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GEORG WERNICK
Der Wirklichkeitsgedanke
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"Ich halte beispielsweise den König Amenhotep für wirklich, weil ich in einem Geschichtsbuch, das mir als zuverlässig bekannt ist, von ihm lese. Aber daß diese Vorstellung sich mir mit zwingender Gewalt aufdrängt, davon spüre ich nicht das Geringste."

"Wir nehmen nicht alle Inhalte in gleicher Weise hin, sondern nehmen Stellung zu ihnen, wir sprechen den einen einen besonderen Wert zu, den wir anderen versagen."

IV.

Die Erörterungen des ersten Abschnitts haben uns die Möglichkeit gelassen, ja, es uns zur Pflicht gemacht, unser Problem in Unterfragen zu zerlegen. Damit gewinnen wir den Vorteil, unsere Aufmerksamkeit nacheinander auf eng begrenzte Gebiete lenken zu können, was uns ermöglicht, dieselben schärfer ins Auge zu fassen. Freilich steht diesem sachlichen Vorteil ein Nachteil für die Darstellung gegenüber. Die Beantwortung der späteren Unterfragen wird zum Teil im selben Sinne ausfallen wie die der ersten, und, um Wiederholungen zu vermeiden, werden wir summarisch auf früher Gesagtes hinweisen müssen.

Die Frage, die uns zunächst beschäftigen wird, ist also die: was heißt es, einen Inhalt für objektiv wirklich halten? Und nur diese Art des Fürwirklichhaltens ist in den folgenden Abschnitten mit dem Ausdruck W-Vorgang gemeint. Zunächst sei eine allgemeine Vorbemerkung gestattet. Wir müssen, um nicht in verhängnisvolle Unklarheiten zu geraten, streng unterscheiden zwischen den Motiven des Vorgangs und diesem selbst. Nun sind die psychischen Tatsachen meistens so eng miteinander verflochten, daß diese Unterscheidung nicht ganz leicht ist. Daraus entstehen Unklarheiten in der Ausdrucksweise, die aber auch auf die Behandlung der Frage übergehen können. So versteht man z. B. unter Aufmerksamkeit einen gewissen Zustand, aber auch die psychischen Bedingungen, die ihn veranlassen können. In vielen Fällen ist folgendes Kriterium von Nutzen. Ein Motiv kann im allgemeinen durch andere Motive in seiner Wirksamkeit aufgehoben werden. Die Möglichkeit liegt also vor, daß ein Motiv  M  des fraglichen Vorgangs  V  vorhanden ist, ohne daß dieser selbst eintritt. Läßt sich also nur ein einziger Fall aufzeigen, in dem  V  ohne  M  vorhanden ist, so ist damit der Beweis geführt, daß  M  kein Bestandteil von  V,  sondern möglicherweise ein Motiv davon ist.

Die Antworten, die man auf die Frage nach dem W-Vorgang gegeben hat, scheiden sich in zwei Grupen. Entweder nimmt man an, daß das Fürwirklichhalten in einer besonderen Eigenschaft besteht, die der für wirklich gehaltene Inhalt, solange er als wirklich gilt, besitzt, oder daß es in einer besonderen Beziehung des fraglichen Inhalts zu anderen Inhalten besteht. Lösungen der ersten Art will ich als absolute, solche der zweiten als relative bezeichnen. Ich spreche zunächst über absolute Lösungsversuche. Dieselben weisen entweder auf einen Zwang hin, den wir seitens des für wirklich Geltenden verspüren, oder sie nehmen eine besondere, nicht weiter definierbare, als Grundphänome anzuerkennende Beziehung des Bewußtseins auf den Vorstellungsinhalt an oder endlich sie weisen auf die qualitative Beschaffenheit des Empfundenen gegenüber dem Reproduzierten hin. Wir wollen unsere Erörterungen zunächst auf "gedankenhafte" Inhalte beschränken, womit die letzte der drei Lösungen vorläufig ausfällt, da sie natürlich nur für die Wirklichkeitsbewertung des sinnlich Wahrgenommenen in Betracht kommt. Prüfen wir also die beiden erstgenannten Annahmen.

