tb-1Gegenstand der ErkenntnisPhilosophie des Lebens     
 
HEINRICH RICKERT
Zur Lehre von der Definition

Die naturwissenschaftliche Methode
Begriff und Wirklichkeit
"... und man kann behaupten, daß es nicht zwei moderne Logiker gibt, welche über die Definition genau dasselbe lehren."


Einleitung
1. Aufgabe und Methode

Unter den verschiedenen Formen des wissenschaftlichen Denkens gibt es vielleicht keine zweite, über welche die Ansichten stärker voneinander abweichen als über die  D e f i n i t i o n . So geläufig uns die Wörter "Definition" und "definieren" sind, so schwierig dürfte es sein, nach den modernen Lehrbüchern der Logik anzugeben, was sie logisch eigentlich bedeuten, und die große Verschiedenheit der Meinungen über diesen Punkt ist dadurch noch auffallender, daß die Lehren von der Definition gewöhnlich mit einer Bestimmtheit und Kürze vorgetragen werden, als könne hier von einer Streitfrage keine Rede sein. Nur wenige Verfasser sehen sich veranlaßt, fremde Meinungen zu berücksichtigen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Und in der Tat, man findet auch überall, wo von Definitionen gesprochen wird, ein paar Formeln, die von niemandem bestritten sind und Gemeingut aller logischen Systeme zu sein scheinen. Wenn man jedoch genauer zusieht und sich aus diesen Formeln eine bestimmte Ansicht über den Begriff der Definition und besonders über ihre Stellung im System der Logik zu bilden sucht, so wird man bemerken, daß sie erst durch die nachfolgenden Interpretationen einen verständlichen Sinn erhalten, und diese Interpretationen weisen so starke Abweichungen auf, daß von der scheinbaren Uebereinstimmung so gut wie nichts übrig bleibt.

Der Grund hierfür läßt sich leicht zeigen, die Formeln, die überall wiederkehren, stammen von  A r i s t o t e l e s  und stehen in engem Zusammenhange mit seiner Metaphysik, so daß sie ohne diese keine Bedeutung besitzen. Die moderne Logik, die sich mit wenigen Ausnahmen nicht mehr auf dem Boden der aristotelischen Metaphysik bewegt, hat die logischen Formeln trotzdem beibehalten und in sie einen neuen Inhalt gegossen, der, wenn er nicht völlig nichtssagend sein soll, wiederum von irgendwelchen anderen, metaphysischen oder erkenntnistheoretischen (transzendentalphilosophischen), Annahmen abhängig sein muß. Denn es darf wohl als allgemein zugestanden gelten, daß die aristotelische Logik nirgends "formale" Logik in dem Sinne ist, daß sie von allen metaphysischen Annahmen oder andern sachlichen Voraussetzungen frei wäre.

Danach sollte man erwarten, daß ein ähnlicher Zusammenhang zwischen den logischen Formen und den metaphysischen oder sachlichen Ansichten, wie er bei der Definition besteht, bei  a l l e n  logischen Formen vorhanden sein müßte, die aus Aristoteles in die moderne Wissenschaft übernommen worden sind. Warum dies nicht der Fall ist, kann hier im einzelnen nicht gezeigt werden. Doch sei gleich von vorneherein auf die eigentümliche Stellung hingewiesen, welche die Definition in dem aristotelischen System einnimmt, und damit der Grund angedeutet, warum sie sich weniger leicht als andere Formen von den metyphysischen Voraussetzungen loslösen läßt. Während die übrigen logischen Formen  G l i e d e r  in dem  P r o z e ß  der wissenschaftlichen Untersuchung und Darstellung bilden, während z.B. der Syllogismus ein Werkzeug bedeutet, mit dessen Hilfe man von einem Gedanken zum anderen  f o r t s c h r e i t e t , so ist es nach Aristoteles die Aufgabe der Definition, die Untersuchung  a b z u s c h l i e ß e n  und das "Wesen" der betreffenden Untersuchungsobjekte endgültig festzustellen. Dieser Unterschied ist für den mehr als formalen Charakter der Definition von entscheidender Bedeutung. Mag man nämlich alle anderen Formen des Denkens von ihrem Inhalte loslösen und die Wahrheit, die sie liefern, als eine lediglich "hypothetische" ansehen, so ist bei der Definition eine solche Betrachtungsweise nicht möglich, ohne ihr den Sinn zu rauben, den sie bei Aristoteles besitzt.

