ra-2tb-2 System der WerteGrundzüge einer neuen Wertlehre    
 
ROBERT REININGER
Allgemeine Wertphilosophie
[1/4]
"Die Ursache, warum in der Ethik und in der Wertphilosophie überhaupt begriffliche Bestimmtheit immer nur bis zu einem gewissen Grad erreichbar ist, liegt darin, daß Werte weder aufzeigbar noch erweisbar, auch nicht eigentlich definierbar sind, sondern nur durch nacherlebendes Verstehen der ihnen zugrunde liegenden Wertungserlebnisse in ihrer von allem rein Theoretischen verschiedenen Eigenart festgehalten werden können."

"Die Philosophie kann, wenn sie sich aus Gründen intellektueller Redlichkeit mit dem bescheiden will, was sich wissenschaftlich rechtfertigen läßt, nur die widerspruchslosen Möglichkeiten einer Beantworung [der kantischen Grundfragen] aufzeigen können, während die Entscheidung zwischen diesen nur Sache persönlicher Stellungnahme des Einzelnen sein kann. Daraus folgt, daß die Wertphilosophie zwar eine Wissenschaft von alledem zu sein hat, was irgendwie in den Wertbereich fällt und mit ihm zusammenhängt, daß sie aber nicht selbst eine wertende Wissenschaft sein kann, was ein Widerspruch in sich sein würde."

"In der Wertphilosophie interessiert nicht die bloße Tatsache, daß der oder jener so oder so wertet und ein anderer wieder anders. Von Bedeutung ist für sie nur der Inhalt jener Aussagen, die Art und Richtung der in ihnen sich ausdrückenden Wertungen, abgesehen von ihrer Formung in Aussagen und losgelöst von der Person des Aussagenden.  Innerhalb  des Wertbereichs aber können einander widersprechenden Wertungen so wenig zusammenbestehen, wie einander widersprechende Aussagen im logischen Bereich."

Vorrede

In der Vorrede zu meiner "Metaphysik der Wirklichkeit" (1931) habe ich ihre Ergänzung durch eine Metaphysik der Werte in Aussicht gestellt, deren Bestimmung es sein sollte, sie zu einem System der Philosophie abzurunden. Sie liegt der Sache nach hier vor. Wenn man unter "Metaphysik" nicht eine Begriffsdichtung vom Transzendenten versteht, sondern eine im wissenschaftlichen Geist angestellte Untersuchung über die letzten und höchsten Prinzipien eines Gebietes, so ist auch dieses Buch eine Metaphysik. In seinem Plan liegt es weder, den Wertbereich in seiner ganzen Breite durch eine Kulturphilosophie auszuschöpfen, noch auch eine Moralphilosophie im Sinne einer ausgebauten Systematik von Tugenden und Pflichten zu geben. Sein Thema bildet vielmehr das Wertgebiet im allgemeinen und das der ethischen Werte im besonderen, und zwar mit grundsätzlicher Beschränkung auf das Wesentliche und Prinzipielle an ihnen, für dessen Auffindung die Frage nach dem Sinn des Lebens als Leitgedanke dient. Damit hängt auch der methodische Gesichtspunkt zusammen, daß durchwegs von der Einzelpersönlichkeit ausgegangen wird, ohne daß damit die Möglichkeit und die Bedeutung anders eingestellter Wertlehren im geringsten in Abrede gestellt werden soll. Aber der letzte und insofern metaphysische Urgrund allen Wertens und aller letzten Wertentscheidungen liegt eben doch immer im Wertbewußtsein des Einzelnen. Wenn ich dieses Buch gleichwohl nicht "Metaphysik der Werte" nenne, sondern einen weniger anspruchsvollen, aber dafür den Inhalt näher bezeichnenden Titel gewählt habe, so ist es deshalb geschehen, weil im Wertgebiet das Letzte gewissermaßen schon am Anfang liegt, nämlich die Tatsache,  daß  und  wie  gewertet wird, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann. Der Name "Metaphysik" könnte hier Erwartungen erwecken, die das Buch nicht zu erfüllen vermag, nämlich daß es zu Einsichten vorzudringen verspreche, die noch hinter jener Urtatsache zurückliegen. Soweit tatsächlich metaphysische Probleme echter Art zur Sprache kommen (wie im Kapitel über die Willensfreiheit), handelt es sich um theoretische Probleme in ihrer Anwendung auf das Wertgebiet. Diese allgemeine theoretische Grundlegung habe ich in meinen früheren Büchern "Das phsycho-physische Problem" (1930) und "Metaphysik der Wirklichkeit" (1931), gegeben. Ich glaube aber, daß die vorliegenden Ausführungen so gehalten sind, daß sie auch ohne genauere Kenntnis jener Werke verstanden werden können.

