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GEORG WERNICK
Der Wirklichkeitsgedanke
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"Wir können hier daran erinnern, daß die Wahrnehmung fremder Wahrnehmungen nicht nur unmöglich, sondern daß sogar der Gedanke daran sinnlos ist. Wenn man trotzdem niemals daran gezweifel hat und niemals zweifeln wird, daß man von Mitmenschen umgeben ist, die noch etwas anderes als bloße Objekte sind, so liegt das im letzten Grunde an gemütlichen Bedürfnissen. Wer es im Ernst versuchen wollte, sich den Gedanken anzueignen, daß er allein ein Innenleben führe und nur von Marionetten umgeben sei, wäre dem Wahnsinn verfallen."

"Wie und ob Dinge unabhängig von unserem Denken sind, können wir beim besten Willen niemals feststellen. Dazu wäre erforderlich, daß wir gleichzeitig das Ding und unsere Vorstellung von demselben betrachten und beides miteinander vergleichen: leider aber ist die Betrachtung des  Dinges  bereits seine Vorstellung, so daß man dazu gelangen würde, die Vorstellung mit sich selbst zu vergleichen, was natürlich keinen Sinn hat."

XIV.

Wir kommen endlich zu den sublimsten W-Vorgängen, nämlich zum Fürwirklichhalten fremder geistiger Vorgänge. In gewissem Sinne stehen diese Vorgänge in der Mitte der bisher betrachteten; sie liefern uns ein Äußeres, das wir doch auf gleiche Stufe mit dem Inneren stellen, ein "es, das ich ist", wie FICHTE es ausdrückt. Wir müssen, um ein Verständnis dieser Vorgänge zu erlangen, zunächst daran festhalten, daß uns hier keine neuen Inhalte geboten werden, daß wir es vielmehr mit denselben Inhalten zu tun haben, welche die bisher betrachteten Wirklichkeiten bilden und welche nochmals in anderer Weise gruppiert werden. Während uns im Bereich der subjektiven Wirklichkeit im Gefühl und Willen neue Elemente entgegentraten, die der objektiven Wirklichkeit fehlen, dürfen wir hier derartiges nicht erwarten, denn es läßt sich schlechterdings kein psychisches Element angeben, das wir bei Fremden voraussetzten, ohne es vorher an uns selbst erlebt zu haben. Wenn also die Elemente dieselben sind, so kann das Neue, das uns hier entgegentritt, nur in der Art ihrer Gruppierung liegen. Hier zeigt sich nun zunächst die bemerkenswerte Tatsache, daß zum Teil in das subjektive Belieben gestellt ist, ob und inwieweit wir diese Gruppierung vornehmen. Während kein vernünftiger Mensch an der Wirklichkeit der wahrgenommenen Objekte sowie seines eigenen Ich zweifelt, gehen die Ansichten darüber, ob in bestimmten Fällen fremde geistige Vorgänge da sind oder nicht, weit auseinander. Allgemeine Übereinstimmung hat zu allen Zeiten nur darüber geherrscht, daß unsere Mitmenschen ein geistiges Innenleben führen so gut wie wir selbst. Ob und welche anderen Wesen sich des gleichen Vorzuges erfreuen, das ist eine Frage, über welche die verschiedensten Anschauungen geherrscht haben und noch herrschen. DESCARTES hielt die Tiere für bloße Maschinen, bar jedes Innenlebens. Heute legt man ihnen im allgemeinen eine "Seele" bei, ob und wieweit man jedoch die untere Grenze noch tiefer zu legen hat, darüber ist endlos debattiert, ohne daß man zu einer Einigung gelangt wäre. Während der sogenannte gesunde Menschenverstand meistens im Tierreich den Abschluß der beseelten Wesen erblickt, halten manche Forscher die Pflanzen, ja auch die anorganische Materie einschließliche einschließlich der Atome für innerlich lebendig und mit Bewußtsein begabt. Nicht minder zweifelhaft wie die untere ist die obere Grenze. Hat FECHNER recht, wenn er die Erde als Ganzes, wenn er die Gestirne für beseelt erklärt, gibt es eine allumfassende Weltseele, existieren Geister oder ein höchster Geist, der ohne körperlich zu sein, ein Innenleben durchlebt? Das sind Fragen, die je nach der geistigen Individualität des Gefragten sehr verschieden beantwortet werden. Von Interesse ist die Tatsache, daß man geneigt ist, Objekte für beseelt zu halten, mit denen man sich eingehend beschäftigt, besonders wenn von ihrer Unversehrtheit unser Wohl abhängt. Dem Kind gilt die Puppe als beseeltes Wesen, dem Seefahrer sein Schiff, dem Lokomotivführer die Lokomotive, wie uns das ZOLA in mit Erlaubt sehr glaubhafter Weise in seinem Roman La Bête humaine schildert. Und vollends der Dichter! Felsen, Bäume, Flüsse, Sterne behandelt er wie seinesgleichen; er sieht sie leiden und fröhlich sein, er vernimmt ihre Antworten auf seine Fragen. Wer will sagen wie weit es sich um bildliche Wendungen, wie weit um den Ausdruck der wahren Meinung über eine vorhandene Wirklichkeit handelt. Aus diesen Tatsachen, die sich beliebig vermehren ließen, geht zur Genüge hervor, daß die Du-Wirklichkeit eine ganz besondere Stellung einnimmt. Sie ist nicht eigentlich Gegenstand einer möglichen Erfahrung, sie läßt sich nicht an bestimmten Erfahrungen unzweideutig vorzeigen, wie etwa die