tb-4Selbstverständlicher IrrtumFormen der Wirklichkeit    
 
LAURENT VERYCKEN
Auf den Spuren der Abstraktion

"Das Wissen von einer Sache ist nicht die Sache selbst. Basta !"

Die alte Erkenntnistheorie, die von Aristoteles bis zur Scholastik unumschraenkt herrschte, beruhte auf dem Satz, dass ein Allgemeines das Bestimmende und gestaltgebende Innere der Dinge sei. Die aristotelische Logik verkoerperte die Theorie des beweisbaren Wissens. Objektive Erkenntnis ist ueberall das Ziel der Natur- und Geisteswissenschaften. Wissen, um vorherzusehen! Das ist der Sinn aller Wissenschaft.

NEWTON glaubte, dass das Weltsystem absolut geschlossen sei und sich nach streng mechanischen Gesetzen entwickelt habe. Im Zusammenwirken von KEPLER, GALILEI und DESCARTES bildete sich die mathematische Naturwissenschaft als Erkenntnis einer  Ordnung der Natur nach Gesetzen.  GALILEI und NEWTON stellten das Credo der modernen Naturwissenschaft auf: beobachten, messen, berechnen. Bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war Newton gleichbedeutend mit Wissenschaft. Die Auffassung der Mechanisten und der offiziellen Wissenschaft basierte auf der Theorie, dass  Dinge,  nicht  Beziehungen  die eigentliche Wirklichkeit ausmachen. Der Rationalist glaubte an die strenge Beweisbarkeit seiner Saetze. Fuer den gewoehnlichen Wirklichkeitsbegriff galt zunaechst die Zeit- und Raumanschauung als primaeres gemeinsames Fundament. Die Wissenschaft hielt sich an das  positiv  Gegebene, an das, was wahrnehmbar und angeblich eindeutig, naemlich mittels sinnlicher Erfahrung feststellbar und beobachtbar ist.

Die Methode der Naturwissenschaft ist eine  exakte.  Exakte Wissenschaften wie Mathematik, Physik oder Chemie erlangen ihre Kenntnisse durch Messung und logisch-mathematische Beweisfuehrung, die  nachgeprueft  werden kann. Sie beanspruchen objektive Geltung. Mathematisierbarkeit gilt als Index wahrer Wissenschaftlichkeit. Fuer Kepler lag das Buch der Natur aufgeschlagen vor uns. Um es lesen zu koennen, beduerfen wir der Mathematik, denn es ist in mathematischer Sprache geschrieben.

Die Naturvorgaenge waren dementsprechend quantitativ und messbar. Wo das nicht ohne weiteres der Fall war, musste die Wissenschaft die Anordnung des Experiments so treffen, dass sie messbar wurden. Von den faktischen Einzelfaellen auf das Allgemeine schliessend, auf das Regel- und Gesetzmaessige, erzeugte diese Methode ein Wissen, dessen Anwendung die Moeglichkeit eroeffnet, mit gezielten Eingriffen Vorgaenge in Natur und Gesellschaft zu beeinflussen und zu beherrschen. Das mechanische Denken bot eine Loesung des Problems der Gewissheit und der gesellschaftlichen Stabilitaet.

Von PLATON und ARISTOTELES bis hin zu DESCARTES und LEIBNIZ sahen die Denker der Vergangenheit in der Natur Zwecke verwirklicht. Die wissenschaftliche Objektivitaet schien so einleuchtend, wie das Zaehlen von eins bis zehn. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse waren als fuer jeden Verstand gleich anzusehen. Die Sicherheit des Wissens schien durch Allgemeingueltigkeit gewaehrleistet. Wissenschaft und Allgemeingueltigkeit waren auswechselbare Begriffe.

Durch die Erfuellung dieser Norm erfuellte jede Theorie am besten die Anforderung des wissenschaftlichen Ideals der Exaktheit. Die klassische Logik des Aristoteles glaubte, ein identische Abbild der Wirklichkeit liefern zu koennen und noch DESCARTES, NEWTON und GALILEI waren der Ansicht, Raum, Zeit und Kausalitaet waeren objektive Qualitaeten der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit galt nicht nur als etwas unabhaengig vom Menschen existierendes, sondern auch als solche erkennbar. Alles Wirkliche musste deshalb exakt berechenbar sein, um legitimiert zu sein. Nicht eher als bei DAVID HUME finden wir erste Ansaetze einer grundsaetzlichen Unterscheidung von Erkenntnis und Wertung.

