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ALOIS RIEHL
Realistische Grundzüge
[Eine philosophische Abhandlung der
allgemeinen und notwendigen Erfahrungsbegriffe]

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"Kant unterließ überall zu fragen: woher" seine Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes rühren?"

"Nichts existiert ansich" als Subjekt oder Objekt; - diese sind nicht als solche gegeben."

"Daher erklärt Helmholtz" mit Recht die Sinnestätigkeit als eine Art unbewußten Schließens."



II. Raum und Zeit

§ 1. Die Materie wird als das Raumerfüllende bestimmt und nach der Art gefragt, wie sie denselben erfüllt, ob durch ihr bloßes Dasein oder durch eine besondere ausdehnende Kraft. Die Form dieser Bestimmung und Frage beruth jedoch auf einer irrigen Annahme, in welcher der Idealismus schon im Keim enthalten ist. Der Raum wird in derselben der Materie vorausgesetzt als leeres Gefäß, in das alles Sein geschüttet werden kann. Er scheint den Dingen vorherzugehen, und immer schon da zu sein, noch ehe diese gesetzt sind. Die wirklichen Dinge scheinen dem Raum nie genügen zu können; dieser wird zwischen sie hinein und über sie hinaus versetzt. Eine Unendlichkeit von Dingen, also eine Anzahl derselben, die größer als irgeneine mögliche, und dennoch eine gegebene Zahl sein soll, ist für die Vorstellung unfaßbar und widersprechend. Aber die Unendlichkeit des Raumes hält jeder für gegeben und selbstverständlich. Auch den absolut leeren Raum meint man sich vorstellen zu können, indem das Gemeinbild und bloße Schema der Räumlichkeit dafür genommen wird. Daher fällt es den atomistischen Theorien so leicht, ihre Atome durch leere Räume auseinanderzuhalten. Die Scheinbarkeit all dieser Vorstellungen rührt von daher; daß der Raum unstreitig etwas Subjektives, erst durch die Erkenntnistätigkeit Hervorgebrachtes enthält, das aber deshalb keineswegs bloßer Schein oder eine Täuschung zu sein braucht.

Daraus,
    "daß die Vorstellung des Raums schon zugrunde liegen muß, damit gewisse Empfindungen auf etwas außerhalb von mir bezogen werden (d. h. auf etwas in einem anderen Ort des Raumes, als darin ich mich befinde); ingleichen, damit ich sie als auseinander, folglich nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen kann",
folgerte KANT:
    "daß die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußeren Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein kann, sondern, daß diese äußere Erscheinung selbst nur durch die gedachte Vorstellung allererst möglich ist." (1)
- und bestimmte demnach den Raum als "eine notwendige Vorstellung a priori", welche aber kein allgemeiner Begriff, sondern "reine Anschauung" ist. Auf diese Notwendigkeit a priori des Raums gründete KANT die apodiktische Gewißheit aller geometrischen Grundsätze und die Möglichkeit ihrer Konstruktion a priori, und schloß umgekehrt wieder aus der Evidenz und Apodiktizität der geometrischen Axiome auf die Notwendigkeit und Apriorität der Raumvorstellung (2). Da folglich der Raum von einer subjektiven Bedingung abhängt, unter welcher wir allein eine äußere Anschauung bekommen können; "so bedeutet die Vorstellung von demselben ansich gar nichts" (3), d. h. der Raum hat zwar empirische Realität in Anbetracht all dessen, was uns als Gegenstand vorkommen kann, aber eine transzendentale Identität in Anbetracht der Dinge-ansich. (4)

Auf gleiche Weise sucht KANT zu beweisen, daß auch die Zeit nicht etwas für sich selbst Bestehendes oder eine den Dingen anhängende objektive Bestimmung, sondern nur die Form des inneren Sinnes und die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen ist; und daß ihr folglich zwar eine empirische Realität, d. h. eine objektive Gültigkeit in Anbetracht aller Gegenstände unserer Sinne, aber keine absolute Realität zukommt. (5)

Damit verwandelt KANT Raum und Zeit in sinnliche, dem Subjekt ursprünglich anhängende Bedingungen, unter denen Gegenstände von diesem erkannt werden, und in bloße Formen der Anschauung desselben. Alle Verhältnisse der Objekte in Raum und Zeit würden daher verschwinden, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne aufheben (6).
    "Wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, muß die ganze Körperwelt wegfallen, als die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Objekts und eine Art Vorstellung desselben" (7).
Die Art aber, wie Raum und Zeit dem Subjekt als Bedingungen seiner Wahrnehmung anhaften, dachte KANT nicht in der Weise von anerschaffenen oder angeborenen Vorstellungen, "welche die Kritik schlechterdings nicht erlaubt" (8); er betrachtet jene vielmehr als "ursprüngliche Erwerbung" durch die eigene Erkenntnistätigkeit des Subjekts, folglich als psychische Produkte. Demnach ist nicht die Raumvorstellung selbst,
    "sondern der erste formale Grund, der es möglich macht, daß diese Vorstellung so und nicht anders entstehen, und noch dazu auf Objekte bezogen werden kann, angeboren". (9)
Dieser Grund ist in der Naturbeschaffenheit, im Wesen des erkennenden Subjekts zu suchen. KANT verbietet die von ihm sogenannten reinen Anschauungen Raum und Zeit, "in welchen allererst Bilder möglich sind", selbst als Bilder anzusehen; denn
    "der Grund der Möglichkeit der sinnlichen Anschauung ist kein Bild, er ist die bloße eigentümliche Rezeptivität des Gemüts, wenn es von etwas (in der Empfindung) affiziert wird, seiner subjektiven Beschaffenheit gemäß eine Vorstellung zu bekommen." (10)
Indem KANT den Raum als psychisches Produkt oder ursprünglichen Erwerb der Seele kraft ihrer Beschaffenheit ansah, blieb er doch weit entferrnt, die unermeßliche Mannigfaltigkeit und Bestimmtheit der Erscheinungen aus der reinen Form der sinnlichen Anschauung herleiten oder hinlänglich begreifen zu wollen (11). Wie der Empfindung (die er die Materie der Erscheinung nennt) und ihren Verschiedenheiten, so entspricht auch der Form der Erscheinung und ihren Modifikationen irgendetwas an den Dingen ansich. KANT verwehrt nur, unsere Wahrnehmungen in derselben Qualität, wie sie in uns sind, auch als außerhalb von uns für sich bestehende Dinge zu setzen, und sucht dagegen die räumlichen Verhältnisse der Dinge auf dynamische zurückzuführen (12). Es sind demnach reale Verhältnisse der Dinge-ansich, die in räumlicher Form vorgestellt werden. "Das Ding ansich wird demnach wirklich von uns erkannt, nach der Art, wie es uns erscheint." (13) Dem Erscheinenden entspricht auch der kantischen Ansicht zufolge, durchgängig ein Seiendes. An vielen Stellen sucht KANT die realistische Seite seiner Philosophie hervorzukehren. Auch ihm ist "die bloße Form der Anschauung ohne Reales kein Objekt", und er erklärt:
    "wenn das Licht nicht den Sinnen gegeben worden, so kann man sich auch keine Finsternis, und wenn nicht ausgedehnte Wesen wahrgenommen worden, keinen Raum vorstellen." (14)
Aber der Dualismus, den er in praktischer Absicht behaupten zu müssen glaubte, hinderte ihn seine realistische Ansicht konsequent durchzuführen; obschon ihm gerade die Nachweisung gewisser, gewöhnlich für real geltender Vorstellungsgebilde als solcher hierin am Meisten hätte unterstützen können. Doch KANT verfiel immer von Neuem einer schwankenden und seiner realistischen Grundüberzeugung widersprechenden Vorstellungsart, da er das Subjektive, also das aus der eigenen Wesenheit Hervorgehende herabwürdigen mußte, um für eine ganz andere Ordnung der Dinge, als die von uns erkannte, Platz zu schaffen.