Eine große Rolle spielt z. B. in der Definitionslehre der Begriff der  G a t t u n g . Man braucht nur diesen einen Punkt herauszugreifen, um an ihm zu zeigen, welche verschiedenen Schicksale die alte Definitionstheorie durch moderne Interpretationen hat erfahren müssen, damit die aristotelischen Formeln beibehalten werden konnten.

"Die Definition ist der Begriff, welcher das  W e s e n  angibt" 1), sagt Aristoteles. Das ist also ihre Aufgabe: die Erkenntnis des "Wesens" einer Sache soll sie liefern, d. h. sie soll den allgemeinen, zeitlos gültigen Begriff bestimmen, dessen besonderer Ausdruck das Einzelding in der Sinnenwelt ist. Aus dieser ihrer Aufgabe läßt sich die Form ableiten, in der sie auftreten muß, wenn sie ihren Zweck erreichen soll, und diese ist von Aristoteles ebenso genau angegeben wie ihr Inhalt: Die Definition besteht aus dem Gattungsbegriff und der Differenz. 2) Der Gattungsbegriff gibt eben das "Wesen" an, und ihm muß man also das zu definierende Objekt unterordnen, wenn seine Natur oder sein Wesen erkannt werden soll. Die Hinzufügung der Differenz dient zur Bezeichnung der besonderen Art, in welcher das Wesen in die Erscheinung tritt.

In der neueren Philosophie pflegt man nun Wesen und Gattungsbegriff nicht zu identifizieren, und daher können die modernen Logiker der Definition nicht ohne weiteres die Aufgabe zuerteilen, das Wesen einer Sache durch Gattung und Differenz anzugeben. So eindeutig und verständlich dies unter bestimmten sachlichen Voraussetzungen metaphysischer Art im aristotelischen System ist, so unverständlich müßte es in einer modernen Logik sein, die eine Metapyhsik nicht bereits voraussetzt. Wir leser aber trotzdem fast überall: die Definition besteht in der Angabe des genus proximum und der differentia specifica, und wir müssen daher fragen, was bedeutet die Forderung des genus  o h n e  metaphysische Voraussetzung?

Die Antworten lauten sehr verschieden, wie sich leicht an einigen Beispielen zeigen läßt.

 U e b e r w e g  scheint Aristoteles am nächsten zu stehen. Für ihn ist die Definition "der Ausdruck des Wesens (der "essentia) der Objekte des Begriffs", insofern sie "alle wesentlichen Inhaltselemente oder alle wesentlichen Merkmale der Objekte des Begriffs" angibt 3) "Die wesentlichen Inhaltselemente" - sagt Ueberweg - "sind teils solche, die der zu definierende Begriff mit den ihm nebengeordneten Begriffen teilt und die demgemäß auch den Inhalt des übergeordneten Begriffs ausmachen, teils solche, wodurch er sich von den nebengeordneten und von dem übergeordneten unterscheidet. Indem nun der Gegensatz von Gattung (genus) und Art (species) auch zur allgemeinen Bezeichnung des Gegensatzes irgend einer höheren Klasse zu einer niederen dient, sofern diese jener unmittelbar untergeordnet wird, so können hiernach die wesentlichen Inhaltselemente des zu definierenden Begriffs in  g e n e r i s c h e  und  s p e z i f i s c h e  eingeteilt werden.  H i e r a u f   b e r u h t   d i e   F o r d e r u n g ,   d a ß   d i e   D e f i n i t i o n   d e n   ü b e r g e o r d n e t e n   o d e r   G a t t u n g s b e g r i f f   u n d   d i e   s p e z i f i s c h e   D i f f e r e n z   o d e r   d e n   A r t u n t e r s c h i e d   e n t h a l t e . "