Wirklichkeit eines Stückes Holz oder eines selbstgefühlten Schmerzes. Wäre das der Fall, so könnten die Anschauungen über ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein nicht so geteilt sein. Wir befinden uns hier an der äußersten Grenzen der empirischen Psychologie, ja wir streifen schon das Gebiet der Metaphysik. "Für jede Seele ist jede andere Seele eine Hinterwelt", bemerkt NIETZSCHE mit Recht im ZARATHUSTRA und AVENARIUS kennzeichnet denselben Sachverhalt Sachverhalt mit der Behauptung, die Wirklichkeit fremder Personen sei eine "Hypothese der reinen Erfahrung". So prägnant dieser Ausdruck ist, so möchte ich doch hervorheben, daß die Bezeichnung Hypothese hier einen etwas anderen Sinn als den üblichen hat. Unter Hypothesen versteht man sonst Annahmen, deren Kontrolle durch fortgesetzte Erfahrungen mindestens denkbar, die unter Umständen bei Vervollkommnung der Methoden sich als wahr oder als irrtümlich erweisen können. Hypothesen waren es, z. B. daß der Lichtstrahl aus Körperchen, die der leuchtende Körper in den Raum schleudert, sowie daß er in einer Wellenbewegung bestehe. Mit Hilfe von später beobachteten Tatsachen ließ sich nachweisen, daß die erstere Annahme sicher falsch, die zweite zumindest sehr wahrscheinlich richtig ist. Etwas derartiges dürfen wir in unserem Falle nicht erwarten; keine Erfahrung vermag die Annahme von Du-Wirklichkeiten auch nur im geringsten zu bestätigen oder zu widerlegen. Vor etwa 15 Jahren stritt man einmal darüber, ob die Bewegungen eines dekapitierten [enthaupteten - wp] Frosches auf das Vorhandensein von Gefühlen und Empfindungen schließen lassen, zu einem Resultat gelangte man aber nicht und konnte man nicht gelangen, da uns die Erfahrung nicht die geringste Handhabe zur wissenschaftlichen Lösung der Frage darbietet, die eine Annahme vielmehr genau so gut möglich wie die andere ist. Was man wahrnimmt, sind immer nur objektive (physikalisch-chemische) Vorgänge, der Übergang von ihnen zu einer fremden Psyche ist durchaus willkürlich. Wir können hier, auf Früheres bezugnehmend, daran erinnern, daß die Wahrnehmung fremder Wahrnehmungen nicht nur unmöglich, sondern daß sogar der Gedanke daran sinnlos ist. Wenn man trotzdem niemals daran gezweifel hat und niemals zweifeln wird, daß man von Mitmenschen umgeben ist, die noch etwas anderes als bloße Objekte sind, so liegt das im letzten Grunde an gemütlichen Bedürfnissen. Wer es im Ernst versuchen wollte, sich den Gedanken anzueignen, daß er allein ein Innenleben führe und nur von Marionetten umgeben sei, wäre dem Wahnsinn verfallen. Eine Ahnung vom Unheimlichen dieses Gedankens überkommt uns bei der Lektüre der HOFFMANNschen Erzählung "der Sandmann", in welcher wir lange Zeit im unklaren darüber gelassen werden, ob ein gewisses Wesen Automat oder Mensch ist. Auch daß wir die Tiere, zumindest die höheren, für beseelt halten, hat seinen letzten Grund in unserem Gemüt. Die entgegengesetzte Auffassung des DESCARTES erscheint uns als ein Überbleibsel mittelalterlicher Gemütsroheit.

Nach diesen orientierenden Vorbemerkungen wollen wir versuchen, uns ein ungefähres Bild davon zu verschaffen, wie die W-Vorgänge dieser letzten Gruppe zustande kommen. Das erste ist offenbar dieses, daß fremde Objekte vermöge ihrer Ähnlichkeit mit unserem Körper uns lebhaft und eindringlich an diesen erinnern. Dabei bezieht sich die Ähnlichkeit nicht nur auf das ruhende räumliche Gebilde, sondern, was noch wichtiger ist, auf die Veränderungen, die mit ihm vorgehen, auf die Bewegungen, die seine Teile ausführen. Die Gebärde des Abscheus und des Verlangens, der Ausruf der Freude oder des Schmerzes, das Leuchten oder das Umflortsein der Augen usw., das wir als objektives Geschehen am eigenen Körper kennen, begegnet uns auch am fremden. Das hat zur notwendigen Folge, daß die betreffenden psychischen Vorgänge nach dem Gesetz der Gleichzeitigkeit reproduziert und mit dem fremden Körper assoziiert werden. So gewinnen wir das Material für die neue Wirklichkeit, das gemäß seiner Herkunft, wie man sieht, durchaus gedankenhafter Natur ist. Niemals wird die erlebte Gefühls- oder Willensregung oder Wahrnehmung einer fremden, sondern stets der eigenen Person zugerechnet. Wohl kann ich, wenn ich mich zugleich mit anderen in einem brennenden Haus befinde, überzeugt sein, daß sie Furcht empfinden ebenso wie ich, jedoch  die  Furcht, die ich empfinde, schreibe ich ihnen doch nicht zu, ich muß mir vielmehr nochmals das Gefühl  vorstellen,  um es als Glied einer Du-Wirklichkeit bewerten zu können. Wenigstens ist dieses das normale Verhalten; in metaphysischen Spekulationen freilich wird die Sache oft ganz anders gesehen. Da gilt das eigene Erlebnis bisweilen zugleich als Erlebnis des übergeordneten Geistes, eine Anschauung, die mit besonders großer Konsequenz von FECHNER in seinem Zend-Avesta durchgeführt ist.