Dieses Schwanken zwischen realistischer Grundüberzeugung und idealistischer Theorie ist nur aus den praktischen Postulaten und seiner transzendentalen Freiheit, die ihm am Herzen lag, zu begreifen. Sonst hätte die Notwendigkeit und Allgemeinheit gewisser Vorstellungen, welche KANT für den vollgültigen Beweis ihrer bloßen Subjektivität hielt, vielmehr beweisen müssen; daß dieselben im Wesen der Dinge und ihrer realen Verhältnisse selbst mitbegründet sind. Wie könnten außerdem gerade diese Vorstellungen allgemein sein? Die Notwendigkeit einer gewissen Verfahrensart des Erkennens, wonach jedes vorstellende Wesen trotz seiner sonstigen, individuellen Verschiedenheit von andern zu denselben allgemeinen Vorstellungsgebilden gelangt, sollte den Unterschied zwischen subjektiv und bloß subjektiv oder individuell, hinlänglich deutlich machen. Indem aber KANT jene Formen auf das menschliche Subjekt zu beschränken scheint (15), schnitt er sich das weite Gebiet der Naturerkenntnis durch Analogie ab. Um aber den Ursprung des räumlichen Vorstellens mit gehöriger Allgemeinheit nachzuweisen, muß über den Standpunkt des menschlichen Erkennens hinausgegangen werden, damit auch die Raumvorstellungen der Tiere in den Bereich der Erklärung fallen. Überdies muß festgehalten werden, daß die Naturbeschaffenheit der erkennenden Subjekte im Wesen der Dinge ihren Grund hat und daß die Formen des Vorstellens (wenn überhaupt von solchen geredet werden soll!) schon darum geeignet sind, das ansich Wirkliche aufzufassen, weil sie selbst der Wirklichkeit entstammen und zwar der Wirklichkeit im Sinne der transzendenten Realität KANTs. Sollte das, was aus der inneren geistigen Organisation und dem Mechanismus ihres Wirkens hervorgeht, weniger real sein, als die äußeren mechanischen Kräftebeziehungen in der Natur? Die Annahme, es könnte eine Welt geben, welche der sinnlich vorgestellten nicht etwa zugrunde liegt, und durch Wechselwirkung des Objektiven mit dem Subjektiven entspricht, sondern sich zu ihr wie die Wahrheit zur Täuschung verhält und von ihr der ganzen Art nach unterscheidet, also ihr widerspricht; wird schon durch die einfache Überlegung widerlegt, daß der Empfindungs- und Vorstellungsmechanismus, oder wenn man lieber will: die angeborenen Formen des Anschauens und Denkens selber aus dem Wesen der Dinge und ihrer Verhältnisse hervorgehen. Wenn wir auch alle kantischen Argumente zugeben, sein Schluß darf geradezu umgekehrt werden: eben weil jene Formen angeboren sind, müssen sie wesentliche sein, und auf der Beschaffenheit der Dinge-ansich beruhen. Die Verhältnisse der Dinge können nicht von den Zusammenfassungsformen unseres Vorstellens abhängen, denn sie gehen diesen vorher; - wohl aber müssen diese Formen von jenen Verhältnissen abhängen, weil sie auf dieselben folgen, und sich nach ihnen richten. Das Erkennen hat seine Entstehungsgeschichte auf Erden. KANT unterließ überall zu fragen: woher seine Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes rühren? - er beruhigte sich bei der bloßen Voraussetzung derselben.

Von jenem kantischen Subjekt, dem die Auffassungsformen: Raum, Zeit, Kausalität usw. eigen sein sollen, läßt sich kein deutlicher Begriff gewinnen. Soll es das menschliche oder irgendein animalisches sein, so wäre die räumlich-zeitliche Ordnung der Dinge vom Auftreten des Menschen oder der Tiere abhängig gemacht. KANT müßte dann die ganze Entwicklungsreihe jener Vorgänge leugnen, welche das animalische Leben bedingen, und daher als wirkliche vorauszusetzen sind, auch wenn sie in verhüllter oder veränderter Gestalt vorgestellt werden mögen. Ein transzendentes Subjekt aber, das so wenig in Erscheinung tritt als das Ding-ansich, ist ein bloßer Gedanke. Nichts existiert ansich als Subjekt oder Objekt; - diese sind nicht als solche gegeben, und bilden auch nicht die beiden durchgängig aufeinander bezogenen und doch ewig getrennten Seiten der Welt. Sie sind vielmehr nur der abstrakte Ausdruck eines Verhältnisses und je nach Ansatz vertauschen die realen Glieder desselben ihre Stellen. So kann jedes Atom für sich als Subjekt betrachtet werden.

