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GOSWIN KARL UPHUES
Wahrnehmung und Empfindung
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"Nicht bloß Aristoteles und seine Schüler halten die Wahrnehmung für den ursprünglichen und ersten der Erkenntnisvorgänge, dasselbe gilt auch von einer großen Zahl moderner Forscher, die ihre Sprache nach allerdings die Empfindung für einen früheren Vorgang zu halten scheinen. Wenn sie das Sehen einer Farbe, das Hören eines Tones ein Empfinden nennen und von einem Empfinden anderer sinnlicher Qualitäten reden, so betrachten sie die Empfindung offenbar nicht als ein Insichfinden oder als ein Bewußtsein von einem Innern, sie verstehen dann vielmehr unter Empfindung eben das, was wir als Wahrnehmung bezeichnen."

Vorrede

Das Problem der Wahrnehmung ist in letzter Zeit öfter Gegenstand der Untersuchung gewesen, das des Bewußtseins weniger oft. Der Verfasser geht von der Überzeugung aus, daß beide Probleme nur im Zusammenhang miteinander behandelt werden können und versucht von diesem Standpunkt aus einen Beitrag zur Lösung dieser Probleme zu bieten.

Der Grundgedanke seiner Untersuchungen ist folgender: Es gibt Bewußtseinsinhalte, die nicht als Bewußtseinszustände betrachtet werden können. Zu diesen gehören die Sinneseindrücke oder sinnlichen Qualitäten. Sie bilden den Gegenstand der äußeren Wahrnehmung; die Bewußtseinszustände, hingegen, die Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen sind Gegenstand der inneren Wahrnehmung. Wie wir aus den Sinneseindrücken die äußere Welt der Körper aufbauen, so setzt sich aus den Bewußtseinszuständen die innere Welt des Ich zusammen. Man wird zugeben müssen, daß die sinnlichen Qualitäten der Farbe, des Geschmacks und Geruchs als Bewußtseinsbeschaffenheiten nicht aufgefaßt werden können. Das Bewußtsein ist doch nicht grün oder blau, es schmeckt nicht sauer oder bitter. Aber der Anerkennung dieses unzweifelhaften psychologischen Tatbestandes stehen schwerwiegende erkenntnistheoretische Bedenken entgegen. Sind die sinnlichen Qualitäten, die wir den Dingen in der äußeren Wahrnehmung beilegen, Sinneseindrücke und nicht wirkliche Eigenschaften der Dinge, so scheint es müssen sie auch als Bewußtseinszustände oder Bewußtseinsbeschaffenheiten aufgefaßt werden. Vielen gilt es darum als selbstverständlich, daß in der äußeren Wahrnehmung "Bewußtseinsbeschaffenheiten als Eigenschaften der Dinge gesetzt werden". Im vorliegendem Werk wird der Versuch gemacht, den skizzierten psychologischen Tatbestand den erkenntnistheoretischen Bedenken gegenüber sicher zu stellen.