Mit der bloßen Reproduktion gewisser Elemente ist es jedoch noch nicht getan. Würden wir dabei stehen bleiben, würden wir uns mit der Behauptung begnügen, daß gewisse Körper an subjektiv wirkliche Vorgänge  erinnern,  so würden wir den Boden der reinen Erfahrung nicht im mindesten verlassen, nicht die Vorstellung einer neuen Wirklichkeit bilden. Auch DESCARTES reproduzierte, wenn er sah, wie ein kleiner Hund vor einem verfolgenden größeren mit allen Zeichen des Schreckens floh, gewiß die Vorstellung Furcht, aber ein W-Vorgang von der hier in Rede stehenden Art lag bei ihm doch nicht vor. Die Wirklichkeitsbewertung des reproduzierten Inhaltes ist also in der Reproduktion als solcher keineswegs enthalten, sondern ein weitergehender Vorgang. Ich denke mir Entstehung und Verlauf desselben etwa folgendermaßen. Wir allen glauben die Erfahrung zu machen, daß unser Körper von den von uns erlebten Gefühlen und Willensimpulsen gelenkt wird. Wir können uns die meisten Bewegungen, die wir an ihm wahrnehmen, nicht anders erklären, als daß wir sie veranlaßt denken durch die subjektiv bewerteten Inhalte des Gefühls und des Willens. Daß in der Tat die objektive Wirklichkeit einen in sich geschlossenen, lückenlosen Kausalzusammenhang zeigt, kommt für uns gar nicht in Betracht. Diese Erkenntnis, die die Naturwissenschaften erst in einem sehr späten Stadium ihrer Entwicklung gewonnen haben, dringt nur zu sehr wenigen Menschen und auch diesen fällt es nicht ein, andauernd sie sich vorzuhalten und nach ihr die Ergebnisse des Augenscheins, die eine andere Deutung zu verlangen scheinen, zu korrigieren. Auf diese Weise gelangt man dazu, Gefühl und Willen als Kräfte aufzufassen, die das objektive Geschehen zunächst des eigenen Körpers regieren und die selbst beinahe Glieder der objektiven Wirklichkeit sind. Finden wir nun an fremden Körpern Bewegungen oder sonstige Veränderungen, die uns gleichfalls der objektiv gültigen Kausalität zu widersprechen scheinen, so übertragen wir auf sie, was wir am eigenen Körper glauben gelernt zu haben, indem wir in ihren Zusammenhang an geeigneten Stellen Gefühl und Willen einfügen, nur daß diese Inhalte hier, wie wir bemerken, nicht Erlebnisse, sondern Reproduktioinen sind. So erscheint uns denn der Fremde Körper zunächst fühlend und wollend wie der unsrige, Gefühl und Wille gelten nun als objektiv wirkende Kräfte und erfahren damit eine Wirklichkeitsbewertung, die über die Tatsache der Reproduktion hinausgeht. Wie man sieht, ist diese Erklärung ganz analog der früher für die  objektive  Bewertung von reproduzierten Inhalten gegebenen. Der W-Vorgang beruth nicht auf einer besonderen Beschaffenheit des vorgestellten Inhalts, sondern in seiner Beziehung zu anderen Inhalten. Ein bestimmter Zusammenhang von Wirklichkeitsfarben, den die Erfahrung uns immer wieder zeigt, begründet eine Assoziationsform, die auch da angewandt wird, wo die Wirklichkeitsfarben nicht mehr in diesem Zusammenhang stehen. Der Unterschied liegt nur darin, daß wir es dort mit Empfindungsinhalten und deren Komplexen zu tun hatten, hier mit Gefühl und Willen, die, wie wir an anderer Stelle gesehen haben, eine Einfügung in den objektiven Wirklichkeitszusammenhang nicht zulassen, sondern eine andere Wirklichkeitsbewertung (die subjektive) für sich beanspruchen.

