cr-2Zeichen und OrdnungDie Pathologie der Zeichen    
 
FERDINAND de SAUSSURE
Der Gegenstand
der Sprachwissenschaft


"Obwohl die sprachlichen Zeichen ihrem Wesen nach psychisch sind, so sind sie doch keine Abstraktionen; da die Assoziationen durch kollektive Übereinstimmung anerkannt sind und ihre Gesamtheit die Sprache ausmacht, sind sie Realitäten, deren Sitz im Gehirn ist."

Den Gegenstand der Sprachwissenschaft bilden zunächst alle Betätigungen des menschlichen Sprachvermögens, ob es sich nun um wilde Völker oder um zivilisierte Nationen handle, um archaische, klassische oder Verfallsepochen, mit jedesmaliger Berücksichtigung nicht nur der korrekten Sprache und des guten Stils, sondern aller Formen des Ausdrucks. Und das ist nicht alles: da die Rede sehr häufig sich der Beobachtung entzieht, wird der Sprachforscher geschriebene Texte in Rechnung ziehen müssen, da er nur daraus Idiome der Vergangenheit und entfernter Gebiete lernen kann.

Die Aufgabe der Sprachwissenschaft ist also:

a) die Beschreibung und Geschichte von allen erreichbaren Sprachen zu liefern, was darauf hinausläuft, die Geschichte der Sprachfamilien zu schaffen und nach Möglichkeit die Grundsprachen jeder Familie zu rekonstruieren;

b) die Kräfte aufzusuchen, die jederzeit und überall in allen Sprachen wirksam sind, und die allgemeinen Gesetze abzuleiten, auf welche man alle speziellen Erscheinungen der Geschichte zurückführen kann;

c) sich abzugrenzen und sich selbst zu definieren.

Die Sprachwissenschaft hat sehr enge Beziehungen zu anderen Wissenschaften, welche bald Tatsachen von ihr übernehmen, bald ihr solche liefern. Die Grenzen, welche diese Wissenschaften scheiden, sind nicht immer deutlich erkennbar. Z. B. muß die Sprachwissenschaft sorgfältig von der Ethnographie und der Prähistorie unterschieden werden, wo die Sprache nur als Dokument in Frage kommt; ebenso von der Anthropologie, die den Menschen nur als Gattung erforscht, während die Sprache eine soziale Tatsache ist. Oder sollte man sie also der Soziologie eingliedern? Welche Beziehungen bestehen zwischen der Sprachwissenschaft und der Sozialpsychologie? Im Grunde ist in der Sprache alles psychologisch, einschließlich ihrer materiellen und mechanischen Äußerungen, wie die Veränderungen der Laute; und ist die Sprachwissenschaft, da sie der Sozialpsychologie so wertvolle Tatsachen bietet, nicht ein Bestandteil von dieser? Lauter Fragen, die wir hier nur aufwerfen, um sie später wieder aufzunehmen.

Das Verhältnis der Sprachwissenschaft zur Physiologie ist nicht ebenso schwer zu entwickeln; die Beziehung ist einseitig insofern, als das Studium der Sprache von der Lautphysiologie Aufklärung erheischt, ihr aber keine liefert. Jedenfalls ist eine Vermischung beider Disziplinen unmöglich: das Wesentliche an der Sprache ist, wie wir sehen werden, dem lautlichen Charakter des sprachlichen Zeichens fremd.

Was die Philologie anlangt, so sind wir schon im klaren: sie ist von der Sprachwissenschaft deutlich unterschieden trotz der Berührungspunkte, die sie miteinander haben, und der Dienste, die sie sich gegenseitig leisten.

Worin besteht schließlich der Nutzen der Sprachwissenschaft?