Es ist klar, daß diese Sätze so lange ohne Inhalt bleiben, als wir nicht wissen, was denn eigentlich die  w e s e n t l i c h e n  Merkmale sind, und wenn Ueberweg diese so bestimmt, daß er sagt: " W e s e n t l i c h  (essentialia) sind diejenigen Merkmale, welche a) den gemeinsamen und bleibenden Grund einer Mannigfaltigkeit anderer enthalten, und von welchen b) das Bestehen des Objektes und der Wert und die Bedeutung abhängt, die demselben teils als einem Mittel für anderes, teils vornehmlich an sich oder als einem Selbstzweck in der Stufenreihe der Objekte zukommt" 4), so haben diese Sätze, wenn sie überhaupt etwas bedeuten, offenbar nur im Zusammenhange mit einer Metaphysik oder einer Erkenntnistheorie (Transzendentalphilosophie) einen Sinn.

 L o t z e s  Lehren über die Definition sind dagegen im großen und ganzen von erkenntnistheoretischen Annahmen frei. Er nennt die Definition die  m e t h o d i s c h e   B e s c h r e i b u n g  und meint, daß durch die Forderung des Gattungsbegriffs der "willkürliche und launenhafte Gang der Beschreibung eingeschränkt werde 5). "Ohne die Anwendung vieler Allgemeinbegriffe würde indessen auch sie nicht zum Ziele kommen; anstatt diese nun willkürlich zu wählen, verlangt die Definition, daß man von demjenigen Allgemeinen ausgehe, in welchem der größte Teil der zu leistenden Konstruktionsarbeit schon fertig und vollzogen vorliegt und welches, durch einen eindeutigen Namen sprachlich bezeichnet, in jedem Bewußtsein als eine bekannte Anschauung vorausgesetzt werden kann, geeignet als Grundriß für die Einzeichnung der Einzelmerkmale zu dienen, durch welche das mitzuteilende Bild vollendet wird." Bei Lotze ist also der Gattungsbegriff hauptsächlich mit Rücksicht auf die Präzision und Kürze der Definition gefordert und erscheint für sie nicht unumgänglich notwendig.

Nach  S i g w a r t  endlich ist die Definition "ein Urteil, in welchem die  B e d e u t u n g   e i n e s ,   e i n e n   B e g r i f f   b e z e i c h n e n d e n   W o r t e s   a n g e g e b e n   wird" 6), und die Bestimmung der nächst höheren Gattung und des Art bildenden Unterschieds hat die von SIGWARTs "Definition" ganz unabhängige Aufgabe, dem Begriff seine Stellung im geordneten System der Begriffe anzugeben. Hier ist von Aristoteles nicht mehr viel übrig geblieben. Die Definition ist, wie später ausführlich gezeigt werden wird, nach Sigwart nichts anderes als ein Mittel zur Uebertragung oder Fixierung von Gedanken durch die Sprache.

Weichen schon in betreff der Gattung und der Differenz die Lehren über die Definition sehr stark voneinander ab, wie wir soeben gesehen haben, so trifft man auch noch größere Meinungsverschiedenheiten, wo es sich etwa um Nominal- und Real-Definition handelt, und man kann behaupten, daß es nicht zwei moderne Logiker gibt, welche über die Definition genau dasselbe lehren. Ja mehr noch; wenn z. B. Sigwart sagt: "Nennt man die Angabe aller Merkmale eines Begriffs oder des Genus proximum und der Differentia specifica  D e f i n i t i o n , so ist klar, daß es sich darin nicht um eine  B e g r i f f s e r k l ä r u n g , sondern, sofern etwas erklärt wird, nur um eine  W o r t e r k l ä r u n g  handeln kann" 7), Lotze dagegen mit Recht meint:  N a m e n  lassen sich aussprechen oder übersetzen, definieren können wir aber immer nur ihren  I n h a l t : unsere Vorstellung nämlich von dem, was sie bezeichnen sollen" 8), so ergibt sich, daß diese beiden Logiker unter "Definition" zwei völlig verschiedene Gebilde behandeln, die nicht viel mehr als den Namen miteinander gemein haben, daß also jedenfalls der Eine von ihnen unter Definition etwas versteht, was mit dem ursprünglich so genannten nicht identisch sein kann.