Gleich unbestimmt, wie dieses Subjekt, scheint der kantische Begriff von der Apriorität zu sein. An ein zeitliches Prius kann dabei nicht gedacht werden; sollen nicht die leeren Formen den Dingen vorausgehen, wobei es der Sache nach gleichgültig bleibt, ob der Raum nach der gewöhnlichen Vorstellung ein leeres Gefäß oder nach der kantischen eine leere Form des Subjekts sein soll. Der ganze Unterschied liefe darauf hinaus, daß im einen Fall die Dinge in den Raum hineingeschüttet, im letzteren hineingeschaut werden. Doch ist KANT von einer so absurden Annahme weit entfernt, was sich aus den oben angerührten Stellen erhellt. Nach seiner ausdrücklichen Erklärung soll die Apriorität oder das Angeborensein nur den eigenen, ursprünglichen Erwerb der Seele bedeuten. Wenn aber der Raum erworben, d. h. durch die vorstellende Tätigkeit der Seele konstruiert ist, so entsteht vor allem die Frage: wodurch diese Tätigkeit veranlaßt wird, und wonach sich diese Konstruktion richtet? Kein reales Wesen ist ansich vorstellend; auch besteht die Vorstellung nicht aus einem Schaffen leerer Formen ins Unendliche. Sind die Vorstellungsräume der einzelnen erkennenden Wesen gleichsam hohle Blasen, in deren Zentrum sich das jeweilige Subjekt befindet, und deren Peripherie unfaßbar zurückweicht? Wenn nicht - woher rührt dann der eine identische Raum, der den einzelnen Individuen zwar gesonderte Mittelpunkte des Vorstellens und Wirkens darbietetk, für alle aber derselbe bleibt, obgleich er nicht von allen mit demselben Grad der Vollständigkeit und Deutlichkeit zur Vorstellung gebracht wird? Diese Identität kann nur in der Gleichheit der realen Verhältnisse, wie sie vor aller Auffassung sind, ihren Grund haben.

§ 2. Die Möglichkeit des räumlichen Vorstellens beruth auf zwei Voraussetzungen: einer Mehrheit absoluter Wesen, (denn die Zahl der Dinge wird durch die Raumvorstellung nicht gemacht, sondern erkannt); und einer gewissen Ordnung derselben, welche der Grund des Vorstellungsraumes ist, und nach HERBART intelligibler Raum heißt. Ohne diese Annahmen kann kein Grund gedacht werden, warum wir überhaupt räumlich vorstellen. Mit einer grundlosen Anlage des Gemüts aber läßt sich der Verstand nicht beruhigen.

In die Vorstellung des intelligiblen Raumes darf jedoch durchaus nichts von einem subjektiven Raumschema hineingelegt werden. Der intelligible Raum ist nicht der Raum der Anschauung, sondern die Ordnung der Dinge. Wie die realen Verhältnisse derselben überhaupt nur durch reines Denken erreicht werden, so ist auch die Vorstellung eines intelligiblen Raumes nur durch Abstraktion von jedem bloß subjetiven, psychologischen Gebilde darstellbar. Eine eigentliche Deduktion oder Konstruktion des intelligiblen Raumes aber widerspricht seinem Begriff (16).

Wie die Empfindungen den objektiven Impulsen in geregelter Weise entsprechen, obgleich sie dieselben qualitativ umgestalten; so entsprechen auch die räumlichen Verhältnisse, zu welchen jene verknüpft erscheinen, den objektiven Verhältnissen der Dinge selbst; - mögen auch diese in der Vorstellung eine subjektive Form annehmen! Daß die räumlichen Verhältnisse auch eine, vom Empfindungsmechanismus, durch welchen sie vorgestellt werden, unabhängige Seite haben, beweist ihre Bestimmtheit und die Unabänderlichkeit durch die Willkür des vorstellenden Subjekts, - d. h. ihr Gegebensein. Noch deutlicher aber zeigt dies die Wirksamkeit, welche Gestalt, Lage und Entfernung der Dinge äußern. Wäre der Raum bloß subjektiv, so könnte die Größe der Entfernung kein Maß objektiver Wirksamkeit sein, wie im Gesetz der Abnahme der Wirkung nach dem Quadrat der Entfernung.

Um die Ordnung der Dinge, wie sie dem Raum der Anschauung zugrunde liegt, denkend zu erfassen und zu verhüten, daß irgendein rein subjektives Vorstellungsgebilde sich dieser Auffassung beimischt, scheint geboten zu sein, zuerst die subjektive und deshalb näher liegende Seite des Raumes zu betrachten. Denn um das, was am Raum objektiv ist, hervorzuheben, braucht das rein Subjektive seiner Vorstellung einfach in Abrechnung gebracht zu werden.

Der Raum liegt nicht als fertige Form der sinnlichen Anschauung im Gemüt bereit; - er ist das Produkt eines Empfindungsmechanismus. Aus den primitiven Vorgängen und Elementartätigkeiten des Erkennens müssen sich seine notwendigen Erzeugnisse: Raum und Zeit erklären lassen. Je genauer wir nun auf die Elemente des inneren Geschehens eingehen, desto mehr sehen wir den erst in der Zusammensetzung des Elementaren eintretenden Gegensatz des Psychischen und Physischen verschwinden. Wie die Elemente der Materie noch von diesem Gegensatz frei sind, so besteht auch die einfache Form des Geschehens sowohl im Physischen, wie im Psychischen aus dem bloßen Akt des Unterscheidens des eigenen Seins und Wesens in der kausalen Einwirkung anderer auf dasselbe. Dies ist die gemeinsame Form der von HERBART tiefsinnig sogenannten Selbsterhaltung (17); welche überall als ein unmittelbares Geschehen durch die eigene Beschaffenheit der Wesen aufgefaßt werden kann. Der bloß mechanische Widerstand und der erste Ansatz des Erkennens, die Empfindung, treffen in diesem einfachen Vorgang zusammen, der mit der wirkenden Beziehung der Wesen gegeben ist. Jede komplizierte Wirkung läßt sich in Komponenten von dieser einfachen Form auflösen. - Die Elementartätigkeit des Erkennens bleibt für sich noch unbewußt, und wird erst durch Zusammensetzung und dadurch erreichte Steigerung der Einzelwirkungen zu einem bewußten Vorgang.