Die Sinneseindrücke werden in der äußeren Wahrnehmung nicht als Bewußtseinsinhalte, sondern als Eigenschaften von Dingen aufgefaßt. Der Gegensatz von Bewußtseinsinhalten und wirklichen Dingen spielt in der äußeren Wahrnehmung keine Rolle. Erst eine auf dieselbe gerichtete innere Wahrnehmung überzeugt uns, daß wir in der äußeren Wahrnehmung mit Bewußtseinsinhalten operieren. Mit der Wahrnehmung einfacher Sinneseindrücke, insbesondere der Töne, Gerüche, Geschmäcke, sofern sie nicht als Eigenschaften auf äußere Dinge bezogen werden, verbindet sich leicht und häufig eine Auffassung derselben als Bewußtseinsinhalte. Wir bezeichnen diese Auffassung als Empfindung und Unterscheiden sie von der äußeren Wahrnehmung. Sie ist in der Tat eine innere Wahrnehmung der Sinneseindrücke. Äußere und innere Wahrnehmung sind auch in diesem Fall verschiedene Akte. Würden die einfachen Sinneseindrücke sofort als Bewußtseinsinhalte aufgefaßt, wäre mit anderen Worten die äußere Wahrnehmung dasselbe mit der Empfindung, so wäre es schwer begreiflich, wie wir die Sinneseindrücke als Eigenschaften von Dingen betrachten und aus ihnen eine bewußtseinsfreie Welt aufbauen können. Da ferner diesem Fall die Beziehung auf das Bewußtsein den Sinneseindrücken wesentlich zu sein scheint, so würden sie kaum von den Bewußtseinszuständen unterschieden werden können. Freilich ist es ein gewöhnlicher Fehler der Selbstbeobachtung, daß dasjenige, was nur Ergebnis einer auf die inneren Vorgänge gerichteten inneren Wahrnehmung sein kann, als Bestandteil der inneren Vorgänge selbst angesehen wird, ein Fehler, auf den noch kürzlich BENNO ERDMANN nachdrücklich aufmerksam gemacht hat (BENNO ERDMANN, Zur Theorie der Apperzeption, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. X, Seite 320). Dieses Fehlers macht man sich schuldig, wenn man annimmt, die Sinneseindrücke würden in der äußeren Wahrnehmung als Bewußtseinsinhalte aufgefaßt, oder, wie man sich gewöhnlich ausdrückt, sie seien als Empfindungen gegeben. ERDMANN hebt mit Recht hervor, wie schwierig es sei, "die stets vorhandene Fehlerquelle zuzuschütten", daß es einer Vergleichung des ursprünglich durch die äußere Wahrnehmung gesetzten Bewußtseinszustandes mit dem durch die innere Wahrnehmung gesetzten bedarf und der Versuch auch dann nur gelingt, "wenn man sich einigermaßen geübt hat". Aber den Gehörseindrücken, insbesondere den Tönen gegenüber, ist der Übergang vom einfachen Bewußtwerden in der äußeren Wahrnehmung zur Auffassung derselben aus bewußt in der inneren Wahrnehmung zur Auffassung derselben als bewußt in der inneren Wahrnehmung oder Empfindung ein verhältnismäßig häufiges Vorkommnis, da "die Gehörseindrücke der Versenkung in uns selbst einen überaus mächtigen Anlaß bieten (BERGMANN). Den Tönen gegenüber scheint darum auch der Unterschied beider Akte verhältnismäßig leicht konstatiert werden zu können.

Nicht bloß die Bewußtseinszustände, sondern auch die Sinneseindrücke können demnach Gegenstand der inneren Wahrnehmung sein. Aber die Auffassung beider in der inneren Wahrnehmung ist eine verschiedene. Die Bewußtseinszustände werden als Bewußtsein von einem Inhalt, als Wahrnehmen, Vorstellen, Empfinden eines Etwas, als Lust oder Unlust über etwas aufgefaßt und so auf das Ich als seine Bestandteile bezogen; die Sinneseindrücke hingegen werden in der inneren Wahrnehmung nur als Inhalte des Bewußtseins aufgefaßt; sie können darum auch nicht auf das Ich als seine Bestandteile bezogen, sondern müssen als Eigenschaften der Dinge betrachtet werden.

Wenn wir sagen, die Sinneseindrücke werden in der inneren Wahrnehmung als Bewußtseinsinhalte aufgefaßt, so heißt das natürlich nicht: wir wenden den Begriff Bewußtseinsinhalt auf dieselbe an. Das wäre ja ein abstraktes Denken und kein Wahrnehmen. Es heißt nur: die Sinneseindrücke treten in der inneren Wahrnehmung als Bewußtseinsinhalte auf; oder: wir sind aufgrund der ihnen zuteil werdenden Auffassung instand gesetzt, den Begriff Bewußtseinsinhalt zu bilden. Der alte Unterschied zwischen dem  universale directum  [das unmittelbar Allgemeine - wp] und dem  universale reflexum  [das reflektierte Allgemeine - wp] muß hier beachtet werden. Unter Auffassung verstehen wir jenen Vorgang, durch den wir ein Wissen von irgendetwas gewinnen. Die Ausdrücke Bewußtwerden, Zum-Bewußtsein-Kommen bezeichnen dasselbe. Aber es gibt auch ein nicht namentliches, nicht begriffliches Wissen und nur dieses ist gemeint, wenn wir von einer Auffassung der Sinneseindrücke als Bewußtseinsinhalte, wie wir sie der Empfindung zuschreiben, reden.