Das Wissen verlangt Identitaet und Unveraenderlichkeit, die  Natur  aber zeigt uns nur eine schrankenlose Verfluechtigung des Seins in ein blosses Werden. Der logische Charakter des Wissens und der sinnliche Charakter der Physis schliessen sich deshalb gegenseitig aus. Wo sich alle Dinge fortwaehrend veraendern, ist es unmoeglich, etwas exakt Bestimmtes ueber sie auszusagen. Wenn alles Naturgeschehen derart dem Wechsel unterliegt, dass nicht zwei Ereignisse als gleich bezeichnet werden koennen, sondern jeder Gegenstand als gaenzlich neu gelten muss, haetten wir nicht die mindeste Vorstellung einer Verknuepfung zwischen den  Gegenstaenden,  wenn wir nicht Ähnlichkeit fuer Gleichartigkeit naehmen. Kein einziger Mensch koennte sich etwas vorstellen, das nicht schon in irgendeiner aehnlichen Weise kennt. Die Metaphern der Sprache sind dabei die Mittel, mit dem das weniger Vertraute dem Vertrauteren und das Unbekannte dem Bekannten assimiliert, d.h. angeglichen wird.

Die Sprache ist das Medium der Intuition, die wir von den Dingen haben. Das Wirkliche wird der gewohnten Sprache untergeordnet, indem wir das neu Empfundene mit dem Bekannten gleichsetzen. Aus dem Neuen wird Altes gemacht. Aus dem Unbestaendigen wird Gewohnheit. Die Wirklichkeit dagegen befindet sich immer im Wandel. Sog. Wissenschaftler dagegen sehen ihre Aufgabe darin, Gleichfoermigkeit zu schaffen oder zu entdecken. Das Krumme wird unter das Gerade subsumiert, um besser damit rechnen zu koennen. Nur das gleichermassen Berechenbare ermoeglicht Voraussagen. Isoliert betrachtet ist dann so mancher Gegenstand unveraenderlich. Die gedankliche Isolation ist jedoch ein kuenstlicher, bzw. gewaltsamer Vorgang. Entweder wir reden an der Wirklichkeit vorbei oder wir greifen derart in sie ein, dass wir eine  objektive  Beobachtung stoeren. Es kann deshalb keine Aussagen geben von Individuen, die allgemeine Gesetzesform haben. Die Dinge der menschlichen Erkenntnis koennen nur ein  gedankliches,  von seinem existentiellem Zusammenhang getrenntes Dasein haben.

In der Abstraktion individueller Qualitaeten zu quantifizierbaren Merkmalen, die man zusammenzaehlen kann, beachten wir lediglich das, was sich vergleichen und gleichsetzen laesst. Die Abstraktion erfuellt so ein menschliches Beduerfnis nach intellektueller Bemaechtigung der Welt. Ohne irgendeine Unterscheidung und Abgrenzung waeren die meisten Menschen verwirrt und orientierungslos. Die vergewissernde Form des Identischen, wie sie in der Abstraktion zum Ausdruck kommt, buergt aber nur anscheinend fuer Gesetzmaessigkeit, Ordnung und Stabilitaet. Identifikationen erleichtern uns das Handeln im praktischen Alltag, wo wir nicht weiter hinterfragte Zwecke verfolgen. Sie erschweren uns aber auch das Leben, wo wir abstrahierend ueber die tatsaechlichen Gegebenheiten hinaus ins Blaue phantasieren. Immer gilt es, das rechte Mass zu finden zwischen Denken und Wirklichkeit. Ohne jede Verallgemeinerung waere kein Denken und keine Sprache und auch keine Logik moeglich.