Es ist eine der wichtigsten Entdeckungen der Psychologie, daß dieselbe geistige Tätigkeit, welche sich im ausgebildeten, abstrakten Denken zwischen den Begriffsgebilden äußert, schon die ersten Erzeugnisse des Erkenntnisprozesses bewirkt (18). Der Unterschied geistig werdender und physisch bleibender Vorgänge scheint bloß darauf zu beruhen, daß im letzteren Fall die Elementartätigkeit, welche stets eine eigene des Wesens ist, streng an die objektive Einwirkung gebunden bleibt, und mit dem Aufhören dieser sofort selbst verschwindet; daher alle körperlichen Elementeee aus jeder möglichen Verbindung identisch wiederkehren. Im ersteren Fall dagegen wirkt der Vorgang vermöge eines höheren Grades von Wirksamkeit zurück auf das Wesen, in dem er sich ereignet, und bleibt in einer gewissen Größe dieser Rückwirkung forterhalten. Durch diese reflexive Wirkung auf das eigene Wesen nimmt der Akt des Unterscheidens die Form einer beziehenden Tätigkeit an, indem die Rückwirkung von der ursprünglichen Einwirkung unterscheidbar wird, so daß die letztere auf das einwirkende Wesen selbst bezogen werden kann.

Diese Bezieung der Empfindung eines Wesens auf ein anderes, von dem die Einwirkung ausgeht, ist, wie jede Reflexbewegung im Organismus - eine unbewußte Tätigkeit. Dennoch wird sie zu einer Bedingung des räumlichen Vorstellens, und zwar dadurch, daß durch sie zuerst die Existenz des eigenen Wesens von der Mitexistenz eines andern zur Unterscheidung gelangt. Ihre Wirkung ist eine Projektion des empfindenden Zustands, die als der Anfang der subjektiven Raumvorstellung betrachtet werden darf. Die Verbreitung der empfindenden Tätigkeit über eine Fläche von bestimmter Form, die Wahrnehmung des Körperlichen, durch eine Anordnung der gleichzeitigen Empfindungen in verschiedenen Flächen, sind Gegenstände einer ausführlichen Theorie des sinnlichen Vorstellens.

Wie überhaupt die Entstehung mannigfaltiger Erscheinungsformen in der Natur, ist auch die Ausbildung höherer psychischer Formen, die Folge der Erhaltung und Zusammenwirkung von Elementartätigkeiten. Im Fortgang des räumlichen Vorstellens entsteht allmählich die Vorstellung einer allseitigen Wirksamkeit und Beziehungsfähigkeit des erkennenden Subjektss. Sie ist das Gemeinbild des räumlichen Vorstellens, oder der Vorstellungsraum, der sich vom Subjekt als seinen Mittelpunnkt aus gleich einer Sphäre von unbestimmter Weite zu verbreiten scheint. Diese Vorstellung schwebt gleichsam in der Mitte zwischen Anschauung und Begriff. Ursprünglich mit der Empfindung verschmolzen, kann die Tätigkeit des räumlichen Vorstellens nach und nach für sich und in immer abstrakterer Weise zur Vorstellung gelangen. Doch geschieht die Raumvorstellung nie ganz ohne leise Beimischung verfeinerter Empfindungsreste (19), von denen in der Geometrie abstrahiert wird. Diese Wissenschaft beruth darauf, daß die Form des räumlichen Vorstellens für sich, und ohne Rücksicht auf die Empfindung, mit der sie immer verbunden auftritt, betrachtet wird. Aus der einfachen und überall identischen Tätigkeit, durch welche die Raumvorstellung ursprünglich erworben wird, ergibt sich die Notwendigkeit und Allgemeinheit mit der die räumlichen Verhältnisse der Anschauung von allen erkennenden Individuen in gleicher Weise zum Bewußtsein gebracht werden. Daher sind die Axiome der Geometrie evident, wie schwierig auch immer ihre erste Auffassung und Hervorhebung aus dem Verfahren des Empfindungsmechanismus gewesen sein mag! In diesem Sinne allein ist die Geometrie eine Wissenschaft a priori. Doch ist es ganz unstatthaft mit KANT ihre wissenschaftliche Form und Berechtigung auf diese Apriorität ihrer Grundsätze zu stützen. Vielmehr besteht der wissenschaftliche Charakter auch der Geometrie in einer Verbindung tatsächlicher Verhältnisse durch die Denkformen des Satzes der Identität und des Widerspruchs; wofür schon die Grundform aller reinen Mathematik, die Gleichung, ein hinlängliches Anzeichen gibt.

Der subjektive Raum ist die Tat des sich Unterscheidens des einen Wesens von den nichtexistierenden anderen, und da jedes Wesen gleichsam ein Mittelpunkt von Wirksamkeit ist, so kann auch der Raum als psychische Tätigkeit von jedem ins Unbestimmte hervorgebracht werden. Zufolge dieser Entstehung, als bewußt gewordene allseitige Beziehungsfähigkeit, ist das subjektive Raumschema notwendig unbegrenzt. Desgleichen ist die Möglichkeit seiner Wiederholung von subjektiver Seite unbeschränkt. Daraus geht die Unendlichkeit des Raums als sein notwendiges Prädikat hervor, dessen Bedeutung jedoch gänzlich relativ und negativ ist.

Der unendliche Raum ist als solcher bloß subjektiv und entspringt aus dem Gefühl der ungehinderten Möglichkeit des räumlichen Vorstellens, welches seine Schranke und Bestimmung erst an den Gegenständen und ihren räumlichen Verhältnissen findet (20). Diese ungehemmte Vorstellungsmöglichkeit erzeugt jenen unvermeidlichen Schein, wonach wir den Raum über alle Dinge hinaus versetzen, und die Welt aller Wesen in die umfassende leere Hohlkugel desselben hineindenken. Sie erklärt auch warum wir uns die Diskretion der absoluten Wesen nur durch das Zwischensetzen leerer Räume anschaulich machen können. Da der Raum als Vorstellungsgebilde von der Einrichtung unseres Empfindungsmechanismus herrührt, so braucht er in dieser Form weder der reine und vollständige, noch der einzig mögliche Ausdruck einer realen Ordnung der Dinge zu sein. Er kann vielmehr selbst wieder unter den höheren Begriff einer mehrfachen Mannigfaltigkeit gebracht, und als ein besonderer tatsächlicher Fall desselben behandelt werden (21).

§ 3. Um die intelligible Ordnung der Dinge, so weit sie erkennbar ist, aus dem Vorstellungsraum zu ermitteln, muß alles, was bloß subjektiv, d. h. Produkt des psychologischen Mechanismus ist, aus ihm weggedacht werden.