Dieser Zustand der Definitionslehre erklärt sich zum großen Teil daraus, daß man unserer Denkform, die früher im Mittelpunkt des Interesses stand, verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit mehr schenkt. Sie wird nicht selten als ein bedeutungsloses Anhängsel der Lehre vom Begriff angesehen, ohne daß man es für nötig hielte, sie mit den Prinzipienfragen der Logik in Verbindung zu bringen und aus ihrem Zusammenhang heraus zu verstehen, und weil man sie nicht als organisches Glied eines Ganzen behandelt, kann man sie insofern auch mit verhältnismäßig geringem Nachteil vernachlässigen, als die Irrtümer, die man hier begeht, nicht allzu folgenschwer für die Gestaltung des  g e s a m t e n  logischen Systems werden.

Aber dieser Nachteil ist vielleicht doch nicht so gering, wie er scheinen möchte. Der Grund, weswegen es nötig ist, der Definition besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und zu einer allgemein anerkannten Ansicht über sie zu kommen, hängt mit einer Tendenz zusammen, die sich in den modernen Bearbeitungen der Logik in immer stärkerem Maße geltend macht, und die hoffentlich niemals wieder verschwinden wird. Sigwart hat sein bedeutendes Werk als einen Versuch bezeichnet, "die Logik unter dem Gesichtspunkte der  M e t h o d e n l e h r e  zu gestalten und sie dadurch in lebendige Beziehung zu den wissenschaftlichen Aufgaben der Gegenwart zu setzen" 9). Man braucht nun zwar nicht der Meinung sein, daß die Logik  n u r  methodologische Probleme kenne, ja man kann sogar glauben, daß Sigwarts Logik durch den methodologischen Gesichtspunkt allzu einseitig geworden ist. Man braucht nun zwar nicht der Meinung zu sein, daß die Logik  n u r  methodologische Probleme kenne, ja man kann sogar glauben, daß Sigwarts Logik durch den methodologischen Gesichtspunkt allzu einseitig geworden ist. Trotzdem muß die Methodenlehre als  T e i l  der Logik stets eine große Bedeutung haben, und wie wichtig gerade eine Einsicht in das Wesen der Definition für sie ist, wird sofort klar, wenn man die methodologischen Geanken beachtet, die in verschiedenen  E i n z e l w i s s e n s c h a f t e n  zu Beginn oder im Verlauf von Spezialuntersuchungen entwickelt worden sind. Die Definition spielt in ihnen oft eine große Rolle, und was über sie von Männern der Einzelwissenschaften, wie z. B. von Ihering, gesagt worden ist, scheint für die Methodenlehre wertvoller und wichtiger zu sein als das meiste, was sich darüber in Lehrbüchern von logischen Fachmännern findet. Es ist daher vielleicht gut, die Definition von rein  m e t h o d o l o g i s c h e r  Seite einmal einer  b e s o n d e r e n  Betrachtung zu unterwerfen.

Die folgende Untersuchung, die dies unternimmt, wird zunächst festzustellen haben, welches das Denkgebilde ist, dem die  B e z e i c h n u n g  "Definition" zukommt, denn das Bewußtsein hiervon ist, wie schon angedeutet, einigen Logikern verloren gegangen. Eine solche Feststellung kann selbstverständlich nur eine  h i s t o r i s c h e  sein. Wir werden also fragen, was die Definition bei den  G r i e c h e n  war, um zu bestimmen, welches Denkgebilde in einer von der aristotelischen Metaphysik unabhängigen Logik eine Stelle von der Art einnimmt, daß es mit dem Namen Definition bezeichnet werden muß.

Bevor wir uns jedoch zu dieser historischen Untersuchung wenden, ist es nötig, mit ein paar Worten die  M e t h o d e  zu charakterisieren und zu rechtfertigen, die im folgenden angewendet werden soll.

Der Hauptgesichtspunkt ist bereits angedeutet worden. Wer wie Sigwart den Schwerpunkt auf die Methodenlehre legt, der kann von den  A u f g a b e n  ausgehen, welche die Wissenschaften sich stellen, und nach den  M i t t e l n  fragen, die das menschliche Denken anwenden muß, um diese Aufgaben zu lösen. Das ist jedenfall  e i n  berechtigter Gesichtspunkt der Betrachtung unter anderen. Die Definition ist dann für die Methodenlehre das  M i t t e l  zu einem wissenschaftlichen  Z w e ck , und, wie wir uns das, was die Definition bei Aristoteles von den andern Denkformen unterscheidet, durch Besinnung auf ihre Aufgabe leicht zum Bewußtsein gebracht haben, so kann der Gesichtspunkt, wonach wir eine methodologische Form aus dem Zweck heraus zu verstehen suchen, dem sie dient, der leitende für die ganze methodologische Untersuchung bleiben.