Von der inneren Wahrnehmung wird in diesen Untersuchungen ein umfassender Gebrauch gemacht. In gewissem Sinne ist die innere Wahrnehmung auch Gegenstand derselben. Sind unsere Auseinandersetzungen richtig, so muß sie als ein besonderer, von den Bewußtseinszuständen verschiedener und keineswegs immer mit ihnen auftretender Akt betrachtet werden. Mit dem Hören und Sehen ist manchmal, aber nicht immer, eine auf diese Akte gerichtete innere Wahrnehmung verbunden. Diese Überzeugung bestimmt die Stellung des Verfassers gegenüber den entsprechenden Erörterungen BRENTANOs und BERGMANNs (BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Seite 121f und Seite 166f; BERGMANN, Vorlesungen über Metaphysik, Seite 63f und 263f). Über die zur Lösung der so schwierigen Probleme der Wahrnehmung und des Bewußtseins aufgestellten Theorien gedenkt er in einem größeren Werk eingehender zu handeln. Den im vorliegenden Buch hierzu gegebenen Beitrag bittet der Verfasser als einen vorläufigen Versuch betrachten zu wollen.




E I N L E I T U N G

Erstes Kapitel
Über Wahrnehmung und Empfindung im allgemeinen

Wie verhält sich Wahrnehmung und Empfindung? Diese Frage muß sich jedem aufdrängen, der von den Untersuchungen der Forscher unserer Tage über die äußere sinnliche Wahrnehmung, über das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Kenntnis nimmt. Empfindung und Wahrnehmung wird in diesen Untersuchungen häufig gerade so synonym gebraucht, wie in der Sprache des gewöhnlichen Lebens. Von Tast-, Gesichts- usw. Wahrnehmungen wird in gleicher Weise geredet, wie von Empfindungen dieser Art.

Aber das Wort "Empfindung" wird doch in auffallender Weise bevorzugt; nicht bloß das Riechen, Schmecken, Berühren, auch das Sehen und Hören wird meistens als ein Empfinden bezeichnet. Der in der Sprache des gewöhnlichen Lebens fast nur für Temperatur und Muskelwahrnehmungen, außerdem etwa auch für Berührungswahrnehmungen feststehende Gebrauch scheint sich in der Sprache der Wissenschaft auf alle von Sinnesreizen unmittelbar ausgelösten psychischen Vorgänge ausdehnen zu wollen. Besonders vorsichtige Forscher vermeiden augenscheinlich mit voller Absicht das Wort "Wahrnehmung"; wie "empfinden" ganz unpassend erscheint, wie sehr zusammengesetzten Objekten z. B. Musikstücken, Landschaften gegenüber, sagen sie statt "wahrnehmen" "perzipieren"; oder sie schränken den Begriff der Wahrnehmung künstlich ein, indem sie dieselbe als Auffassen komplizierter Objekte oder als Fürwahrhalten, Behaupten des Empfundenen defnieren. Der Urheber der letzteren Ansicht wollte offenbar mit seiner Definition die im Wort  Wahrnehmung  liegende Beziehung auf einen unabhängig von ihr gegebenen und bestehenden Gegenstand beseitigen (JOHN STUART MILL). Seine Nachfolger haben diese Absicht nicht festgehalten.

Fast alle diese Forscher gehen von der an und für sich genommen sehr verständlichen Voraussetzung aus, daß die Empfingung der Wahrnehmung gegenüber auf alle Fälle der frühere und einfachere Vorgang ist. Die Empfindung ist ja, wie es scheint, ihrem Begriff nach als das, was "wir in uns finden", im Bewußtsein beschlossen, von ihr muß ausgegangen werden, um etwas außerhalb des Bewußtseins zu finden, zu "gewahren", sei es nun daß die Empfindung selbst oder das innerlich Empfundene auf das außerhalb des Bewußtseins Befindliche übertragen, also objektiviert, sei es daß sie als Wirkung des außerhalb des Bewußtseins Befindlichen aufgefaßt werde. Wie sollten wir denn zu etwas außer uns gelangen können, wenn nicht von unserem Innern aus und was sollte unter einem Äußeren verstanden werden können, wenn nicht ein anderes angeschautes Inneres?

