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GEORGE STEINER
Der Rückzug aus dem Wort
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"Was für halbe Wahrheiten, grobe Vereinfachungen oder nichtssagende Belanglosigkeiten lassen sich nun tatsächlich auf das Halb-Analphabetentum eines Massenpublikums übertragen, das die populäre Demokratie auf den Markt der Werte und Scheinwerte geholt hat?"

Nicht umsonst war der bedeutendste moderne Philosoph auch am eifrigsten darauf bedacht, der Sprachspirale zu entrinnen. WITTGENSTEINs gesamtes Werk geht von der Fragestellung aus, inwieweit zwischen Wort und Faktum eine nachweisbare Beziehung existiert. Was wir gemeinhin als ein Faktum bezeichnen, kann durchaus ein von der Sprache gewebter Schleier sein, um das Ich vor der Wirklichkeit zu schützen. WITTGENSTEIN nötigt uns die Frage auf, ob sich von Wirklichkeit überhaupt  sprechen  läßt, wo doch alles Sprechen nur eine Art unendlicher Rückwärtsbewegung ist, bei der Wörter über andere Wörter abgegeben werden.

Diesem Dilemma ging WITTGENSTEIN mit leidenschaftlicher Strenge nach. Die berühmt gewordene Anregung am Schluß des  Tractatus  erhebt keinen Anspruch auf die potentiell weiterwirkenden Kräfte in der philosophischen Feststellung wie DESCARTES ihn vorbrachte; sie stellt im Gegenteil einen Rückzug von der selbstsicheren Autorität der überlieferten Metaphysik dar und führt zu der ebenso berühmt gewordenen Schlußfolgerung: "Es ist klar, daß sich Ethik nicht aussprechen läßt."

WITTGENSTEIN möchte in die Kategorie des Unausdrückbaren (das Mystische nennt er es) auch die meisten überlieferten Bereiche der philosophischen Spekulation miteinbeziehen. Die Sprache kann sinnvoll umgehen nur mit einem speziell beschränkten Segment der Wirklichkeit. Der Rest aber, und das ist wahrscheinlich der größere Teil, ist Schweigen.

Späterhin entfernte sich WITTGENSTEIN von dem einschränkenden Standpunkt des  Tractatus . Seine  Philosophical Investigations  (Philosophische Untersuchungen) beziehen einen mehr optimistischen Standort hinsichtlich der der Sprache innewohnenden Fähigkeiten, Erde und Menschen im Worte zu beschreiben und bestimmte Verhaltensweisen zu verdeutlichen. Aber es bleibt doch dahingestellt, ob sein  Tractatus  nicht die stärkere und konsequentere Aussage darstellt.

Bestimmt ist sie scharfsinnig erfaßt; denn das Schweigen, von dem die nackte Rede allezeit umgeben ist, scheint dank der starken Überzeugungskraft von WITTGENSTEIN weniger Trennscheide als Ausblick in die Weite zu sein. Ähnlich wie bei bestimmten Dichtern blicken wir von der Sprache nicht ins Dunkel, sondern ins Helle. Jeder Leser, der sich tief genug in den  Tractatus  versenkt, wird empfänglich sein für seinen eigenartig verschwiegenen Glanz.

Auch wenn ich hier nur kurz darauf eingehen kann, scheint mir doch ersichtlich, daß der Rückzug aus der alleinigen Machtvollkommenheit und Reichweite der Sprache auch eine weitgehende Rolle im Werdegang und Wesen der modernen Kunst spielt. In der Malerei wie in der Plastik korrespondiert ein gewisser Realismus im weitesten Sinne - nämlich die Darstellung alles dessen, was wir als eine Nachahmung bestehender Wirklichkeit begreifen - mit jenem Zeitabschnitt der Historie, da die Sprache noch im Zentrum des geistigen und des Gefühlslebens steht. Eine Landschaft, ein Stilleben, ein Portrait, das allegorische Bild, die Darstellung eines geschichtlichen oder legendären Ereignisses sind nach Farbe, Umriß und Gefüge lediglich Wiedergaben von Realitäten, die sich auch in Worten bekunden lassen.