Das vom Willen geleitete, absichtliche "Denken", das im seelischen Leben des Menschen dem "natürlichen", durch  p s y c h o l o g i s c h e  Gesetze bedingten "Vorstellungsverlauf" gegenüber steht, will  e r k e n n e n  und zu diesem Zweck  l o g i s c h  sein. Je nach Anlage und Neigung richtet sich dies Bestreben auf einen größeren oder kleineren Teil dessen, was man die Welt oder die Wirklichkeit nennt, aber der Zweck ist immer der, unter den vielen möglichen Ansichten über die Dinge, auf die sich das Denken erstreckt, die eine richtige oder  w a h r e  zu finden.

Ein zweiter, ebenso selbstverständlicher, aber nicht immer genügend beobachteter und scharf gesonderter Zweck kommt hinzu. Der Mensch denkt in den meisten Fällen nicht für sich allein, sondern er bemüht sich auch, die von ihm gefundenen Resultate anderen Menschen  m i t z u t e i l e n , und hierzu hat er kein anderes Mittel als die Sprache. Der als richtig oder wahr gefundene Gedanke ist also erst dann wissenschaftlich fertig, wenn er einen verständlichen Ausdruck in  W o r t e n  erhalten hat.

Jeder nun, der einmal wissenschaftlich gearbeitet hat, weiß, daß die  b e i d e n  Bemühungen, das Aufsuchen von Wahrheit, wie wir kurz sagen können, und ihre sprachliche Formulierung zum Zwecke der Mitteilung an andere, ihr Ziel häufig verfehlen. Jeder hat einmal in seinem Leben geirrt und ist sich dieses Irrtums bewußt geworden, jeder ist einmal mißverstanden und hat das Mißverständnis bemerkt.

Sobald er dies eingesehen hat, muß er zu der Ueberzeugung kommen, daß sein Denken gegen etwas gefehlt hat, wogegen es nicht fehlen darf, wenn es seinen Zweck erreichen will. Nun kann dieses Etwas, wogegen das menschliche Denken in seinem Streben nach Wahrheit bisweilen verstößt, kein  p s y c h o l o g i s c h e s  Gesetz sein, es kann überhaupt kein  N a t u r g e s e t z  sein, denn wenn wir dagegen fehlen könnten, so wäre es kein Naturgesetz mehr. Psychologisch betrachtet ist alles Denken gleich notwendig. Es handelt sich also beim Suchen nach Wahrheit und deren Mitteilung um irgend etwas anderes, sagen wir eine Norm, eine Regel, eine Vorschrift, die nicht befolgt werden muß, aber die befolgt werden  s o l l , die wir als verpflichtend anerkennen, solange wir überhaupt darauf ausgehen, etwas Wahres zu finden und anderen mitzuteilen. Und so meinen wir, den Irrtum mit Sicherheit vermeiden zu können, wenn wir uns über diese Regeln vollständig klar geworden wären. Aus diesem Gedanken heraus hat man versucht, ein System von solchen Denkregeln aufzustellen.

Die Methodenlehre also kann, wenn sie von dieser logischen Aufgabe aus verstanden wird, niemals psychologisch notwendige Gesetze für das Denken aufstellen wollen, sondern immer nur die Denkformen auf den Zweck hin untersuchen, den man bei ihrer Anwendung im Auge hat, und feststellen, wie sie beschaffen sein müssen, wenn das Denken mit ihnen seinen Zweck erreichen soll. Ihre Notwendigkeit ist demnach eine  t e l e o l o g i s c h e  10).