Dazu gehört vor allem der Schein, daß der Raum den Dingen als Bedingung ihrer Möglichkeit vorhergeht, da er ddoch nicht mehr als eine Bedingung ihrer Auffassung ist. Dieser Schein veranlaßt jene täuschenden und widersprechenden Annahmen einer unendlichen und doch gegebenen Größe des Raumes und einer Unzahl wirklicher Dinge. Der Raum ist die bloße Anschauung der Dinge und kann sich daher nicht wirklich über diese hinausstrecken oder sie umfassen. Selbst wenn der Raum eine nur subjektive Form wäre, würden zumindest erkennende Wesen vorausgesetzt sein, an denen diese Form haftet. Also gehen die Dinge jedenfalls dem Raum vorher, d. h. wenn Dinge sind, werden sie im Raum vorgestellt, mit den Dingen hört aber auch ihre Vorstellung, der Raum, auf. Der Raum in seiner subjektiven Gestalt hat außer der Vorstellung keine Existenz, wie überhaupt Gattungen und Zusammenfassungsformen außer derselben Nichts sind. Der leere Raum zwischen den Dingen ist eine ganz subjektive Annahme, die vermittelnde Vorstellung; um die Auffassung des diskreten, d. h. selbständigen Seins der Dinge zu versinnlichen, d. h. unter Bedingungen des Verfahrens unseres Empfindungsmechanismus zu bringen. Der leere Raum ist die vorgestellte Beziehungsfähigkeit der Dinge, die Wechselwirkung ist ihre reale Beziehung.

Durch die Annahme leerer Räume wird übrigens jede gegenseitige Einwirkung der Dinge schlechthin unerklärlich, und was in der einen Hinsicht durch sie geleistet zu sein scheint, wird bei dieser viel wichtigeren und schwierigeren Frage wieder aufgehoben. Durch absolut Leeres kann keine Beziehung von Atom zu Atom gedacht werden, und es hieße bloß die Verlegenheit des Denkens vermehren, anstatt zu umgehen, wenn beziehende Kräfte zuhilfe gerufen würden. Denn die unbequeme Frage: wie diese geistigen Boten der Dinge das Leere durchkreuzen, oder durchstrahlen, kehrt von Neuem wieder und zwingt zur Hypothese von Atomen über Atome in infinitum! So hebt sich in der Tat die Atomistik, die wahre Lehre von selbständigen, einfachen Wesen, durch die leeren Räume, durch die Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] bloßer Vorstellungsgebilde, selbst wieder auf.

Der Raum der absoluten Wesen ist nichts anderes, als ihre Koexistenz. Vermöge seiner unaufhebbaren Existenz und selbständigen Beschaffenheit ist jedes Wesen für sich und nicht in, sondern mit den andern.

Zwischen Raumpunkten in der reinen Anschauung schiebt sich zwar immer wieder Raum hinein; denn eine Linie in der Vorstellung ist konstruiert und zusammengesetzt; daher zeigt sie den Charakter ihrer Entstehung aus der bloßen Vorstellungsmöglichkeit, die sich ohne Ende wiederholen kann. Die Raumpunkte der absoluten Wesen aber sind gleichsam Orte, welche durch die gegenseitige Beziehung ihrer selbständigen Beschaffenheit festgehalten werden. Die einfachen Wesen haben also einen Ort nicht für sich, sondern in Beziehung aufeinander. Ihre Orte sind die Quellpunkte des eigenen Wirkens kraft ihrer Qualität. Die Koexistenz, der absoluten Elemente ist ein strenges Kontinuum, d. h. nach unseren räumlichen Begriffen: ein vollkommenes Aneinander. Dies unterscheidet die mathematischen von den realen Punkten, d. h. den Orten der Wirksamkeit der Wesen.

Die Ordnung der Dinge, welche unserer Raumvorstellung entspricht, besteht in einem wirkenden Miteinander ihrer selbständigen Beschaffenheiten, daher die Koexistenz der Wesen der Grund unserer Raumvorstellung ist. Eine besondere, ausdehnende Kraft wäre eine ganz überflüssige Annahme; denn alle Veränderung an Lage und Gestalt der Dinge erklärt sich aus inneren Vorgängen gemäß dem Gegensatz und der Übereinstimmung der Elemente nach ihrer Beschaffenheit. Die räumlichen Verhältnisse der Anschauung, die in ihrer Bestimmtheit und Wirksamkeit eine objektive Bedeutung verraten, sind Bilder oder Auffassungen der verschiedenen Verhältnisse des Aneinanders der Wesen. Diese Verhältnisse sind als dynamische zu denken, und von der Art und Größe der kausalen Beziehung, sowie von der Anzahl ihrer Zwischenglieder, wird die Form der einzelnen räumlichen Vorstellungsakte bestimmt.

§ 4. Nur in Gedanken sind Raum und Zeit trennbar; in Wirklichkeit erscheinen beide nicht nebengeordnet, sondern verknüpft. KANT schreibt der Zeit, "der Form des inneren Sinnes", eine größere Allgemeinheittt als dem Raum zu, weil sowohl die nach Außen zurückbezogenen Vorstellungen, als auch Gedanken, Gefühle, überhaupt alle Veränderungen des Bewußtseins durch diese Form verbunden sind. Doch gilt dieser Unterschied höherer oder geringerer Allgemeinheit nur von den ausgebildeten psychischen Zusammenfassungsformen: Raum und Zeit; verschwindet aber, sobald auf ihren gemeinsamen subjektiven Ursprung und einheitlichen objektiven Grund zurückgegangen wird. Denn auch der Träger der inneren Erscheinungen hat seinen metaphysischen Ort, daher sind Gedanken und Gefühle ebenfalls im intelligiblen Raum, obgleich sie nicht in den Raum der Anschauung versetzt, d. h. entäußert werden. Alles Räumliche ist auch zeitlich, alles Zeitliche ist räumlich. Im Begriff des Kontinuums begegnen sich überdies Raum und Zeit bzw. fallen vielmehr darin zusammen.