Nur sehr wenig Leute haben darüber klare Begriffe, es ist hier nicht der Ort, dies zu bestimmen. Aber es leuchtet ein, daß sprachwissenschaftliche Fragen z. B. alle diejenigen, Historiker, Philologen usw., angehen, die mit Texten umzugehen haben. Einleuchtender noch ist ihre Wichtigkeit für die allgemeine Kultur: im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft gibt es nichts, was an Wirksamkeit und Wichtigkeit der Sprache gleichkommt. Es ist daher auch nicht richtig, daß ihr Studium nur Sache einiger Spezialisten sei: in der Tat beschäftigt sich alle Welt mehr oder weniger damit. Aber die paradoxe Folge des daran geknüpften Interesses ist, daß es kein Gebiet gibt, wo mehr absurde Vorstellungen, Vorurteile, Wunderlichkeiten und Willkürlichkeiten zutage getreten sind. In psychologischer Hinsicht haben diese Irrtümer sogar ein gewisses Interesse; der Sprachforscher aber hat die Aufgabe, sie zu kennzeichnen und möglichst vollständig zu zerstreuen.


§ 1. Die Sprache; ihre Definition

Was ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft - wenn wir ihn vollständig und konkret bestimmen wollen? Diese Frage ist besonders schwierig, wir werden später sehen, warum; wir wollen uns hier darauf beschränken, diese Schwierigkeit begreiflich zu machen.

Andere Wissenschaften befassen sich mit Gegenständen, die von vornherein gegeben sind und man nacheinander unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten kann. Ganz anders auf unserem Gebiet. Es spricht jemand das französische Wort  nu  aus: ein oberflächlicher Beobachter wäre versucht, darin ein konkretes Objekt der Sprachwissenschaft zu erblicken; aber eine aufmerksamere Prüfung läßt darin nacheinander drei oder vier verschiedene Dinge erkennen, je nach der Art, wie man es betrachtet: als Laut, als Ausdruck einer Vorstellung, als Entsprechung des lateinischen 'nudum usw. Man kann nicht einmal sagen, daß der Gegenstand früher vorhanden sei als der Gesichtspunkt, aus dem man ihn betrachtet; vielmehr ist es der Gesichtspunkt, der das Objekt erschafft; und außerdem wissen wir nicht von vornherein, ob eine dieser Betrachtungsweisen den andern vorangeht oder übergeordnet ist. Ferner, für welche man sich auch entscheidet, das sprachliche Phänomen zeigt stets zwei Seiten, die sich entsprechen und von denen die eine nur gilt vermöge der anderen. Zum Beispiel:

1. Die Silben, die man artikuliert, sind akustische Eindrücke, die das Ohr aufnimmt, aber die Laute würden nicht existieren ohne die Stimmorgane: so besteht ein 'n nur durch die Entsprechung dieser beiden Seiten. Man kann also die Sprache nicht auf den Laut zurückführen, noch den Laut von der Mundartikulation lostrennen; und entsprechend umgekehrt: man kann die Bewegungen der Sprechorgane nicht definieren, indem man absieht vom akustischen Eindruck.

2. Nehmen wir aber an, der Laut wäre eine einfache Sache: würde dann der Laut die menschliche Rede ausmachen? Nein, er ist nur das Werkzeug des Gedankens und existiert nicht für sich selbst. Hier tritt eine neue Entsprechung auf, die tiefe und ungelöste Probleme in sich birgt: der Laut, eine zusammengesetzte akustisch-stimmliche Einheit, bildet seinerseits mit der Vorstellung eine zusammengesetzte Einheit, die physiologisch und geistig ist. Und das ist noch nicht alles.

3. Die menschliche Rede hat eine individuelle und eine soziale Seite; man kann die eine nicht verstehen ohne die andere. Außerdem:

4. In jedem Zeitpunkt begreift sie in sich sowohl ein feststehendes System als eine Entwicklung; sie ist in jedem Augenblick eine gegenwärtige Institution und ein Produkt der Vergangenheit. Es erscheint auf den ersten Blick als sehr einfach, zwischen dem System und seiner Geschichte zu unterscheiden, zwischen dem, was sie ist und was sie gewesen ist; in Wirklichkeit ist die Verbindung, welche diese beiden Dinge eint, so eng, daß man Mühe hat, sie zu trennen. Oder wäre die Frage einfacher, wenn man das Phänomen der Sprache in seinen Ursprüngen betrachtete, wenn man z.B. damit begänne, die Kindersprache zu studieren? Nein, denn es ist eine ganz flasche Vorstellung, daß in sprachlichen Dingen das Problem des Ursprungs verschieden sei von dem der dauernden Zustände; man kommt also aus dem Zirkel nicht heraus.