Das für wirklich Geltende soll sich uns mit einer besonderen Gewalt aufdrängen und sich dadurch vor den flüchtigeren Phantasievorstellungen auszeichnen. Dieser Zwang kann nun ein im gegenwärtigen Augenblick erlebter oder er kann die bloße Vorstellung eines früher erlebten Zwanges sein. Die erste dieser Annahmen steht mit den offenkundigsten Tatsachen in so hartem Widerspruch, daß sie im Ernst nicht verteidigt werden kann. Ich halte beispielsweise den König AMENHOTEP für wirklich, weil ich in einem Geschichtsbuch, das mir als zuverlässig bekannt ist, von ihm lese. Aber daß diese Vorstellung sich mir mit zwingender Gewalt aufdrängt, davon spüre ich nicht das Geringste. Oder ich lese das eine Mal einen in hohem Maße fesselnden Roman, im anderen Fall eine höchst langweilige historische Darstellung, so kann ich nicht zugeben, daß die Vorstellungen im zweiten Fall einen größeren Zwang ausübten als im ersten, eher das umgekehrte. Wenn mir, während ich stark ermüdet bin, ein Freund, den ich für völlig glaubwürdig halte, eine verwickelte Geschichte erzählt, die er eben erlebt hat, so halte ich dieselbe für wirklich, aber von einem Zwang seitens der Vorstellungen merke ich nicht das geringste, im Gegenteil, ich muß mir viel Mühe geben, sie aufgrund der gehörten Worte zu bilden und festzuhalten. Und wie ist es, wenn ich mich auf Halbvergessenes besinne? Mit Mühe vergegenwärtige ich mir Teile des Inhaltes, wobei ich sie trotz Fehlens irgendeines Zwanges für wirklich halte. Und nun das Gegenstück. Es begegnet mir bisweilen, daß Ekel erregende Vorstellungen aus einer erdichteten Erzählung, die ich früher einmal über mich habe ergehen lassen müssen, in mir auftauchen und trotz besten Willens nicht aus dem Bewußtsein weichen. Natürlich fällt es mir trotz des Zwanges nicht ein, die betreffenden Dinge für wirklich oder auch nur für wahrscheinlich zu halten. - Wir können es ganz allgemein aussprechen, daß die Vorstellung eines Wirklichen uns in keiner Hinsicht mit größerer Intensität entgegentritt als die eines Nichtwirklichen,  der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit ist kein Intensitätsunterschied.  Ob ich mich mit den Gestalten eines Romans oder einer Geschichtsepoche beschäftige, die "Energie, Lebhaftigkeit, Widerstandsfähigkeit, Beständigkeit oder Festigkeit" (1) der Vorstellungen kann in beiden Fällen ganz gleich sein. Praktische Naturen werden sich mehr zu den Vorstellungen der zweiten, ästhetische zu denen der ersten Art hingedrängt fühlen. Hier den Unterschied zwischen Wirklichem und Nichtwirklichem zu suchen, der für alle zurechnungsfähigen Menschen derselbe ist, geht nicht an. - So charakterisiert sich diese ganze Hypothese schon auf den ersten Blick als ein Verlegenheitsprodukt schlimmster Art. Wir haben es demgemäß nicht einmal nötig, auf die Schwierigkeiten einzugehen, die sich aus dem Versuch, die Natur des angeblichen Zwanges genauer zu bestimmen, ergeben. Mag man glauben, daß er sich in einem besonderen Gefühl kundgibt, oder dadurch, daß wir einen Widerstand gegen unseren Willen spüren, wenn wir die Vorstellung aus dem Bewußtsein zu verscheuchen suchen, beide Annahmen können wir als gleich unhaltbar bezeichnen.