So sehr sich diese Annahme auf den ersten Blick empfiehlt, sie steht im Widerspruch mit den Tatsachen. Wie immer das erklärt werden mag, tatsächlich ist unsere ganze Erkenntnistätigkeit in erster Linie und hauptsächlich auf das von uns Verschiedene und nicht auf uns selbs, auf das Äußere und nicht auf das Innere gerichtet. Daß das ursprünglich und zunächst der Fall ist, müssen wir aus einer Reihe auf die seelische Entwicklung des Kindes bezüglicher Beobachtungen unbedingt schließen. Die Empfindung als etwas, das wir in uns finden, als ein Inneres, dessen wir uns als solchen bewußt werden, kann deshalb nicht als der frühere und einfachere, d. h. weniger voraussetzende Vorgang gegenüber der Wahrnehmung betrachtet werden.

Der Nachweis insbesondere, daß die Empfindung in diesem Sinne nicht bedingender Bestandteil der äußeren Wahrnehmung ist, bildet den Gegenstand der folgenden Untersuchung. Der modernen Gewohnheit entgegen rücken wir überall die Wahrnehmung in einem näher zu bestimmenden Sinne in den Vordergrund und suchen sie als den ursprünglichen und ersten der Erkenntnisvorgänge zu erweisen. Wir stellen damit, in anderer Weise freilich, die Anschauung wieder her, die ARISTOTELES bereits geltend machte und die sich des ungeteilten Beifalls seiner Schüler im Altertum und im Mittelalter erfreute. DESCARTES nahm anstatt der Wahrnehmung die Vorstellung zum Ausgangspunkt, CONDILLAC endlich die Empfindung; die letzte Anschauung ging dann auf die modernen philosophischen Forscher und auf die Physiologen über. Sie greift in gewisser Weise auf PLATON zurück, der in der Tat die Empfindung als den Anfangszustand der Seele in ihrem empirischen Dasein betrachtete, als einen Bewußtseinsvorgang, der die Erkenntnistätigkeit aus ihrem Schlummer weckt.

Aber nicht bloß ARISTOTELES und seine Schüler halten die Wahrnehmung für den ursprünglichen und ersten der Erkenntnisvorgänge, dasselbe gilt auch von einer großen Zahl moderner Forscher, die ihre Sprache nach allerdings die Empfindung für einen früheren Vorgang zu halten scheinen. Wenn sie das Sehen einer Farbe, das Hören eines Tones ein Empfinden nennen und von einem Empfinden anderer sinnlicher Qualitäten reden, so betrachten sie die Empfindung offenbar nicht als ein Insichfinden oder als ein Bewußtsein von einem Innern, sie verstehen dann vielmehr unter Empfindung eben das, was wir als Wahrnehmung bezeichnen. Nur diejenigen Forscher machen eine Ausnahme, welche glauben, daß das Sehen einer Farbe und das Hören eines Tones, wie die übrigen durch die Sinne vermittelten Erkenntnisvorgänge, nur durch Objektivation eines subjektiven Inhaltes oder durch eine Beziehung des letzteren als Wirkung auf eine von ihm verschiedene Ursache zustande kommt.

Ob man den ersten der Erkenntnisvorgänge Empfindung oder Wahrnehmung nennt, tut natürlich nichts zur Sache. Allerdings bringt die Anwendung des Namens "Empfindung" die Gefahr mit sich, der Grundbedeutung des Wortes Empfindung gemäß in den ersten Erkenntnisvorgang etwas ihm Fremdes, nämlich das Bewußtsein von einem Innern, hineinzutragen. Es scheint, daß der Begriff der Empfindung immer, mehr oder minder, schwache und dunkle Anklänge an eine Bezieung auf das Bewußtsein enthält, auch wenn er gebraucht wird, um die Auffassung des Äußeren zu beschreiben.