Von welcher Seite man also die Frage auch angreift, nirgends bietet sich uns der Gegenstand der Sprachwissenschaft als ein wirrer Haufe verschiedenartiger Dinge, die unter sich durch kein Band verknüpft sind. Wenn man so vorgeht, tritt man in das Gebiet mehrerer Wissenschaften ein - der Psychologie, Anthropologie, der normativen Grammatik, Philologie usw. -, die wir klar von der Sprachwissenschaft scheiden, die aber vermöge unkorrekter Methode die Sprache als einen ihrer Gegenstände beanspruchen könnten.

Es gibt unseres Erachtens nur eine Lösung aller dieser Schwierigkeiten: 'man muß sich von Anfang an auf das Gebiet der Sprache begeben und sie als die Norm aller anderen Äußerungen der menschlichen Rede gelten lassen.' In der Tat, unter so vielen Doppelseitigkeiten scheint allein die Sprache eine selbständige Definition zu gestatten, und sie bietet dem Geist einen genügenden Stützpunkt.

Was aber ist die Sprache? Für uns fließt sie keineswegs mit der menschlichen Rede zusammen; sie ist nur ein bestimmter, allerdings wesentlicher Teil davon. Sie ist zu gleicher Zeit ein soziales Produkt der Fähigkeit zu menschlicher Rede und ein Ineinandergreifen notwendiger Konventionen, welche die soziale Körperschaft getroffen hat, umd die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen. Die menschliche Rede, als Ganzes genommen, ist vielförmig und ungleichartig; verschiedenen Gebieten zugehörig, zugleich physisch, psychisch und physiologisch, gehört sie außerdem noch sowohl dem individuellen als dem sozialen Gebiet an; sie läßt sich keiner Kategorie der menschlichen Verhältnisse einordnen, weil man nicht weiß, wie ihre Einheit abzuleiten sei.

Die Sprache dagegen ist ein Ganzes in sich und ein Prinzip der Klassifikation. In dem Augenblick, da wir ihr den ersten Platz unter den Tatsachen der menschlichen Rede einräumen, bringen wir eine natürliche Ordnung in eine Gesamtheit, die keine andere Klassifikation gestattet.

Gegen dieses Klassifikationsprinzip könnte man einwenden, daß die Ausübung der menschlichen Rede auf einer Fähigkeit beruht, die wir von Natur haben, während die Sprache etwas Erworbenes und Konventionelles ist, was der natürlichen Veranlagung untergeordnet werden müßte anstatt ihr übergeordnet zu werden.

Darauf läßt sich folgendes antworten.

Zunächst ist nicht bewiesen, daß die Betätigung der menschlichen Rede beim Sprechen etwas vollständig Natürliches sei, d.h. daß unser Sprechapparat zum Sprechen gemacht sei wie unsere Beine zum Gehen. Die Sprachforscher sind keineswegs einig darüber. So ist es für 'WHITNEY, der die Sprache als eine soziale Institution so gut wie alle anderen ansieht, nur Zufall und geschieht nur aus Bequemlichkeitsgründen, daß wir uns der Sprechwerkzeuge als Instrument der Sprache bedienen: die Menschen hätten ebensogut die Geste wählen und sichtbare Bilder an Stelle der hörbaren verwenden können. Diese Behauptung ist zwar sicherlich übertrieben; die Sprache steht als eine soziale Institution nicht in allen Punkten den anderen sozialen Institutionen gleich; ferner geht WHITNEY zu weit, wenn er sagt, unsere Wahl sei nur zufällig auf die Sprechwerkzeuge gefallen; sie sind sehr wohl in gewisser Weise von der Natur dazu bestimmt. Aber im wesentlichen scheint uns der amerikanische Linguist recht zu haben: die Sprache ist eine Übereinkunft, und die Natur des Zeichens, bezüglich dessen man übereingekommen ist, ist indifferent. Die Frage der Sprechwerkzeuge ist also sekundär beim Problem der menschlichen Rede.

