter Punkt ist, und können darüber eine Reihe von Aussagen machen; aber wir haben mit diesem Punkt keine unmittelbare  Bekanntschaft  (acquaintance), sondern kennen ihn nur durch Beschreibung. Die Unterscheidung zwischen  Bekanntschaft mit  und  Kenntnis von  (knowledge about) ist die Unterscheidung zwischen den Dingen, von denen wir Vorstellungen haben, und den Dingen, die wir nur durch Kennzeichnungen erreichen. Wir wissen oft, daß ein Ausdruck etwas Bestimmtes kennzeichnet, obgleich wir damit keine Bekanntschaft haben; so eben im Fall des Massenmittelpunktes. In der Wahrnehmung haben wir Bekanntschaft mit den Gegenständen der Wahrnehmung, beim Denken mit Gegenständen abstrakteren logischen Charakters; aber wir haben nicht unbedingt Bekanntschaft mit Gegenständen, die von Ausdrücken gekennzeichnet werden, die zusammengesetzt sind aus Wörter, mit deren Bedeutungen wir bekannt sind. Um ein sehr wichtiges Beispiel zu nehmen: es scheint keinen Grund für die Annahme zu geben, daß wir jemals mit den geistigen und seelischen Zuständen und Ereignissen anderer Leute bekannt werden, da diese offensichtlich nicht direkt wahrgenommen werden; was wir also von ihnen kennen, erhalten wir durch das Kennzeichnen. Alles Denken muß mit Bekanntschaft anfangen, aber es kann sich auf vieles beziehen, womit wir keine Bekanntschaft haben.

Meine Abhandlung nimmt folgenden Lauf: zuerst gebe ich die Theorie an, die ich verfechten will (1); dann erörtere ich die Theorien von FREGE und MEINONG und zeige, warum mich keine befriedigt; dann trage ich die Gründe für meine Theorie vor, und schließlich deute ich die philosophischen Konsequenzen meiner Theorie an.

Meine Theorie ist mit wenigen Worten diese: Ich nehme den Begriff der  Variablen  als Grundbegriff; für eine Aussage (2), in der  x  vorkommt, verwende ich  C (x),  (3) wobei es wesentlich ist, daß  x,  die Variable, völlig unbestimmt ist. Wir können nun die zwei Begriffe betrachten:  C (x) ist immer wahr  und  C (x) ist manchmal wahr.  (4) Die einfachsten Kennzeichnungen, nämlich  alles, nichts  und  etwas,  können dann wie folgt interpretiert werden:
    C (alles) bedeutet  C (x) ist immer wahr; 
    C (nichts) bedeutet  "C (x) ist falsch" ist immer wahr; 
    C (etwas) bedeutet  Es ist falsch, daß "C (x) ist falsch" immer wahr ist.(5)
Der Begriff  C (x) ist immer wahr  wird hier als elementar und undefinierbar betrachtet; die andern sind durch ihn definiert. Von  alles, nichts  und  etwas  wird nicht angenommen, daß sie für sich genommen eine Bedeutung haben, sondern eine Bedeutung wird jeder Aussage zugeordnet, in der sie vorkommen. Das ist das Prinzip der Theorie des Kennzeichnens, die ich vertreten will: Kennzeichnungen haben für sich nie eine Bedeutung, aber jede Aussage, in deren verbalem Ausdruck sie vorkommen, hat eine Bedeutung. Die Schwierigkeiten beim Verständnis des Kennzeichnens sind, wie ich glaube, alle das Ergebnis einer falschen Analyse von Aussagen, deren verbaler Ausdruck Kennzeichnungen enthält. Wenn ich mich nicht irre, kann die richtige Analyse wie folgt fortgesetzt werden:

Angenommen, wir wollen die Aussage  Ich traf einen Menschen  interpretieren. Wenn sie wahr ist, traf ich einen bestimmten Menschen, aber das will ich nicht behauten. Was ich behaupt, ist nach meiner Theorie:
    "Ich traf x, und x ist menschlich" ist nicht immer falsch. 
Definiert man die Klasse der Menschen als die Klasse der Gegenstände, die das Prädikat  menschlich  haben, so können wir allgemein sagen:
    C (ein Mensch)  bedeutet  "C (x) und x ist menschlich" ist nicht immer falsch. 
Das läßt  ein Mensch  ganz ohne Bedeutung, wenn es allein steht, gibt aber jeder Aussage eine Bedeutung, in deren verbalem Ausdruck  ein Mensch  vorkommt.

Betrachten wir nun die Aussage  Alle Menschen sind sterblich.  Dies ist in Wahrheit eine hypothetische Aussage (6), die besagt, daß wenn etwas ein Mensch ist, es sterblich ist. Sie besagt also, daß wenn  x  ein Mensch ist,  x  sterblich ist, was  x  auch immer ist. Setzen wir daher  x ist menschlich  ein für  x ist ein Mensch,  dann kommen wir zu dem Ergebnis:  Alle Menschen sind sterblich  bedeutet  "Wenn x menschlich ist, ist x sterblich" ist immer wahr. 

Das wird in symbolischer Logik so ausgedrückt:  Alle Menschen sind sterblich  bedeutet  "x ist menschlich" impliziert "x ist sterblich" für alle Werte von x.  Allgemeiner:
    C (alle Menschen  bedeutet  "Wenn x menschlich ist, dann ist C (x) war" ist immer wahr. 
Entsprechend bedeutet
    C (kein Mensch) : "Wenn x menschlich ist, dann ist C (x) falsch" ist immer wahr. 

    C (einige Menschen)  bedeutet dasselbe wie  C (ein Mensch)  (7) und

    C (ein Mensch)  bedeutet  Es ist falsch, daß "C (x) und x ist menschlich" immer falsch ist. 