Wenn ich über die historische Anknüpfung der hier vorgetragenen Ansichten Rechenschaft geben soll, so seien die Name KANT und NIETZSCHE genannt. Der Gegensatz in den ethischen Einstellungen dieser beiden Denker, der so oft hervorgehoben und überbetont wird, als wären sie zwei unvereinbare Gegenpole, ist nicht unüberbrückbar. Seine Aufhebung in einer höheren Einheit ist praktisch eine Aufgabe der Zukunft, eine Hoffnung für das Ethos unseres Volkes, in dem beide ja gleichermaßen verwurzelt sind, ja vielleicht der Kulturmenschheit, aber auch eine Aufgabe für die theoretische Ethik als Wissenschaft. Ich verweise in dieser Hinsicht auf meine früheren Veröffentlichungen "Kant, seine Anhänger und seine Gegner" (1923) und "Friedrich Nietzsches Kampf um den Sinn des Lebens" (1925), von denen die letztere als Prolegomenon [Vorbereitung - wp] der jetzigen angesehen werden kann.

ARISTOTELES sagt zu Beginn der Nikomachischen Ethik: "Was die Darlegung betrifft, so muß man zufrieden sein, wenn sie denjenigen Grad von Bestimmtheit erreicht, den der gegebene Stoff zuläßt. Die Genauigkeit darf man nicht bei allen Untersuchungen in gleichem Maß erstreben." Die Ursache, warum in der Ethik und in der Wertphilosophie überhaupt begriffliche Bestimmtheit immer nur bis zu einem gewissen Grad erreichbar ist, liegt darin, daß Werte weder aufzeigbar noch erweisbar, auch nicht eigentlich definierbar sind, sondern nur durch nacherlebendes Verstehen der ihnen zugrunde liegenden Wertungserlebnisse in ihrer von allem rein Theoretischen verschiedenen Eigenart festgehalten werden können. Brufung auf Irrationales bedeutet aber immer eine Grenze rationalen Erkennens und damit auch wissenschaftlicher Exaktheit. Diese Nähe zum Irrationalen bringt es auch mit sich, daß sich in Untersuchungen dieser Art, aller guten Vorsätze zu rein theoretischer Betrachtung ungeachtet, Züge einer persönlichen Wertungsweise des Philosophen nicht ganz ausschalten lassen. Ich kenne keine "Ethik", die nicht auch etwas vom persönlichen Ethos ihres Urhebers verraten würde. Selbst bei einem so objektiven Denker wie KANT ist deutlich herauszufühlen, welchen Orts nur der Philosoph spricht und wo auch der Mensch in ihm zu Wort kommt. Das kann gar nicht anders sein und braucht auch nicht anders zu sein. Denn alles, was mit ethischen Fragen zusammenhängt, hat, wenn sich die Darstellung nicht bloß auf die Registrierung an sich wertindifferenter Tatsachen beschränken soll, die Grundlage seines Verstehens und seiner lebendigen Resonanz doch nur im Werterleben des Gebenden wie des Empfangenden. Was man vom Wertphilosophen verlangen muß, aber ist, daß er den Willen zu strengster wissenschaftlicher Redlichkeit an keinem Punkt vermissen läßt und daß er sich der Grenzen zwischen objektiver Erkenntnis und subjektivem Bekenntnis stets und überall deutlich bewußt bleibe. Es ist hier so, wie mit der Forderung nach Voraussetzungslosigkeit des wissenschaftlichen Denkens überhaupt und des philosophischen im Besonderen: sie ist tatsächlich niemals und auf keinem Gebiet ganz erreichbar, aber sie ist immer und überall in den Grenzen des Möglichen anzustreben.