Aus Einzeldingen kann man keine Schlussfolgerungen ziehen. Wer nur Verschiedenes und nichts Gleiches feststellt, haette es mit einer vollkommen zerissenen Welt zu tun, in der wir uns unmoeglich zurechtfinden koennten. Das Aufstellen von Analogien ist deshalb unerlaesslich, um im Alltag zweckhaft handeln zu koennen. Mit Verallgemeinerungen produzieren wir die staendige Wiederkehr eines Ereignisses derselben Art. Die Reduktion des Einzelnen auf eine rational erfassbare Allgemeinheit entbehrt jedoch jedoch jeder logisch zwingenden Grundlage. Wir vernachlaessigen einfach viele Unterschiede, weil sie fuer gewisse Zwecke nicht von Bedeutung sind. Der Begriff ist ein Bleibendes und nur das Gleichbleibende scheint fuer uns von Nutzen. Die Abstraktion ist der Modus der Vereinheitlichung von Verschiedenem. Das geistige Leben ist eine Organisation von Zeichen. Organisation ist das  Wesen  des Verstandes. Ordnung heisst Organistion. Die theoretische Vereinheitlichung ist nur ueber die Abstraktion zu erreichen. Das Problem der Ordnung heisst Vielfalt. Verschiedenheit heisst oft auch Konflikt. Vielfalt ist leicht verwirrend. Der materialen Mannigfaltigkeit steht deshalb die kuenstliche Einheit der Abstraktion als vergewissernde Form des Identischen gegenueber.

Der Zweck aller Begriffe und  Gesetze  der Wirklichkeit ist Denkoekonomie, d.h. Vorstellungsersparnis durch Zusammenfassung  gleicher  Erfahrungen. Generalisierung von Beobachtung geschieht im Interesse des Ordnungszwecks. Regel kommt von Regelmaessigkeit. Theorien sind Gedankensysteme. Systeme sind eine grosse Vereinfachung der Organisation. Immer besteht jedoch ein Konflikt zwischen Ichhaftigkeit und Sachlichkeit. Jede Wirklichkeit ist eine Wirklichkeit fuer besondere Zwecke. Die Logik dient im Grunde den Absichten. Man beugt die Logik, wenn Interessen im Spiel sind. Die Vergewaltigung der Wirklichkeit geschieht im Interesse einer Systemkonsequenz.

Sicheres Wissen war immer Ziel und Ideal der modernen Forschung. Erst in letzter Zeit hat sich allmaehlich der Gedanke durchgesetzt, dass es ein solches Wissen nicht geben kann und dass es nie eine absolute Erkenntnis geben wird. Die Realitaet spottet zuguterletzt immer aller Theorie. Ob sich etwas veraendert oder nicht und wie, ist letztlich vom Betrachter abhaengig. Was unabhaengig von unserer menschlichen Auffassungskraft existiert, ist fuer uns unwissbar und unsagbar. Unsere ganze Welterkenntnis ist nur Empfindung von aehnlichkeiten. Wer ordnet, fuegt aehnliches zu aehnlichem. Klassifiziert wird nur nach Ähnlichkeit. Es gibt keine Moeglichkeit reine Entitaeten zu identifizieren. Wir nennen verschiedene Dinge einfach deshalb beim selben Namen, weil diese Dinge einander aehnlich sind; es aber gibt in keinster Weise etwas Identisches in ihnen. Gegenstaende, die unter einen gemeinsamen Begriff fallen, sind deshalb noch lange nicht identisch. Die vereinfachende und damit verfaelschende Natur der Abstraktionen liegt genau an diesem Punkt. Wir sind gezwungen, in Bildern und Gleichnissen zu sprechen, die zwar nicht genau treffen, was wir meinen und die Widersprueche produzieren, trotzdem koennen wir uns mit diesen Bildern den Sachverhalten irgendwie naehern. Wir duerfen uns aber nicht von den Bezeichnungen der Dinge taeuschen lassen. Es kommt immer darauf an die  Idee,  die wir im Kopf haben, vom  Zeichen  das ihr entsprechen soll, zu trennen.