Wie die Vorstellung des Raumes, so ist auch die der Zeit kein vorhandener Besitz des Gemüts, sondern der eigene, ursprüngliche Erwerb desselben mittels der Einrichtung seines Empfindungsmechanismus. Es dürfte kaum bezweifelt werden, daß dessen erste Wirkungen noch ohne Bewußtsein ihrer zeitlichen Anordnung vorübergehen. Die Empfindungen bestehen in Gegenwirkungen auf objektive Impulse hin und in Rückwirkungen von bestimmtem Grad auf das empfindende Subjekt selbst. Ihre reflexiven Wirkungen erhalten sich, wenn auch vielleicht nur in leisen Spuren fort, und wachsen bei jeder Wiederholung ihrer Veranlassung, bis sie eine Größe erreichen, durch welche sie sich von den Nachwirkungen ähnlicher Empfindungen unterscheiden. Um Unterschied ihrer Reste werden die Empfindungen nach öfterem Eintritt ins Bewußtsein allmählich wiedererkannt und damit ist der erste Ansatz des zeitlichen Vorstellens gegeben. Zur Erklärung desselben genügt die Annahme, daß wiederkehrende, identische Empfindungen aufeinander bezogen werden. Mit dem Wiedererkennen gleicher Empfindungen verbindet sich nämlich immer deutlicher auch ihre Unterscheidung von anderen empfindenden Zuständen, welche zwischen ihrer Wiederholung liegen. Dadurch entsteht die Vorstellung einer Reihe des Nacheinander und Voreinander der Zustände des identisch bleibenden Subjekts.

Aus der Unterscheidung gleichzeitiger Empfindungen und ihrer Projektion nach dem Quellpunkt des Reizes hin, entwickelt sich die Raumanschauung; aus der Unterscheidung und Deckung der reflexiven Wirkungen der Empfindungen: die Zeitvorstellung.

Die allgemeine Vorstellung der Zeit, die sich aus den einzelnen Fällen zeitlichen Vorstellens hervorhebt, ist abstrakter, als selbst die analoge des Raums; sie kann daher nur vergleichsweise durch das Bild einer nach zwei Richtungen in unbestimmte Ferne fließenden Linie, deren beiderseitiger Ausgangspunkt immer das Subjekt ist, dargestellt werden. Die psychologische oder subjektive Zeit ist die Zusammenfassung der wirklichen Veränderungen nach ihrer bloßen Form. Könnten alle Veränderungen, die den einzigen Inhalt und die objektive Bedeutung der Zeit ausmachen, völlig aufgehoben werden, so wäre auch die Zeit verschwunden. Die Tatsache aber, daß die Zeit nicht weggedacht werden kann, beruth lediglich darauf, daß das Subjekt innerer Veränderungen fähig ist und daß dieses sich nicht selbst wegdenken kann, denn auch das Wegdenken wäre immer noch ein Denken, also eine innere Begebenheit.

Und doch hat KANT hauptsächlich darauf seine transzendentale Idealität der Zeit gegründet! Weil die subjektiven Veränderungen auch zeitlich sind, sollte die Zeit überhaupt bloß subjektiv sein! Doch muß, wie beim Raum, auch bei der Zeit das subjektive Schema, welches sich aus den einzelnen zeitlichen Vorstellungsakten herausbildet, von der objektiven Bedeutung der zeitlichen Verhältnisse unterschieden werden. Der Schein z. B. als gehe die leere Form der Veränderungen ihnen selbst als Bedingung der Möglichkeit vorher, ist ganz subjektiv und wird durch die bloße Fähigkeit der ungehemmten Hervorbringung der Zeit als Vorstellung erzeugt. Und selbst diese Hervorbringung ist schon eine Veränderung des Bewußtseins; die Zeit geht folglich auch nicht in subjektiver Bedeutung, als Vorstellungsschema, aller Veränderung vorher! Mit derselben Scheinbarkeit, wie von der Zeit, ließe sich übrigens die Apriorität von anderen formellen Begriffen behaupten, obgleich sie nichts weiter ist, als deren von subjektiver Seite her freier Gebrauch.

Die Zeit ist unendlich, aber nicht als gegebene Größe, sondern als subjektives Schema von unbeschränkter Anwendbarkeit. Mit jeder Veränderung ist sie gesetzt, und da ich Veränderungen nach ihrer allgemeinen Form beliebig erdenken kann, so ist die Zeit vor mir und nach mir ins Unbestimmte vorstellbar.

Die subjektive Zeit hat keinen Anfang, wie der Raum der Anschauung keine letzten Teile hat. Denn die abstrakte Vorstellungsmöglichkeit greift über das Gegebene hinaus, bleibt aber, eben darum in bloßer Gedanke, dem kein Gegenstand entspricht.

Die objektive Zeit hat mit der Veränderung ihren Anfang und man darf sogar behaupten, daß sie mit jeder Veränderung von Neuem anfängt, sobald man nämlich absieht von der äußeren Verknüpfung der Wirkungen, und auf ihren wahren Ursprung aus der Selbsttätigkeit der Wesen hinblickt (22).

Jede Veränderung ist demnach ein bestimmter zeitlicher Fall. Diese zeitliche Bestimmtheit der Veränderungen ist oft auffallend (z. B. bei physiologischen Vorgängen), sie bildet das objektive Element der Zeit.

Die subjektive Zeit hat kein Ende, wie der Raum der Vorstellung keine Grenze. Denn von Seiten des Subjekts aus ist kein Grund vorhanden, die Zeitvorstellung abzubrechen. Zwar weiß sich das Individuum endlich und hinfällig, aber es denkt sich als Subjekt den kommenden Vorgängen hinzu und findet als solches keine Schranke seiner Vorstellungsmöglichkeit; gerade wie es sich auch zu den vorausgegangenen Dingen als Zuschauer hindenkt und daher auch keinen Anfang der Zeit sich vorzustellen vermag. Die objektive Zeit, welche mit der Veränderung gesetzt ist, hört auch mit derselben auf. In demselben Sinn, in welchem man sagen kann, jede Veränderung habe ihre Zeit, darf ergänzend hinzugefügt werden: und diese Zeit geht mit ihr zu Ende. Ist die Wechselwirkung zweier Wesen aufgehoben, so kehren beide, abgesehen von den Folgen und subjektiven Nachwirkungen ihrer gegenseitigen Beziehung, doch im Hinblick auf diese Beziehung selbst in den vorigen Zustand zurück und die Zeit der Veränderung hört auf.