Wir halten fremde Körper für fühlend und wollend; das ist der erste und wichtigste Schritt, den wir auf dem Weg der Anerkennung von Du-Wirklichkeiten vollziehen, aber er bleibt nicht, wenigstens nicht immer, der einzige. Dem Mitmenschen zumindes legen wir auch Wahrnehmungen und Vorstellungen und deren Komplexe bei. Wenn z. B., während ich mich am Fuße eines Aussichtsturms befinde, von dessen Höhe man, wie ich weiß, das Meer sehen kann, mein Freund diesen Turm besteigt und ich bemerke, wie er Ausschau hält, so halte ich die in diesem Augenblick eintretende Wahrnehmung des Objekts für wirklich. Damit erfährt der Inhalt Meer eine Wirklichkeitsbewertung, die gegenüber der Anerkennung seiner objektiven Existenz sowie seines Daseins als meiner eigenen Vorstellung offenbar etwas neues ist. Es ist etwas umständlich, dieses Neue bis zu seinem letzten Grund hin lückenlos zu erklären, aber die prinzipielle Möglichkeit dazu ist, wie ich glaube, durch unsere früheren Erörterungen gegeben. Sowie wir eine bestimmte Gruppierung der Wahrnehmungsinhalte in Beziehung zum eigenen, vom Willen regierten Körper setzen, so auch zum fremden. Die innere Struktur des Vergangenen bietet nichts wesentlich Neues, die Assoziationen sind durchaus identisch mit den früher betrachteten, nur wird der Inhalt "eigener Körper" durch den Inhalt "fremder Körper" ersetzt. In der Tat denken wir uns das fremde Seelenleben stets gleichartig mit dem eigenen, ein vom unsrigen prinzipiell verschiedenes Erleben vermögen wir kaum vorzustellen, geschweige denn für wirklich zu halten.

Es ist selbstverständlich nicht unsere Aufgabe, die unendlich weitreichenden Folgen zu besprechen, die die genannten Vorgänge für unser gesamtes Seelenleben nach sich ziehen, nur eine sei in aller Kürze erwähnt, das Gefühl und Bewußtsein sittlicher Pflichten. Dasselbe wurzelt durchaus in der Anerkennung fremder psychischer Wirklichkeit und entwickelt sich im allgemeinen umso lebhafter, je sicherer sich der Prozeß dieser Anerkennung vollzieht. Ein kleines Kind ist sich keines Unrechts bewußt, wenn es einen Käfer zu Tode quält, da der Gedanke an das Innenleben desselben nicht oder beinahe nicht vorhanden ist; ebensowenig kann beim Erwachsenen das Gefühl für sittliche Pflichten aufkommen, solange er die Nebenmenschen als bloße Maschinen ansieht, die auf bestimmte Einwirkungen in bestimmter Weise reagieren; die Verschwommenheit des Wirklichkeitsgedankens wird hier direkt zum sittlichen Manko.


XV.

Hiermit bin ich am Schluß meiner Erörterungen angelangt. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, eine letzte Antwort auf alle behandelten Fragen gegeben zu haben, glaube aber doch, das Problem in einer neuen Beleuchtung gezeigt zu haben. Einer eindringenderen Analys muß die Aufhellung manches noch dunklen Punktes vorbehalten bleiben. Mir war es vor allem um den Nachweis zu tun, daß das Fürwirklichhalten in psychologischer Hinsicht ein äußerst mannigfaltiger Vorgang ist, der sich jedoch in allen Fällen auf gewisse Assoziationsphänomene zurückführen läßt. Es ist schon gelegentlich angedeutet worden, daß dieses Resultat, wenn es als richtig anerkannt wird, nicht ohne Einfluß auf die Theorie der Existenzialsätze, ja des Urteilsproblems überhaupt bleiben könnte. Ein näheres Eingehen auf diesen Punkt muß ich mir an dieser Stelle versagen, dagegen will ich noch einer schwierigen Frage, die, ohne in unserem Problem enthalten zu sein, sich doch auf das engste an dasselbe anschließt, eine kurze Betrachtung widmen. Wir haben so viel vom Fürwirklichhalten  gesprochen, um das Wirklich sein  haben wir uns aber nicht gekümmert. Was bedeutet dieser Begriff, ist er identisch mit dem Fürwirklichgelten oder enthält er ganz neue Momente? Ich will, um nach Möglichkeit Anschluß an unser Hauptproblem zu behalten, die Frage so formulieren: in welcher Beziehung stehen die beiden Urteile: ich halte  X  für wirklich (A), und  X  ist wirklich (B)? - Zwischen zwei Urteilen  A  und  B  sind im ganzen fünf Beziehungen möglich; entweder sind sie miteinander identisch (äquivalent) oder die durch  B  getroffenen Festsetzungen sind sämtlich in  A  enthalten oder umgekehrt oder beide Urteile treffen zum Teil dieselben Festsetzungen, zum Teil solche, die im anderen nicht enthalten sind oder endlich die sämtlichen Festsetzungen des einen sind von denen des anderen verschieden. Welche von diesen Beziehungen trifft nun in unserem Fall zu? Wir wollen sie nicht alle fünft zum Gegenstand der Erwägung machen, sondern uns nur fragen, ob die zweite zutrifft oder nicht. Es handelt sich also darum, ob im Urteil "ich halte  X  für wirklich" das Urteil  "X  ist wirklich" mit seinen sämtlichen Festsetzungen enthalten ist oder nicht. Anders ausgedrückt: ob mit dem ersten Urteil implizit das zweite gefällt ist oder nicht. Ein im allgemeinen leicht anwendbares Kriterium gestattet es, in fast allen Fällen die Frage zu beantworten. Ist nämlich  B  in  A  enthalten, so muß offenbar stets und ausnahmslos,  wenn A  zutrifft,  B  gleichfalls zutreffen, da natürlich die inhaltsvollere Behauptung nur dann richtig sein kann, wenn jede der in ihr enthaltenen Teilbehauptungen richtig ist. Beispielsweise stehen die beiden Urteile: "Diese Figur ist ein Parallelogramm" und "diese Figur ist ein Viereck" im fraglichen Verhältnis und demgemäß trifft das letztere a potiori [der Hauptsache nach - wp] zu, wenn das erstere zutrifft. Liegt nun in unserem Fall dasselbe Verhältnis vor? Man wird geneigt sein, diese Frage zu verneinen. Wir wissen, daß wir oft Dinge für wirklich halten, die es nicht sind, wir geben also die Möglichkeit zu, daß  A  richtig und gleichzeitig  B  falsch ist, damit aber ist die Annahme, daß  B  in  A  enthalten sei, als unzulässig erwiesen. Es muß mit dem Urteil, daß  X  wirklich sei, etwas gemeint sein, was mit dem Urteil, daß ich  X  für wirklich halte, nicht gemeint ist, es müssen die mit der Fällung des ersten Urteils gesetzten Bestimmungen, mögen sie im Einzelfall zutreffen oder nicht, über die Bestimmungen des zweiten hinausgehen.