Es ist uns möglich, von dem jeweiligen Gegenstand der Kunst eine ausführliche, sprachliche Bestandsaufnahme zu geben. Die Leinwand und das Standbild haben einen Titel, der sie zu dem verbalen Vorstellungsvermögen in Beziehung setzt. Wir sagen: Das ist ein Portrait eines Mannes mit einem goldenen Helm; oder das ist der Canale Grande bei Sonnenaufgang; oder hier ist ein Bildnis der Daphne, die sich in einen Maulbeerbaum verwandelt.

Selbst wenn wir das betreffende Werk zuvor nie gesehen hätten, genügen die Worte, um in der Anschauung einen bestimmten graphischen Gegenwert entstehen zu lassen. Natürlich ist dieses Äquivalent nicht so lebendig und offenbarend wie das Gemälde von REMBRANDT oder CANALETTO, beziehungsweise die Plastik von CANOVA, aber zwischen beiden besteht eine wesentliche Verwandtschaft: Der Künstler wie der Betrachter sprechen über dieselbe Welt, obschon der Künstler die Dinge profunder und umfassender sagt.

Genau diese Gleichwertigkeit oder Deckungsgleichheit im Wort ist es, gegen die sich die modernen Künste auflehnen. Eben weil so vieles in der Malerei des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts eine bloße Illustration verbaler Vorstellungen - eine Abbildung aus dem Buch der Sprache - zu sein schien, hat sie der Nach-Impressionismus vom Worte losgesagt. Van GOGH erklärte, ein Maler male nicht was er sieht, sondern was er empfindet. Was man sieht, läßt sich in Worte umsetzen, während das, was empfunden wird, durchaus auf einer Stufe eintreten kann, die der Sprache vorangeht oder gar außerhalb von ihr liegt.

Seinen spezifischen Ausdruck findet es einzig und allein in dem Idiom der Farbe und räumlichen Organisation. Nichtgegenständliche und abstrakte Kunst schließen schon die bloße Möglichkeit eines sprachlichen Äquivalents aus. Die Leinwand oder die Skulptur versagen sich von vornherein einer Betitelung; "Schwarz und Weiß No. 5" oder "Weiße Figuren" oder "Komposition 85" genügen zur Klassifizierung. Wenn schon ein Titel gegeben wird, wie bei vielen Bildern von de KOONING, ist er häufig eine ironische Mystifikation, weniger um etwas auszusagen, sondern als Dekor oder zur Irreführung.

Und das Werk selbst hat kein Thema, keinen Vorwurf, worüber sich in Worten berichten ließe. Die Tatsache, daß LASSOW seine Verrenkungen aus Bronze "Wolken von Magellan" nennt, liefert keine äußere Bezugnahme; FRANZ KLINEs "Häuptling" (1950) ist bloß ein Spulenring aus Farbe. Nichts was sich darüber  sagen  ließe, würde im Zusammenhang mit den Gepflogenheiten sprachlicher Sinngebung stehen. Die Farbflecke, die Drahtsträhne, die Masse aus gegossenem Eisen suchen nur Bezugnahme auf sich zu schaffen, nur innerlich.

Wo es ihnen gelingt, ruft ihr Anspruch auf unmittelbare sinnliche Energie im Beschauer eine kinetische Reaktion hervor. Bei BRANCUSI und ARP finden sich Formumrisse, die uns in ein Gegenstück zu ihrer eigenen Bewegung hineinziehen. De KOONINGs "Leaves in Weehawken" (Ferien in Weehawken) umgeht die Sprache und scheint unmittelbar auf unseren Nerversträngen zu spielen. Häufiger jedoch vermittelt abstrakte Formgebung nur rudimentäre dekorative Genüsse.