Einleitung
Problem und Methode einer Wertphilosophie

§ 1. Theorie und Praxis

Der erste Ursprung der Philosophie liegt im Streben nach praktischer Lebensweisheit. Weisheit aber ist wertende Stellungnahme zu allen Lebensfragen aufgrund eines Wissens um die wahre Rangordnung der Werte und der daraus folgenden Einsicht, welche Werte geeignet sind, als Norm des praktischen Verhaltens und als Norm der Beurteilung menschlichen Schicksals zu dienen. Beides ist aber nicht von vornherein gewiß. Nicht einmal die sieben Weisen Griechenlands waren sich darüber durchaus einig. Insofern stehen Wertprobleme im Sinne von Wertentscheidungen schon am Anfang der Philosophie. Und eben dieses ihres Ursprunges wegen heftet sich an die Philosophie von jeher die Erwartung, daß sie nicht bloß theoretische Erkenntnisse zu vermitteln habe, sondern daß es auch ihre Aufgabe sei, sich als Führerin des Lebens zu bewähren. Daher hat auch KANT in seinen "Weltbegriff" der Philosophie neben der Frage: "Was kann ich wissen?" auch die zwei anderen: "Was soll ich tun?" und "Was darf ich hoffen?" aufgenommen und vom Philosophen gesagt, daß er nicht nur als Vernunftkünstler, sondern auch als "Lehrer im Ideal" zu wirken berufen sei.

Aber während die erste jener drei Fragen auch heute noch ihrem Wortlaut nach übernommen werden kann, ist es bei den beiden letzten so, daß sie gewissermaßen nur den Ort anzeigen, wo Fragen an die Philosophie herantreten, deren Erörterung - Beantwortung wäre vielleicht schon zuviel gesagt - sie sich weder jetzt noch künftig ganz entschlagen dürfen. Nur ist die Einstellung zu Fragen solcher Art eine viel mittelbarere geworden, als sie es einst gewesen war. Aus dem Suchen nach Lebensweisheit ist der Wille zur Wahrheit um ihrer selbst willen entstanden. Die Haltung der Philosophie ist eine rein theoretische geworden, ihre Probleme sind Erkenntnisprobleme, nicht Wertprobleme im Sinne von Wertsetzungen und Wertentscheidungen. Wertprophetie hat es zwar zu allen Zeiten gegeben und nicht selten stand sie in Personalunion mit wirklicher Philosophie. Aber grundsätzlich ist heute beides geschieden. Aus der Philosophie haben sich im Laufe der Zeiten die anderen Wissenschaften abgespalten, aber auch sie selbst hat es gelernt, den strengen Maßstab der Wissenschaftlichkeit an ihre Ergebnisse anzulegen. Die Wissenschaft als solche ist aber wertungsfrei, so sehr die Hingabe an sie auch von höchsten Wertgefühlen getragen sein mag. Daher ist auch das unmittelbare Ziel der Philosophie Erkenntnis, wenn auch eine Erkenntnis eigener Art und nichts außerdem. Ihre Aufgabe ist, nach einem Wort HEGELs, zu begreifen, was ist, nicht das, was sein soll. Auch die "praktische Philosophie", unter welcher bequemen, aber sprachlich ungenauen Bezeichnung man Ethik, Rechts-, Staats- und Geschichtsphilosophie zusammenzufassen pflegt, ist Theorie und nicht selbst Praxis, sondern ein Nachdenken über jene Gebiete, die eine praktische Stellungnahme des Menschen erheischen, während die Anwendung ihrer Ergebnisse auf die Praxis aus dem Rahmen dessen, was Philosophie als Wissenschaft heißen kann, bereits herausfällt. Daher wird auch die Philosophie, was jene kantischen Fragen betrifft, wenn sie sich aus Gründen intellektueller Redlichkeit mit dem bescheiden will, was sich wissenschaftlich rechtfertigen läßt, nur die widerspruchslosen Möglichkeiten ihrer Beantwortung aufzeigen können, während die Entscheidung zwischen diesen nur Sache persönlicher Stellungnahme des Einzelnen sein kann. Daraus folgt, daß die Wertphilosophie zwar eine Wissenschaft von alledem zu sein hat, was irgendwie in den Wertbereich fällt und mit ihm zusammenhängt, daß sie aber nicht selbst eine wertende Wissenschaft sein kann, was ein Widerspruch in sich sein würde. Sie maßt sich nicht mehr an, Imperative zu erlassen oder Ratschläge zu erteilen, wie das Leben einzurichten und zu beurteilen sei, sondern sie muß sich mit der Feststellung dessen begnügen, was sie im Wertbereich an Tatsachen vorfindet und welche Folgerungen sich aus diesen Tatsachen ergeben.