Weit plausibler erscheint die Annahme, daß es sich nicht um einen momentan erlebten Zwang, sondern um die bloße Vorstellung eines solchen, um die Erinnerung an frühere Zwangszustände handelt. Es bedarf etwas eingehenderer Überlegungen, um auch diese Ansicht zurückzuweisen. Zunächst erfordert sie eine Ergänzung, insofern sie erklären muß, wo wir denn den Zwang  erlebt  haben, dessen Vorstellung wir reproduzieren sollen. Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Die  Wahrnehmungen  stellen sich nämlich stets mit zwingender Gewalt bei uns ein. Die Erinnerung, diesen Zwang seitens gewisser Vorstellungsinhalte verspürt zu haben, bzw. die Erwartung, ihn seitens anderer in Zukunft - wenigstens nach Erfüllung einiger Bedingungen - zu verspüren, könnte das eigentliche Wesen der W-Vorgänge ausmachen. Allein so verlockend diese Annahme auf den ersten Blick erscheint, unterliegt sie doch schweren Einwänden, von denen zwei hier angeführt seien. Erstens reicht sie nicht aus, den N-W-Vorgang, d. h. die Tatsache des Für nichtwirklichhalten  zu erklären. Man wird hier zuerst an das einfache Fehlen der Zwangsvorstellung denken. Demgegenüber ist jedoch hervorzuheben, daß das Absprechen der Wirklichkeit noch etwas ganz anderes ist als das Aufhören ihrer Zuerkennung. Sehe ich ein Tier abgebildet, das mit keinem der mir bekannten übereinstimmt, dessen Bau aber auch keine Unmöglichkeit zeigt, so halte ich mein Urteil über Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit zurück, ein geflügeltes Ross dagegen halte ich mit der größten Bestimmtheit für nichtwirklich. Nicht für wirklich und für nichtwirklich halten ist zweierlei, für beide Tatsachen aber hat die Hypothese in der angegebenen Form keinen Raum. Es bliebe nur noch übrig, ihr eine Ergänzung hinzuzufügen, dem Wirklichkeitszwang den Nichtwirklichkeitszwang an die Seite zu stellen, von denen sich der eine zum anderen wie  +  zu  -  oder wie Lust zu Unlust verhielte. Beim Plus-Phänomen, so etwa könnte man sich die Sache denken, zwingt  mich  die Vorstellung, sie zu haben, beim Minus-Phänomen muß ich sie zwingen standzuhalten, im ersteren Fall hat die Vorstellung die Tendenz zu bleiben, sie wehrt sich gegen Unterdrückung, im letzteren hat sie die Tendenz zu gehen und wehrt sich gegen Erhaltung. Allein man sieht leicht, daß diese Ansicht rein schematisch konstruier und nicht mit der Erfahrung in Einklang zu bringen ist. Wenn ich Märchen aus 1001 Nacht höre, halte ich das Vorgestellte sicher für nicht wirklich (auch wenn ich mir dieses Verhalten nicht durch ein Urteil zu Bewußtsein bringe), aber wo merkte ich etwas von einem negativen Zwang, den ich seitens dieser Vorstellungen spürte oder von ihnen ausgehend dächte, vielmehr gebe ich mich ruhig und behaglich ihrem Kommen hin, ohne an irgendeine Mühe zu denken, die mir ihr Festhalten bereiten könnte. Gewiß, die Vorstellung des negativen Zwangs kann nicht darauf Anspruch erheben, durch Beobachtung der Tatsachen gewonnen zu sein.

Der wichtigste Einwand jedoch, der die fragliche Hypothese trifft, ist der, daß sie uns nicht die Intensitätslosigkeit und die damit zusammenhängende Diskontinuität des W-Vorgangs erklären kann. Ich kann einen Inhalt nicht für mehr oder weniger wirklich halten, vielmehr bleiben mir, wenn ich mein Urteil nicht aussetzen will, nur die Möglichkeiten, ihn für wirklich oder nichtwirklich zu halten. Es ist dieses eine höchst charakteristische Eigenschaft des Wirklichkeitsgedankens. Überall sonst können wir uns zwischen Gegensätzen kontinuierliche Übergänge vorstellen. Vom Schwarz gelange ich durch die verschiedenen Nuancen des Grau zum Weiß, von der höchsten Tapferkeit durch ihre niederen Grade schließlich zur höchsten Feigheit, von intensiver Lust zu intensiver Unlust u. ä. Nichts derartiges findet sich beim Wirklichkeitsgedanken, bei ihm gibt es nur ein Entweder - Oder. Wie steht es nun mit der Vorstellung eines Zwanges? Die Vorstellung kann mehr oder weniger lebhaft sein, der vorgestellte Zwang stärker oder schwächer. In beiden Beziehungen haben wir ein stetig abgestuftes Intensitätskontinuum, das alle möglichen Werte vom Maximum bis Null durchlaufen kann. Wie sollen wir das mit der Diskontinuierlichkeit des Wirklichkeitsgedankens in Einklang bringen? Man wird erwidern, daß der Wirklichkeitsgedanke doch auch seine Grade hat, insofern ich etwas mit geringerer oder größerer subjektiver Gewißheit für wirklich halten kann. Gewiß,  diese  Tatsache ließe sich durch die gemachten Annahmen vielleicht erklären, aber die andere Tatsache, die doch ebenfalls einer Erklärung bedarf, bleibt völlig unbegreiflich. So sehen wir, daß die Hypothese an dieser entscheidenden Stelle der eigentümlichen Natur des Wirklichkeitsgedankens nicht gerecht wird; nur dann könnte sie in Betracht kommen, wenn es unzählige Grade von Wirklichkeit gäbe und wenn die Nichtwirklichkeit eine der Intensität nach abgeschwächte Wirklichkeit wäre.