    C (jeder Mensch)  bedeutet dasselbe wie  C (alle Menschen). 
Schließlich sind noch Ausdrücke zu interpretieren, die den bestimmten Artikel enthalten. Dies sind mit Abstand die interessantesten und schwierigsten Kennzeichnungen. Nehmen wir als Beispiel  der Vater Karls II. wurde hingerichtet.  Damit wird behauptet, daß es ein x gab, das der Vater KARLs II. war und hingerichtet wurde. Nun impliziert  der,  wenn es korrekt gebraucht wird, Einzigkeit. Zwar sprechen wir von  dem  Sohn des So-und-so, auch wenn So-und-so mehrere Söhne hat, aber es wäre genauer zu sagen  ein Sohn des So-und-so.  Deshalb soll für unsere Zwecke gelten, daß  der  Einzigkeit impliziert. Wenn wir sagen  x war "der" Vater Karls II.,  behaupten wir nicht nur, daß  x  eine gewissen Beziehung zu KARL II. hatte, sondern auch, daß nichts anderes diese Beziehung hatte. Die fragliche Beziehung wird, ohne die Annahme der Einzigkeit und ohne jegliche Kennzeichnung, ausgedrückt durch  x zeugte KARL II. Um ein Äquivalent zu  x war der Vater KARLs II.  zu erhalten, müssen wir hinzufügen:  Wenn y verschieden von x ist, zeugte y nicht Karl II.,  oder, was damit äquivalent ist:  Wenn y KARL II. zeugte, ist y identisch mit x.  Aus  x ist der Vater KARLs II.  wird dann:  x zeugte KARL II., und "wenn y KARL II. zeugte, ist y identisch mit x" ist immer wahr von y. 

Aus  Der Vater KARLs II. wurde hingerichtet  wird deshalb:
    Es ist nicht immer falsch von x, daß x KARL II. zeugte und daß x hingerichtet wurde und daß "wenn y KARL II. zeugte, ist y identisch mit x" immer wahr von y ist. 
Diese Interpretaion mag kaum glaublich erscheinen, aber ich gebe jetzt keine Gründe, ich gebe nur die Theorie an.

Um  C (der Vater KARLs II. zu interpretieren, wobei  C  für eine beliebige Aussage über ihn steht, brauchen wir nur  C (x) für "x wurde hingerichtet"  oben einzusetzen. Man beachte, daß nach der vorgetragenen Interpretation  C (der Vater KARLs II.),  welche Aussage  C  auch immer ist, impliziert:
    Es ist nicht immer falsch von x, daß "wenn y KARL II. zeugte, ist y identisch mit x" immer wahr von y ist, 
was in gewöhlicher Sprache ausgedrückt wird durch  KARL II. hatte einen Vater und nicht mehr.  Folglich ist  jede  Aussage der Form "C" (der Vater KARLs II.) falsch, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist. So ist z. B. jede Aussage der Form  C (der gegenwärtige König von Frankreich)  falsch. Das ist ein großer Vorteil der Theorie. Ich werde später zeigen, daß sie damit nicht das Gesetz vom Widerspruch verletzt, wie zuerst angenommen werden könnte. Mit dieser Theorie habe ich eine Zurückführung aller Aussagen, in denen Kennzeichnungen vorkommen, auf Formen gegeben, in denen solche Ausdrücke nicht vorkommen. Warum eine solche Zurückführung notwendig ist, soll die folgende Diskussion zeigen.

Die Argumente für die Theorie ergeben sich aus den Schwierigkeiten, die unvermeidlich scheinen, wenn wir Kennzeichnungen als Zeichen für echte Bestandteile der Aussagen oder Gedanken betrachten, in deren verbalem Ausdruck sie vorkommen. Die einfachste der möglichen Theorien, nach denen sie solche Bestandteile sind, ist die von MEINONG (8). Nach dieser Theorie vertritt jede grammatisch richtige Kennzeichnung einen  Gegenstand So werden  der gegenwärtige König von Frankreich, das runde Quadrat  usw. für echte Gegenstände gehalten. Zwar wird ihnen keine  Subsistenz  zugebilligt, aber dennoch sollen sie Gegenstände sein. Das ist selbst schon eine schwierige Auffassung; der Haupteinwand aber ist, daß wie zugegeben wird, solche Gegenstände das Gesetz vom Widerspruch zu verletzen drohen. Man behauptet zum Beispiel, daß der existierende König von Frankreich und auch nicht existiert, daß das runde Quadrat rund ist und auch nicht rund, usw. Das aber ist unerträglich, und wenn eine Theorie zu finden ist, die dieses Ergebnis vermeidet, ist sie gewiß vorzuziehen.

Diesen Verstoß gegen das Gesetz vom Widerspruch vermeidet die Theorie von FREGE. Er unterscheidet bei einer Kennzeichnung zwei Elemente, die er  Sinn  und  Bedeutung  nennt (9). So ist  der Massenmittelpunkt des Sonnensystems zu Beginn des 20. Jahrhunderts  seinem  Sinn  nach zusammengesetzt, aber seine  Bedeutung  ist ein bestimmter Punkt, der einfach ist. Das Sonnensystem, das 20. Jahrhundert usw. sind Bestandteile des  Sinns,  aber die  Bedeutung  hat keinerlei Bestandteile. (10) Ein Vorteil dieser Unterscheidung ist, daß sie zeigt, warum es oft sinnvoll ist, eine Identität zu behaupten. Wenn sie sagen  SCOTT ist der Autor von Waverley,  behaupten wir eine Identität der Bedeutung bei einem Unterschied des Sinnes. Ich werde jedoch nicht die Gründe wiederholen, die für diese Theorie sprechen, da aich sie an anderer Stelle verteidigt habe und sie nun anfechten will.