Aber diejenigen, welche dem Wort Empfindung den Vorzug geben, werden einwenden, es sei mit dem Begriff der Wahrnehmung nicht anders. Eine Auffassung eines Äußeren als Äußerem, eines unabhängig von der Auffassung Gegebenen als solchem sei ohne die Beziehung des Äußeren auf ein Inneres, des Gegebenen auf die Auffassung, nicht möglich. Wir könnten hierauf einfach erwidern, die Auffassung eines Äußeren und Gegebenen sei nicht dasselbe mit der Auffassung eines Äußeren als Äußerem, eines Gegebenen als gegeben; die erstere Auffassung aber sei das, was wir als äußere Wahrnehmung bezeichnen. Aber es ist besser, wir verständigen uns zuerst über den Gebrauch und die Bedeutung der Worte  Empfindung  und  Wahrnehmung,  ehe wir das Verhältnis der entsprechenden Vorgänge näher zu bestimmen suchen. Natürlich kann diese Verständigung nur eine vorläufige und ganz im allgemeinen gehaltene sein. Erst die Untersuchung über das Verhältnis von Wahrnehmung und Empfindung, insbesondere die Erkenntnis des Zusammenhangs und Gegensatzes zwischen beiden kann darüber völlige Klarheit geben, was eigentlich unter Wahrnehmung und was unter Empfindung zu verstehen ist.

Was ist Empfindung? Wer die Schriften der meisten unserer Physiologen und Psychologen, auch der hervorragenden, liest, der wird sich oft eines Gefühls der Unsicherheit nicht erwehren können, wenn er dem Wort "Empfindung" begegnet. Es ist merkwürdig, in welch vielfältiger Bedeutung dieses Wort von im übrigen sehr sorgfältigen Schriftstellern häufig in demselben Abschnitt, ja auf derselben Seite gebraucht wird. Bald bezeichnet es etwas Physisches, Zustände der Nerven, die, wie es scheint, als solche ohne weitere psychische Vermittlung zu Bewußtsein kommen sollen; bald bezeichnet es etwas Psychisches, aber merkwürdig ebensowohl eine Art Erkenntnisvorgang, wie den Gegenstand dieses Erkenntnisvorganges; bald wird unter Empfindung eine Art Gefühlszustand verstanden, in dem sich Bewußtsein und Inhalt in keiner Weise unterscheiden läßt - die Farbe z. B. gilt selbst als eine Empfindung, als vom mit ihr verbundenen Bewußtsein in keiner Weise verschieden. Daneben spricht man dann trotzdem von unbewußten Empfindungen. Der Leser würde es mir wenig Dank wissen, wenn ich ihm zumutete, den Wandel der Bedeutung des Wortes  Empfindung,  wie er sich bei vielen Schriftstellern, von ihnen selbst unbemerkt, vollzieht, zu verfolgen und die unerquickliche und unfruchtbare Arbeit, die mich selbst über Gebühr hinhielt, zu wiederholen. Einige Belege für das Gesagte werden unsere Untersuchungen bringen; die Anführung weiterer wäre für die Sache ohne Nutzen. Ich will mich deshalb lieber allen Streites und jeder Widerlegung enthalten und sofort zu einer positiven Darstellung dessen übergehen, was unter Empfindung zu verstehen ist, soweit eine solche im Anfang unserer Untersuchung gegeben werden kann. Ich nehme zum Ausgangspunkt die beiden Erklärungen, welche HELMHOLTZ, der erste unter den deutschen Physiologen, und SPENCER, der erste unter den englischen Philosophen, von der Empfindung geben.