Zur vollständigen Aufdeckung eines Irrtums gehört, wie BRENTANO einmal bemerkt, auch die Aufhellung seiner Ursache. Wir erblicken dieselbe in folgendem. Ein Zwang liegt hier in der Tat vor, nur spüren wir ihn nicht seitens des für wirklich geltenden Inhaltes, sondern seitens des W-Vorgangs, insofern derselbe trotz aller Willensanstrengung nicht in sein Gegenteil verkehrt werden kann. Nehmen wir an, ich denke an meinen gestrigen Spaziergang. Daß seine Vorstellung sich mit größerer Gewalt aufdrängt als irgendein Phantasiegebilde, ist Fabel, aber  wenn  ich an diesen Spaziergang denke, ist es mir allerdings unmöglich, ihn für unwirklich zu halten. Mit unwiderstehlicher Gewalt vollzieht sich in vielen Fällen der Vorgang, aber mit dieser Feststellung ist über sein Wesen noch nicht das Geringste ausgesagt. Eine Kanonenkugel durchbohrt mit großer Gewalt Bretterwände, wenn wir aber nachträglich angesichts der angerichteten Zerstörung fragen, worin der Zerstörungsvorgang bestanden hat, so ist uns natürlich nicht mit der Antwort gedient, er sei gewaltsam geschehen. Erst wenn wir hören, daß dort unversehrte Bretter gestanden haben und daß ein Geschoß von dem und dem Kaliber mit der und der Geschwindigkeit sie getroffen hat, können wir uns zufrieden geben. So gehört auch hier der Zwang in vielen Fällen zum Wie des Vorgangs, sein Was findet aber durch ihn keineswegs seine Erklärung.

Bevor wir diese Hypothese endgültig verlassen, wollen wir noch einen Blick auf eine Abart derselben werfen, die gleichfalls auf den in diesem Gebiet mehr fruchtbaren als konsequenten HUME zurückgeht. Man hat nämlich mit Preisgabe des Zwangs angenommen, daß der W-Vorgang einfach in einem besonderen Gefühl besteht, dem Überzeugungsgefühl (belief), das mit dem betreffenden Inhalt verbunden ist. Allein hier gelten dieselben Einwendungen, die wir oben gemacht haben und wir können uns daher sehr summarisch fassen. Wir müßten annehmen, daß dieses Gefühl, so gut wie jedes andere, alle Grade durchlaufen und durch den Indifferenzpunkt hindurch in das entgegengesetzte übergehen kann; dieses stimmt aber mit der Diskontinuität des Wirklichkeitsgedankens nicht im geringsten überein. Ferner müßten wir die Hypothesen dahin ergänzen, daß verschiedene, sehr deutlich differenzierte Gefühle auftreten, je nachdem es sich um eine gegenwärtige, vergangene oder zukünftige Wirklichkeit handelt. Ich halte z. B. ein Ereignis für gestern wirklich und für vorgestern unwirklich, einem anderen gegenüber verhalte ich mich gerade umgekehrt; beide Wirklichkeitsbewertungen müßten durch verschiedene Gefühle gekennzeichnet sein, denn beide unterscheide ich sehr deutlich voneinander. Endlich müßten, wie wir über das uns zunächst Beschäftigende hinausgreifend bemerken, noch besondere Gefühle von der Wirklichkeit des psychischen Geschehens unterrichten. Wir gelangen also zu einer über alle Maßen großen Kollektion von Gefühlen, nur schade, daß sie sich in der Erfahrung nicht nachweisen lassen. Man sage mir, welches Gefühl sich für mich mit der Vorstellung der Zahl 37 verknüpft, insofern ich daran denke, daß diese Zahl irgendwo in der Straße als Hausnummer vorhanden sein muß, deren Haus mit der Nummer 100 ich vor mir sehe! Richtig ist nur, daß die Vorstellung des Wirklichen häufig mit gewissen Gefühlen verbunden ist, doch sind diese nicht der W-Vorgang selbst, sondern seine Folgen. Wenn ich das Eintreffen eines Unglücks für die nächste Zukunft erwarte, werde ich allerdings von anderen Gefühlen bewegt, als bei der bloß phantasiemäßigen Vorstellung des Unglücks, aber der W-Vorgang muß doch bereits vorliegen, damit jene Gefühle entstehen können. Vom Wirklichen erwarte ich ander und meist tiefer gehenden Beeinflussung meines Wohlbefindens als von dem nur Gedachten und dieser Tatsache trägt das Gefühlsleben Rechnung. Infolgedessen ist das für wirklich Geltende meist von einer großen Anzahl von Gefühlen umwoben und umsponnen, die sich im Einzelnen nicht übersehen lassen, die aber den betreffenden Inhalt eine ganz besondere Färbung geben. So lange nicht nachgewiesen ist, daß die angeblich den W-Vorgang  bildenden  Gefühle als eine bloße Verwechslung mit diesen  Folge gefühlen sind, kann ihre Annahme nicht im geringsten als begründet gelten.