Bei JACKSON POLLOCK ist vieles schmuckfreudige Tapete. Und in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle geht vom abstrakten Expressionismus und der gegenstandslosen Kunst überhaupt nicht Mittelbares aus. Das Werk bleibt stumm oder ist bemüht, uns in einem nicht mehr menschlichen Kauderwelsch zu beschimpfen. Ich frage mich ernstlich, ob künftige Künstler und Kunstkritiker nicht mit kopfschüttelnder Geringschätzung auf die Ansammlung überheblicher Unbedeutenheiten zurückschauen werden, von denen unsere Galerien augenblicklich erfüllt sind.

Ganz anders liegt das Problem selbstverständlich bei der atonalen, der konkreten oder elektronischen Musik. Eindeutig an die Sprache geknüpft ist Musik nur dort, wo sie einen Text vertont, wo sie Musik für einen besonderen feierlichen Anlaß abgibt oder wo sie als Programm-Musik eine gegebene Szene oder Situation in Ton und Klang zu verdeutlichen sucht.

Zu allen Zeiten hat Musik ihre eigene Grammatik, ihr eigenes Vokabular und symbolische Mittel gehabt. Zusammen mit der Mathematik ist sie in der Tat das oberste Ausdrucksmittel des Ichs gewesen, wenn das Ich sich in einem nicht verbalen Zustand befindet. Zudem liegt schon in der Musik selbst eine bestimmte Tendenz, sich aus der Reichweite des Wortes zu entfernen.

Was ich bisher erörtert habe ist dies: bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein, umfaßte der Wirkungskreis der Sprache nahezu die Gesamtheit aller erlebten Wirklichkeiten; heute umschließt er ein begrenzteres Gebiet. Er verdeutlicht nicht mehr die Hauptbedingungen des Handelns, Denkens und der Vernunft, noch ist er relevant für sie.

Weite Bereiche der Bedeutung und Praxis gehören jetzt solchen nichtverbalen Ausdrucksweisen an wie der Mathematik, der Symbol-Logik, und den Formeln chemischer oder elektronischer Verbindungen. Wieder andere Bereiche gehören zu den Sub- oder Antisprachen der gegenstandslosen Kunst und  Musique concréte .

Das Reich der Worte ist zusammengeschrumpft. Von unendlichen Zahlenreihen  läßt  sich nun einmal nicht sprechen, außer in mathematischen Begriffen; man  soll nicht  innerhalb der gegenwärtig verfügbaren Sprachkategorien über Ethik und Ästhetik sprechen, empfiehlt uns WITTGENSTEIN. Und ich meine, es  ist  außerordentlich schwierig, sich in sinnvoller Weise über eine Malerei von JACKSON POLLOCK oder eine Komposition von STOCKHAUSEN zu äußern. Ungeheuerlich muß sich der Kreisumfang verengt haben, denn wo gab es unter dem bestirnten Himmel etwas, ob Wissenschaft, Metaphysik, Kunst oder Musik, worüber ein SHAKESPEARE, ein DONNE oder MILTON nicht selbstverständlich mitsprechen konnten, etwas zu dem ihre Worte keinen selbstverständlichen Zugang hatten?

Sollte dieses Phänomen andeuten, daß heute weniger Worte im Umlauf sind? Eine äußerst verwickelte und bis dato ungelöste Frage. Man schätzt, daß die englische Sprache gegenwärtig über 600 000 Wörter enthält. Das elisabethanische Englisch soll nur 150 000 Wörter umfaßt haben. Doch diese ungefähren Zahlen täuschen. Der Wortschatz, mit dem SHAKESPEARE gearbeitet hat, übersteigt den jedes anderen nachfolgenden Autors, und die King James Bibel, obwohl sie nur 6000 Wörter benötigt, läßt die Vermutung zu, daß das geistige Vorstellungsvermögen zur damaligen Zeit bei weitem umfassender war als das unsere.