HELMHOLTZ gibt folgende Erklärung von der Empfindung: "Empfindungen nennen wir die Eindrücke auf unsere Sinne, sofern sie uns als Zustände unseres Körpers, speziell unserer Nervenapparate zu Bewußtsein kommen." (1) RIEHL bemerkt zu dieser Erklärung: "Wäre diese Erklärung richtig, dann hätte nur der Physiologe Empfindungen, denn  nur er weiß,  daß sie zunächst als Zustände der Sinne aufzufassen seien, aber auch er weiß dies nur als Ergebnis seines Nachdenkens in abstracto." (2) In der Tat scheint die Erklärung für Physiologen gemacht zu sein. Aber weiß der Physiologe wirklich, daß die Empfindungen Zustände der Sinne oder vielmehr - denn das sagt RIEHL, nicht HELMHOLTZ - Zustände der Nervenapparate sind?

Der Physiologe beobachtet "die Zusammenziehung der Muskeln und Arterien, welche durch Reizung der Nervenstämme eines Frosches hervorgerufen wird", "die krampfhaften Bewegungen und Töne der Vögel und Säugetiere, deren Nervenzentren in verschiedener Weise beschädigt worden sind." Er schließt daraus, daß "das menschliche Nervensystem der Sitz der menschlichen Empfindungen ist und daß diese Empfindungen die Korrelativa seiner Erregungen darstellen: allein die einzigen wichtigen Bestätigungen dieses Schlusses sind doch nur jene, welche man bei chirurgischen Operationen am Menschen gewinnt, wo Nervenstämme durchschnitten werden, und jene, welche durch nach dem Tod stattfindende Untersuchung bereits abgestorbener Nervengebilde im Körper solcher Wesen zu erlangen sind, die während ihres Lebens bestimmter Empfindungen ermangelten": Nur auf diesem indirekten Weg entsteht dem Physiologen die Überzeugung, "daß bei menschlichen sowohl als bei tierischen Wesen Empfindungen die Begleiterscheinungen von Vorgängen in jenem eigentümlichen Gebilde sind, welches als Nervensystm bezeichnet wird." So SPENCER, den niemand in Verdacht haben wird, daß er den Physiologen etwa zu wenig Zugeständnisse machen könnte. (3)

Also nur als Korrelativa oder Begleiterscheinungen der Nervenerregungen, keineswegs aber als Zustände derselben kennt der Physiologe die Empfindungen. Wichtiger als das ist etwas anderes, worauf SPENCER an der zuletzt zitierten Stelle ebenfalls schon aufmerksam macht. Von einer Empfindung kann auch ein Physiologe ebenso wie jeder andere Menschen "an keiner anderen Stelle etwas erfahren, als in seinem eigenen Bewußtsein". "Sein eigenes Nervensystem hat er ferner so wenig, wie irgendein anderer Mensch jemals gesehen." "Daß seine Empfindungen die Produkte (oder Begleiterscheinungen) seines eigenen Nervensystems sind, ist eine Ansicht, die sich wieder nur durch eine noch längere Kette von Schlüssen feststellen läßt." (4) Und doch sollen, so scheint es wenigstens, nach der Erklärung von HELMHOLTZ die Sinneseindrücke als Zustände der Nerven unmittelbar in den Empfindungen zu Bewußtsein kommen. Der Physiologe sieht unter Umständen die Nerven anderer Wesen und ihre Erregung, man mag auch dieses Sehen ein Empfinden nennen; aber es ist ihm, wie jedem andern, unmöglich, seine eigenen Nerven und ihre Erregung durch die von ihnen ausgelöste Empfindung wahrzunehmen - und das setzt allerdings die Erklärung von HELMHOLTZ ihrem Wortlaut nach voraus.

HÖFFDING legt bei seiner Kritik der HELMHOLTZschen Erklärung den Nachdruck darauf, daß die Empfindungen als Zustände unseres Körpers darauf, daß die Empfindungen als Zustände unseres Körpers zu Bewußtsein kommen sollen. Er sagt: "Hierzu muß bemerkt werden, daß unsere unmittelbaren Empfindungen nicht von vornherein als Zustände unseres Körpers oder unseres Nervensystems vor uns dastehen; wir haben von Anfang an keine Ahnung, daß wir einen Körper oder ein Nervensystem haben und die Kenntnis unseres Körpers wird allmählich erworben." (5) In der Tat hat PREYER durch eine Reihe von Beobachtungen dargetan, daß das Kind noch lange Zeit, nachdem es das erste Jahr zurückgelegt hat, die Glieder seines Körpers als fremde Gegenstände behandelt und erst durch den Schmerz, den das Beißen und Schlagen derselben ihm verursacht, zu anderer Anschauung gelangt. (6)