Und doch sind die Ergebnisse der Philosophie überhaupt, der Wertphilosophie und der Ethik im besonderen, nicht ohne Bedeutung für die Praxis des Lebens. Es soll hier nicht davon geredet werden, daß die Beschäftigung mit Philosophie jedem, dem sie nicht bloß Amt, Pflicht oder gelegentliche Liebhaberei, sondern Herzenssache ist, eine Geisteshaltung und Lebensauffassung zu schenken vermag, die dem, was man früher "Weisheit" nannte, mehr oder weniger nahekommen mag. Auch das Begreifen und Verstehen des Ursprungs und der Eigenart der Tatsachen des Wertbewußtseins, die Klärung der Wertbegriffe, die Einsicht in eine naturgegebene Rangordnung der Werte, die Absteckung des moralischen und ethischen Gebietes können unter Umständen von bestimmendem Einfluß auf die Lebenseinstellung des Einzelnen werden. Nicht mehr die letzte Entscheidung zwischen Wertansprüchen maßt sich die Philosophie an, aber sie vermag im Durchdenken des Wertbereichs die Grundlagen zu schaffen, auf denen eine solche Entscheidung einsichtig möglich wird. Sie sagt, was sie als Theorie zu sagen hat und überläßt die Anwendung ihrer Ergebnisse auf die Praxis jenen, die von diesen Ergebnissen Kenntnis nehmen wollen. Ihre Leistung gleicht hierin jener eines Kartographen, der eine Landkarte ausarbeitet, die mannigfache Wege zu verschiedenen Zielen deutlich vor Augen legt, während die Auswahl dieser Ziele und Wege dem Wanderer überlassen bleibt. Die Leistung der Philosophie ist, was ihre praktische Auswirkung betrifft, eine  Sokratische:  sie vermag nur auf dem Umweg über das Wissen auf das Handeln zu wirken. Das ist aber im Grunde doch wieder dasselbe, was auch die Philosophie der Weisheit wollte, nämlich das Handeln durch Einsicht bestimmen. Wer aus ihr etwas für das Leben lernen will, der kann es auch heute so wie ehedem.


§ 2. Der Ausgang vom Wertbewußtsein

Wenn allgemeine Wertphilosophie und Ethik Zweige der Philosophie als Wissenschaft sind, so kann auch ihre Methode keine andere sein, als die jeder philosophischen Untersuchung. Nun ist es seit DESCARTES als erster methodischer Grundsatz der Philosophie anerkannt - oder sollte es wenigstens sein -, daß sie nur von einem unbedingt Sicheren und Gewissen ihren Ausgang nehmen dürfe. Nur damit kann sie der allgemeinsten Forderung, die an jede Prinzipienlehre gestellt werden muß, nämlich nichts als ungeprüft hinzunehmen,als der Forderung größtmöglicher Voraussetzungslosigkeit genügen. Was dieses unbedingt Sichere und Gewisse ist, ist nun allerdings nicht selbst wieder ganz so sicher und gewiß. Die verschiedene Höhe, in der dieser erste Ansatzpunkt der Überlegung gesucht wird, ist es gerade, was die Vielspältigkeit der philosophischen Systeme bedingt. Nicht genug zögernd und vorsichtig vermag der Philosoph hierin vorzugehen, wenn er jener Forderung entsprechen will.