Eine gewisse Definition dessen, was man 'langage articulè nennt, könnte diesen Gedanken bestätigen. Im Lateinischen bedeutet 'articulus "Glied, Teil, Unterabteilung einer Folge von Dingen"; bei der menschlichen Rede kann die Artikulation bezeichnen entweder die Einteilung der gesprochenen Reihe der Silben oder die Einteilung der Vorstellungsreihe in Vorstellungseinheiten; das ist es, was man auf deutsch gegliederte Sprache nennt. Indem man sich an diese zweite Definition hält, könnte man sagen, daß es nicht die gesprochene Rede ist, was dem Menschen natürlich ist, sondern die Fähigkeit, eine Sprache zu schaffen, d.h. ein System unterschiedlicher Zeichen, die unterschiedenen Vorstellungen entsprechen.

BROCA hat entdeckt, daß die Anlage zum Sprechen in der dritten linken frontalen Gehirnwindung lokalisiert ist; man hat sich auch darauf gestützt, um die menschliche Rede als etwas Natürliches hinzustellen. Aber bekanntlich wurde diese Lokalisation festgestellt für 'alles, was sich auf die menschliche Rede bezieht, einschließlich der Schrift, und diese Feststellungen, verbunden mit den Beobachtungen, die angestellt wurden über die verschiedenen Arten der Aphasie durch Verletzung dieser Gehirnzentren, scheinen darauf hinzudeuten:

1. daß die verschiedenen Störungen der mündlichen Rede auf hunderterlei Art mit denen der geschriebenen Rede verknüpft sind;

2. daß in allen Fällen der Aphasie oder Agraphie weniger die Fähigkeit, diese oder jene Laute hervorzubringen oder diese und jene Zeichen zu schreiben, gestört ist, als die Fähigkeit, durch irgendein Mittel die Zeichen der regelmäßigen Rede hervorzurufen. Das alles führt zu der Ansicht, daß über die Funktionen der verschiedenen Organe hinaus eine allgemeinere Anlage besteht, welche die Zeichen beherrscht und welche die eigentliche Sprachfähigkeit wäre. Und dadurch werden wir zu derselben Schlußfolgerung geführt wie oben.

Um der Sprache den ersten Platz im Studium der menschlichen Rede einzuräumen, kann man endlich noch das Argument geltend machen, daß die Anlage, Wörter zu artikulieren - ob sie naturgegeben sei oder nicht -, nur ausgeübt wird mit Hilfe des Instruments, das die Gesamtheit geschaffen und zur Verfügung gestellt hat; es ist daher nicht unbegründete Willkür, zu sagen, daß nur die Sprache die Einheit der menschlichen Rede ausmacht.


§ 2. Stellung der Sprache innerhalb der menschlichen Rede.

Um festzustellen, welches Gebiet die Sprache in der Gesamtheit der menschlichen Rede einnimmt, muß man sich den individuellen Vorgang vergegenwärtigen, welcher den Kreislauf des Sprechens darzustellen gestattet. Dieser Vorgang setzt mindestens zwei Personen voraus; das ist als Minimum erforderlich, damit der Kreislauf vollständig sei. Wir nehmen also an zwei Personen, A und B, welche sich unterreden.