So lautet die These, doch nun der Beweis der Antithese. Wenn ich einen Gegenstand für wirklich halte, so meine ich damit nichts anderes und kann nichts anderes meinen, als daß er wirklich  sei.  Wenn ich urteile: ich halte  X  für wirklich, so sind zwei Fälle möglich: entweder besteht das Urteil für mich nicht zurecht oder es involviert das zweite Urteil,  X  sei wirklich. Es geht nicht an, im Ernst zu behaupten, man halte etwas für wirklich und dennoch die Möglichkeit offen zu lassen, daß es nicht wirklich sei. Wer diese Möglichkeit offen läßt, der hält den Gegenstand eben nicht für wirklich, sondern höchstens seine Existenz für wahrscheinlich. Wer also das Urteil fällt, er halte  X  für wirklich, der fällt damit implizit das Urteil,  X  sei wirklich und - können wir hinzusetzen - er fällt es auf die einzige Art, wie es überhaupt gefällt werden kann, denn es ist schlechterdings nicht abzusehen, wie ich ein Ding auf anderem Wege als wirklich beurteilen soll, als indem ich es für wirklich  halte.  Die Behauptung, man  halte  etwas für wirklich, muß also in jedem Fall entweder als dem Sachverhalt nicht entsprechend zurückgenommen werden oder sie involviert das Urteil, daß es wirlich sei. - So stehen sich These und Antithese schroff gegenüber und es frägt sich, wie wir sie miteinander vereinigen können. Wir wollen zunächst versuchen,  aufgrund von empirisch nachweisbaren Tatsachen  den Widerspruch zu mildern oder - wenn möglich - aufzuheben. Da bietet sich uns nun zunächst die Tatsache des Irrtums an. Wäre das Auftreten von Irrtümern nicht Gegenstand der inneren Erfahrung, so würde auch jener Widerspruch nicht in Erscheinung treten; die Behauptungen, wir hielten etwas für wirklich und es sei wirklich, wären völlig gleichwertig, irgendeine Spannung zwischen ihnen nicht denkbar. Nun aber machen wir häufig die Erfahrung, daß unser Urteil über die Wirklichkeit von Dingen sich häufig ändert, daß wir etwas zu einer Zeit für wirklich, später vielleicht für nicht wirklich halten. Diese Tatsache erscheint nicht wunderbar oder widerspruchsvoll, wenn wir bedenken, daß W-Vorgänge durch  Motive  bedingt sind, die unter Umständen im entgegengesetzten Sinn wirken und daß es von Zufälligkeiten abhängen kann, ob die Motive der einen oder der anderen Art die Oberhand gewinnen. Haben wir aber erst einmal Erfahrungen dieser Art in hinreichendem Maße gemacht, so kann die Erinnerung daran jedem erlebten W-Vorgang gegenüber zum Gefühl bzw. Urteil Anlaß geben, daß derselbe in Zukunft möglicherweise in sein Gegenteil verkehrt werden wird. Die Worte:  "ich halte  etwas für wirklich" erhalten nun einen Nebensinn, den sie vordem weder hatten noch haben konnten, indem sie gleichzeitig mit dem W-Vorgang den Gedanken zum Ausdruck bringen, daß dieser in Zukunft vielleicht durch Motive, die jetzt noch nicht wirksam sind, in sein Gegenteil verkehrt werden wird. Aber auch die Behauptung, daß ein Gegenstand wirklich  sei,  will jetzt mehr als den bloßen W-Vorgang ausdrücken, sie will gerade den Fall, den wir soeben als möglich hingestellt haben, nämlich die Änderung des Urteils über die Wirklichkeit, für die Zukunft ausschließen, sie will sagen, daß wir bei einem Resultat angelangt sind, bei dem wir uns beruhigen und stehen bleiben. Daß wir aber imstande sind, auch diese Aussage zu machen und sie mit dem Bewußtsein der inneren Berechtigung auszustatten, liegt wiederum an bestimmten Erfahrungen. Wenn wir es nämlich auch oft genug erleben, daß unsere Urteile über die Wirklichkeit Änderungen erleiden, so begegnet uns doch noch häufiger der Fall, daß das Urteil, wenigstens von einem gewissen Zeitpunkt an, dauernd unverändert bleibt. Häufig schwanken unsere Ansichten über die Wirklichkeit eine Zeitlang hin und her, bis ein Motiv, vielleicht in Form einer Wahrnehmung auftritt, das die Entscheidung bringt und dessen Einfluß nicht mehr bestritten wird. Während also jene Behauptung den bloßen W-Vorgang zum Ausdruck bringt, dessen spätere Aufhebung durch gegnerische Motive an sich möglich ist, will diese die zukünftige Meinungsänderung ausschließen und damit für das Fortbestehen des Vorgangs für alle Zeiten Gewähr leisten. Der Unterschied liegt also nicht sowohl im W-Vorgang an sich, als vielmehr in einer Reflexion über ihn; je nachdem ich mich mit seiner Feststellung begnüge oder seine Gültigkeit auch in der Zukunft gesichert halte, gelange ich zu der einen oder der anderen Behauptung.