V.

Eine andere absolute Erklärung ist diese: Auf das für wirklich Geltende beziehen wir unser Bewußtsein in anderer Weise, als auf das bloß Vorgestellte. Es ist uns kein bloßer Inhalt, sondern etwas, was darüber hinaus anerkannt zu werden verdient. Hier liegt eine besondere psychische Fähigkeit vor, einen Inhalt zum Bewußtsein zu erheben, die weder auf Einfacheres zurückzuführen noch auch zu definieren ist, die aber jeder an sich selbst unmittelbar erlebt. Wir nehmen nicht alle Inhalte in gleicher Weise hin, sondern nehmen Stellung zu ihnen, wir sprechen den einen einen besonderen Wert zu, den wir anderen versagen. Den Beweis dafür, daß es sich um etwas Neues gegenüber den Vorstellungen handelt, erblicken die Vertreter dieser Anschauung in der Tatsache, daß man jeden Vorstellungsinhalt, welcher Art er auch sein mag, nachdem er fertig ist, nun noch als wirklich oder nicht wirklich beurteilen kann, was offenbar nicht sein könnte, wenn die Wirklichkeitsbewertung schon in einer besonderen Form der Vorstellung bestände. Die hier skizzierte, von HILLEBRAND als idiogenetisch bezeichnete Auffassung ist zwar zunächst als Urteilstheorie vorgetragen, da aber ihr Schöpfer Urteilen und Fürwirklichhalten im Grunde als dasselbe ansieht, muß sie hier besprochen werden. Sie ist, wie man sieht, der im vorigen Abschnitt behandelten ungefähr entgegengesetzt. Dort war es das passive Erdulden einer Nötigung, hier ist es das Ausüben einer besonderen Tätigkeit, dort - um in KANTs Sprache zu reden - ein empirischer Zwang, hier ein Vermögen a priori. Der empirische Zwang war mit den Erfahrungstatsachen nicht zu vereinen, sehen wir, wie es in dieser Hinsicht mit dem Vermögen a priori bestellt ist! Es ist zunächst zuzugeben, daß sich hier das Fürnichtwirklichhalten sehr ungezwungen erklärt, indem man einfach der Fähigkeit des Anerkennens eine solche des Verwerfens zur Seite stellt. Ebenso macht die Diskontinuität des Wirklichkeitsgedankens nicht die geringste Schwierigkeit, ja sie würde sich sogar als notwendige Folgerung aus der Theorie ergeben. Aber an anderer Stelle erweist sich die idiogenetische Lehre als unzureichend, sie vermag uns nämlich nicht zu erklären, wie wir Inhalte in ganz verschiedenem Sinne für wirklich halten können. Wäre sie richtig, so hätten wir jedem Inhalt gegenüber nur die Wahl, ihn anzuerkennen oder abzulehnen, d. h. ihn für wirklich oder nicht wirklich zu halten. Demgegenüber haben wir oben gezeigt, daß zunächst die Vorgänge der subjektiven und der objektiven Wirklichkeitsbewertung voneinander verschieden sind. Aber auch innerhalb des Gebietes der objektiven Wirklichkeit finden sich noch weitere Unterschiede, so z. B. der zwischen vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Wirklichkeit. Auch hier liegt der Unterschied nicht in dem für wirklich gehaltenen Vorstellungsinhalt, sondern im Wirklichkeitsgedanken als solchem. Es ist nicht so, daß ich mir ein Vorkommnis erst als vergangen denke und dann der so entstandenen - reicheren - Vorstellung nun noch die Wirklichkeit zuspreche, das wäre eine ganz unsinnige Annahme, vielmehr, insofern ich etwas