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HEINRICH GOMPERZ
Die Wissenschaft und die Tat
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"Wir nennen das Gegenteil des Zweifels den  Glauben  und denken dabei zuerst an das von der Kirche geforderte Fürwahrhalten. Allein ich sage nichts neues, wenn ich daran erinnere, daß die Begriffe Glaube und Zweifel, Recht- und Irrgläubigkeit sich bei all jenen Parteien und Bewegungen wiederfinden, die gewisse Forderungen an menschliches Verhalten ernstlich stellen und gedanklich begründen und die dabei einer hinreichend straffen Gliederung nicht entbehren. Gefordert wird fast überall eine bestimmte Stellung im Kampf zwischen Gutem und Bösen. Der eine sieht Gutes und Böses verkörpert in einander befehdenden übersinnlichen Mächten, der zweite in feindlichen Klassen, der dritte in höher- und minderwertigen Rassen. Der Zweifel daran, daß diese von ihm vorausgesetzte Verkörperung die wahre sei, wird von jedem dieser drei ziemlich gleichmäßig verpönt. Daß diese Denkweise nicht wissenschaftlich ist, bedarf keines Beweises."

"Die Verallgemeinerung ist kein Schluß: sie ist der Übergang vom Wissen zum Tun."

IV.

Der Wissenschaft widerstreitet jede endgültige, unwiederrufliche Festlegung auf bestimmte Ergebnisse, bestimmte Lehren. Sie bleibt stets bereit, neue Tatsachen, neue Vermutungen in Erwägung zu ziehen, sich neuen Erfahrungen, neuen Gründen zu fügen. (5) Allein es geschieht, daß solche Lehren mit gewissen Willenseinstellungen, gewissen Tatbereitschaften, besonders mit solchen, die sich zur Zeit ihrer Entstehung auf sie gestützt haben, unlöslich verwachsen. Dadurch werden sie zu  Glaubenslehren  ("Dogmen"), d. h. zu Gegenständen einer höchst eigentümlichen Art, zu denken: des  gesollten Fürwahrhaltens.  Das Fürwahrhalten ist jetzt nicht mehr Ergebnis unbefangener Prüfung der Gründe und Gegengründe. Es wird gefordert von all jenen Willensantrieben, die sich auf das zugehörige Tatverhalten richten. Jedes Erwägen der Gegengründe erscheint nunmehr als  Abwendung  von diesem Verhalten, als  Auflehnung  gegen jene Antriebe, mit  einem  Wort: als  Zweifel  in jenem besonderen Sinn des Wortes, in dem es den Streit des Willens zum Wahren mit dem Willen zum Guten und damit eine der schlimmsten Qualen bezeichnet, denen die Seele verfallen kann.

Wir nennen das Gegenteil des Zweifels den  Glauben  und denken dabei zuerst an das von der Kirche geforderte Fürwahrhalten. Allein ich sage nichts neues, wenn ich daran erinnere, daß die Begriffe Glaube und Zweifel, Recht- und Irrgläubigkeit sich bei all jenen Parteien und Bewegungen wiederfinden, die gewisse Forderungen an menschliches Verhalten ernstlich stellen und gedanklich begründen und die dabei einer hinreichend straffen Gliederung nicht entbehren. Gefordert wird fast überall eine bestimmte Stellung im Kampf zwischen Gutem und Bösen. Der eine sieht Gutes und Böses verkörpert in einander befehdenden übersinnlichen Mächten, der zweite in feindlichen Klassen, der dritte in höher- und minderwertigen Rassen. Der Zweifel daran, daß diese von ihm vorausgesetzte Verkörperung die wahre sei, wird von jedem dieser drei ziemlich gleichmäßig verpönt. Daß diese Denkweise nicht wissenschaftlich ist, bedarf keines Beweises. Allein schon ihre so weite Verbreitung kann uns lehren, daß ihre Wurzeln tief in das Wesen und das Leben der Menschen hinabreichen müssen. Tatsächlich ist es nun einmal so, daß die erfolgreiche Gemeinschaftstat eine einheitliche Gesinnung, lange fortgesetztes, gleichmäßiges, schlagartiges Zusammenwirken vieler voraussetzt. Der Zweifler, der in jedem Augenblick die Berechtigung des Ziels und die Tauglichkeit der Mittel zu überprüfen bereit ist, entzieht sich diesem Zusammenwirken, stört es und gefährdet den Erfolg. Dieser Zweifler ist der Wissenschaftler, - und eben darum ist dieser meist nicht der Mann der Tat. Dem kann sich endlich auch die Wissenschaft nicht verschließen. Und doch möchte sie ihr Wesen womöglich nicht verleugnen. So läßt sie sich zu Zugeständnissen herbei, kommt der Tat auf halbem Weg entgegen, trachtet, sich mit ihr zu verständigen. Sie duldet Wissenschaften, die an gewisse Voraussetzungen gebunden sein, sich nur innerhalb eines gewissen Rahmens frei bewegen sollen. Es entsteht eine kirchliche, eine Partei-Wissenschaft. Eben an diesem Punkt aber wird die Wissenschaft mit einer gewissen Notwendigkeit zu jener "störrischen Magd", von der im Eingang dieser Betrachtung die Rede war.