Daß es nun Aussagen gibt, die Wertgefühle und Werturteile ausdrücken, ist eine unbezweifelbare Tatsache, während die Unsicherheit bereits beginnt, wenn von Werten und Gütern die Rede ist. Was das heißt, etwas bewerten, werthalten, höher oder niederer werten, weiß jeder aus seinem eigenen Erleben. Was ein "Wert", losgelöst von jeder Erlebnisgrundlage, ist, hat noch niemand recht zu sagen gewußt. Offenbar steckt in jener Rede von Werten und Gütern schon irgendwie eine Auslegung, Ausweitung oder Objektivierung des subjektiven Wertbewußtseins. Nicht, daß es Werte gibt, sondern daß Wertungen mannigfacher Art erlebt werden, ist somit das in höherem Grad Sichere und Gewisse. Der Ausgang wird somit nicht von Werten und ihrer Geltung, sondern vom  Wertbewußtsein  zu nehmen sein. Erst aufgrund einer Analyse des Wertbewußtseins kann dann gefragt werden, wie wir zur Annahme objektiver Werte gelangen, welches die psychologischen Wurzeln einer solchen Annahme sind und ob diese hinreichend begründet ist, um von der Wertphilosophie mitgemacht zu werden. Der umgekehrte Weg, nämlich den Ausgang von objektiven Werten zu nehmen und dann zu fragen, wie wir dazu kommen, von ihnen etwas zu wissen, wäre ebenso verkehrt und dogmatisch, wie etwa in der theoretischen Philosophie der Ausgang von der Frage wäre, ob Dinge ansich erkennbar sind. Bevor diese Frage mit Sinn gestellt werden kann, müßte vorerst feststehen, daß Dinge ansich existieren. Aber eben darum handelt es sich, ob es für die Philosophie zwingende Gründe gibt, diese Annahme zu machen oder, wenn sie schon vorgefunden wird, sie zu teilen. Das gleiche gilt auch vom Wertbereich.

Das einzige Begriffsmerkmal all dessen, was "Bewußtheit" (als Charakter alles Gegebenen) oder "Bewußtsein" (als Sammelname alles Bewußten) heißen kann, ist die Ichbezogenheit. Daher bedingt auch der Ausgang vom Wertbewußtsein die stete Mitberücksichtigung der Ichbezogenheit aller Werttatsachen: also eine zentrale Betrachtungsweise im Gegensatz zur peripheren der positiven Wissenschaften, die grundsätzlich und methodisch jene Ichbezogenheit außer acht lassen. Daraus ergibt sich in gewissem Sinne ein  methodischer  Solipsismus auch für die Wertphilosophie wie für die Philosophie überhaupt. Denn wie immer es sich mit dem Ursprung und der Geltung von Werten verhalten mag, wären sie nicht Erlebnisse  meines  Bewußtseins, so wären sie eben für mich nichts, und würde "ich" sie nicht anerkennen, so wären sie eben für mich keine Werte. Auch ein PLATO konnte auf transzendente Wertideen doch nur von seinen eigenen Werterlebnissen aus schließen; wären diese anderer Art gewesen, als sie es tatsächlich waren, so wäre auch seine Wertmetaphysik anders ausgefallen, als sie es tatsächlich ist.  Als methodischer Grundsatz ist somit der Ausgang vom individuellen Wertbewußtsein festzuhalten.  Ob sich zwingende Gründe ergeben, darüber hinauszugehen, ist eine Frage für sich. Es will das natürlich nicht heißen, daß der Wertphilosoph etwa sein persönliches Wertbewußtsein zum Maßstab aller Wertungen zu machen hat. Es bedeutet nur, daß die Wertaussagen in der Ichform das Erste und Gewisseste sind und daß sich alle Wertaussagen höherer Ordnung zuletzt auf solche Ichaussagen zurückführen lassen müssen. Die Seinsverbundenheit des Einzelnen in seiner menschlichen Umwelt, in Volkstum, Rasse, Geschichte, Überlieferung soll damit natürlich nicht geleugnet werden. Aussagen darüber aber sind theoretische Aussagen, keine Wertaussagen und kommen für einen Standpunkt, der größtmögliche Voraussetzungslosigkeit anstrebt, zunächst nicht in Betracht. Auch peripher eingestellte Werttheorien sind selbstverständlich möglich und können in ihrer Art fruchtbar sein. Nur sind sie mit einer viel größeren Anzahl von metaphysischen Voraussetzungen belastet - es sei nur auf das Duproblem hingewiesen - und können daher nicht den Anspruch erheben, uns über die  letzten  Grundlagen des Wertbereichs etwas zu sagen. Eine solche Wertphilosophie "von unten", ja von ganz unten, widerspricht allerdings den objektivistischen und "ontischen" Neigungen der Gegenwart, die alles vergessen zu wollen scheint, was die Philosophie seit DESCARTES und KANT gelernt hatte. Sie ist aber doch der einzige Weg, der nicht schon an seinem Beginn elementaren kritischen Bedenken ausgesetzt ist und nicht weiterhin auf Schritt und Tritt die kantische Frage des  quid juris?  [mit welchem Recht - wp] zu fürchten hat.