An die wiederholte Rückkehr einer Reihe gleicher empfindender Zustände knüpft sich das Gefühl einer Erwartung und zwar an jedes Glied der wiedereintretenden Reihe und bei jeder Wiederholung derselben mit wachsendem Grad, bis aus den einzelnen Gefühlen der Erwartung, von denen jedes eine bestimmte Größe und Färbung hat, die allgemeine Form der Erwartung oder die subjektive Zukunftsvorstellung entsteht. Die objektive Zukunft dagegen besteht im Fortwirken der Veränderung, und hat daher in jedem besonderen Fall eine von diesem abhängige Größe. Ebenso ist die objektive Vergangenheit einzig als Fortwirkung vorhergehender Veränderungen gegeben; während die Vergangenheit in subjektiver Hinsicht der Ausdruck der bloßen Möglichkeit ist, frühere Bewußtseinszustände zu reproduzieren oder zumindest wiedererkennend aufeinander zu beziehen. Im tierischen Bewußtsein besteht die Vergangenheit nur aus einem Gefühl des Wiedererkennens wiederholter Zustände. Der Grad des Vermögens zu diesem Gefühl - und folglich die Größe der Fähigkeit die Vergangenheit vorzustellen - steht in einem umgekehrten Verhältnis zur Anzahl der Wiederholungen, die es erzeugen. Niedere tierische Bewußtseinsformen haben gar keine subjektive Vergangenheit; scheinbar unverknüpft und ohne Erneuerunng gehen in ihnen die Zustände vorüber. Der Gegenwart vermag selbst der Idealismus nicht irgendeine Bedeutung abzusprechen; er findet in ihr die Berührung des ansich Realen mit der Welt seiner Erscheinung. Doch hat auch die Gegenwart eine subjektive Seite, nach der sie die Vorstellung der Identität des erkennenden Wesens selbst ist. Intellektlose Wesen haben keine subjektive Gegenwart. Abgesehen aber von ihrer subjektiven Erfahrung, mündet die Gegenwart in den Begriff der Dauer. Objektive Gegenwart ist Dauer.

§ 5. Die Dauer ist ein Prädikat des Seienden selbst, und, wie dieses, von unaufhebbarer Gewißheit. In ihr ist alle zeitliche Veränderung aufgehoben. Sie bildet den wahren Inhalt des mystischen Begriffs der Ewigkeit, und erklärt die sonst widersprechende Vorstellung des Kontinuums in Raum und Zeit. Die Veränderung ist als eine bloße Modifikation des Dauernden zu betrachten. Das Dauernde ist kein totes, starres Sein; ein Wechsel der Koexistenz ist schon mit den Qualitätsunterschieden der Wesen gegeben. Von der Grundlage des Dauernden hebt sich jede Veränderung ab, und zur Dauer kehrt jedes Wesen aus ihr zurück, nachdem die Wirkung seines Gegensatzes in der Beziehung zu anderen aufgehoben oder gebunden ist. Jedes Wesen ist ansich ein dauerndes, zeitloses und nur in seiner Wirkung auf andere veränderliches, zeitliches. Dem mit praktischer Tendenz geschenen Ausspruch: "Alles ist dauerlos!" muß entgegnet werden: "vielmehr ist alles ansich dauernd und die Zeit selbst eine bloße Abänderung der Beziehung unter den dauernden Wesen." Weil die Zeit selbst Teil hat an der Dauer, von der sie sich abhebt, so ist jeder Moment in ihr kontinuierlich. Es gibt keinen kleinsten Teil der Zeit, keinen Zeitpunkt; denn zwischen jedem Teil der Zeit ist noch eine Gegenwart oder die Dauer. Die Vorstellung eines Zeitpunktes fällt mit der Dauer zusammen und ist somit eigentliche keine zeitliche. Indem die Zeit in die Dauer mündet, hört sie auf, eine verfließende Größe zu sein. In diesem Sinne darf mit KANT behauptet werden, daß die Zeit selbst gar nicht verfließt, sondern nur alles in ihr. Auch die Unendlichkeit der Zeit gewinnt eine positive Bedeutung; denn die unendliche Zeit ist als solche aufgehoben, und fällt mit der Dauer zusammen. Die allgemeine Zeit ist der Gattungsbegriff der einzelnen zeitlichen Verhältnisse. Es gibt keine allgemeine Zeit außerhalb der Vorstellung. Ihre bloße Subjektivität geht auf das Deutlichste daraus hervor, daß sie kein Maß des wirklichen zeitlichen Vorstellens abgeben kann. Wir messen die Zeit nicht durch ihre allgemeine Form, sondern an wirklichen, zeitlichen Vorgängen von einfacher, wiederkehrender Form, z. B. den Himmelsbewegungen. Wenn dagegen angeführt wird, daß keine Bewegung der Zeit selbst an Geschwindigkeit und Gleichförmigkeit gleichkommt, da jede in ihr vor sich geht, so beweist dies zunächst nur, daß die Zeit nicht auf sich selbst angewendet werden kann, da von ihr als der Zusammenfassungsform aller Veränderungen nur ein Begriff möglich ist. Jede wirkliche Bewegung kann daher wieder nur mit einer anderen objektiven Bewegung, nicht aber am Begriff der Zeit gemessen werden. Denn es hieße die Zeit auf sich selbst anwenden und Leeres mit Leerem messen, wollte man irgendeine Bewegung unmittelbar mit der Zeit selbst vergleichen. Die Frage nach der Geschwindigkeit des Zeitflusses ist keiner Beantwortung fähig, weil sie falsch gestellt ist, und die bloße Zeit gar keine Geschwindigkeit hat. Die Vorstellung, nach welcher die Zeit immer noch schneller verfließt, als jede mögliche zeitliche Bewegung, so daß sie von keiner je eingeholt wird, verwechselt die Zeit mit der Dauer. Die Dauer faßt gleichsam alle Bewegung und Ruhe in sich. Alles Seiende ist dauernd; es gibt daher eine allgemeine Dauer, aber nur besondere Zeiten.

Auch das Kontinuum des Raumes wird nur aus der Dauer begreiflich. Die unaufhörliche Möglichkeit, den Anschauungsraum zu teilen, der vergebliche Versuch diese Teilung vollendet zu denken, beruth auf der Dauer des Subjekts, welches das Schema seiner Vorstellung ungehemmt hervorbringen kann. Wohin jenes seinen inneren Blich auch wendet, stets produziert es die Form einer unbeschränkten, allseitigen Beziehungsfähigkeit, das Gemeinbild des Verfahrens seiner Empfindung, den subjektiven Raum. Aus dem Begriff der Dauer ist ferner zu verstehen, wie der intelligible Raum zugleich kontinuierlich und diskret sein kann.