Damit haben wir eine Bestimmung kennen gelernt, die im Gedanken der Wirklichkeit, nicht jedoch in dem der Wirklichkeitsgeltung enthalten ist. Die Entscheidung ist somit im Sinne der These ausgefallen, der zufolge die Inhaltssphäre des Urteils  B  hinausgreift über die des Urteils  A.  Ob jedoch die von uns angeführte Bestimmung die einzige ist, durch die sich beide Gedanken bzw. Urteile voneinander unterscheiden, wird manchem zweifelhaft erscheinen. Wir stehen hier vor einer der allerwichtigsten philosophischen Entscheidungen. Wir suchten bisher die Wirklichkeit allein auf die gesicherte Wirklichkeitsgeltung zurückzuführen. Aber, wird man einwenden, haben wir nicht alle einen Begriff von der Wirklichkeit, demzufolge sie unabhängig davon ist, ob etwas für wirklich gilt oder nicht? Halten wir nicht auch den Fall für denkbar, daß wir uns andauernd über die Wirklichkeit gewisser Dinge im Irrtum befinden und hätte nicht die Wirklichkeit trotz dieses Irrtums ihren guten Sinn? Also muß in der Wirklichkeit irgendein Moment enthalten sein, das über die Wirklichkeitsgeltung prinzipiell, nicht graduell, hinausgeht und in ihr nicht enthalten ist. Wenn wir so argumentieren, geraten wir eine Klemme, aus der nicht leicht ein Ausweg zu finden ist: einmal soll die Wirklichkeit ein Moment enthalten, das mit dem Fürwirklichhalten gar nichts zu tun hat (auch ohne es besteht), andererseits soll die Wirklichkeit doch Gegenstand des Wissens sein, das heißt doch, mit allen ihren Momenten in den psychologischen Prozeß eingehen. SIGWART schildert die Schwierigkeit, die sich hier ergibt, mit folgenden Worten (Logik I, Seite 92):
    "Daraus erhellt sich die eigentümlich Schwierigkeit, die dieser Begriff des Seins mit sich führt; einerseits ist, um ihn überhaupt aussprechen zu können, eine Relation zu mir, dem Denkenden vorausgesetzt; das Objekt ist von mir vorgestellt, weil es in irgendeine Beziehung zu mir getreten ist; daß es sei, ist mein Gedanke; aber durch diesen Gedanken selbst wird diese bloße Relativität wieder aufgehoben und behauptet, das Seiende sei auch abgesehen von seiner Beziehung zu mir und einem anderen denkenden Wesen, daß das Sein nicht in dieser Relation aufgehe, als Gegenstand meines Bewußtseins gedacht zu werden."
Wie sollen wir vielleicht dennoch versuchen, ein Moment ausfindig und namhaft zu machen, welches dem Wirklichen, nicht aber dem für wirklich Geltenden zukommt und daher jenes vor diesem auszeichnet? An Bestrebungen in diesem Sinne hat es nicht gefehlt. Sie bewegen sich meistens in der Richtung des HERBARTschen Satzes, daß das Wirkliche oder wie er sagt, das Reale, eine absolute Position sei. Leider bleibt dann völlig unbegreiflich, wie dann die Wirklichkeit von Dingen Gegenstand der Erfahrung sein kann. Was ich von den Dingen erfahre, sind nur die Wirkungen, die sie unmittelbar oder mittelbar auf mich ausüben, die Beziehungen, in die sie meiner Person gegenübertreten, also gerade dasjenige, was ihre Wirklichkeit  nicht  ausmacht. Wie ich trotzdem zu einer  absoluten  Position dieser Dinge gelange, ohne den Boden der Erfahrung zu verlassen, bleibt völlig rätselhaft, allenfalls die Wirklichkeit des eigenen Ich, nie jedoch die anderer Dinge könnte Gegenstand der Erfahrung sein. - Wesentlich demselben Einwand unterliegt die verwandte These, wirklich sein heiße unabhängig von unserem Denken und Vorstellen sein. Wie und ob Dinge unabhängig von unserem Denken sind, können wir beim besten Willen niemals feststellen. Dazu wäre erforderlich, daß wir gleichzeitig das Ding und unsere Vorstellung von demselben betrachten und beides miteinander vergleichen: leider aber ist die Betrachtung des  Dinges  bereits seine Vorstellung, so daß man dazu gelangen würde, die Vorstellung mit sich selbst zu vergleichen, was natürlich keinen Sinn hat. Wohl kann man durch vergleichende Beobachtung Unabhängigkeiten feststellen, aber doch nur die Unabhängigkeit zwischen wirklichen Dingen, so z. B. zwischen dem Drcuk eines gesättigten Dampfes und seinem Volumen. Das wird dadurch ermöglicht, daß man jedes dieser Dinge für sich beobachten und dann die gewonnenen Resultate miteinander vergleichen kann. Ein entsprechendes Verhältnis zwischen dem Ding und seiner Vorstellung liegt jedoch nicht vor, da uns die Dinge nicht in doppelter Weise, sondern durchaus einfach gegeben sind. Wir können also auch unter Voraussetzung der letztgenannten These nicht verstehen, wie es möglich ist, jemals die Wirklichkeit eines Gegenstandes festzustellen. Daß hier auch andere Schwierigkeiten auftreten, sei nur in Parenthese [als Einschub - wp] erwähnt. Es läßt sich nicht leugnen, daß ich mich selbst mit meinen Gedanken und Vorstellungen für wirklich halte. Um dahin zu gelangen, müßte ich also das Kunststück fertig bekommen, festzustellen, daß ich - von mir selbst unabhängig bin.