Insoweit ist die Wertphilosophie  vorerst  eine reine Tatsachenwissenschaft, Psychologie des Wertbewußtseins, unmittelbare Besinnung auf das im Wertbereich Vorliegende. Ihre Aufgabe ist daher zunächst, eine unparteiische und möglichst vollständige Beschreibung und Charakterisierung der Tatsachen des individuellen Wertbewußtseins, nicht zuletzt aber auch eine Festlegung der gerade auf diesem Gebiet noch recht schwankenden Terminologie. Erst nach dieser empirischen Grundlegung ist die Möglichkeit gegeben, die eigentlichen Wertprobleme, zuhöchst das einer Rangordnung der Werte, in Angriff zu nehmen.


§ 3. Werttheorie und Ethik

1.

Wie jede wissenschaftliche Untersuchung bewegt sich auch eine Philosophie der Werte im Reich der Wahrheit. In der theoretischen Philosophie ist es nun so, daß zwar alle vorgefundenen "Wahrheiten" im Sinne des  de omnibus dubitandum  [An allem ist zu zweifeln. - wp] zunächst ihres Wahrheitscharakters enthoben und auf ihre Wirklichkeit im Bewußtsein zurückgeführt werden, daß es aber doch ihre Aufgabe und ihr Ziel ist, selbst Wahrheit zu finden. Die Transzendierung aller vorgefundenen Wahrheiten durch Überhöhung des Denkstandpunktes und die Einschränkung ihres Geltungsanspruches auf eine bestimmte erkenntnistheoretische Ebene geschehen doch nur zugunsten von letzten Wahrheiten, also von solchen Wahrheiten über Wirklichkeit und Wahrheit überhaupt, die einer weiteren Transzendierung und Relativierung nicht für fähig gehalten werden. Solche letzte Sätze der Philosophie heißten dann  metaphysische  Wahrheiten. Die Methode, die dabei eingeschlagen wird, besteht darin, die in einem bestimmten Problemkreis Geltung beanspruchenden oder als möglich erachteten Aussagen auf ihre Widerspruchslosigkeit hin zu prüfen und zwischen einander widersprechenden Aussagen eine Entscheidung zu treffen. Sofern es sich in der Wertphilosophie um Aussagen  über  den Wertbereich handelt, besteht hier kein Unterschied. Die Sätze etwa: "Es gibt Werte an sich" und "Es gibt keine Werte an sich" können nicht nebeneinander bestehen. Zwischen ihnen muß eine Entscheidung getroffen werden, soweit eine solche möglich ist. Das Ziel kann auch hier nur sein, ein System widerspruchsfreier und möglichst umfassender Sätze zu gewinnen, die nach Maßgabe der Höhe des eingenommenen Standpunktes als letzte Wahrheiten über den Wertbereich gelten können.