Eine der ersten Schwierigkeiten in der Auffassung, daß Kennzeichnungen einen Sinn  ausdrücken  und eine Bedeutung  bedeuten,  (11) betrifft die Fälle, in denen die Bedeutung zu fehlen scheint. Sagen wir  Der König von England hat eine Glatze,  so scheinen wir nicht eine Aussage über den zusammengesetzten Sinn zu haben, sondern über den wirklichen Mann, der vom Sinn bedeutet wird. Aber betrachten wir  Der König von Frankreich hat eine Glatze.  Nach der Gleichheit der Form sollte dies auch eine Aussage über die Bedeutung des Ausdrucks  der König von Frankreich  sein. Obgleich jedoch dieser Ausdruck einen  Sinn  hat, wenn auch  der König von England  einen Sinn hat, hat er doch gewiß keine Bedeutung, wenigstens ist sie nicht zu sehen. Also müßte man annehmen,  der König von Frankreich hat eine Glatze  sei Unsinn; aber es ist kein Unsinn, da es offensichtlich falsch ist. Oder nehmen wir eine Aussage wie die:  Wenn u eine Klasse mit nur einem Element ist, dann ist dieses eine Element ein Element von u  oder wie wir auch sagen können:  Wenn u eine Einerklasse ist, ist "das" u ein u.  Diese Aussage sollte  immer  wahr sein, da die Folgerung immer wahr ist, wenn die Voraussetzung wahr ist. Aber  das u  ist eine Kennzeichnung, und nicht vom Sinn, sondern von der Bedeutung wird behauptet, daß sie ein  u  sei. Ist nun  u keine  Einerklasse, so scheint  das u  nichts zu bedeuten; also müßte unsere Aussage offenbar Unsinn werden, sobald  u  keine Einerklasse ist.

Es ist aber klar, daß solche Aussagen  kein  Unsinn werden, bloß weil ihre Vordersätze falsch sind. Der König im  Sturm  kann sagen:  Wenn FERDINAND nicht ertrunken ist, ist FERDINAND mein einziger Sohn.  Nun ist  mein einziger Sohn  eine Kennzeichnung, die offensichtlich eine Bedeutung dann und nur dann hat, wenn ich genau einen Sohn habe. Trotzdem würde die Aussage des Königs wahr bleiben, auch wenn FERDINAND tatsächlich ertrunken wäre. Also müssen wir entweder in den Fällen eine Bedeutung einführen, in denen sie auf den ersten Blick fehlt, oder wir müsse die Auffassung aufgeben, daß es in Aussagen mit Kennzeichnungen um die Bedeutung geht. Den zweiten Weg werde ich einschlagen. Den ersten Weg kann man wie MEINONG damit gehen, daß man Gegenstände annimmt, die nicht substistieren, und leugnet, daß sie dem Gesetz vom Widerspruch folgen; das ist jedoch wenn möglich zu vermeiden. Eine andere Möglichkeit, denselben Weg zu gehen (was unsere Alternative angeht), ergreift FREGE, der durch Definition eine rein konventionelle Bedeutung für die Fälle einführt, in denen es sonst keine gäbe. So soll  der König von Frankreich  die Nullklasse bedeuten,  der einzige Sohn Herrn So-und-sos  (der eine zehnköpfige Familie hat) die Klasse aller seiner Söhne, usw. Aber führt dieses Verfahren auch nicht zu logischem Irrtum, so ist es doch offensichtlich künstlich und gibt keine genaue Analyse der Sache. Lassen wir also Kennzeichnungen allgemein die zweit Seiten von Sinn und Bedeutung haben, dann bereiten die Fälle, in denen es keine Bedeutung zu geben scheint, Schwierigkeiten sowohl bei der Annahme, daß es tatsächlich eine Bedeutung gibt, als auch bei der Annahme, daß es tatsächlich keine gibt.

Eine logische Theorie kann durch ihr Vermögen, knifflige Fragen zu behandeln, getestet werden. Denkt man über die Logik nach, sollte man sich möglichst viele solcher verwirrenden Fragen vergegenwärtigen, da diese ungefähr demselben Zweck dienen wie Experimente in der Naturwissenschaft. Ich führe deshalb drei solcher Probleme an, die eine Theorie der Beschriebung lösen können sollte, und ich werde später zeigen, daß meine Theorie sie löst.
    1) Ist  a  identisch mit  b,  so ist alles, was vom einen wahr ist, auch vom andern wahr, und beide können füreinander in jeder Aussage ersetzt werden, ohne die Wahrheit oder Falschheit der Aussage zu verändern. Nun wollte GEORGE IV. wissen, ob SCOTT der Autor von  Waverley  ist, und SCOTT  war  wirklich der Autor von  Waverley.  Also können wir SCOTT für  der Autor von Waverley  ersetzen und damit beweisen, daß GEORGE IV. wissen wollte, ob SCOTT SCOTT war. Doch kann ein Interesse für das Gesetz von der Identität Europas erstem Gentleman kaum nachgesagt werden.

    2) Nach dem Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten muß entweder  A ist B  oder  A ist nicht B  wahr sein. Also muß entweder  Der gegenwärtige König von Frankreich hat eine Glatze  oder  Der gegenwärtige König von Frankreich hat keine Glatze  wahr sein. Gingen wir aber die Dinge durch, die eine Glatze haben, und dann die Dinge, die keine Glatze haben, würden wir den gegenwärtigen König von Frankreich nicht unter ihnen finden. Hegelianer, die eine Synthesis lieben, werden wohl folgern, daß er eine Perücke trägt.