für vergangen halte, spreche ich ihm bereits Wirklichkeit zu. Die Vergangenheit ist also im betreffenden Urteil nicht Teil des Subjekts, sondern des Prädikats, wie es ja auch in der sprachlichen Fixierung des Gedankens hervortritt, die mit der Zeitbestimmung die Kopula oder das Verbum belastet. (2) Und schließlich ist es mit dem in Bausch und Bogen Fürvergangenhalten auch noch nicht getan, ich kann vielmehr einem wirklichen Ereignis der Vergangenheit für andere vergangene Zeiten doch wieder die Wirklichkeit absprechen. - Ebenso wie mit den zeitlichen näheren Bestimmungen ist es aber auch mit den räumlichen: ich halte einen Inhalt für wirklich an einer Stelle und gleichzeitig für nichtwirklich an allen anderen Stellen. Wie dieses alles zugeht, erklärt uns die idiogenetische Theorie in keiner Weise. Eine Gruppe von Tatsachen als nicht weiter erklärbares Urphänomen hinzustellen, demgegenüber jeder Versuch einer weiteren Analyse abzulehnen sei, ist aber nur dann angängig, wenn in jenen Tatsachen nicht mehr fundamentale Unterschiede auftreten, was hier jedoch der Fall ist. Will man sich trotzdem auf die Theorie versteifen, so bleibt nichts anderes übrig, als eine unendliche Zahl von verschiedenen, nicht weiter analysiserbaren Fähigkeiten der Anerkennung und Verwerfung anzunehmen. Damit ist aber für die Erklärung der Tatsachen nicht viel gewonnen, ja man kann sagen, daß die Theorie damit ihren Bankrott zugibt. Natürlich ist es unbenommen, jeden einzigen psychischen Akt einem besonderen Vermögen zuzuschreiben, aber eine uns befriedigende Erklärung liegt erst da vor, wo wir verschiedene Erscheinungen auf gemeinsame Grundtatsachen zurückführen. (3) Kurz, die Theorie einer ursprünglichen psychischen Fähigkeit, sich gewisser Objekte als wirklich bewußt zu werden, entbehrt der nötigen Elastizität, um die Fülle der Erscheinungen begreiflich zu machen.
LITERATUR - Georg Wernick, Der Wirklichkeitsgedanke, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 30, Leipzig 1906
    Anmerkungen
    1) DAVID HUME, Traktat über die menschliche Natur, Ausgabe von LIPPS, Seite 125
    2) Charakteristischerweise beschäftigt sich - soweit mir bekannt ist - die Schule BRENTANOs nirgends eingehend mit der Bedeutung des Tempus der Kopula, während über diese selbst doch so viel gesprochen wird.
    3) Für nicht ganz beweiskräftig halte ich die Kritik, die JERUSALEM an der Lehre BRENTANOs ausübt (Urteilsfunktions, 1895, Seite 70). JERUSALEM glaubt, diese Lehre durch den Nachweis zu widerlegen, daß sie sich in "Tautologien" bewege: ein Urteil ist wahr, wenn sein Gegenstand existiert, ein Gegenstand existiert, wenn das ihn anerkennende Urteil wahr ist. Daß diese Tautologie bei BRENTANO auftritt, läßt sich nicht leugnen, ich halte jedoch ihr Vorhandensein nicht für so schlimm, wie JERUSALEM annimmt. Derartige Tautologien sind unvermeidlich für jemand, der einen letzten Grund der Erscheinungen aufdecken und dem Verständnis nahe bringen will, sie können zur Erläuterung dessen, was gemeint ist, nicht entbehrt werden. Das Verdienst der Entdeckung könnte aber trotz der Tautologien vorhanden sein.