Die Wertphilosophie ist da aber in einer besonderen Lage, die aus der Natur ihres Gegenstandes entspringt und gewisse methodische Schwierigkeiten in sich birgt. Der Gegenstand, mit dem sie es zu tun hat, sind nicht Aussagen höherer Stufe, die im theoretischen Sinne wahr zu sein beanspruchen, sondern Aussagen, die bestimmte Werterlebnisse zu sprachlichem Ausdruck bringen. Sie hat es daher im Gegensatz zur Erkenntnistheorie und Metaphysik und in Analogi mit den positiven Wissenschaften unmittelbar mit Elementaraussagen zu tun, die nichts mehr hinter sich haben, mit dem sie auf ihre Widerspruchslosigkeit hin verglichen werden könnten. Auch Wertaussagen können zusammenstimmen oder einander widerstreiten, aber sie unterstehen keiner Beurteilung nach wahr oder falsch im logischen Sinne; so wenig wie die Aussagen "ich sehe rot" oder "ich empfinde warm" einer solchen Beurteilung unterstehen. Vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus sind daher Wertaussagen wie alle Elementaraussagen als bloße Tatsachen der Bewußtseinswirklichkeit anzusehen. Tatsachen als solche sind aber wertfrei. Nun hat zwar auch die Wertphilosophie zuletzt von der Tatsache, daß Wertaussagen mannigfacher Art vorliegen, auszugehen. Würde sie dabei aber stehenbleiben und diese Aussagen  nur  als Tatsachen in Betracht ziehen, so müßte ihr gerade das Eigentümliche ihres Gegenstandes, daß sie es nämlich mit "Werthaftem" zu tun hat, unter den Händen entgleiten. Es interessiert sie daher gar nicht die bloße Tatsache, daß der oder jener so oder so wertet und ein anderer wieder anders. Von Bedeutung ist für sie nur der Inhalt jener Aussagen, die Art und Richtung der in ihnen sich ausdrückenden Wertungen, abgesehen von ihrer Formung in Aussagen und losgelöst ist von der Person des Aussagenden.  Innerhalb  des Wertbereichs aber können einander widersprechenden Wertungen so wenig zusammenbestehen, wie einander widersprechende Aussagen im logischen Bereich. Wenn daher die Wertphilosophie mehr sein will, als eine psychologische Beschreibung neutraler Bewußtseinstatsachen, wird sie sich der Aufgabe nicht entziehen dürfen, ihrerseits zu den Wertungen  als  Wertungen irgendwie Stellung zu nehmen.


2.