    3) Nehmen wir die Aussage  A ist verschieden von B.  Ist sie wahr, dann gibt es einen Unterschied zwischen  A  und  B,  was durch den Satz ausgedrückt werden kann  Der Unterschied zwischen A und B subsistiert.  Ist es aber falsch, daß  A  von  B  verschieden ist, dann gibt es keinen Unterschied zwischen  A  und  B,  was durch den Satz ausgedrückt werden kann  Der Unterschied zwischen A und B subsistiert nicht.  Wie kann aber eine Nicht-Entität das Subjekt einer Aussage sein?  Ich bin das Subjekt einer Aussage, also bin ich  ist nicht weniger evident als  Ich denke, also bin ich,  vorausgesetzt, mit  ich bin  soll Subsistenz oder Sein, (12) nicht Existenz behauptet werden. Also muß es, wie es scheint, immer ein Widerspruch sein, das Sein von irgendetwas zu verneinen; wir haben aber, im Zusammenhang mit der Theorie von MEINONG, gesehen, daß es manchmal auch zu Widersprüchen führt, das Sein zuzulassen. Wenn also  A  und  B  nicht verschieden sind, scheint es ebenso unmöglich anzunehmen, daß es so einen Gegenstand wie  den Unterschied zwischen A und B  gibt, wie anzunehmen, daß es ihn nicht gibt.
Die Beziehung zwischen Sinn und Bedeutung bringt einige merkwürdige Schwierigkeiten mit sich, die selbst schon hinreichend zu beweisen scheinen, daß die zu solchen Schwierigkeiten führende Theorie falsch sein muß.

Wenn wir über den  Sinn  einer Kennzeichnung im Gegensatz zu seiner Bedeutung sprechen wollen, ist die natürliche Art, das zu tun, die Verwendung von Anführungszeichen. So sagen wir:
    Der Massenmittelpunkt des Sonnensystems ist ein Punkt, kein kennzeichnener Komplex;
    "Der Massenmittelpunkt des Sonnensystems" ist ein kennzeichnender Komplex, kein Punkt.
Oder desgleichen:
    Die erste Zeile der Elegie von GRAY macht eine Aussage.
    "Die erste Zeile der Elegeie von GRAY" macht keine Aussage.
Anhand einer beliebigen Kennzeichnung, etwa  C,  wollen wir also die Beziehung zwischen  C  und "C" untersuchen, die sich in der Weise der beiden angeführten Beispiele voneinander unterscheiden.

Wir sagen zunächst, daß wir von der Bedeutung reden, wenn  C  vorkommt, und vom  Sinn,  wenn "C" vorkommt. Die Beziehung zwischen Sinn und Bedeutung ist aber nicht nur eine linguistische, die durch den Ausdruck zustande kommt, sondern es muß auch eine logische Beziehung impliziert sein, die wir ausdrücken, wenn wir sagen, der Sinne bedeute die Bedeutung. Die Schwierigkeit, der wir gegenüberstehen, ist jedoch, daß wir nicht  sowohl  die Verbindung zwischen Sinn und Bedeutung erhalten  als auch  verhindern können, daß sie ein und dasselbe sind; außerdem, daß der Sinn nur durch Kennzeichnungen erreicht werden kann. Das kommt so zustande:

Der eine Ausdruck  C  sollte sowohl Sinn als auch Bedeutung haben. Sprechen wir aber von  dem Sinn von C,  erhalten wir damit (wenn überhaupt) den Sinn der Bedeutung.  Der Sinn der ersten Zeile der Elegie von GRAY  ist dasselbe wie  Der Sinn von "The curfew tolls the knell of parting day",  nicht wie  Der Sinn von "die erste Zeile der Elegie von GRAY".  Um also den Sinn zu erhalten, den wir haben wollen, dürfen wir nicht von  dem Sinn von C  sprechen, sondern nur von  dem  Sinn von "C", was dasselbe ist wie  C  für sich allein. Ähnlich haben wir mit  die Bedeutung von C  nicht die Bedeutung, die wir haben wollen, sondern etwas, was das bedeutet, was durch die Bedeutung, die wir haben wollen, bedeutet wird, wenn es überhaupt etwas bedeutet. Es sei zum Beispiel "C":  der beschreibende Komplex, der im zweiten der beiden obigen Beispiele vorkommt.  Dann ist
    C =  die erste Zeile der Elegie von GRAY und
die Bedeutung von C = The curfew tolls the knell of parting day. Was wir aber als Bedeutung haben  wollten,  war  die erste Zeile der Elegie von GRAY Also haben wir nicht erreicht, was wir wollten.

Die Schwierigkeit, vom Sinn eines beschreibenden Komplexes zu sprechen, kann so formuliert werden: Sobald der Komplex in einer Aussage vorkommt, handelt die Aussage von der Bedeutung, und wenn wir eine Aussage mit  der Sinn von C  als Subjekt machen, dann ist das Subjekt (wenn überhaupt) der Sinn der Bedeutung, was nicht gewünscht war. Das führt uns zur Folgerung, daß wir es beim Unterscheiden zwischen Sinn und Bedeutung mit dem Sinn zu tun haben müssen: der Sinn hat Bedeutung und ist ein Komplex, und es gibt nichts anderes als den Sinn, wovon gesagt werden könnte, daß es eine Komplex oder zusammengesetzt ist uns sowohl Sinn als auch Bedeutung  hat.  Die richtige Formulierung wäre nach diesr Auffassung, daß einige Sinne Bedeutungen haben.