Der Ausgangspunkt des Kreislaufs liegt im Gehirn des Einen, z.B. A, wo die Bewußtseinsvorgänge, die wir Vorstellung schlechthin nennen wollen, mit den Vorstellungen der sprachlichen Zeichen oder akustischen Bildern assoziiert sind, welche zu deren Ausdruck dienen. Stellen wir uns vor, daß eine gegebene Vorstellung im Gehirn ein Lautbild auslöst: das ist ein durchaus 'psychischer Vorgang, dem seinerseits ein 'physiologischer Prozeß folgt: das Gehirn übermittelt den Sprechorganen einen Impuls, der dem Lautbild entspricht; dann breiten sich die Schallwellen aus vom Munde des A zum Ohr des B hin: ein rein 'physikalischer Vorgang. Dann setzt sich der Kreislauf bei B fort in umgekehrter Reihenfolge: vom Ohr zum Gehirn, physiologische Übertragung des Lautbildes; im Gehirn psychologische Assoziation dieses Lautbildes mit den entsprechenden Vorstellungen. Wenn B seinerseits spricht, wird dieser neue Vorgang von seinem Gehirn zu dem des A genau denselben Weg zurücklegen und dieselben aufeinanderfolgenden Phasen durchlaufen.

Diese Analyse beansprucht nicht, vollständig zu sein; man könnte außerdem unterscheiden: die rein akustische Wahrnehmung, die Identifikation dieser Wahrnehmung mit dem latenten Lautbild, das Bild der Bewegungsgefühle bei der Lautgebung usw. Ich habe nur diejenigen Elemente berücksichtigt, die ich für wesentlich halte; aber unsere Figur gestattet, mit einem Blick die physikalischen Bestandteile (Schallwellen) von den physiologischen (Lautgebung und Gehörwahrnehmung) und psychischen (Wortbilder und Vorstellungen) zu unterscheiden. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, hervorzuheben, daß das Wortbild nicht mit dem Laut selbst zusammenfällt, und daß es in dem gleichen Maß psychisch ist wie die ihm assoziierte Vorstellung.

Der Kreislauf, wie wir ihn dargestellt haben, läßt sich noch einteilen:

a) in einen äußeren Teil (Schwingung der Laute, die vom Mund zum Ohr gehen) und einen inneren Teil, der alles übrige umfaßt;

b) in einen psychischen und einen nichtpsychischen Teil, wovon der letztere ebensowohl die physiologischen Vorgänge, deren Sitz die Organe sind, umfaßt, wie die physikalischen außerhalb des Individuums;

c) in einen aktiven und einen passiven Teil: aktiv ist alles, was vom Assoziationszentrum der einen zum Ohr der anderen Person geht, und passiv alles, was vom Ohr der letzteren zu ihrem Assoziationszentrum geht;

endlich innerhalb des psychischen Teils, der im Gehör lokalisiert ist, kann man ausübend nennen alles was aktiv ist, und aufnehmend alles, was passiv ist. Hinzuzufügen ist noch das Vermögen der Assoziation und Koordination, das sich geltend macht, sobald es sich nicht nur um einzelne Zeichen handelt; diese Fähigkeit spielt die größte Rolle in der Organisation der Sprache als System.

Um aber diese Rolle richtig zu verstehen, muß man weitergehen zu dem sozialen Vorgang; denn die individuelle Betätigung ist davon nur der Keim.

Zwischen allen Individuen, die so durch die menschliche Rede verknüpft sind, bildet sich eine Art Durchschnitt aus: alle reproduzieren - allerdings nicht genau, aber annähernd - dieselben Zeichen, die an dieselben Vorstellungen geknüpft sind.

Was ist nun der Ursprung dieser sozialen Kristallisation? Welcher Teil des Kreislaufs hat hieran ursächlichen Anteil? Denn wahrscheinlich nehmen nicht alle gleichermaßen daran teil.

Der physische Teil kann von vornherein ausgeschieden werden. Wenn wir eine Sprache sprechen hören, die wir nicht verstehen, vernehmen wir zwar wohl die Laute, bleiben aber, eben weil wir nicht verstehen, außerhalb des sozialen Vorgangs.

Der psychische Teil ist ebenfalls nicht vollständig daran mitbeteiligt: die ausübende Seite bleibt außer Spiel, denn die Ausübung geschieht niemals durch die Masse; sie ist immer individuell und das Individuum beherrscht sie; wir werden sie 'das Sprechen' (parole) nennen.