Nicht durch eine scharfe Grenzlinie, wohl aber durch ein leicht erkennbares Grenzgebiet sind von solchen Lehrstücken die  Grundsätze  des sittlichen Lebens getrennt; statt von solchen ist häufig auch von  Gesinnungen,  von  Weltanschauungen,  von  Überzeugungen  die Rede (wobei die beiden letzten Ausdrücke hier nicht in ihrem engeren, wissenschaftlichen Sinn verstanden werden sollen). Es sind gewissermaßen die Glaubenslehren des Einzelnen. Eben darum wird er nicht von außen gezwungen, sich an sie zu halten. Sie gelten nicht ganz in derselben Weise und in demselben Maß wie jene Lehrstücke als unwiderruflich. Dennoch gehört weitgehende Beständigkeit, eine gewisse Unveränderlichkeit, ja Starrheit, zu ihrem Wesen. Wir wären im höchsten Grad befremdet, wenn ein ernster Mensch zwischen Heute und Morgen seine Anschauungen über Erlaubt und Unerlaubt oder über das Dasein Gottes, wenn er seine strengere oder nachsichtigere Beurteilung fremder Fehler, seine freiheitliche oder völkische, seine vaterländische oder weltbürgerliche Gesinnung geändert hätte. Darin zeigt sich das Nichtwissenschaftliche - um nicht zu sagen: das Unwissenschaftliche - dieser Denkgebilde. Und auch hier liegt der Hauptgrund dieser ihrer Eigenart gewiß in ihrer nahen Beziehung zur Tat. Man kann nicht im Zickzack leben. Die Tat wirkt sich aus, ihre Wirkungen können nicht zurückgenommen werden. Das tätige Leben erfordert einen gewissen einheitlichen Zug. Lebensbeherrschenden Gedanken als solchen muß daher eine gewisse Beharrlichkeit, ja eine gewisse Starrheit eignen, die dem wissenschaftlichen Denken fremd ist. Vielleicht ist es nur eine andere Art, das alles auszudrücken, wenn wir sagen, der Wert eines Lebens, nicht aber jener der Wissenschaft, werde auch mit dem Maß der  Treue  gemessen. Diesem Begriff haftet ja eine eigenartige Fragwürdigkeit an. Wenn ich an meinem Glauben, an meiner Sache, an meinen Freund, an meinem Führer irre werde, mich davon überzeuge, daß sie meiner Hilfe, meiner Gefolgschaft nicht würdig sind - bin ich dann nicht  verpflichtet,  dieser meiner neuen, besseren Überzeugung zu folgen? Gewiß! Aber Menschen, die in ernsten Lebensfragen ihre Überzeugungen leicht und häufig ändern, sind  unverläßlich  und den Unverläßlichen trifft Geringachtung - nicht wegen dessen, was er  tut  (indem er seinen neuen Überzeugung folgt), vielmehr wegen dessen, was er  ist  (da er in dieser Sache seine alte Überzeugung aufzugeben fähig war). Der Wissenschaftler als solcher dagegen kennt die Treue nicht. Genauer: er ist weder Personen noch Überzeugungen treu; seine Treue gilt allein der Wahrheit: amicus PLATO, sed magis amica veritas [Platon ist mein Freund, aber die Wahrheit ist mir ein besserer Freund. - wp]. Im übrigen werden einmalige, plötzlich oder nach langem Kampf eintretende, aber auch wiederum langsam und unmerklich sich vollziehende Änderungen der Grundsätze und Überzeugungen, ja sogar auch des Glaubens, von jener Geringachtung bekanntlich nicht betroffen: ein Recht auf "Bekehrung", auf "Durchdringen zu einer neuen Überzeugung", auf "Milderung" oder "Versteifung" von Grundsätzen wird dem Einzelnen ziemlich allgemein zuerkannt. Das alles bedeutet eben kein "Leben im Zickzack". Die Wissenschaft aber gehen alle solchen Unterscheidungen nichts an: da folgt jeder seiner jeweiligen Einsicht; seit wann er sie besitzt, ob er sie sich rasch oder langsam erworben hat, ist belanglos.

Allein sprechen wir nicht auch in der Wissenschaft von Überzeugungen, von Richtungen, von Schulen? Stehen einander da nicht Empiristen und Aprioristen, Mechanisten und Vitalisten, "konservative" und "radikale" Textkritiker gegenüber? Und nehmen nicht diese alle noch zahllose andere den Mund voll und sprechen in tiefem Brustton von ihrer "wissenschaftlichen Überzeugung"? Gerade hier wird vielleicht das am klarsten werden, worum es mir zu tun ist. Vom Gesichtspunkt der reinen Wissenschaft aus beurteilt sind solche Reden ein eitel Geflunker. Der wahre Wissenschaftler hat keine "Überzeugung": er hat Vermutungen, die bisher noch nicht widerlegt worden sind, allein er muß jeden Augenblick darauf gefaßt sein, daß sie es werden und sollte sich darüber ebenso freuen, wie wenn sie der Widerlegung noch einmal entgingen. Trotzdem läßt sich jene Rede in Wahrheit kaum vermeiden. Denn die Wissenschaft, wie sie in der Wirklichkeit getrieben wird, ist tatsächlich niemals reine Wissenschaft. Wissenschaft-Treiben ist ja selbst ein Tun und als Tun kann es sich irgendeiner Wahl, irgenwelcher Entscheidungen und Festlegungen kaum enthalten. Niemand kann alles zugleich tun, alle Möglichkeiten selbst verfolgen, alle Untersuchungen selbst durchführen. Ohne irgendeine Gewähr dafür, daß die von ihm beiseite gelassenen Wege nicht gerade die richtigen, die zum Ziel führenden sind, muß der einzelne Forscher sich doch dazu entschließen, gewisse Wege unbegangen zu lassen, muß sich vor den übrigen aufpflanzen, sie für die von ihm zu begehenden erklären. "Nach meiner wissenschaftlichen Überzeugung ist diese Urkunde unecht" heißt, bescheidener ausgedrückt, soviel wie: "Den Spuren nachzugehen, die zur Anerkennung ihrer Echtheit führen könnten, überlasse ich anderen: ich habe mir vorgesetzt, auszumitteln, was aus der Annahme ihrer Unechtheit folgt". "Nach meiner Überzeugung gibt es keine okkulten Phänomene" - das heißt: "Wie diese Erscheinungen, ihre Tatsächlichkeit vorausgesetzt, zu erklären wären, darüber denke ich nicht nach, vielmehr habe ich mich entschlossen, Berichte zu sammeln, z. B. solche über die Entlarvung von Medien oder über Kunststücke von Taschenspielern, die für ihre Nichttatsächlichkeit sprechen". "Ich glaube an den psychophysischen Parallelismus" - das bedeutet: "Ich trage alle Beobachtungen und Gründe zusammen, die die Annahme einer Entsprechung körperlicher und seelischer Erscheinungen stützen und wo solche noch nicht gefunden sind, suche ich sie; die Hervorhebung der Fälle, in denen jene Entsprechung noch nicht gefunden wurde und der Gründe, die gegen die Möglichkeit, sie überall zu finden, sprechen mögen, habe ich meinen Gegnern überlassen." Insofern auch die Wissenschaft Tat ist, muß sie ganz naturgemäß auf ihr Eigenstes, auf ihre Unendlichkeit, verzichten.