Aber das alles ist dem berühmten Forscher ja ebenso gut und besser bekannt als seinen Kritikern. Die eigentliche Absicht seiner Erklärung muß also eine andere sein, als seine Worte vermuten lassen. HELMHOLTZ scheint sagen zu wollen: In der Empfindung würden die Sinneseindrücke als etwas Inneres, als Bewußtseinsinhalte, als subjektive Modifikationen aufgefaßt. In der Tat muß HELMHOLTZ voraussetzen, daß in den Empfindungen die Sinneseindrücke als subjektive Modifikationen aufgefaßt werden. Denn er glaubt nur vermöge des Kausalitätsbegriffs zu einer unabhängig oder außer uns bestehenden Welt und zwar von den Empfindungen ausgehend, gelangen zu können. Darauf macht schon RIEHL aufmerksam. (7)

Ich bin der Ansicht, daß in der Tat unter Empfindung nichts anderes verstanden werden kann, als die Auffassung der Sinneseindrücke (freilich nicht als subjektive Modifikationen unseres Inneren, sondern) als Bewußtseinsinhalte, wenn wir das Wort für einen seiner Grundbedeutung entsprechenden Vorgang verwenden wollen und nicht etwa, wie jetzt gewöhnlich geschieht, für Vorgänge, die wir ebenso gut und besser als äußere Wahrnehmungen bezeichnen können. Mit dieser meiner Ansicht, die ich als die eigentliche Meinung HELMHOLTZs festhalten zu müssen glaube, scheint auch SPENCER übereinzustimmen. In seiner Kritik der eigentümlichen Anschauung WILLIAM HAMILTONs über das Verhältnis von Empfindung und Wahrnehmung (richtiger von Gefühl und Erkennen) äußert er sich über die Empfindung folgendermaßen:
    "Offenbar muß jede Empfindung, um als solche erkannt zu werden, erst wahrgenommen werden und somit sind von diesem Standpunkt aus alle Empfindungen auch Wahrnehmungen. Eine bloße physische Affektion des Organismus stellt noch keine eigentliche Empfindung dar. Wenn ich in Nachdenken versunken bin, so kann ich übermäßiger Hitze vom Kaminfeuer, einem unangenehmen Druck von einem harten Sitz oder einem beständigen Lärm von der Straße her ausgesetzt sein und dennoch, obgleich meine Empfindungsorgane dabei ganz entschieden affiziert sind, aller dieser Affektionen unbewußt bleiben - ich kann mir vielleicht derselben erst bewußt werden, wenn sie einen gewissen Grad der Intensität überschreiten und erst dann kann ich von mir sagen, daß ich sie als Empfindungen erfahre." (8)
Sehen wir ab vom Doppelsinn des Wortes "Empfindung", wie es von SPENCER gebraucht wird, einmal als physische Affektion, dann als Wahrnehmung dieser physischen Affektion, dann als Wahrnehmung dieser physischen Affektion - nach unserer Ansicht ist das erstere etwas bloß Körperliches, das letztere die äußere Wahrnehmung einer sinnlichen, sei es Temperatur-, Berührungs- oder Klangqualität, keines von beiden ist also Empfindung - doch verfolgen wir die Auseinandersetzungen SPENCERs weiter.
    "Ja, noch mehr; bei einer eigentlichen Empfindung, wenigstens wenn es eine Empfindung von Berührung, von Wärme oder von Schmerz ist, betrachte ich die Affektion nicht allein als Affektion meines Ichs - als einen Zustand, durch welchen mein Bewußtsein hindurchgeht oder hindurchgegangen ist - sondern ich fasse sie auch auf als in einem bestimmten Teil meines Körpers existierend, als in bestimmten Lagebeziehungen stehend. Ich nehme wahr, wo sie stattfindet." "Allein, obgleich die Empfindung, von diesen beiden Seiten aus betrachtet, als eine Art von Wahrnehmung aufgefaßt werden mußte, so ist doch leicht einzusehen, daß sie weit von der eigentlichen Wahrnehmung abweicht, d. h. von der Erkennung eines äußeren Objekts. Im einen Fall ist das, was das Bewußtsein erfüllt, ein gewisses Etwas, das als dem Ich, im andern Fall etwas, das als dem Nicht-Ich angehörig aufgefaßt wird."