Die Orte der einfachen Wesen sind nach der Analogie von Punkten zu denken. Aber diese Punkte sind die dauernden Existenzen selbst in ihrem Wirken; und durch das dauernde Zugleichsein der selbständigen Elemente ist jene Ordnung ihrer Vielheit gegeben, welche gemäß der geistigen Organisation erkennender Wesen als kontinuierlicher Raum zur Vorstellung gelangt. Da in der Eigenschaft des Kontinuuums und im Begriff der Dauer Raum und Zeit zusammenfallen, da es die reale Ordnung der Dinge selbst ist, welche kraft des Empfindungsmechanismus diese beiden Zusammenfassungsformen erzeugt; so muß ihre gesonderte Existenz außerhalb der Vorstellung verneint werden. Die dauernden Wesen sind in ihrer Koexistenz räumlich, im Wechsel der Form dieser Koexistenz zeitlich; die Verschiedenheit der Gesichtspunkte ihrer Auffassung ist der Grund, warum Raum und Zeit als ausgebildete Anschauungsformen auseinandergehen.

Es gibt daher nicht zwei ewige, unendliche Kontinua weder innerhalb, noch außerhalb der Vorstellung, sondern nur ein wahres Kontinuum, und dieses ist die reale Form alles Seienden - die Dauer.
LITERATUR - Alois Riehl, Realistische Grundzüge , Graz 1870
    Anmerkungen:
    1) Kritik der reinen Vernunft, Werke II von Rosenkranz, Seite 34 und 35.
    2) a. a. O. Seite 53
    3) a. a. O. Seite 37
    4) a. a. O. Seite 38
    5) a. a. O. Seite 42 und 43
    6) a. a. O. Seite 49
    7) Kr. d. r. V., Seite 306
    8) Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, Rosenkranz I, Seite 444 und 445
    9) a. a. O., Seite 445 und 446
    10) a. a. O., Seite 446
    11) Kr. d. r. V. Seite 114
    12) De mundi sensib. atque intell. forma. Rosenkranz I, Seite 335.
    13) Vgl. Karl Hebler, Philosphische Aufsätze, Leipzig 1870, Kap. V, Kantiana (b) Zur Erkenntnistheorie.
    14) Kr. d. r. V., Seite 237 und 238.
    15) vgl. Kr. d. r. V., Seite 43
    16) Was Herbart übersah, dem übrigens das Verdienst gebührt, zuerst den Unterschied zwischen dem psychologischen Raum der Anschauung (auf welchen Kants Lehrsatz: er sei eine bloße Form der Sinnlichkeit, Anwendung findet), und dem intelligiblen nachdrücklich und deutlich hervorgehoben zu haben. Die Konstruktion des letzteren ist aber eine seinem Begriff widersprechende Aufgabe, da der intelligible Raum nicht, wie der empirische (durch die Sinnestätigkeit) erst konstruiert wird, sondern ist, Herbarts Hilfsbegriff zu dieser Konstruktion (seine "leeren Bilder der Realen" oder die Stellen, welche die Realen einander darzubieten scheinen) gehört ganz eigentlich in die Erklärung des psychologischen Raumes. Der intelligible Raum ist nichts Umschließendes oder sich Ausbreitendes; er hat absolut nichts Leeres und keinen Platz zu bloßer Ausdehnung, weder für Gedanken, noch Dinge, da er die reine Koexistenz der einfachen Wesen ist. Die Fiktion Herbarts, wonach auch der Punkt noch teilbar sein soll, ist mathematisch schlechthin ungültig, und bleibt so lange ein bloßer Widerspruch und eine rein willkürliche Behauptung, bis nicht bemerkt wird, daß die Orte der einfachen Wesen gar keine wahren Punkte im mathematischen Verstand sind, sondern mit diesen bloß in der Negation des Raumes zusammentreffen. Die Teile des metaphysischen Punktes, d. h. des Ortes eines einfachen Wesens sind als Affektionen dieses Wesens selbst in seiner Koexistenz mit anderen Realen zu denken, von denen jedes auf dasselbe einwirkt. Genau genommen ist daher von keiner mathematischen Teilung eines mathematischen Punktes, sondern von einer Mehrheit der Beziehungen ein und desselben einfachen Wesens zu anderen die Rede. Und diese Annahme widerstreitet weder der Mathematik, mit der sie sich gar nicht berührt, noch der Einfachheit jenes punktähnlichen Wesens selbst, da diese Einfachheit nichts weiteres ist, als die absolute Einheit seiner Beschaffenheit. Locher tadelt in seiner "Kritik der Theorie Herbars über Zeit und Raum", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 1866, an Herbart, was er gerade am Meisten hätte loben sollen; daß dieser die räumliche und zeitliche Reihenform aus derselben psychischen Tätigkeit herleitet. In der Tat beruth der Unterschied beider psychologischen Gebilde lediglich auf dem Unterschied der objektiven Verhältnisse. Zeit und Raum sind nur in ihrer ausgebildeten, psychischen Form getrennt, obgleich sie selbst in dieser noch durch den höchst bedeutsamen Begriff des Kontinuums verbunden sind. Ansich sind beide untrennbar und bilden fürwahr bloß zwei verschiedene Relationen der Auffassung des Nämlichen. Überall ist es sonst in der Wissenschaft das höchste Verdienst, die Methode und die Prinzipien vereinfacht zu haben; - und dieses Verdienst sollte Herbart in der Psychologie bestritten werden?
    17) Nur sehe ich darin einen wirklichen, elementaren Akt der Wesen, nicht ein bloßes, träges Sein derselben.
    18) Daher erklärt Helmholtz mit Recht die Sinnestätigkeit als eine Art unbewußten Schließens.
    19) d. h. wir können uns den Raum nie ohne die Spur einer Gesichts- oder Tastvorstellung, ohne Farbe oder Gestalt vorstellen.
    20) Vgl. die Kritik der Unendlichkeitsbegriffe in Dührings "natürlicher Dialektik".
    21) Vgl. Riemann, Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen, Göttingen 1867 und Helmholtz, Über die Tatsachen, welche der Geometrie zugrunde liegen." (Nachrichten der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften, Göttingen 1868)
    22) Diese äußere Verknüpfung ist übrigens selbst eine bloß subjektive Vorstellung; wenn sie in der Weise aufgefaßt wird: als gebe es keine wahre innere Entstehung der natürlichen Vorgänge aus der eigenen Tätigkeit der Wesen, sondern nur allein ein äußeres Fortschwingen aller Wirkungen ins Unendliche.