Aber das macht unsere Schwierigkeit, vom Sinn zu sprechen, nur deutlicher. denn angenommen, unser Komplex ist  C;  dann müßten wir sagen, daß  C  der Sinn des Komplexes  ist.  Immer aber, wenn  C  ohne Anführungszeichen vorkommt, ist das Gesagte nicht wahr vom Sinn, sondern nur von der Bedeutung, wie wenn wir sagen: Der Massenmittelpunkt des Sonnensystems ist ein Punkt. Um also von  C  selbst zu sprechen, d. h. um eine Aussage über den Sinn zu machen, muß unser Subjekt nicht  C,  sondern etwas sein, wodurch  C  bedeutet wird. "C" also, das wir verwenden, wenn wir vom Sinn sprechen wollen, darf nicht der Sinn, sondern muß etwas sein, was den Sinn bedeutet. Und  C  darf kein Bestandteil dieses Komplexes sein (wie es Bestandteil ist von  der Sinn von C);  denn wenn  C  im Komplex vorkommt, kommt es als Bedeutung, nicht als Sinn vor, und es gibt keinen Weg zurück von der Bedeutung zum Sinn, weil jeder Gegenstand durch eine unendliche Anzahl verschiedener beschreibender Ausdrücke bedeutet werden kann.

Also scheint es, als seien "C" und  C  verschiedene Entitäten, der Art, daß "C"  C  bedeutet; das aber kann keine Erklärung sein, weil die Beziehung von "C" zu C völlig dunkel bleibt, und wo sollen wir den Komplex "C" finden, der  C  bedeuten soll? Außerdem kommt nicht nur die Bedeutung vor, wenn  C  in einer Aussage vorkommt (wie wir im nächsten Absatz sehen werden); nach der jetzt behandelten Auffassung aber ist es nur die Bedeutung, da der Sinn gänzlich "C" zugewiesen wird. Dieses Knäuel von Widersprüchen, in die wir geraten sind, scheint zu beweisen, daß die ganze Unterscheidung von Sinn und Bedeutung falsch ist.

Daß der Sinn relevant ist, wenn eine Kennzeichnung in einer Aussage vorkommt, dafür liefert das Problem mit dem Autor von  Waverley  einen formalen Beweis. Die Aussage  SCOTT war der Autor von Waverley  besitzt eine Eigenschaft, die  SCOTT war SCOTT  nicht hat, nämlich daß GEORGE IV. wissen wollte, ob sie wahr sei. Also sind es keine identischen Aussagen; also muß der Sinn von  der Autor von Waverley  so relevant sein wie seine Bedeutung, wenn wir auf dem Standpunkt bleiben, auf dem diese Unterscheidung gemacht wird. Wir wir aber gerade gesehen haben, sind wir bei diesem Standpunkt gezwungen, nur die Bedeutung als relevant anzuerkennen. Also müssen wir diesen Standpunkt verlassen.

Es bleibt zu zeigen, wie alle betrachteten Schwierigkeiten von der Theorie gelöst werden, die wir zu Beginn dieses Aufsatzes erklärt haben.

Nach der Auffassung, die ich vertrete, ist es für eine Kennzeichnung wesentlich,  Teil  eines Satzes zu sein, ohne wie die miesten einzelnen Wörter für sich irgendeinen Sinn oder eine Bedeutung zu haben. Wenn ich sage  SCOTT war ein Mensch,  ist das eine Aussage der Form  x war ein Mensch,  die SCOTT zum Subjekt hat. Sage ich dagegen  der Autor von Waverley war ein Mensch,  ist das keine Aussage der Form  x war ein Mensch,  und  der Autor von Waverley  ist nicht ihr Subjekt. Wenn wir die Aussage zu Beginn dieses Aufsatzes abkürzen, können wir statt  der Autor von Waverley  folgendes sagen:  Eine und nur eine Entität schrieb Waverley, und diese war ein Mensch.  (Das ist nicht so genau das, was gemeint wird, wie es in der ersten Formulierung ausgedrückt wurde, aber es ist leichter zu behalten.) Wenn wir verallgemeinernd sagen wollen, der Autor von  Waverley  hatte die Eigenschaft  φ,  so ist das, was wir sagen wollen, äquivalent mit  Eine und nur eine Entität schrieb Waverley, und die hatte die Eigenschaft φ. 

Die Erklärung der  Bedeutung  ist folgende: Da jede Aussage, in der  der Autor von Waverley  vorkommt, wie oben angegeben erklärt wird, wird aus der Aussage  SCOTT war der Autor von Waverley  (d. h.  SCOTT war identisch mit dem Autor von Waverley): Eine und nur eine Entität schrieb Waverley und SCOTT war mit ihr identisch,  oder ganz explizit:  Es ist nicht immer falsch von x, daß x Waverley schrieb, daß es immer wahr von y ist, daß wenn y Waverley schrieb, y mit x identisch ist, und daß SCOTT mit x identisch ist.  Wenn "C" also eine Kennzeichnung ist, kann es sein, daß es eine Entität  x  gibt (mehr als eine kann es nicht geben), für die die Aussage  x ist identisch mit C  wahr ist, wobei diese Aussage wie eben interpretiert wird. Wir können dann sagen, daß  x die Bedeutung des Ausdrucks "C" ist. So ist SCOTT die Bedeutung von "der Autor von Waverley.  Das "C" mit Anführungszeichen ist nur der  Ausdruck,  nichts, was  Sinn  genannt werden könnte. Der Ausdruck für sich hat keinen Sinn, weil er in jeder Aussage, in der er vorkommt, nach ihrer vollständigen Analyse nicht mehr enthalten, sondern aufgelöst ist.