Demnach kann es keinem Zweifel unterliegen, daß auch SPENCER unter  Empfindung  die Auffassung eines Sinneseindrucks, sei es als einer subjektiven Modifikation, sei es als eines Bewußtseinsinhaltes, versteht. Eine Beziehung der Sinneseindrücke auf das Ich im strengen Sinne, d. h. auf den Komplex von Erinnerungen, die unser Ich konstituieren, braucht natürlich zu diesem Zweck nicht angenommen zu werden, sie findet tatsächlich auch wohl nur selten statt. Aber vielleicht meint SPENCER mit der Beziehung auf das Ich nichts anderes, als die Beziehung auf das Bewußtsein oder die Auffassung der Sinneseindrücke als bewußt. Anders ist es mit der Beziehung der Sinneseindrücke auf den Körper d. h. auf die entsprechenden Sinnesorgane. In unserem entwickelten Seelenleben scheint allerdings die Auffassung eines Sinneseindrucks als bewußt immer mit einer Verlegung desselben in das betreffende Organ verbunden zu sein. Wir empfinden den Ton im Ohr, den Geschmack auf der Zunge, wenn wir Ton und Geschmack nicht als Eigenschaften der Dinge in der äußeren Wahrnehmung, sondern als Bewußtseinsinhalte auffassen. Aber offenbar ist die Auffassung der Sinneseindrücke als Bewußtseinsinhalte und die Verlegung derselben in die Sinnesorgane zweierlei, die Verlegung setzt außerdem die Vorstellung der Sinnesorgane voraus, welche natürlich keinen Bestandteil jener Auffassung bildet. Auch darin müssen wir SPENCER recht geben, wenn er die Empfindung als Wahrnehmung bezeichnet. In der Tat ist die Auffasung der Sinneseindrücke als Bewußtseinsinhalte ebensowohl Wahrnehmung, wie die Auffassung derselben als Eigenschaften der Dinge; jene Auffassung ist ebenso eine innere Wahrnehmung, wie diese eine äußere. Vielleicht ist, um Mißverständnissen vorzubeugen, die folgende Bemerkung nicht überflüssig. Daß die Empfindung die Auffassung eines Sinneseindrucks als eines Bewußtseinsinhaltes ist, darüber belehrt uns selbstverständlich nicht die Empfindung, sondern eine auf die Empfindung gerichtete Erkenntnistätigkeit. In der Empfindung fassen wir tatsächlich einen Sinneseindruck als Bewußtseinsinhalt auf, aber wir dassen in ihr nicht die durch sie vollzogene Auffassung selbst auf. Das kann nur in einem neuen, auf sie gerichteten Erkenntnisakt geschehen, sei es nun eine Erinnerung oder eine Wahrnehmung.
LITERATUR: Goswin Karl Uphues, Wahrnehmung und Empfindung - Untersuchungen zur empirischen Psychologie, Leipzig 1888
    Anmerkungen
    1) HERMANN HELMHOLTZ, Die Lehre von den Tonempfindungen, Seite 101
    2) ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus II, Seite 195
    3) HERBERT SPENCER, Die Prinzipien der Psychologie I, Seite 102 und 131
    4) SPENCER, a. a. O., Seite 131
    5) HARALD HÖFFDING, Psychologie, Seite 155
    6) WILHELM PREYER, Die Seele des Kindes, 2. Auflage, Seite 392
    7) ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus II, Seite 195
    8) SPENCER, a. a. O., Seite 246f