Das ausschlaggebende Moment liegt also nicht in der Zahl der potentiell verfügbaren Wörter sondern vielmehr in dem Grad, in dem die sprachlichen Mittel faktisch im Gebrauch sind. Wenn die Schätzung von McKNIGHT ( English Words and Their Background, 1923 ) zutrifft, setzen sich fünfzig Prozent der gegenwärtig gesprochenen Umgangssprache in England und Amerika aus nur vierunddreißig Grundvokabeln zusammen, und die modernen Massenmedien für Kommunikation mußten, um sich weithin verständlich zu machen, das Englisch auf den Stand der Halbbildung abbauen.

Die Sprache von SHAKESPEARE und MILTON gehörte einem geschichtlichen Abschnitt an, in dem Worte noch der ursprünglichen Kontrolle des erlebten Lebens unterstanden. Der schreibende Mensch von heute tendiert dahin, weniger und einfachere Wörter zu benutzen, weil die Massenkultur das Bildungskonzept verwässert hat und die Summe der Realitäten, für die Wörter eine erforderliche und ausreichende Erklärung abgeben können, sich jäh verringert hat.

Diese Verminderung - die Tatsache nämlich, daß der Inbegriff der Welt sich dem Zugriff des mitteilenden Wortes mehr und mehr entzieht - hat ihre Einwirkung auch auf die Qualität der Sprache gehabt. In dem Maße wie das westliche Bewußtsein von den Hilfsquellen der Sprache weniger abhängig geworden ist, um seine Erfahrungswelt zu ordnen und das geistige Verhalten zu lenken, scheinen die Wörter selbst von ihrer Genauigkeit und Lebenskraft manches verloren zu haben.

Ich weiß, diese Auffassung ist umstritten, geht sie doch von der angenommenen Voraussetzung aus, daß die Sprache ein eigenes "Leben" besitze, welches über das bildhaft Metaphorische hinausgeht. Es bedeutet ferner, daß Vorstellungen wie die von einer inneren Aushöhlung und einem Verfall relevant für die Sprache als solche und nicht nur an den Gebrauch geknüpft sind, den der Mensch von ihr macht. Vertreten wird diese Auffassung von JOSEPH de MAISTRE und GEORGE ORWELL, und sie bekräftigt die von EZRA POUND über die Aufgabe des Dichters gegebene Definition:
"Von Wörtern werden wir beherrscht, unsere Gesetze sind in Wörtern eingraviert, und das alleinige Mittel, um diese Wörter lebendig und intakt zu erhalten, ist die Literatur."
Solche Hindeutungen auf eine innere selbständige Lebenskraft der Sprache werden von den meisten Sprachforschern für verdächtig gehalten. Deshalb lassen Sie mich mit wenigen Worten aufzeigen, was ich meine.

Was die Behandlung und Pflege der englischen Sprache betrifft, so finden wir gerade während der Tudorperiode, der elisabethanischen und der Zeit unter JACOB einen Sinn für Neuentdeckung und üppige Bereicherung ausgeprägt wie er seither nie wieder erlangt worden ist. MARLOWE, BACON, SHAKESPEARE verwenden die Wörter so, als wären sie ganz neu, als hätte keine vorherige Berührung ihren Schimmer getrübt, ihre Resonanz gedämpft. ERASMUS von ROTTERDAM berichtet, wie er sich in einer schmutzigen Gasse verzückt über ein Stück bedruckten Papiers gebeugt habe, so neu, so ungewohnt war damals das Wunder einer bedruckten Seite.

In dieser Weise haben die Menschen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zur Sprache aufgeblickt, deren unermeßliche Reichtümer auf einmal enthüllt, sich vor ihnen ausbreiten, und so durchstöbern und durchsuchen sie den Schatz im Gefühl eines nie endenden Zeitvertreibs. Dasselbe kostbare Instrument jetzt in unserer Hand, ist demgegenüber durch zu langen Gebrauch abgenutzt, und die Beanspruchungen durch Massenkultur und Massenmitteilung haben aus ihr ein williges Werkzeug zur Herstellung beständig wachsender Geschmacklosigkeiten gemacht.