Vielmehr ist das Wirken der rezipierenden und koordinierenden Fähigkeit, wodurch sich bei den sprechenden Personen Eindrücke bilden, die schließlich bei allen im wesentlichen gleich sind. Wie hat man sich dieses soziale Ergebnis vorzustellen, um damit die Sprache als völlig losgelöst von allem übrigen zu erfassen? Wenn wir die Summe der Wortbildert, die bei allen Individuen aufgespeichert sind, umspannen könnten, dann hätten wir das soziale Band vor uns, das die Sprache ausmacht. Es ist ein Schatz, den die Praxis des Sprechens in den Personen, die der gleichen Sprachgemeinschaft angehören, niedergelegt hat, ein grammatikalisches System, das virtuell in jedem Gehirn existiert, oder vielmehr in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen; denn die Sprache ist in keinem derselben vollständig, vollkommen existiert sie nur in der Masse.

Indem man die Sprache vom Sprechen scheidet, scheidet man zugleich:

1. das Soziale vom Individuellen
2. das Wesentliche vom Akzessorischen und mehr oder weniger Zufälligen.

Die Sprache ist nicht eine Funktion der sprechenden Person; sie ist das Produkt, welches das Individuum in passiver Weise einregistriert; sie setzt niemals eine vorherige Überlegung voraus, und die Reflexion ist dabei nur beteiligt, sofern sie die Einordnung und Zuordnung betätigt, von der später die Rede sein wird.

Das Sprechen ist im Gegensatz dazu ein individueller Akt des Willens und der Intelligenz, bei welchem zu unterscheiden sind:

1. die Kombinationen, durch welche die sprechende Person den 'code der Sprache in der Absicht, ihr persönliches Denken auszudrücken, zur Anwendung bringt;
2. der psycho-physische Mechanismus, der ihr gestattet, diese Kombination zu äußern.

Es ist zu bemerken, daß wir hier Sachen, nicht Wörter definiert haben; die aufgestellten Unterscheidungen sind daher durch gewisse mehrdeutige Termini, die sich von einer Sprache zur anderen nicht decken, nicht gefährdet. So bedeutet deutsch 'Sprache sowohl "langue" (Sprache) als "langage" (menschliche Rede); 'Rede entspricht einigermaßen dem "parole" (Sprechen), fügt dem aber noch den speziellen Sinn von "discours" hinzu. Lateinisch 'sermo bedeutet eher "langage" und "parole", während 'lingua die "Sprache" (langue) bezeichnet, usw. Kein Wort entspricht genau den oben aufgestellten Begriffen. Deshalb ist jede Definition im Hinblick auf Wörter vergeblich; es ist eine verkehrte Methode, von Wörtern auszugehen, um Sachen zu definieren.

Fassen wir die charakteristischen Merkmale der Sprache zusammen:

1. Sie ist genau umschriebenes Objekt in der Gesamtheit der verschieden gearteten Tatsachen der menschlichen Rede. Man kann sie lokalisieren in demjenigen Teil des Kreislaufs, wo ein Lautbild sich einer Vorstellung assoziiert. Sie ist der soziale Teil der menschlichen Rede und ist unabhängig vom Einzelnen, welcher für sich allein sie weder schaffen noch umgestalten kann; sie besteht nur kraft einer Art Kontrakt zwischen den Gliedern der Sprachgemeinschaft. Andererseits muß das Individuum sie erst erlernen, um das Ineinandergreifen ihrer Regeln zu kennen; das Kind eignet sie sich nur allmählich an. Sie ist so sehr eine Sache für sich, daß ein Mensch, der die Sprechfähigkeit verloren hat, die Sprache noch besitzt, sofern er die Lautzeichen versteht, die er vernimmt.