Zu den Wertungen Stellung nehmen, heißt aber, sie einer Beurteilung unterwerfen. Diese kann aber bei Wahrung des theoretischen Standpunktes wieder keine andere sein, als eine Beurteilung nach dem Denkgesetz des Widerspruchs. Nur daß es sich hier nicht um eine Beurteilung der Wertaussagen  als  Aussagen handelt - etwa ob sie die ihnen zugrunde liegenden Wertungsweisen richtig wiedergeben, was überhaupt nicht nachprüfbar ist -, sondern um eine Beurteilung der in diesen Aussagen sich ausdrückenden Wertungen selbst. Eine Entscheidung zwischen vereinzelten Wertungen zugunsten der einen oder der anderen könnte aber nur durch eine unzulässige Parteinahme des Wertphilosophen erfolgen, deren er sich grundsätzlich zu enthalten hat. Wohl aber ist es möglich festzustellen und darauf hinzuweisen, ob verschiedene Wertungen  innerhalb eines bestimmten Wertungszusamenhanges  sich miteinander vertragen, also sich ihm widerspruchslos einfügen oder nicht. Ein solcher Wertungszusammenhang festerer oder loserer Art ist schon jedes individuelle Wertbewußtsein. In jedem solchen zeigt sich aber zugleich eine gewisse Über- und Unterordnung der einzelnen Wertungen, zumindest in der Weise, daß einzelne Werterlebnisse sich stärker, andauernder, berherrschender geltend machen, als andere. Das werden jene sein, die mit der Gesamtpersönlichkeit des Wertenden und seiner ganzen Lebenseinstellung am engsten verbunden sind. Das bedingt wieder eine Wertung innerhalb der Wertungen, als eine Höherwertung gewisser Werte gegenüber anderen und dmait eine mehr oder weniger deutlich gegliederte  Rangordnung  von Werten. Denkt man sich diese losgelöst aus der Zufälligkeit und oft schwankenden Unbestimmtheit, mit der sie im Wertbewußtsein des Durchschnittsmenschen gegeben zu sein pflegt und befreit von inneren Widersprüchen, so ergibt sich der Begriff eines  Wertsystems.  Ein solches gipfelt folgerichtig in einem höchsten oder - um einen Lieblingsausdruck NIETZSCHEs zu gebrauchen - in einem  Oberwert,  im Vergleich zu dem sich alle anderen Werte als relativ und als durch ihn bedingte Mittel- oder Unterwerte darstellen. An ihrem Oberwert gemessen, können dann auch diese Unterwerte daraufhin geprüft werden, ob sie mit ihm in Einklang stehen oder nicht, ohne daß eine persönliche Stellungnahme des Wertphilosophen dazu erforderlich sein würde.


3.

Welche Werte geeignet sind, die Stelle eines solchen Oberwertes einzunehmen, läßt sich nicht von vornherein sagen. Es lassen sich hypothetisch verschiedene Wertsysteme mit entsprechend verschiedenen Oberwerten ausdenken. Ob ein bestimmtes Wertsystem und welches Wertsystem unter bestimmten Voraussetzungen den Vorzug vor anderen hat, läßt sich nur mittelbar ausmachen. Den Schlüssel zu dieser Erkenntnis kann der Umstand abgeben, welche Werte sich als  sinngebend  für das Ganze des Lebens zu bewähren vermögen. Damit ist der Übergang zur  Ethik  vollzogen, denn die Frage nach dem Sinn des Lebens ist die eigentliche Grundfrage jeder Ethik. Auch hier kann es sich nicht darum handeln, Normen aufzustellen, wie jeder Einzelne sein Wertbewußtsein einzurichten habe. Wohl aber läßt sich feststellen, welche Oberwerte sich tatsächlich als sinngebend zu bewähren imstande sind und welche sich ihrer Natur nach dazu nicht oder nicht im vollen Maß geeignet erweisen. Der Gang einer solchen Überlegung ist insofern pragmatisch, als hier die Bewährung gewisser Werte zum Maßstab ihres Ranges gemacht wird. Das hat aber mit dem Pragmatismus als erkenntnistheoretischer Richtung nichts zu tun. Der letztere bezieht sich auf den Begriff der Wahrheit, den er in Erfahrungen über die praktische Leistung einer Lehre oder eines Glaubenssatzes in ihrer Rückwirkung auf den Seelenzustand ihrer Anhänger und Bekenner auflöst. In unserem Fall aber handelt es sich nicht um eine Umdeutung des Wahrheitsbegriffs, sondern gerade um ein Kriterium der Wahrheit in einer Tatsachenfeststellung, das aus dem Wettstreit der Wertungsweisen gewonnen werden soll.

Das Ergebnis der Untersuchung wird zeigen, daß hier nur formale, keine materialen Bestimmungen möglich sind. Der Feststellung eines für die Sinngebung geeigneten und insofern höchsten Oberwertes kommt daher innerhalb der Wertphilosophie dieselbe Bedeutung zu, wie der Feststellung letzter oder metaphysischer Wahrheiten in der theoretischen Philosophie.
LITERATUR: Robert Reininger, Wertphilosophie und Ethik - Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien-Leipzig 1934