V.

Die Wissenschaft, als ein sich beständig fortspinnender Gedankengang der Menschheit, ist naturgemäß stets unfertig, niemals abgeschlossen. Der einzelne Wissenschaftler hingegen, der Wissenschaft  treibt,  hat ebenso naturgemäß das Bestreben,  fertig  zu werden, zu einem  Abschluß  zu gelangen und wird dadurch jeden Augenblick vor eine  Wahl  gestellt, zu einer  Entscheidung  gedrängt, - davon ganz abgesehen, daß er, hätte ihm nicht von Anfang an schon ein ganz  bestimmtes  Ergebnis als Ziel vorgeschwebt, sich auch die Untersuchung vielleicht gar nicht eingelassen hätte. Das wird besonders deutlich an der Art, wie wissenschaftliche Untersuchungen  dargestellt  zu werden pflegen.

Ihrem gedanklichen Gehalt nach ist die Wissenschaft im Grunde ein Geflecht von Möglichkeiten und zwar von Möglichkeiten größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit - man darf wohl stattdessen klarer sagen: größerer oder geringerer Einfachheit. Und da aus jeder Möglichkeit wieder viele weitere Möglichkeiten folgen, so nimmt jenes Geflecht endlich die Gestalt eines Stammbaums an. Diesem Stammbaum neue Möglichkeiten ein- oder zuzufügen, ihren Zusammenhang mit anderen Möglichkeiten herauszustellen, den Grad ihrer Wahrscheinlichkeit, d. h. ihrer Einfachheit, zu kennzeichnen - darin erschöpft sich zuletzt die Aufgabe der Wissenschaft als solcher, mag es sich nun um das Wesen der "kosmischen Strahlen" oder umd die Echtheit des "privilegium minus" [kaiserlicher Freiheitsbrief aus dem Jahr 1156 - wp] handeln. Von einem Abschluß, von einer endgültigen Festlegung auf  eine  dieser Möglichkeiten, unter Ausschaltung aller anderen, kann dabei, streng genommen, niemals die Rede sein. Denn mag auch jene  eine  Möglichkeit noch so einfach erscheinen, stets kann es sich doch später erweisen, daß entweder eine andere noch einfacher ist oder aber, daß jene erste durch irgendwelche neu gefundenen Tatsachen zu sehr verwickelten Hilfsannahmen genötigt wird. Der einzelne Wissenschaftler dagegen, der ja mit seinen Untersuchungen notwendig einmal fertig werden will und darum an jedem Punkt derselben von den vielen Möglichkeiten nur  eine  oder doch nur wenige, verfolgen kann, alle übrigen dagegen beiseite lassen, der also beständig  wählen,  jeden Augenblick eine  Entscheidung  treffen muß, sieht seine Aufgabe vor allem darin, zu einem "abschließenden Ergebnis" zu gelangen. Er stellt daher, wo ihm das irgendwie tunlich erscheint,  Behauptungen  ("Thesen") auf und glaubt diese auf  Beweisführungen  stützen zu können, deren gedanklicher Gehalt aber, ohne daß er sich darüber immer klar wäre, doch jedesmal nur ein Wahrscheinlichkeitsbeweis ist. An den entscheidenden Punkten jener Beweisführungen pflegen dann Wendungen wie die folgenden zu begegnen: "Wir sind somit zu dem Ergebnis gelangt ..."; "wir werden also wohl als erwiesen annehmen dürfen ..."; "wir werden uns daher für die Annahme entscheiden ...". Alles diese Wendungen, vom Standpunkt der Wissenschaft als Tat aus beurteilt vollkommen begreiflich, ja unvermeidlich, sind doch für die reine Wissenschaft völlig belanglos, ja sinnleer. Daß Herr  X  zu einem Ergebnis gelangt zu sein glaubt, Dr.  Y  etwas als erwiesen ansieht, Professor  Z  sich für eine Ansicht entschieden hat - das alles ändert doch an den untersuchten Tatsachen nicht das mindeste, es bringt auch keineswegs die Möglichkeiten, die  X, Y  oder  Z  jetzt als vernachlässigungswürdig erscheinen, zum Verschwinden und es hat auch noch nie die Nachfolger daran gehindet, wenn der Stand des Wissens sich inzwischen geändert hatte, auf eine von ihnen zurückzugreifen. Jene Sätze vermitteln uns also überhaupt keine wissenschaftliche Erkenntnis, sie unterrichten uns nur darüber, daß gewisse Gründe  X, Y  oder  Z  bestimmt haben, gerade diese Gedankenbahn zu verfolgen und, nachdem er auf ihr an einen gewissen Punkt gelangt war, seine Arbeit befriedigt abzubrechen und eine Urlaubsreise anzutreten. Man wird mir hier vielleicht entgegnen, das habe man ja schon immer gewußt. Ich kann darauf nur antworten: ich wollte, es wäre so.