Man sieht, auf diesem Weg gelangen wir nicht dazu, die Schwierigkeit zu überwinden. Es ist eine innerlich widerspruchslose und daher unlösbare Aufgabe, ein Moment anzugeben, das das Wirkliche im Gegensatz zu dem für wirklich Geltenden charakterisiert, dabei aber die Tatsache begreiflich zu machen, daß wir das Wirkliche als solches erkennen. Diese letztere Tatsache verlangt, daß wir dasjenige, was das Wirkliche als solches auszeichnet, auch an ihm bemerken können, woraus denn umgekehrt folgt, daß eben damit, daß wir es bemerken, die Wirklichkeit des Gegenstandes gesichert ist. Läge die Schwierigkeit nur in der Tatsache, daß unser Urteil in jedem einzelnen Fall möglicherweise falsch sein kann, daß wir also über Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit streng genommen nie völlig sicher sind, so würden wir diese Unvollkommenheit unserer Natur vielleicht bedauerlich finden, uns jedoch schließlich damit abfinden; für uns liegt die Schwierigkeit jedoch weit tiefer, nämlich in der Frage, was denn mit der Wirklichkeit überhaupt gemeint ist, ohne in der Wirklichkeitsgeltung mit gedacht zu sein.

Ich meine nun, daß ein doppelter Ausweg aus der geschilderten Schwierigkeit möglich ist. Der erste besteht darin, daß wir uns bedingungslos zur oben skizzierten Ansicht bekennen, daß Wirklichsein in der Tat nichts mehr ist als "mit Sicherheit für wirklich gelten". Diese Ansicht erscheint, wenn man sich näher mit ihr vertraut gemacht hat, keineswegs so paradox wie im ersten Moment. Man ist zunächst geneigt, die Wirklichkeitsgeltung als eine Art Widerschein des Wirklichseins anzusehen; wenn aber diese Auffassung uns in unentwirrbare Widersprüche verstrickt, so versuchen wir es vielleicht mit besserem Erfolg mit der entgegengesetzten, daß die Wirklichkeit der gleichsam nach einem Punkt reflektierte Widerschein zahlreicher Wirklichkeitsgeltungen sei. Die besonders achtunggebietende Stellung, die der Wirklichkeitsgedanke innerhalb des psychischen Geschehens einnimmt, würde dann im letzten Grund darauf beruhen, daß zahllose Erfahrungen die unerschütterliche Überzeugung von der Eindeutigkeit der Wirklichkeit in uns haben heranreifen lassen. Die Konsequenzen dieser Anschauung wären ohne Zweifel äußerst tiefgreifend. Als einzige Aufgabe der Wissenschaft hätten wir die möglichst eingehende Beschreibung der Inhalte und ihrer Assoziationen anzusehen, da ja in dieser Sphäre alles Vorhandene enthalten wäre. Dieses unter allgemeinen Gesichtspunkten zu tun, wäre Sache der Philosophie, die unter anderem zu zeigen hätte, wie sich aufgrund des vorhandenen Inhaltsmaterials sowohl der objektive als auch der subjektive Wirklichkeitszusammenhang bilden. Damit könnte denn das alte Problem des Verhältnisses zwischen Geist und Materie in neuem Gewand seiner Lösung zugeführt worden. Aufgabe der Spezialwissenschaften wäre es dann, das  Wirkliche  einer genaueren Betrachtung zu unterziehen und zwar fiele das Objektive den Naturwissenschaften, das Subjektive den Geisteswissenschaften, die Durchdringung von Objektivem und Subjektivem den historisch-geographischen Wissenschaften zu. Die Wissenschaften von den Werten würde ich zu den psychologischen zählen, indem ich mich auf die Auffassung von EHRENFELS stütze, der zufolge der Ursprung der Werte in den tatsächlich auftretenden Begehrungen liegt ("Ein Wert ist dasjenige, was, wenn es nicht vorhanden ist, begehrt.") Während also der Philosophie die Aufgabe verbliebe, die man ihr eigentlich stets zugewiesen hat, den letzten Grund des Wirklichen (nach unserer Aufassung Inhalte und Assoziationsformen) zu untersuchen, wäre es Sache der übrigen Wissenschaften, das Wirkliche zu erforschen. Weiter sieht man, daß die Psychologie nicht nur wie die Naturwissenschaften, ihre letzte Begründung durch die Philosophie erhalten, sondern auch weiterhin in Berührung mit ihr bleiben würde, wodurch das traditionelle Verhältnis dieser beiden Wissenschaften, das sich erst in der letzten Zeit gelockert hat, seine Rechtfertigung erfahren würde. - Eine weitere Verfolgung dieser Gesichtspunkte würde uns an dieser Stelle zu weit führen.