Was für halbe Wahrheiten, grobe Vereinfachungen oder nichtssagende Belanglosigkeiten lassen sich nun tatsächlich auf das Halb-Analphabetentum eines Massenpublikums übertragen, das die populäre Demokratie auf den Markt der Werte und Scheinwerte geholt hat? Hochwirksam werden kann eine solche Kommunikation nur durch eine verdünnte und verfälschte Sprache.

Man vergleiche die Vitalität der Sprache, die bei SHAKESPEARE, im  Book of Common Prayer , oder im Stil eines Landedelmanns wie CAVENDISH eine Selbstverständlichkeit ist, mit unserer gegenwärtigen Gemeinsprache. "Marktforscher", diese Totengräber gebildeter Ausdrucksweise, möchten uns einreden, eine perfekte Werbung dürfe weder Wörter mit mehr als zwei Silben, noch Sätze mit abhängigen Nebensätzen enthalten.

In den Vereinigten Staaten sind millionenfache Auflagen von "SHAKESPEARE" und der "Bibel" in der Form von  comic strips  im Umlauf - mit erläuternden Bildunterschriften,  basic English . Da allerdings kann es keinen Zweifel geben, daß der Zugang der Halbgebildeten zur wirtschaftlichen und politischen Macht einen drastischen Abbau im Reichtum und der Würde sprachlichen Ausdrucks mit sich gebracht hat.

Im Zusammenhang mit dem Zustand der deutschen Sprache unter nazistischem Einfluß habe ich an anderer Stelle aufzuzeigen versucht, was politische Lüge und Bestialität einer Sprache antun können, wenn diese von den Wurzeln der Moral und des Gefühlslebens abgetrennt wird, wenn sie zu reinen Klischees, unkontrollierten Definitionen und Wortabfällen erstarrt. Was mit der Sprache in Deutschland passiert ist, passiert indessen, wenn auch weniger auffällig, woanders auch.

Die Sprache von Massenmedien und Werbung in England und den Vereinigten Staaten, oder das, was in einer durchschnittlichen amerikanischen Oberschule für Bildung gehalten wird, oder die Ausdrucksweise in der gegenwärtigen politischen Debatte sind offen zutage liegende Beweise für ein Nachlassen an Vitalität und Genauigkeit.

Das Englisch, das von Mr. EISENHOWER auf seinen Pressekonferenzen gesprochen wurde, war, ähnlich dem zum Verkauf eines neuen Reinigungsmittels, weder dazu angetan, die kritischen Wahrheiten des nationalen Lebens zu übermitteln, noch sollte es die Gedanken des Zuhörers anregen. Es war bestimmt, den Bedeutungsansprüchen aus dem Wege zu gehen oder sie falsch auszulegen. Die Sprache eines Staatswesens hat ein gefährliches Stadium erreicht, wenn eine amtliche Untersuchung über radioaktive Niederschläge offiziell "Verfahren Sonnenschein" genannt werden kann.

Ob es sich um ein Nachlassen an Lebensenergie in der Sprache selbst handelt, was zur Minderung und Auflösung moralischer und politischer Werte führt, oder ob es ein Kräfteverfall im Kern der Politik ist, der die Sprache untergräbt, eines steht fest: das dem modernen Schriftsteller zur Verfügung stehende Werkzeug ist von außen her durch Restriktionen und von innen her durch Zersetzung bedroht. In einer Welt, die R.P. BLACKMUR als "das neue Analphabetentum" bezeichnet, befindet sich also der Mensch, dem höchste Bildung eine Lebensnotwendigkeit ist, in einer prekären Lage.