Das Problem mit der Neugier GEORGE des IV. findet nur eine sehr einfache Lösung. Die Aussage  SCOTT war der Autor von Waverley,  die in nicht abgekürzter Form im vorangegangenen Absatz ausgeschrieben wurde, enthält mit  der Autor von Waverley  keinen Bestandteil, für den man SCOTT einsetzen könnte. Das beeinträchtigt nicht die Wahrheit von Ableitungen, die sich ergeben, wenn man für  der Autor von Waverley  etwas einsetzt, was  verbal  eine Ersetzung von SCOTT ist, solange nur  der Autor von Waverley   primär (wie ich es nennen will) gebraucht wird. Der Unterschied zwischen primärem und sekundärem Gebrauch von Kennzeichnungen ist folgender:

Sagen wir:  GEORGE IV. wollte wissen, ob so-und-so  oder :  So-und-so ist überraschend  oder  So-und-so ist wahr  usw., dann muß das  So-und-so  eine Aussage sein. Nehmen wir nun an,  so-und-so  enthält eine Kennzeichnung. Dann können wir diese Kennzeichnung entweder aus der untergeordneten Aussage  so-und-so  oder aus der ganzen Aussage eliminieren, von der  so-und-so  nur ein Bestandteil ist. Wir erhalten verschiedene Aussagen, je nachdem, was wir tun. Ein empfindlicher Jachtbesitzer soll einmal einem Gast, der zum erstenmal die Jacht sah und sagte:  Ich dachte, Ihre Jacht ist größer, als sie ist,  geantwortet haben:  Nein, meine Jacht ist nicht größer, als sie ist.  Was der Gast meinte, war:  Der Umfang, den, wie ich dachte, Ihre Jacht hat, ist größer als der Umfang, den Ihr Jacht hat;  unterstellt wurde ihm:  Ich dachte, der Umfang Ihrer Jacht sei größer als der Umfang Ihrer Jacht.  Um auf GEORGE IV. und  Waverley  zurückzukommen: wenn wir sagen:  GEORGE IV. wollte wissen, ob SCOTT der Autor von Waverley ist,  meinen wir gewöhnlich  GEORGE IV. wollte wissen, ob ein und nur ein Mensch Waverley schrieb und SCOTT dieser Mensch war;  wir  können  aber auch meinen:  Ein und nur ein Mensch schrieb Waverley, und GEORGE IV. wollte wissen, SCOTT dieser Mensch war.  Im ersten Fall wird  der Autor von Waverly   sekundär gebraucht, im zweiten Fall primär. Im zweiten Fall könnte man auch sagen:  GEORGE IV. wollte in Bezug auf den Mann, der tatsächlich Waverley schrieb, wissen, ob er SCOTT war.  Das wäre zum Beispiel wahr, wenn GEORGE IV. SCOTT von weitem gesehen und gefragt hätte:  Ist das SCOTT?  Ein sekundärer Gebrauch einer Kennzeichnung kann als ein Gebrauch definiert werden, bei dem der Ausdruck in einer Aussage  p  vorkommt, die nur ein Bestandteil der gerade untersuchten Aussage ist, und die Ersetzung der Kennzeichnung in  p  geschieht, nicht in der vollständigen Aussage. Die Ungewißheit, ob primärer oder sekundärer Gebrauch vorliegt, ist in der Sprache kaum zu vermeiden, was ohne Nachteil bleibt, wenn wir aufpassen. In der symbolischen Logik ist sie natürlich leicht zu vermeiden.

Die Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Gebrauch befähigt uns auch, die Frage zu behandeln, ob der gegenwärtige König von Frankreich eine Glatze hat oder nicht, und allgemein den logischen Status von Kennzeichnungen, die nichts kennzeichnen. Wenn "C" eine Kennzeichnung ist, etwa  der Begriff mit der Eigenschaft F,  dann bedeutet  C hat die Eigenschaft φ: 
    ein und nur ein Begriff hat die Eigenschaft F, und der hat die Eigenschaft φ.  (13)
Gehört nun die Eigenschaft  F  zu keinem Begriff, oder zu mehreren, so folgt, daß  C hat die Eigenschaft φ  für  alle Werte von φ falsch ist.  So ist  Der gegenwärtige König von Frankreich hat eine Glatze  sicher falsch, und  Der gegenwärtige König von Frankreich hat keine Glatze  ist falsch, wenn es bedeutet
    Es gibt eine Entität, die jetzt König von Frankreich ist und keine Glatze hat, 
aber es ist wahr, wenn es bedeutet
    Es ist falsch, daß es eine Entität gibt, die jetzt König von Frankreich ist und eine Glatze hat. 
Das heißt,  Der König von Frankreich hat keine Glatze  ist falsch, wenn  der König von Frankreich  primär, und wahr, wenn dieser Ausdruck sekundär gebraucht wird. Also sind alle Aussagen, in denen  der König von Frankreich  primär gebraucht wird, falsch, und die Negationen solcher Aussagen sind wahr, aber in ihnen wird  der König von Frankreich  sekundär gebraucht. So entgehen wir dem Schluß, daß der König von Frankreich eine Perücke hat.