Wer mit der hier skizzierten Anschauung, die ich nicht geradezu als unvermeidliche Konsequenz meiner früheren Erörterungen hinstellen möchte, nicht einverstanen ist, sondern im Wirklichsein ein Moment erblicken will, das im W-Vorgang, wie wir ihn beschrieben haben, d. h. in der speziellen Assoziation von Inhalten  nicht  enthalten ist, dem böte sich vielleicht noch ein anderer Ausweg aus der oben geschilderten Schwierigkeit. Wenn es nämlich auch, wie wir gezeigt haben, unmöglich ist, das unterscheidende Moment  anzugeben  und  vorzuzeigen,  so könnte es dennoch  erlebt  werden, jedoch so, daß es sich der nachträglichen Reflexion entzieht, es wäre mit anderen Worten denkbar, daß wir im W-Vorgang etwas erfahren, das durch keine noch so genaue Zergliederung desselben nachzuweisen wäre. Die Frage, ob in  B  Bestimmungen enthalten seien, die in  A  nicht enthalten sind, wäre dann zu bejahen, doch würde man den Versuch einer Fixierung dieser Bestimmungen als aussichtslos aufgeben. Wir wollen uns genauer ausdrücken. Der Standpunkt des forschenden Psychologen ist ein anderer als der des erlebenden Menschen. Um über psychologisch Vorgänge nachzudenken, müssen wir uns gleichsam aus ihnen hinausversetzen, ihnen entschlüpfen. Ein intuitives Erfassen der inneren Vorgänge ist - darüber sind wir uns seit KANT wohl einig - nicht möglich; wohl können wir den Ablauf der psychischen Erscheinungen beobachten, wir können sehen, wie Vorstellungen auftauchen und Verschwinden, sich vereinigen und trennen, aber dieses Sehen ist etwas anderes als das Auftauchen, Verschwinden, sich Vereinigen und Trennen selbst. Der Standort, den wir einnehmen, ist notwendig ein äußerer; was wir von ihm aus beobachten, ist daher dem Erlebnisselbst nicht völlig gleichwertig. Diese Tatsache setzt den Wert psychologischer Erkenntnisse vielleicht etwas herab, aber sie läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Ein Bild mag noch deutlicher machen, was wir meinen. Einem Chemiker kann die Entstehung eines neuen, ihm unbekannten Körpers durch eine Anzahl von Gleichungen mit mathematischer Genauigkeit beschrieben werden, derart, daß er eine lückenlose Erkenntnis von der Entstehung und der Zusammensetzung des fraglichen Körpers gewinnt. Aber trotzdem ist er nicht imstande, sich vom Aussehen und der physikalischen Beschaffenheit des Körpers daraufhin eine sichere Vorstellung zu machen. Sobald er den Körper sieht, ist ihm dieser doch etwas Neues, etwas anderes als die Gesamtheit der nach bestimmten Gesetzen verbundenen Stoffe. Ähnlich ist es mit psychischen Erscheinungen und ihrer Beobachtung. Die Beobachtung gibt uns zwar darüber Auskunft, welche Elemente in Aktion treten und von welcher Art die Aktion ist, aber das Resultat des ganzen Vorganges lernen wir doch erst kennen, wenn wir es erleben. Behauptet z. B. jemand, ein Komplex entstehe, indem zwei oder mehr Vorstellungen, die gleichzeitig bewußt sind, sich vereinigen, so ist damit alles gesagt, was wir vom Vorgang in der Reflexion zu erfassen vermögen, aber trotzdem würde niemand aufgrund dieser Erklärung wissen, was ein Komplex ist, wenn er ihn nicht selber bildet. So ist jede psychologische Beschreibung eigentlich nichts anderes als ein nicht mißzuverstehender Hinweis auf das Erleben dessen, der die Beschreibung liefert und eine Aufforderung zum Nacherleben, gerichtet an den, der die Beschreibung hört. In gleicher Weise könnte man versucht sein, auch die Theorie des Fürwirklichhalten einzuschätzen. Mögen wir noch so genau die Vorgänge beschreiben, die dieses Phänomen ausmachen, so könnte doch noch ein anderes in ihm enthalten sein, das nur im Erleben, nicht in der nachkonstruierenden Reflexion erfaßt werden kann. Der letzte Sinn des Wirklichkeitsgedankens wäre dann nicht zu erkennen, nicht aus der Beschaffenheit des psychologischen Vorgangs abzuleiten. Wie eindringend auch die Wissenschaft die Vorgänge analysieren mag, zwischen ihr und dem Leben bleibt eine Kluft, die, wie die Sachen einmal liegen, nie völlig ausgefüllt werden kann.
LITERATUR - Georg Wernick, Der Wirklichkeitsgedanke, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 31, Leipzig 1907