Nun noch einen Blick auf den Fall, daß sich mehrere Wissenschaftler mit derselben Frage beschäftigen. Stimmen sie in einem "Ergebnis" überein, so entsteht dann leicht eine sogenannte "herrschende Meinung". Es bedarf keines Wortes darüber, daß - so groß die Rolle der "Autoritäten" in der Geschichte der Wissenschaft ist - doch auch sie nur für die Wissenschaft als Tat, nicht für die Wissenschaft als Erkenntnis Belang hat. Allein bedeutsamer ist wohl der Fall, daß sie nicht übereinstimmen. Dann pflegt ein  wissenschaftlicher Streit  (eine "Polemik") auszubrechen. Daß nun dieser sehr geeignet sein kann, zum Beziehen eines neuen Gesichtspunktes, zur Klärung des bisher nur verschwommen Gedachten anzuregen, wird niemand bestreiten. Ebensowenig, daß einem wissenschaftlichen Streit vieles anhaftet, was mit dem Gedankengehalt der Wissenschaft keineswegs zusammenhängt. Der Hervorhebung jedoch bedarf, wie mir scheint, etwas anderes. Auch die Voraussetzung nämlich, unter der wissenschaftliche Streitigkeiten fast durchweg geführt werden, die Voraussetzung, daß in ihnen der eine  Recht,  der andere  Unrecht  habe und daß es dem unparteiischen Hörer zusteht, zu entscheiden,  welcher  der streitenden Teile "im Recht" sei, auch diese Voraussetzung hat nur für die Wissenschaft als Tat, nicht auch für die Wissenschaft als Erkenntnis Sinn. Denn auch ihr liegt der Glaube an "abschließende Ergebnisse" zugrunde. Vermöchte es die Wissenschaft, entweder die Behauptung  p  oder die Gegenbehauptung non-p als  wahr  zu erweisen, dann könnte natürlich nur entweder jener, der  p,  oder aber der, der non-p für wahr erklärt, "im Recht" sein. Kann sie dagegen nichts anderes leisten als die Gründe, die für die Wahrheit von  p,  jedoch auch jene, die für die Wahrheit von non-p sprechen, zusammenzustellen und gegeneinander abzuwägen, d. h. aber die Einfachheit der in diesen Gründen enthaltenen Annahmen zu untersuchen, dann kann als Ausgang eines solchen Streites überhaupt nicht ein Urteil darüber, wer "Recht hat", erwartet werden, vielmehr höchstens eine vergleichende Beurteilung der auf beiden Seiten vorgebrachten Wahrscheinlichkeitsgründe. Ein wissenschaftlicher Streit um Recht oder Unrecht hat also nur Sinn als Glied der "Wissenschaft als Tat": er ist ein Kampf um die Beistimmung des Hörers, der dazu bewogen werden soll, sich beim einen oder beim anderen Ergebnis zu  beruhigen,  es ebenso wie dessen Vorkämpfer als  Abschluß  seines Nachdenkens über den Gegenstand gelten zu lassen, sich für die eine und gegen die andere Möglichkeit zu  entscheiden. 

Am allerunverkennbarsten scheint die Eigenart des wissenschaftlichen Streites dort hervorzutreten, wo auf ihn die Regeln des bürgerlichen  Rechtsstreits  übertragen werden, indem etwa der eine Teil behauptet, die "Last des Beweises" treffe seinen (z. B. den die Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses anzweifelnden) Gegner; "bis zum Beweis des Gegenteils" sei er berechtigt, bei seiner Meinung zu verharren (z. B. jenes Zeugnis für glaubwürdig zu halten). Denn in diesen Regeln ist ja ganz offen und unverhüllt von einem  Tun  der Wissenschaftler, nicht etwa von dem umstrittenen Sachverhalt die Rede, sie scheinen sich also nur rechtfertigen zu lassen als Anweisungen an den Hörer, er möge sich auf gewisse Gedankengänge (z. B. auf die Überprüfung jenes Zeugnisses) gar nicht erst einlassen, solange ihn der Gegner nicht beunruhigt und so zum Eingehen auf jene Untersuchung nötigt. Nun stehen hinter jenen Regeln freilich gewisse Annahmen über den vergleichsweisen Wert von Wahrscheinlichkeiten. (Daß ein Zeugnis bis zum Beweis des Gegenteils für glaubwürdig zu halten sei, würde niemand sagen, der nicht der Meinung wäre, daß die große Mehrzahl aller Zeugnisse der fraglichen Art glaubwürdig sei und daß daher, solange keine ernsten Gegengründe bekannt sind, auch die Annahme, das umstrittene Zeugnis sei glaubwürdig, die ungleich größere Wahrscheinlichkeit für sich habe.) Allein warum sagt der Verfechter jener Regel dies nicht mit ebensovielen Worten, warum spricht er, statt von der größeren Wahrscheinlichkeit seiner Behauptung, davon, sie habe "bis zum Beweis des Gegenteils" als die wahre zu gelten? Doch wieder nur darum, weil die Regel gar nicht so sehr eine Einsicht in den Gedankengang der Wissenschaft vermitteln als vielmehr eine Richtschnur für das Tatverhalten der Wissenschaftler darstellen soll!