Eine wesentliche Eigenschaft aller sprachlichen Konstruktionen, d.h. der Abstraktionen, ist ihre Bestaendigkeit, weil sie im Grunde von der konkreten Zeit nicht abhaengig sind, in der sich ein Sachverhalt abspielt. Im Wort ist die Idee zu einer Struktur erstarrt, die ueber die Zeit hinausreicht. Mit dem Wort wird die zeitlich verfliessende Wirklichkeit angehalten und konserviert. Ohne Worte gibt es kein Denken und ohne Vergegenstaendlichung keine Worte. Wir  muessen  alles gegenstaendlich denken. Das Wort ist das Symbol fuer die Idee, aber alle Symbole sind im Grunde willkuerlich und beruhen auf Übereinkunft.

Wir koennten fuer alle Dinge auch andere Woerter als Bezeichnungen benuetzen, als die ueblichen, solange eine allgemeine uebereinkunft besteht. Nach der sprachlichen Fixierung  hat  der Gegenstand dann sozusagen gleichbleibende Eigenschaften. Diese gleichen Eigenschaften sind aber nur das Ergebnis unserer Gleichgueltigkeit der Besonderheit der Dinge gegenueber. Woerter beschreiben jeden Vorgang und jeden Gegenstand  ansich  und nicht exakt  diesen  Gegenstand  hier  an diesem Ort und  jetzt  zu diesem Zeitpunkt.  Ansich  sind die Dinge an keinem bestimmten Ort und zu keiner bestimmten Zeit, sondern existieren ueberhaupt.

Keine Qualitaet oder Quantitaet existiert aber als selbstaendig Seiendes. Auch Gleichheit und Verschiedenheit sind niemals Eigenschaften der Dinge selbst. In der Wirklichkeit selbst gibt es keine Unterschiede. Alle Woerter sind eine Zusammenfassung unter menschliche Zwecke. Wie etwas  wirklich,  also unabaengig von den Leistungen des menschlichen Erkenntnisapparates ist, vermoegen wir nicht zu erkennen. Alle Relationen und Beziehungen sind letzen Endes Vorstellungen. Die Gesetze der Wirklichkeit sind eigentlich identisch mit unseren Denkgesetzen.

Hauptsaechlich aus Gruenden der praktischen Orientierung haben wir ein natuerliches Beduerfnis nach systematisiertem Wissen. Zur Befriedigung vieler Beduerfnisse genuegt auch eine einfache technische Kenntnis, z.B. die blosse Nachahmung des Verhaltens anderer. Wir benuetzen unseren Verstand, um die Welt berechenbarer zu machen, was uns die Verfolgung unserer Interessen erleichtert. Der Verstand ist zwar ueberaus nuetzlich, aber er loest keine letzten Probleme. Wo die Logik ihren praktischen Wert hat, soll man sie gebrauchen, darueber hinaus muessen wir ihr Einhalt gebieten. Der Gleichheit und Allgemeinheit des objektiven Denkens steht immer die Verschiedenheit von Interesse und Geschmack des Einzelnen gegenueber.

Dem objektiven Denken existieren die Dinge  ansich  und nicht  fuer mich.  Objektivitaet bedeutet unabhaengige Geltung, nicht persoenliche Bedeutung. Die allgemeine Geltung schreibt gewissermassen vor, welchen Wert die Dinge fuer jeden Menschen haben sollen. In der Objektivitaet ist so der stille Zwang zur uebereinstimmung verborgen. Probleme, die Begriffe wie  Wahrheit,   Wirklichkeit  oder  Freiheit  etc. aufwerfen, werden so stillschweigend uebergangen.  Wahrheit, Wirklichkeit  oder etwa  Vernunft  sind aber nur als  Wert  sinnvoll, dessen Verwirklichung uns als moralische Aufgabe zukommt. Werte und Interessen sind immer Streitfragen. Es gibt nicht ein hoechstes Gut, sondern viele.