2. Die Sprache, vom Sprechen unterschieden, ist ein Objekt, das man gesondert erforschen kann. Wir sprechen die toten Sprachen nicht mehr, aber wir können uns sehr wohl ihren sprachlichen Organismus aneignen. Die Wissenschaft von der Sprache kann nicht nur der andern Elemente der menschlichen Rede entraten, sondern sie ist überhaupt nur möglich, wenn diese anderen Elemente nicht damit verquickt werden.

3. Während die menschliche Rede in sich verschiedenartig ist, ist die Sprache, wenn man sie so abgrenzt, ihrer Natur nach in sich gleichartig: sie bildet ein System von Zeichen, in dem einzig die Verbindung von Sinn und Lautzeichen wesentlich ist und in dem die beiden Seiten des Zeichens gleichermaßen psychisch sind.

4. Die Sprache ist nicht weniger als das Sprechen ein Gegenstand konkreter Art, und das ist günstig für die wissenschaftliche Betrachtung. Obwohl die sprachlichen Zeichen ihrem Wesen nach psychisch sind, so sind sie doch keine Abstraktionen; da die Assoziationen durch kollektive Übereinstimmung anerkannt sind und ihre Gesamtheit die Sprache ausmacht, sind sie Realitäten, deren Sitz im Gehirn ist. Übrigens sind die Zeichen der Sprache sozusagen greifbar; die Schrift kann sie in Konventionellen Bildern fixieren, während es nicht möglich wäre, die Vorgänge des Sprechens in allen ihren Einzelheiten zu photographieren; die Lautgebung eines auch noch so kleinen Wortes stellt eine Unzahl von Muskelbewegungen dar, die schwer zu kennen und abzubilden sind. In der Sprache dagegen gibt es nur das Lautbild, und dieses läßt sich in ein dauerndes visuelles Bild überführen. Denn wenn man von der Menge der Bewegungen absieht, die erforderlich sind, um es im Sprechen zu verwirklichen, ist jedes Lautbild, wie wir sehen werden, nur die Summe aus einer begrenzten Zahl von Elementen oder Lauten (Phonemen), die ihrerseits durch eine entsprechende Zahl von Zeichen in der Schrift vergegenwärtigt werden können. Diese Möglichkeit, alles, was sich auf die Sprache bezieht, fixieren zu können, bringt es mit sich, daß ein Wörterbuch und eine Grammatik eine treue Darstellung derselben sein können, indem die Sprache das Depot der Lautbilder und die Schrift die greifbare Form dieser Bilder ist.


§ 3. Stellung der Sprache
innerhalb der menschlichen Verhältnisse.

Die Semeologie.

Diese Merkmale lassen uns ein Weiteres, noch Wichtigeres erkennen. Die Sprache, auf diese Weise innerhalb der Gesamtheit der menschlichen Rede abgegrenzt, gestattet eine Einordnung unter die Erscheinungen des Lebens, während das bei der menschlichen Rede nicht der Fall ist.

Wir haben soeben gesehen, daß die Sprache eine soziale Einrichtung ist; aber sie unterscheidet sich durch mehrere Züge von anderen Einrichtungen, wie den politischen, rechtlichen usw. Um ihre besondere Natur zu verstehen, muß man ein neue Reihe von Tatsachen berücksichtigen.

Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und insofern der Schrift, dem Taubstummenalphabeth, symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, mitlitärischen Signalen usw. usw. vergleichbar. Nur ist sie das wichtigste dieser Systeme.

Man kann sich also vorstellen  eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht;  diese würde einen Teil der Sozialpsychologie bilden und infolgedessen einen Teil der allgemeinen Psychologie; wir werden sie Semeologie (von griechisch  semeion , "Zeichen") nennen. Sie würde uns lehren, worin die Zeichen bestehen und welche Gesetze sie regieren. Da sie noch nicht existiert, kann man nicht sagen, was sie sein wird. Aber sie hat Anspruch darauf, zu bestehen; ihre Stellung ist von vornherein bestimmt. Die Sprachwissenschaft ist nur ein Teil dieser allgemeinen Wissenschaft, die Gesetze, welche die Semeologie entdecken wird, werden auf die Sprachwissenschaft anwendbar sein, und diese letztere wird auf diese Weise zu einem ganz bestimmten Gebiet in der Gesamtheit der menschlichen Verhältnisse gehören.