Wir verstehen nun auch, wie man verneinen kann, daß es einen derartigen Gegenstand gibt wie den Unterschied zwischen  A  und  B,  wenn  A  und  B  nicht verschieden sind. Wenn  A  und  B  verschieden sind, dann gibt es eine und nur eine Entität  x  derart, daß  x  ist der Unterschied zwischen  A und B  eine wahre Aussage ist; wenn  A  und  B  nicht verschieden sind, gibt es keine derartige Entität  x.  Nach dem oben erklärten Sinn einer Bedeutung hat also  der Unterschied zwischen A und B  eine Bedeutung, wenn  A  und  B  verschieden sind, sonst dagegen nicht. Dieser Unterschied trifft allgemein auf wahre und falsche Aussagen zu. Wenn  a R b = a hat die Relation R zu b  heißen soll, dann gibt es eine derartige Entität wie die Relation  R  zwischen  a  und  b,  wenn  a R b  wahr ist, und keine derartige Entität, wenn  a R b  falsch ist. So können wir aus jeder Aussage eine Kennzeichnung machen, die eine Entität kennzeichnet, wenn die Aussage wahr ist, aber nicht, wenn sie falsch ist. Zum Beispiel ist es wahr (wir wollen es jedenfalls unterstellen), daß sich die Erde um die Sonne dreht, und falsch, daß sich die Sonne um die Erde dreht; also kennzeichnet  die Umdrehung der Erde um die Sonne  eine Entität,  die Umdrehung der Sonne um die Erde  dagegen nicht. (14)

Der ganze Bereich von Nicht-Entitäten wie  das runde Quadrat, die gerade Primzahl ungleich zwei, Apoll, Hamlet  usw. kann nun zu unserer Zufriedenheit behandelt werden. Es sind alles Kennzeichnungen, die nichts kennzeichnen. Eine Aussage über  Apoll  besagt etwas, was wir durch Einsetzung dessen erhalten, was in einem Lexikom der Antike unter APOLL eingetragen ist, etwa  der Sonnengott.  Alle Aussagen, in denen Apoll vorkommt, sind nach den obigen Regeln für Kennzeichnungen zu interpretieren. Wenn  Apoll  primär gebraucht wird, ist die Aussage falsch; wenn sekundär, kann sie wahr sein. Entsprechend bedeutet  Das runde Quadrat ist rund = Es gibt eine und nur eine Entität x, die rund und quadratisch ist, und diese Entität ist rund,  was eine falsche Aussage ist und nicht, wie MEINONG behauptet, eine wahre. Aus  Das vollkommene Sein hat alle Vollkommenheiten; Existenz ist eine Vollkommenheit; also existiert das vollkommene Sein  wird:

Es gibt eine und nur eine Entität x, die vollkommen ist; diese hat alle Vollkommenheiten; Existenz ist eine Vollkommenheit; also existiert diese Entität.  Mangels eines Beweises der Prämisse  Es gibt eine und nur eine Entität x, die vollkommen ist  ist das kein Beweis. (15)

MacCOLL (in "Mind", Neue Folge, Nr. 54 und Nr. 55, Seite 401) unterscheidet zwei Arten von Individuen, wirkliche und unwirkliche, und definiert die Null-Klasse als Klasse aller unwirklichen Individuen. Damit nimmt er an, daß Ausdrücke wie  der gegenwärtige König von Frankreich,  die kein wirkliches Individuum kennzeichnen, doch ein Individuum kennzeichnen, aber ein unwirkliches. Das ist im wesentlichen die Theorie MEINONGs, die wir mit guten Gründen verworfen haben, weil sie mit dem Gesetz vom Widerspruch unverträglich ist. Mit unserer Theorie des Kennzeichnens können wir annehmen, daß es keine unwirklichen Individuen gibt, so daß die Null-Klasse die Klasse ist, die keine Elemente hat, nicht die Klasse, die als Elemente alle unwirklichen Individuen hat.

Es ist wichtig, die Konsequenz unserer Theorie für die Interpration von Definitionen zu sehen, die Kennzeichnungen gebrauchen. Hierzu gehören die meisten mathematischen Definitionen, zum Beispiel  m - n bedeutet die Zahl, deren Addition zu n m ergibt.  Auf diese Weise wird  m - n  definiert als etwas, das dasselbe bedeutet wie eine bestimmte Kennzeichnung. Wir haben aber gesehen, daß Kennzeichnungen isoliert keine Bedeutung haben. Deshalb sollte die Definition eigentlich lauten:  Jede Aussage, die m - n enthält,  soll den Sinn der Aussage haben, die sich aus der Einsetzung von "die Zahl, deren Addition zu n m ergibt" für "m - n" ergibt. Die sich ergebende Aussage wird nach den schon angegebnen Regeln für die Interpretation von Aussagen interpretiert, deren verbaler Ausdruck eine Kennzeichnung enthält. Wenn  m  und  n  derart sind, daß es eine und nur eine Zahl  x  gibt, deren Addition zu  n m  ergibt, dann gibt es eine Zahl  x,  die in jeder Aussage mit  m - n  für  m - n  eingesetzt werden kann, ohne die Wahrheit oder Falschheit der Aussage zu verändern. Sonst aber sind alle Aussagen, in denen "m - n" primär gebraucht wird, falsch.

Die obige Theorie erklärt, die obige Theorie erklärt, warum die Identität ein nützlicher Begriff ist. Niemand möchte außerhalb eines Logikbuches sagen,  x  sei  x,  und doch behauptet man oft eine Identität in Aussagen der Form  SCOTT war der Autor von Waverley  oder  Du bist der Mann.  Die Bedeutung solcher Aussagen kann nicht ohne den Begriff der Identität festgestellt werden, obgleich sie nicht einfach Aussagen sind, daß SCOTT mit einem anderen Term, dem Autor von  Waverley,  identisch ist, oder daß du mit einem anderen Term identisch bist, dem Mann. Die kürzeste Erklärung für  SCOTT ist der Autor von Waverley  scheint die zu sein:  SCOTT schrieb Waverley; und es ist immer wahr von y, daß y mit SCOTT identisch ist, wenn y Waverley schrieb.  Auf diese Weise gelangt der Begriff der Identität in die Aussage  SCOTT ist der Autor von Waverley,  und wegen solcher Verwendungen hat es Sinn, eine Identität zu behaupten.