Der Gegensatz von Sein und Sollen wird niemals aufgehoben, solange ein Mensch denken kann. Wirkliche Extreme koennen nicht miteinander vermittelt werden, eben weil es wirkliche Extreme sind. Toleranz besteht darin, entgegengesetzte Interessen gleichberechtigt existieren zu lassen. Toleranz bedeutet aber nicht Indifferenz. Pluralitaet der methodologischen Standpunkte bedeutet, dass es nicht  die  Logik gibt, sondern viele Logiken. Wir muessen uns deshalb vom Dogma der Alleingueltigkeit befreien. Wahrheit und Taeuschung liegen nicht im Gegenstand, sondern im Urteil. Die Bedeutung der Begriffe ist psychologisch, nicht logisch, d.h. bewusstseinsabhaengig und nicht objektiv. Der Glaube, dass wir das erlebte Geschehen auch so zu  denken  vermoegen, wie es  erlebt  wird, ist logisch unrichtig. Das Wissensproblem ist nicht die Wahrheit oder die Wirklichkeit, sondern unser Denken, d.h. die Beziehung unseres Denkens zur  Idee der Wahrheit  oder zur  Idee der Wirklichkeit,  ist also letztlich eine Bedeutungs- und damit gleichzeitig Wertfrage.

Um nihilistischen Missverstaendnissen vorzubeugen: Das Ende des naiven Aberglaubens an eine logisch-rationale Erfassbarkeit der Welt durch objektive Tatsachen bedeutet zwar das Ende der logischen Widersprueche, nicht aber das Ende einer moralischen Auseinandersetzung. Die Objektivitaet von  richtig  und  falsch  ist zwar ein Scheinproblem, weil  ansich  keine Idee wahr oder falsch sein kann (genausowenig wie der blosse Name als solcher wahr oder falsch sein kann), aber der Notwendigkeit zu entscheiden, koennen wir uns nicht entziehen. Jede Problematik entsteht aus dem Verhaeltnis von psychologischer Wirklichkeit und ueberindividueller, d.h.  abstrakter  Konstruktion. Erst in der Beziehung einer Idee zu einer anderen Idee ergeben sich Sinn und Unsinn, genauso wie jedes Wort erst im Satz eine naehere Bedeutung erhaelt. Subjektivitaet ergibt sich aus der Beziehung zu mir. Objektivitaet ergibt sich daraus, dass wir zu den Dingen keine sinnliche Beziehung mehr haben. Die Spannung des Denkens besteht in der Spannung zwischen der Allgemeinheit der Abstraktion und der Subjektivitaet des Besonderen.

Der Widerspruch zwischen der Realitaet und unserem Anspruch ist eine der entscheidenden Gruende fuer das Entstehen von Konflikten. Fuer viele Konflikte ist unsere gedankliche Organisation verantwortlich. Ein Konflikt entsteht zwischen dem was  ist  und dem, was sein  sollte.  Viele Schwierigkeiten ergeben sich aus unseren Vorstellungen, wie etwa  Herrschaft, Ordnung  etc. und den sich daraus ergebenden Gegensaetzen. Das Problem ist aber nicht die  Wahrheit  oder die  Freiheit,  sondern unser Denken. Unser Denken hindert uns am Handeln, bzw. an einer adaequaten Beurteilung unseres Handelns. Kein Mensch ist objektiv. Immer sind Interessen mit im Spiel. Konflikte zwischen Denken und Fuehlen, bzw. dem einen oder anderen Gedanken wird es immer geben, gerade weil es um Interessen geht. Jede Wirklichkeit ist deshalb potentiell dem Streit ausgesetzt.

Solange ein Mensch denkt, steht er dem uralten Widerspruch von Bestand und Wandel gegenueber. Zu glauben, es gaebe eine feststehende, objektiv erkennbare Wirklichkeit, ist ein naiver Irrtum. Durch  Tatsachen  werden wir immer mehr manipuliert, als informiert. Die sogenannte Objektivitaet der Tatsachen muss deshalb als verschleierte Unterdrueckung aufgefasst werden. Es gibt nichts  ansich.  Jede Aussage ist Konstruktion und muss deshalb  moralisch  und nicht  logisch  bewertet werden. Die vielgepriesene Positivitaet der Wissenschaften ist ein Ergebnis von Setzungen, die zwar als zwingend ausgegeben werden, es aber nicht sind. Es gibt keinen Anfang, der nicht vom Verstand gesetzt waere. Alle Erkenntnis ist Abbildung, Verdoppelung des sinnlich aufscheinenden  Materials  durch die Sprache. Jeder Anfang ist ein  logisch  Erstes. Statt  Anfang  koennen wir genauso das lateinische Wort  Prinzip  oder das griechische  arche  benuetzen. Wir koennten ARCHE als Prinzip und Ursprung in Einem verstehen. Erkenntnistheoretischer Anarchismus waere ein Denken, das ein solches allgemeingueltiges und zwingendes  Anfangsprinzip  verneint. Was wir Welterkenntnis nennen, ist immer nur die Empfindung von Aehnlichkeiten. Das Wissen  ueber  eine Sache ist aber nicht die Sache selbst.