VI.

Daß die Wissenschaft der Tat dient, daß sie selbst Tat ist und wiederum andere Taten vorbereitet, das hat nicht nur zur Folge, daß ihre Ergebnisse zu einer gewissen Verfestigung, zu einer (vom Standpunkt des reinen Denkens aus gesehen vorzeitigen) Erstarrung neigen und daß sie als ein sich beständig verfestigendes, beständig zu "abschließenden Ergebnissen" führendes Gebilde dargestellt zu werden pflegt - nein, die Tatbedingtheit dringt ihr bis ins Mark, tastet ihr eigenstes Handwerkszeug, ihre Denkmittel, an, nötigt sie dazu, sich auch solcher Begriffe zu bedienen, die vor dem reinen Denken nicht bestehen, ihm daher auch in Wahrheit keine Dienste leisten können. Von diesem Punkt aus erschließt sich dem Blick ein weites Feld, das hier nicht abgesteckt, vielmehr gerade nur betreten werden soll. Wer es planmäßig durchpflügen wollte, würde dabei vielfach auf die Spuren der sogenannten "Pragmatisten" stoßen. Hier seien nur, gewissermaßen stichprobenweise, vier Begriffe ins Auge gefaßt, die sämtlich in einer gewissen Beziehung zur Lehre von der  Wahrscheinlichkeit  stehen.

In scholastischen Lehrbüchern wird häufig von der "mathematischen" (oder "metaphysischen") eine  "physische Gewißheit"  unterschieden, welche den "synthetischen", d. h. den nicht selbstverständlichen, den auf Erfahrung beruhenden Urteilen eignen soll. (6) Das "physisch Gewisse" ist wohl auch als das "unendlich Wahrscheinliche" erklärt worden (obwohl man in einer Welt, in der man die Zahl der Elektronen, wenigstens ihrer Größenordnung nach, glaubt abschätzen zu dürfen, mit dem Begriff "Unendlich" recht haushälterisch umgehen sollte). Dieser etwas fragwürdige Begriff wäre vielleicht besonderer Beachtung wert, würde nicht in der Wissenschaft und auch im Alltagsleben von dem ihm nächstverwandten der "hinreichenden Gewißheit" beständig, sei's auch stillschweigend, Gebrauch gemacht. Was damit gemeint ist, zeigt vielleicht am einprägsamsten das Beispiel der Auflösung eines Rätsels. Ist da einmal "die Lösung" gefunden, so denkt kein Mensch daran, daß er eigentlich nur  "eine  vollkommen passende Lösung" sagen dürfte und daß es sehr wohl andere, ebenso passende Lösungen geben könnte. Und so wie hier dem Rätsel, verhalten wir uns fast durchaus den Fragen der Wissenschaft und auch des Alltagslebens gegenüber; jee uns voll befriedigende Lösung betrachten wir als "hinreichend gesichert", auch wenn es gar nicht so besonders unwahrscheinlich wäre, daß uns auch eine andere - sei's auch etwas verwickeltere - Antwort nicht minder voll zufriedenstellen würde. Nun ist aber doch die Stufenleiter der Wahrscheinlichkeiten für das reine Denken jedenfalls insofern eine stetige, als sie zwar gewisse Sprünge von niedrigeren zu höheren Wahrscheinlichkeiten aufweisen mag (wenn von zwei Umständen jeder der Annahme  p  die Wahrscheinlichkeiten verleiht, so verleiht ihr das Zusammentreffen beider die Wahrscheinlichkeit nhoch2), jedoch an keiner Stelle ein Emporschnellen von einer endlichen zu einer unendlichen Zahl oder ein Abstürzen von  n  auf  0  zeigen wird. Wie kommt es also, aß wir uns in der Wissenschaft wie im Leben nicht mit der Feststellung großer, ja sehr großer Wahrscheinlichkeiten begnügen, sondern von ihnen an gewissen Stellen mit einem Mal zu "Gewißheiten" (sei's auch nur "physischen" oder "hinreichenden" Gewißheiten) übergeben, sozusagen eine "Schwelle der Gewißheit" anerkennen? Meines Erachtens kommt das daher, daß sich zwar das  Denken  mit einer stetigen Reihe von Wahrscheinlichkeiten begnügen kann, das  Tun  dagegen beständig vor einem Entweder-Oder steht: Ist die Wahrscheinlichkeit in diesem Fall so groß, daß man es wagen kann, auf sie hin zu handeln? Solange ich nun über das Ob noch weitere Überlegungen oder Untersuchungen anstellen muß, spreche ich von (sei es auch sehr großen) Wahrscheinlichkeiten; schreite ich zur Tat und lege damit dieser Tat in Gedanken ein Daß zugrunde, dann rede ich von einer (sei es auch nur "physischen" oder "hinreichenden") Gewißheit. Daß ich "gewiß" bin, die gefundene Lösung sei  "die  Lösung", bedeutet im Grunde: Ihre Wahrscheinlichkeit ist so groß,  daß ich mir nun das Rätsel aus dem Kopf schlage und mich nicht weiter damit befasse.  Die Nötigung, zu handeln, mich zu entscheiden, der Zwang zur Tat bricht an einem bestimmten Punkt die für das Denken stetige Reihe der Wahrscheinlichkeiten ab und läßt sie in eine (gedanklich gar nicht zu rechtfertigende) "Gewißheitsschwell" auslaufen. Der Engländer sagt für "hinreichend gewiß" mit einem unvergleich treffender Ausdruck:  "practically certain". 