In diesem Zusammenhang scheint mir eine soziologische Anmerkung wichtig. In den Vereinigten Staaten, und in wachsendem Maße auch in Europa, ist die neu herangewachsene Bildungsschicht eher musikalisch als verbal orientiert. Die Langspielplatte hat die Kunst der Muße und Freizeitgestaltung revolutioniert. Die neue Mittelklasse in der Überflußgesellschaft liest wenig, aber sie hört Musik mit verständnisvollem Vergnügen an. Wo früher Bücherregale standen, stehen heute die stolzen Reihen mehr oder weniger esoterischer Schallplatten-Alben mit den dazugehörigen  high-fidelity -Geräten.

Verglichen mit der Langspielplatte ist das Taschenbuch eine kurzlebige, leicht abgetane Sache; zu einer echten Bibliothek führt es nicht. Musik ist heute zu einem Hauptfaktor in der Laienkultur geworden. Nur wenige Erwachsene lesen einander noch laut vor, noch wenigere verbringen einen regelmäßigen Teil ihrer Freizeit in einer öffentlichen Bücherei oder einem Lesesaal, so wie die Generation von 1880 es getan hat, aber es gibt viele, die sich vor dem HiFi-Gerät versammeln oder an musikalischen Darbietungen teilnehmen.

DIe Gründe hierfür sind komplexer psychologischer und gesellschaftlicher Natur. Das Tempo des urbanen und industrialisierten Lebens läßt den Einzelnen am Abend erschöpft zurück. Wenn man ermüdet ist, läßt sich Musik, selbst schwere Musik, leichter genießen als ernste Literatur. Sie belebt das Empfinden, ohne das Gehirn zu strapazieren, und sie gestattet selbst denen noch einen Zugang zu den Meisterwerken der Klassik, die wenig Vorbildung besitzen. Und sie isoliert die Menschen nicht auf Inseln der Stille und Zurückgezogenheit, wie die Lektüre eines Buches, sondern verbindet sie in der Illusion einer Gemeinschaft, um die unsere Gesellschaft so sehr bemüht ist.

Wo einst in der viktorianischen oder der Gründerzeit die Freier ihren Bräuten und Angebeteten Angebinde in Versen zusandten, wählt der moderne Liebhaber die Schallplatte als Kulisse für Träumerei oder Verführung. Wer daraufhin moderne Albenhüllen näher betrachtet, erkennt, daß Musik ein Ersatz für Kerzenlicht und dunklen Samt geworden ist, die unser Lebensstil nicht mehr bereitstellt.
In Kürze: der musikalische Klang, und in geringerem Grad auch das Kunstwerk und seine Reproduktion, beginnen in der gebildeten Gesellschaft einen Platz einzunehmen, der früher einmal standhaft vom Wort behauptet wurde.
Die Funktion des Dichters innerhalb unserer Gesellschaft und im Geltungsbereich des Wortes hat ganz erheblich nachgelassen. Die meisten wissenschaftlichen Fachbereiche liegen gänzlich außerhalb seiner Reichweite, und um seine Ideale klarer, schöpferischer Rede durchzusetzen, bleibt ihm nur der eingeengte Spielraum der Geisteswissenschaften. Heißt das nun, wir müssen dem ungebildeten Jargon und der Pseudowissenschaft jene entscheidenden Domänen überlassen, in denen nach wie vor das Wort regieren sollte? Heißt das, wir hätten keine Rechtsgrundlage, um gegen das schrille Verstummen der Künste Revision einzulegen?

Da sind jene, die eine schwache Hoffnung bieten. J. ROBERT OPPENHEIMER hat darauf hingewiesen, daß das allgemeine Versagen der Kommunikation innerhalb der einzelnen Wissenschaften ebenso besorgniserregend ist wie das zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Heißt das nun, wir müssen dem ungebildeten Jargon und der Pseudowissenschaft jene entscheidenden Domänen geschichtlicher, moralischer und gesellschaftlicher Untersuchung überlassen, in denen nach wie vor das Wort regieren sollte? Heißt das, wir hätten keine Rechtsgrundlage, um gegen das schrille Verstummen der Künste Revision einzulegen?