Je nach Interesse und Denkrichtung gibt es verschiedene Definitionen des selben Begriffs. Allgemeingueltige Definition gibt es nur im Lexikon. Das Lexikonwissen einer objektiven Welt ist deshalb eigentlich ein verdecktes Herrschaftswissen, geboren aus dem Willen zu herrschen in einer Welt von Abstraktionen und Absolutheiten. Objektives Wissen ist totes Wissen. Alle Gleichsetzung der fliessenden Wirklichkeit mit einem Begriff und einer feststehenden Definition ist im Prinzip willkuerlich. Alle Aussagen ueber Gleichfoermigkeit sind Urteile ueber Identitaet, aber alle Bestimmung von Identitaet ist willkuerlich und keinesfalls zwingend, wie uns die Ideologen glaubhaft machen wollen. Jeder Positivismus ist autoritaerer Dogmatismus. Dogmatismus ist zugleich theoretische Unfaehigkeit als auch moralischer Mangel. Die Wirklichkeit selbst ist inkommensurabel, d.h. unvergleichlich. Das Analogielose ist das Novum schlechthin. Nur durch die Analogisierung und Gleichsetzung entsteht der Schein einer Identitaet von Wirklichkeit und Denken. Diese Identitaet ist aber immer nur eingebildet, bzw. intellektuell geschaffen, um ein ganz bestimmtes subjektives Interesse zu unterstuetzen und wirkt gerade dadurch am allerbesten, dass ihr wahrer Charakter nicht aufgedeckt wird. Mit der Analogiefrage behandeln wir die Machtfrage.

Alles Wissen ist im Grunde praktisches, d.h. wirksames Wissen. Der klassische Begriff des Wissens impliziert die  Wahrheit  oder  Sicherheit  des Gewussten. Dieser Dogmatismus ist Ausdruck eines schematisierten Denkens. Wissenschaft ist immer auf ein als Besitz verfuegbares Wissen aus. Wissenschaft soll vorhersagbare Ordnung schaffen. Wissenschaft liefert Kenntnisse, wie man das Leben durch Berechnung beherrscht. Die Logik wuenscht Regelmaessigkeit des Wissens. Systematisches Denken ist auf eine Totalitaet der Prinzipien aus. Wo logischer Verstand ist, ist auch das Gesetz. Abstraktion in Wort und Zahl ist das Hauptinstrument jeder Art von Legitimation. Herrschaftswissen existiert in Form von addierten Daten, nicht als Mittel geistiger Sinnorientierung. Meine ganze Kritik geht deshalb gegen den Dogmatismus. Jedes Ding-ansich ist illusionaer und fiktiv.

Die Fiktionen der Objektivitaet wirken lediglich aufgrund unkritisch hingenommener Konventionen. Theorien sind in diesem Sinne Religionsersatz. Nur eine universalistische  Sinnerfuellung  der Welt konnte den Blick fuer die eigentlich anarchische Wirklichkeit verstellen. Herrschaft durch Verallgemeinerung erscheint mir als das Urprinzip ideologischer Manipulation. Indoktrination und symbolische Gewalt entsteht hauptsaechlich durch die dogmatische Durchsetzung von Definitionen. Im Dogmatismus sind endlose Streitigkeiten schon immer mitgesetzt. Dogmatisches und autoritaeres Wissen ist auf Regeln, Gesetze und Vorschriften aus, um damit Dinge und Menschen beherrschen zu koennen. Jeder Pragmatismus im Bereich der Erkenntnis bedeutet letztlich Herrschafts- und Machtwissen. Das Wissen masst sich das Recht auf Macht an. Das Wissen wird zum Ersatz fuer das Gewissen.