Doch ich gehe weiter. Es scheint mir, daß der Begriff der  Wahrscheinlichkeit  in seiner  Anwendung auf den Einzelfall  - soweit er nicht etwa bloß die Einfachheit einer Annahme kennzeichnen soll - überhaupt nicht einem Bedürfnis des Denkens, vielmehr ausschließlich einem solchen des Tuns genügt. Was  beobachtet  werden kann, ist die (genaue oder sich der Genauigkeit nähernde)  Häufigkeitsverteilung  innerhalb einer  Gruppe  oder  Reihe  von Gegenständen und insbesondere von Vorgängen. Wenn in einer Urne 99 rote Kugeln und eine weiße Kugel sind und ich hundertmal je eine Kugel ziehe, so werden unter den gezogenen Kugeln  genau  99 rote Kugeln und eine weiße Kugel sein. Wenn ich mit einem gewöhnlichen Würfel 600mal werfe, so wire  annähernd  100mal die  1,  die  2,  die  3,  die  4,  die  5  und die  6  nach oben zu liegen kommen. Aussagen oder auch Vorhersagen über solche  vergleichsweise Häufigkeiten  haben einen bestimmten, genau vorstellbaren Inhalt, sie sind überprüfbar und ohne Zweifel sinnvoll. Was aber soll es bedeuten, wenn ich sage, aus der Urne werde bei einem bestimmten Zug "mit der Wahrscheinlichkeit 1/100" die weiße Kugel gezogen, mit dem Würfel werde bei einem bestimmten Wurf "mit der Wahrscheinlichkeit 1/6" die 3 geworfen werden? Was läßt sich dabei vorstellen, wie könnte eine solche Aussage überprüft werden? Tatsächlich wird doch bei jedem einzelnen Zug die weiße Kugel nur  entweder gezogen oder nicht gezogen,  bei jedem bestimmten Wurf die 3 nur  entweder geworfen oder nicht geworfen  werden! Welche Eigenschaft eines solchen Zuges oder Wurfes könnte also durch die Aussage, es werde bei ihm "mit der Wahrscheinlichkeit 1/100 Weiß gezogen", bzw. "mit der Wahrscheinlichkeit 1/6 3 geworfen" werden, gekennzeichnet sein? Wenn aber keine, was läßt sich bei einer derartigen Aussage überhaupt denken? Die Antwort hat, glaube ich, zu lauten:  Denken  im eigentlichen Sinn läßt sich bei ihr überhaupt nichts, sie ist vielmehr im Grunde eine Richtschnur für ein den Zug oder Wurf betreffendes  Tun.  Solche Züge oder Würfe können nämlich zum Gegenstand einer  Wette  gemacht, bzw. es können Wettscheine, d. i. "Lose", ausgegeben, oder es kann ein aus solchen Wetten aufgebautes  Spiel  veranstaltet werden. Und da zeigt es sich, daß die Wettenden auf die Dauer nur dann vor Verlust bewahrt werden könnten, wenn der  einzelne  Wettteilnehmer auf den  einzelnen  Zug oder Wurf nicht mehr wettete als 1/100 bzw. 1/6 der Wettsumme, bzw. für das Los nicht mehr bezahlte als 1/100 des Treffers, beim Spiel nicht mehr einsetzte als 1/6 des Gewinns. Dasselbe gilt indes auch dort, wo eine Wette nicht ausdrücklich in Erscheinung tritt. Ich sage etwa: Heute bleibe ich lieber zuhause, denn es wird  wahrscheinlich  regnen. Was soll das letztere bedeuten? Vorgestellt und überprüft werden kann nur einerseits, daß, bzw. ob, es heute  regnen  oder  nicht regnen  wird, andererseits, daß, bzw. ob, es an Tagen ähnlicher Wetterlage  öfter  regnet als nicht regnet. Allein der Einzelne muß sich  heute  entscheiden, ob er ausgehen und dann vielleicht durchnäßt werden oder zuhause sitzen (Einsatz!) und dann jedenfalls trocken bleiben (Gewinn!) soll. Dies und nur dies veranlaßt ihn, den höchst absonderlichen Begriff der "Wahrscheinlichkeit im einzelnen Fall" zu bilden, d. h. der auf einen bestimmten, vorstellbaren Sachverhalt zielenden, überprüfbaren, gedanklich einwandfreien Aussage: "Unter den Tagen, an denen es am Morgen so aussieht wie jetzt, sind die Tage, an denen es später regnet,  zahlreicher  als die, an denen es nicht regnet" die Gestalt des auf den Einzelfall bezogenen und darum keinen bestimmten, vorstellbaren Sachverhalt kennzeichnenden, nicht überprüfbaren, scheinbar inhaltslosen Satzes zu geben: "Heute wird es  wahrscheinlich  regnen."