Sache des Psychologen ist es, die genaue Stellung der Semeologie zu bestimmen; Aufgabe des Sprachforschers ist es, zu bestimmen, wodurch die Sprache ein besonderes System in der Gesamtheit der semeologischen Erscheinungen ist. Diese Frage wird weiter unten wieder aufgenommen werden; hier halten wir nur den einen Umstand fest: wenn wir zum ersten Male der Sprachwissenschaft einen bestimmten Platz unter den Wissenschaften zuweisen konnten, so war das nur möglich, weil wir sie der Semeologie zugerechnet haben.

Warum ist diese noch nicht als selbständige Wissenschaft, die wie jede andere ihren eigenen Gegenstand hat, anerkannt? Ganz einfach darum, weil man sich in einem Zirkel bewegt: einerseits ist nichts so sehr wie die Sprache geeignet, die Natur des semeologischen Problems verständlich zu machen; aber um es in richtiger Weise nur aufzuwerfen, müßte man die innere Struktur der Sprache untersuchen; bisher jedoch hat man sie fast immer als Funktion von etwas anderem, von anderen Gesichtspunkten aus, betrachtet.

Da ist zunächst die oberflächliche Vorstellung des großen Publikums: es sieht in der Sprache nur eine Nomenklatur, was eine Untersuchung ihrer wahren Natur nicht aufkommen läßt.

Denn besteht der Gesichtspunkt des Psychologen, welcher den Mechanismus des Zeichens im Individuum untersucht; das ist die leichteste Methode, aber sie führt nicht über die individuelle Ausübung hinaus und berührt nicht das Zeichen selbst, das sein Natur nach sozial ist.

Oder endlich, man beachtet zwar, daß das Zeichen in sozialer Hinsicht untersucht werden muß, berücksichtigt aber nur diejenigen Züge der Sprache, die ihr mit anderen sozialen Institutionen gemein sind, nämlich diejenigen, welche mehr oder weniger von unserm Willen abhängen; auf diese Weise trifft man aber auch nicht das Richtige, indem man diejenigen Eigenschaften außer acht läßt, die nur den semeologischen Systemen im allgemeinen und der Sprache im besonderen angehören. Denn das Zeichen ist immer in einem gewissen Maß vom Willen des Einzelnen oder der Gemeinschaft unabhängig - das ist seine wesentliche Eigenschaft; aber es ist diejenige, welche sich am wenigsten auf den ersten Blick zeigt.

Diese Eigenschaft also zeigt sich nur in der Sprache deutlich, da aber gerade in solchen Dingen, die am wenigsten untersucht werden; infolgedessen erkennt man die Notwendigkeit oder den besonderen Nutzen einer semeologischen Wissenschaft nicht recht. Für uns dagegen ist das sprachwissenschaftliche Problem vor allem ein semeologisches, und alle unsere Darlegungen gewinnen ihre Bedeutsamkeit von dieser wichtigen Tatsache. Wenn man die wahre Natur der Sprache entdecken will, muß man ihr zuerst das ins Auge fassen, was sie mit allen andern Systemen der gleichen Ordnung gemein hat; und sprachliche Faktoren, die auf den ersten Blick als sehr wichtig erscheinen (z.B. die Betätigung der Sprechwerkzeuge), dürfen nur in zweiter Linie in Betracht gezogen werden, indem sie dienen, die Sprache von andern Systemen zu unterscheiden. Auf diese Weise wird man nicht nur das sprachliche Problem aufklären, sondern ich meine, daß mit der Betrachtung der Sitten und Bräuche usw. als Zeichen diese Dinge in neuer Beleuchtung sich zeigen werden, und man wird das Bedürfnis empfinden, sie in die Semeologie einzuordnen und durch die Gesetze dieser Wissenschaft zu erklären.
LITERATUR - Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967