Anarchismus ist fuer mich hauptsaechlich eine geistige Einstellung. Das Urproblem liegt in der Optik, mit der die ganze Wirklichkeit betrachtet wird. Herrschaftsfreiheit ist in diesem Sinne eine simple Selbstverstaendlichkeit des Denkens. Man muss Anarchismus und Herrschaftslosigkeit deshalb vor allem als Methode begreifen. Die Methode des Anarchismus heisst fuer mich  hier und jetzt.  Was wir gewoehnlich als Wissen bezeichnen, bezieht sich immer auf die Vergangenheit oder die Zukunft und besteht hauptsaechlich aus dem Glauben an die zukuenftige Regelmaessigkeit immer wieder gemachter Erfahrungen.

Die Kausalitaet und die ihr entsprechende Logik des gesetzten Anfangs, bzw. Ursache und der darauf folgenden Wirkung, erscheint uns als natuerliche Gesetzmaessigkeit der Wirklichkeit. Es gibt aber keinen anderen Anfang, als den vom Bewusstsein gesetzten. Alle Wirklichkeit gibt es nur in der Gegenwart und die Gegenwart ist unauslöschlich individuell. Die Wissenschaft beginnt mit der abstrakten Formel A = A, bzw. Ich ist Ich.

Wer die Geltung der Logik bezweifelt, laeuft leicht Gefahr, fuer verrueckt erklaert zu werden. Autoritaere Ordnung hat die Tendenz Widersprueche und Kritik zu eliminieren, weil allzuviele widerstreitende Meinungen am Ende jedes Sinnsystem aufloesen. Mit dem Widerspruch hoert die Ordnung auf. Wenn wir aber gerechtfertigte Widersprueche nicht wahrhaben wollen, besteht immer die Gefahr, dass neue und weit schlimmere Widersprueche produziert werden. Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf.

Das Regellose ist das eigentlich Wirkliche im Wirklichen, ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realitaet, der nie aufgehende Rest, das, was sich groesster Anstrengung nicht im Verstand aufloesen laesst. In der Natur als solcher gibt es keine fertigen Gebilde und nichts Rundes, nichts Abgeschlossenes. Rund und geschlossen sind nur Woerter, Bilder, Zeichen. Die Kategorien sind quasi Ruhepunkte im Denken. Das Anarchische ist die ungeformte Wirklichkeit. Die ungeformte Materie dieser Welt war ein Gott namens  Chaos.  Das Urchaos ist da, wo Zeit und Raum keine Rolle spielen. Die Gegenwart ist zeit- und raumloses Empfinden. Gegenwart ist eine Bezeichnung fuer eine wesentlich seelische Qualitaet. Im Unbewussten waehren alle Augenblicke nur den gleichen kurzen Augenblick. Die anarchischen Schichten der Seele bilden ein schwer definierbares Chaos von Antrieben und Motivationen, die sich gegenseitig ueberlagern, aufheben und verstaerken.

Gerade seelische Krisen koennen deshalb als Zeiten fruchtbarer Anarchie interpretiert werden. Schoepferische Taetigkeit ist fuer mich das Resultat eines Prozesses, in dem gelaeufige Strukturen ein Stadium voruebergehender Desorganisation durchlaufen. Unordnung kann in diesem Sinn auch eine aufruettelnde und kreative Wirkung haben. Das rein logische Denken fuehrt uns staendig in die Irre. Man ist geneigt, das Denken schon fuer die Wirklichkeit zu halten. Die Wirklichkeit ist aber kein Ergebnis logischer, bzw. sprachlicher Operationen. Gewohnheiten, Ueberzeugungen und Entschluesse koennen durch Logik geklaert und geordnet, aber nicht gerechtfertigt werden. Die praktische Notwendigkeit Urteile zu faellen laesst sich nicht umgehen und jedes Urteil ist im Grunde eine moralische Entscheidung. Objektive Tatsachen waeren objektive Normen und solche sind mit der Freiheit jedes Menschen unvereinbar. Die wirkliche Welt ist ohne Zweck und Ziel. Sie ist sinnlos, wenn  wir  ihr nicht einen Sinn und Bedeutung geben und Werte setzen. Wertgebend und zwecksetzend, kurz: schaffend.

LITERATUR, Laurent Verycken, Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg 1994
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