Ein interessantes Ergebnis unserer Theorie ist dieses: Wenn uns etwas vorliegt, womit wir keine unmittelbare Bekanntschaft, sondern wovon wir nur eine Definition mit Kennzeichnungen haben, dann enthalten die Aussagen, die dieses Ding mittels einer Kennzeichnung einführen, es nicht wirklich als Bestandteil, sondern statt dessen die Bestandteile, die durch die verschiedenen Wörter der Kennzeichnung ausgedrückt werden. Also sind in jeder Aussage, die wir erfassen können (d. h. nicht nur in denen, über deren Wahrheit oder Falschheit wir entscheiden, sondern in allen, über die wir nachdenken können), alle Bestandteile tatsächlich Entitäten, mit denen wir unmittelbare Bekanntschaft haben. Nun sind solche Dinge wie die Materie (in dem Sinn, in dem man in der Physik von Materie spricht) und die seelischen und geistigen Zustände und Ereignisse anderer Menschen uns nur durch Kennzeichnungen bekannt, d. h. wir haben mit ihnen keine  Bekanntschaft,  sondern kennen sie als etwas, was die und die Eigenschaften hat. Obgleich wir also Aussagefunktionen  C (x)  bilden können, die für das und das Materieteilchen oder So-und-sos Geist gelten müssen, sind wir dennoch nicht mit den entsprechenden Aussagen bekannt (die, wie wir wissen, wahr sein müssen), weil wir mit den wirklichen Entitäten, die die Aussagen betreffen, nicht in Berührung kommen können. Was wir wissen, ist:  So-und-sos Geist hat die und die Eigenschaften,  aber wir wissen nicht:  A hat die und die Eigenschaften,  wobei  A  der betreffende Geist  ist.  In solchen Fällen kennen wir die Eigenschaften eines Dings, ohne mit dem Ding selbst bekannt zu sein und folglich ohne eine einzige Aussage zu kennen, von der das Ding selbst ein Bestandteil ist.

Über die vielen anderen Konsequenzen der von mir vertretenen Auffassung will ich nichts sagen. Ich möchte den Leser nur bitten, sie nicht zu verwerfen - wie er wegen ihrer scheinbar übertriebenen Kompliziertheit zu tun geneigt sein könnte -, ehe er selbst eine Theorie des Kennzeichnens aufzustellen versucht hat. Dieser Versuch wird ihn, glaube ich, davon überzeugen, daß eine solche Theorie, welche auch immer die wahre ist, nicht so einfach sein kann, wie man vorher erwartet haben könnte.
LITERATUR - Bertrand Russell, Über das Kennzeichnen in Philosophische und politische Aufsätze, Stuttgart 1971
    Anmerkungen
    1) Ich habe dieses Thema in  Principles of Mathemathics,  Kap. V und §476 behandelt. Die dort vertretene Theorie ist fast dieselbe wie die FREGEs und von der hier vertretenen ganz verschieden.
    2) (proposition; auch als "Aussageinhalt" übersetzbar.) Genauer: für eine Aussagefunktion (propositional function).
    3) Die Stellung der Anführungszeichen entspricht genau der in der englischen Ausgabe (Anm. des Übers.)
    4) Der zweite Begriff kann durch den ersten definiert werden, wenn ihn als äquivalent betrachten mit:  Es ist nicht wahr, daß "C (x) ist falsch" immer falsch ist. 
    5) Statt dieses komplizierten Ausdrucks werde ich manchmal die Ausdrücke gebrauchen:  C (x) ist nicht immer falsch  oder  C (x) ist manchmal wahr,  die jedoch als gleichbedeutend mit dem komplizierten Ausdruck definiert sein sollen.
    6) Wie BRADLEY in seiner "Logik", Buch I, Kap. II überzeugend gezeigt hat.
    7) Psychologisch betrachtet deutet "C (ein Mensch)" nur  einen,  und "C (einige Menschen)"  mehr als einen  Menschen an, aber wir können diese Andeutungen in einer vorläufigen Skizze vernachlässigen.
    8) Siehe die ersten drei Artikel in "Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie", Leipzig 1904 von MEINONG, AMESEDER und MALLY.
    9) GOTTLOB FREGE, "Über Sinn und Bedeutung" in Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 100
    10) FREGE unterscheidet Sinn und Bedeutung nicht nur bei zusammengesetzten Kennzeichnungen, sondern bei allen Zeichen. Nicht die  Bedeutung sondern der  Sinn  der Bestandteile einer zusammengesetzten Kennzeichnung geht in deren  Sinn  ein. In der Aussage  Der Montblanc ist über 1000 m hoch  ist nach FREGE der  Sinn  von  Montblanc  und nicht der tatsächliche Berg ein Bestandteil des  Sinns  der Aussage.
    11) Bei dieser Theorie werden wir sagen, daß die Kennzeichnung einen Sinn  ausdrückt  (expresses a meaning) und daß sowohl der Ausdruck als auch der Sinn eine Bedeutung  bedeutet  (denote a denotation). In der von mir vertretenen Theorie dagegen gibt es keinen  Sinn  (meaning) und nur manchmal eine  Bedeutung  (denotation).
    12) Ich verwende diese Wörter als Synonyme.
    13) Das ist nicht die genaue, sondern die abgekürzte Interpretation.
    14) Die Aussagen, aus denen solche Entitäten abgeleitet sind, sind weder mit diesen Entitäten noch mit den Aussagen identisch, daß diese Entitäten Sein haben.
    15) Mit diesem Argument kann man beweisen, daß alle Elemente der Klasse der vollkommenen Seienden existieren; man kann damit auch formal beweisen, daß diese Klasse nicht  mehr  als ein Element haben kann; wenn man aber die Definition der Vollkommenheit als Besitz aller positiven Prädikate gebraucht, kann man fast ebenso formal beweisen, daß die Klasse nicht einmal ein einziges Element hat.