Das sind jene, die eine schwache Hoffnung anbieten. J. ROBERT OPPENHEIMER hat darauf hingewiesen, daß das allgemeine Versagen der Kommunikation innerhalb der einzelnen Wissenschaften ebenso besorgniserregend ist wie das zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Der Physiker und der Mathematiker gehen in einem wachsenden Maße gegenseitigen Nicht-mehr-Verstehens ihrer Wege. Der Biologe und der Astronom betrachten ihre Arbeit gegenseitig über einen Abgrund des Schweigens hinweg. Überall splittert das Wissen sich in hochgradige Spezialisierung auf, überwacht und kontrolliert durch technische Ausdrucksweisen, die vom Verstand des Einzelnen immer weniger bewältigt werden können.

Die Komplikation der Wirklichkeit ist uns derartig zum Bewußtsein gekommen, daß jene Vereinheitlichungen und Synthesen der Verständigung, die in der Alltagssprache möglich waren, nicht mehr funktionieren. Oder sie funktionieren nur noch auf der rudimentären Ebene täglicher Notwendigkeit. OPPENHEIMER geht noch weiter: er weist darauf hin, daß schon allein der Versuch, Brücken zwischen den Sprachen herzustellen, in die Irre führen muß. Es kommt nichts dabei heraus, wenn man versucht, dem Laien den Realitätsbegriff in der modernen Mathematik oder Physik klar zu machen, es läßt sich ja doch nicht auf eine ehrliche und der Wirklichkeit entsprechende Weise tun.

Es mit bildhaften Annäherungswerten tun, heißt irrtümliche Auffassungen verbreiten und falsche Begriffsvorstellungen fördern. Was wir dagegen brauchen, so empfiehlt OPPENHEIMER, ist eine strenge Bescheidung, die nachdrückliche Erklärung nämlich, daß der Durchschnittsbürger eben nicht alles verstehenkann und daß sogar die Realitäten im Kenntnisbereich eines hochentwickelten Intellekts dünn gesät sind.

Was die exakten Wissenschaften betrifft, scheint diese niederdrückende Ansicht unanfechtbar zu sein; vielleicht ist das meiste Wissen Stückwerk, von vornherein zu einem fragmentarischen Charakter verurteilt. Aber wir dürfen nicht so ohne weiteres die Segel streichen, wenn es sich um geschichtliche, ethische, wirtschaftliche Fragen handelt oder um Untersuchun und Formulierung des sozialen und politischen Verhalten. Hier muß sich wieder die Autorität der humanen Bildung gegenüber dem Fachjargon durchsetzen. Wie weit sich das durchsetzen läßt, weiß ich nicht; aber auf dem Spiel steht viel.

Die Sprache der politischen Machenschaften in unseren Tagen ist verseucht durch Verdunkelung und Besessenheit. Keine Lüge ist zu plump, als daß ihr nicht eifrig und angestrengt Ausdruck verliehen würde; keine Grausamkeit zu schauderhaft, als daß sie im historischen Wortschwall nicht eine apologetische Erklärung fände. Gelingt es uns nicht, dem Wort in unseren Zeitungen, in unserer Gesetzgebung und in unseren politischen Handlungen ein bestimmtes Maß von Klarheit und bindender Kraft zurückzugeben, wird unsere Existenz weiter dem Chaos entgegentreiben. Ein zweites dunkles Mittelalter wir über uns kommen. Die Aussicht ist gar nicht so fernliegend.

"Wer weiß", erklärt R.C. BLACKMUR, "es kann durchaus möglich sein, daß sich das kommende Zeitalter überhaupt nicht mehr in Worten ausdrückt ... denn das nächste Zeitalter ist vielleicht gar nicht mehr gebildet in dem Sinne wie wir es verstehen, beziehungsweise wie die letzten dreitausend Jahre es verstanden haben."

LITERATUR - George Steiner, Sprache und Schweigen, Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt/Main 1969