Daß es wahrscheinlich auch heute regnen wird, weil es an Tagen mit ähnlicher Wetterlage auch bisher (meistens) geregnet hat - dies ist ein Verallgemeinerungs- (oder, wie man im Rotwelsch der Fachleute zu sagen pflegt, ein  Induktions-) schluß. Über das gedankliche ("logische") Wesen und die Berechtigung des Verallgemeinerungsschlusses ist in den letzten 200 Jahren viel nachgedacht und verhandelt worden. Die Frage darf jetzt wohl als geklärt gelten. VIKTOR KRAFT hat sie 1925 in seinen "Grundformen der wissenschaftlichen Methoden" beantwortet und eine weitere Ausführung dieser Antwort ist von einem im Druck befindlichen Buch KARL POPPERs zu erwarten. (7) Die Antwort ist von großer Einfachheit. Sie besagt: gedankliche Berechtigung kommt dem Verallgemeinerungsschluß  überhaupt nicht zu,  in den Gedanken, daß etwas so und so oft geschehen ist, ist der andere, daß es wieder geschehen wir, in gar keiner Weise eingeschlossen; die Verallgemeinerung ist einfach eine Annahme, nur daß freilich Annahmen solcher Art bisher von den Tatsachen durchwegs bestätigt worden sind. (Richtiger und bescheidener: so oft sie von den Tatsachen widerlegt wurden, ließ sich das bisher stets als Folge einer zu wenig vorsichtigen, zuwenig eingeschränkten Fassung der Annahme selbst verstehen.) So das reine Denken, d. h. ein Denken, das sich allein auf das Gewisse und Erweisbare, auf das Feststellbare, das schon Erfahrene, also auf das Vergangene oder das Gegenwärtige richtet. Allein der Mensch ist nicht nur ein denkendes, er ist auch, ja er ist vor allem, ein handelndes Wesen. Handeln aber heißt Vorgestelltes verwirklichen, es setzt mithin ein vorstellendes Vorwegnehmen der Zukunft voraus. Das Denken kann sich mit der Erfahrung begnügen; die Tat bedarf der Erwartung, denn Erwartung ist Tatbereitschaft. Ja, daß sie der Erwartung Inhalt gibt, daß sie sie lenkt, darin liegt für den Tätigen die höchste Leistung, der wahre Wert der Erfahrung. Nicht denk-, wohl aber seelenwissenschaftlich wird die Erwartung durch die Erfahrung bestimmt. Verweigert man dieser Bestimmung den Ehrenmann der Erkenntnis und behält ihn dem reinen Denken des Erwiesenen, des Erfahrenen vor, dann wird die Erkenntnis zu einer toten, fürs Leben unfruchtbaren; dehnt man ihren Begriff so weit, daß in ihm für die durch Erfahrung bestimmte Erwartung, für die Fruchtbarmachung des Wissens fürs Handeln Raum bleibt, dann muß er den Bereich des im eigentlichen Sinn Gewußten hinter sich lassen. - Man hat oft, und vom Standpunkt des bloßen Wissens aus mit Recht, bemerkt: wäre die Verallgemeinerung gedanklich unberechtigt, dann dürfte der Mensch auch der erprobtesten Lebensregel nicht folgen, er dürfte das als heilsam Bewährte nicht suchen, das als verderblich Erfahrene nicht fliehen. Zuletzt muß man, so scheint es, diesen Satz umkehren: daß der Mensch den erprobten Lebensregeln folgt, eben das ist der Sinn und eben das auch das Recht, der Verallgemeinerung. Es ist ganz richtig; die Verallgemeinerung ist kein Schluß: sie ist der Übergang vom Wissen zum Tun.

Vielleicht der wichtigste Fall der Verallgemeinerung ist, so scheint es mir, die Wirklichkeitssetzung. Ein Gegenstand ist unter gewissen Bedingungen so und so oft wahrgenommen worden; er hat mein Verhalten auf diese und jene Art beeinflußt, ist durch mein Verhalten so und so beeinflußt worden. Wird er nun unter annähernd gleichen Bedingungen wieder erscheinen, mich ebenso beeinflussen, von mir ebenso beeinflußt werden? Rein gedanklich läßt sich Sicherheit hierüber nicht gewinnen: daß es der Fall sein werde, ist eine Annahme, die sich in ähnlichen Fällen oft bewährt hat, sie beruth, wie man zu sagen pflegt, auf einem bloßen Wahrscheinlichkeitsschluß. Allein mein Verhalten muß diese Annahme entweder zugrunde legen oder nicht und im zweiten Fall mangelt es ihm an jeder Richtschnur. So drängt es mir die Annahme, der Gegenstand werde unter ähnlichen Bedingungen  immer wieder  erscheinen, förmlich auf: es zwingt mich, über jene Einsicht, die mir das Denken vermittelt, hinauszugehen. Solange ich auf dem Standpunkt des reinen Denkens, der strengen Wissenschaft, verbleibe, dürfte ich nur sagen: solche Erscheinungen pflegten bisher in den allermeisten Fällen wiederzukehren; ob aber diese bestimmte Erscheinung nicht dennoch ausbleiben wird, das wird sich im vorhinein  niemals  mit Sicherheit ausmachen lassen. Die Notwendigkeit der Tat reißt mich über alle solche Bedenken hinweg, sie zwingt mich, der Annahme, der Gegenstand werde  immer wieder  erscheinen, er werde mich immer wieder auf dieselbe Art beeinflussen, sich immer wieder auf dieselbe Art beeinflussen lassen, "physische Gewißheit" zuzuerkennen, indem ich  auf sie hin handle.  Einen solchen Gegenstand aber, auf den ich wirke und der auf mich wirkt, auf den ich mich also, sozusagen,  verlassen  kann, nenne ich  wirklich.  Das Denken weiß nur vom schon Feststehenden, Eingetretenen, Erfahrenen; erfahren aber wird stets nur die einzelne Erscheinung; die Tat setzt Vorwegnahme des noch Ungewissen, noch Bevorstehenden, erst Erwarteten voraus; dasjenige aber, was nicht nur erschienen ist, vielmehr auch immer wieder erscheinen, was nicht nur als Vergangenes mit Sicherheit gewußt, sondern auch als Künftiges mit Zuversicht erwartet wird, heißt uns das Wirkliche, das Seiende. Solch ein dauernd Seiendes anzunehmen, können wir als Handelnde nicht umhin; als Wissende kennen wir nur ein vorübergehend Erscheinendes. Nicht das Denken wagt den Sprung von einer unbegrenzten Reihe von Erscheinungen zu dauerndem Sein; nur die Tat erzwingt - und vollbringt ihn. Nicht für ein reines, an den erfahrenen und gewußten Einzelheiten haftendes, nur für ein dem Anspruch der Tat sich öffnendes, von ihm befruchtetes Denken strahlt die Sonne, wogen die Meere, stehen wir alle "mit festen, markigen Knochen auf der wohlgegründeten, dauernden Erde".


VII.

Die reine, um ihrer selbst willen betriebene Wissenschaft ist ein Grenzbegriff, also ein Wunschbild. Ein solches aber wurzelt in einer bestimmten Zeit. Das Gewicht der Lehre, daß die Entstehung geistiger Gebilde von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen abhängt, wird wohl kaum überschätzt, wenn man annimmt, daß der Gedanke der reinen Wissenschaft ursprünglich in einem bürgerlichen Zeitalter zuhause ist. Die Bereitschaft, jede Behauptung jeden Augenblick in Zweifel zu ziehen, jeder Erwägung jederzeit Gehör zu geben, setzt den Dunstkreis des freien Wettbewerbs, überhaupt der Freiheit und der Duldung voraus. Der Entschluß, in allen strittigen Fragen nach der Bildung eines eigenen Urteils zu streben, alles Meinen und Glauben an der Richtschnur der eigenen Einsicht zu messen, bei der eigenen Überzeugung allem Widerspruch, jedem Einfluß gegenüber zu beharren, läßt sich nur dort durchführen - und wird sich auf die Dauer auch nur da durchführen lassen -, wo sich die Selbständigkeit des Denkens auf eine gewisse Selbständigkeit des wirtschaftlichen Seins zu stützen vermag. Die Auffassung der Wissenschaft als eines Wissensvorrats, der ohne Hinblick auf bestimmte Zwecke angesammelt und jeder beliebigen Zielsetzung zu beliebiger Benutzung freigegeben wird, liegt nur einer Zeit nah, in der auch das Wirtschaftsleben vom Grundsatz der Bevorratung, der sogenannten "Kapitalsbildung", beherrscht wird. In Zeiten wirtschaftlicher Not und darum notgedrungener Planmäßigkeit und obrigkeitlicher Allgewalt wird das Wunschbild der reinen Wissenschaft mit kräftigen Gegenbewegungen zu kämpfen haben. Auch hier wird das harte Wort: "Wer zahlt, schafft an" sich durchzusetzen streben. Dies umso mehr, als die Wissenschaft aus sich selbst heraus zu stets fortgehender Besonderung und darum auch zu immer weiterer Ausdehnung drängt. Wir haben besondere Fachleute und Lehrer für Latein und Griechisch, Innere Medizin und Chirurgie. Könnte sich die Wissenschaft völlig frei entfalten, so würde sie besondere Lehrstühle für HOMER und für die Tragiker, für den Typhus und für die Krebskrankheit fordern. In Zeiten der Not ist dafür kein Raum, aber vielleicht auch nicht für  alle  die Sonderwissenschaften, die schon bisher selbständig hervorgetreten sind. Und auch der Versuch, die Wissenschaft wieder unter das Joch der Tat zu beugen, sie wieder als deren Magd zu begreifen, wird nicht ausbleiben.

Es wäre verfehlt, zu meinen, daß die reine Wissenschaft diesem Ansturm von Widrigkeiten nun auch völlig erliegen müsse. Geistige Gebilde behaupten sich auch in Zeiten, die von den Zeiten ihrer ersten Entstehung recht sehr verschieden sind. Diese Macht geschichtlichen Fortwirkens ist eine Tatsache, mögen ihr nun die erwähnten Abhängigkeitslehren mehr oder weniger gerecht werden. Wer sich also der reinen Wissenschaft unlösbar verbunden fühlt, wessen Leben mit ihrem Begriff verwachsen ist, der braucht die Hoffnung nicht fahren, die Fahne nicht sinken zu lassen. Allein wie jeder Kämpfer muß er seine Kräfte nüchtern ermessen, muß sich vor allem vor ihrer Überschätzung hüten. Er darf insbesondere nicht glauben, daß die Wissenschaft den Menschen die Verantwortung für ihre Entscheidungen abnehmen, daß sie für sich allein eine Lebensauffassung begründen, rein aus sich selbst auch nur ihre eigene Darstellungsweise bestimmen, auch nur ihren eigenen Begriffsschatz ganz und gar selbständig gestalten könnte. Er muß sich darüber klar werden und bleiben, was Wissenschaft vermag uns was sie nicht vermag, was sie für sich in Anspruch zu nehmen imstande, was sie der Tat zuzugestehen genötigt ist.
LITERATUR: Heinrich Gomperz, Die Wissenschaft und die Tat, [Vortrag in etwas gekürzter Fassung gehalten in der Philosophischen Gesellschaft zu Wien am 12. Januar 1934], Wien 1934
    Anmerkungen
    5) Meines Erachtens gilt dies für  alle  Wissenschaft überhaupt. Wer sich jedoch vom Glauben an eine  einsichtige  Erkenntnis nicht loszulösen vermag, mag das Folgende auch bloß auf die Erfahrungswissenschaft beziehen. Denn eine unmittelbare, nicht irgendwie durch Erfahrung vermittelte Beziehung einsichtigen Erkennens zur Tat wird ohnehin nicht leicht jemand behaupten wollen.
    6) So z. B. HAGEMANN-DYROFF, Logik und Noetik, Seite 197
    7) Vgl. jetzt auch HERBERT FEIGL, The Logical Character of the Principle of Induction (Philosophy of Science I. 1, Januar 1934).