Es versteht sich von selbst, daß diese Teleologie nichts mit der zu tun hat, die den Zweck zum "erklärenden" Prinzip des Seins macht. Wir sprechen hier nicht vom Zweck schlechthin, sondern von einem besonderen Zweck, den wir, um ihn wissenschaftlich verwerten zu können, aufzeigen müssen. Wir werden also bei unsern Untersuchungen so verfahren, daß wir zuerst den Zweck angeben, den die Definition hat. Wir werden genau bestimmen, welches ihre  b e s o n d e r e   A u f g a b e  in dem Denkprozeß ist, der Wahrheit finden und mitteilen will, um danach die Regeln für sie festzustellen. So beginnen wir dementsprechend damit, daß wir uns über den Zweck klar werden, dem die Definition bei den  G r i e c h e n  ihre Entstehung verdankt hat. Das Denkgebilde, das in der modernen Wissenschaft demselben Zwecke dient, wird dann heute Definition genannt werden müssen.


2. Entstehung und ursprüngliche Bedeutung der Definition

Unsere erste Frage ist also: aus welchem Streben des menschlichen Denkens heraus ist die Definition  e n t s t a n d e n ?

Wenn wir uns zur Beantwortung dieser Frage zur Entwickelungsgeschichte des griechischen Denkens wenden, so macht die folgende Darstellung keinen Anspruch auf historische Vollständigkeit. Es kommt hier lediglich darauf an, die Grundmotive hervorzuheben, die das logische Bewußtsein und mit ihm die Definition im menschlichen Denken hervortrieben, und es genügt daher, wenn die Zeichnung gewissermaßen nur schematisch ist und individuelle Kennzeichen griechischer Theoreme, so wichtig sie an sich sein mögen, vernachlässigt.

Die griechische Philosophie interessiert uns selbstverständlich erst von da an, wo sie beginnt, sich dem menschlichen Denkprozesse zuzuwenden. Es geschieht dies durch die Sophisten, die Metaphysik Heraklits und der Eleaten war sozusagen noch mehr nach außen gerichtet, aber indem sie mit ihren naturwissenschaftlichen Theorien über die Beschaffenheit der Welt in augenfälligen Widerspruch zu den Tatsachen geriet, rief sie den Zweifel an der Fähigkeit des menschlichen Denkens wach, die Wahrheit zu finden, und zwang dadurch den menschlichen Geist, seine eigene Tätigkeit zum Gegenstand der Untersuchung zu machen.

Dies geschah auf eine merkwürdige Weise. In einigen metaphysischen Systemen der Naturphilosophen war der Satz des zu vermeidenden Widerspruchs das eigentlich treibende Prinzip gewesen. Die Eleaten konnten das Werden nicht denken, weil es widerspruchsvoll war, und für Heraklit gab es umgekehrt kein Beharren, sondern nur ein Werden. Der Begriff des Widerspruchs war hiermit metaphysisch hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], aber keiner der Denker hatte sich den Satz ausdrücklich zum Bewußtsein gebracht. Mochte man nun der einen oder der anderen Lehre anhängen, eines schien sich jedenfalls als Konsequenz zu ergeben. Die Sinnenwelt, wie sie sich dem Menschen als ein Gemisch aus Beharrendem und sich Veränderndem darstellt, ist Schein. Der Mensch erkennt die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern wie sie ihm scheinen, und zwar so, wie sie sich ihm als einem einzelnen Individuum darstellen. Ein objektives Wissen ist also unmöglich, es gibt nur ein subjektives Meinen. Protagoras bekämpfte vom Boden der heraklitischen, Gorgias von dem der eleatischen Metaphysik die Möglichkeit einer sicheren Erkenntnis.

Die Männer, die infolge der ungewußten metaphysischen Hypostasierung [Substantivierung, Vergegenständlichung - wp] des Satzes vom Widerspruch an der Möglichkeit allen Wissens verzweifelten, kamen nun dazu, an der Gültigkeit dieses Satzes selbst zu zweifeln. Wenn es nur ein Meinen gibt, dann gibt es auch keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum und entgegengesetzte Behauptungen sind gleichberechtigt. Diese Denker negierten also die Gültigkeit eben desselben Satzes, mit Hilfe dessen sie ihren Beweis geführt hatten, und dies war von höchster Bedeutung. Die logischen Regeln, die man bisher befolgt hatte, ohne sie ausdrücklich zu kennen, hätten niemals entdeckt werden können, wenn sie nicht vorher erst einmal bestritten worden wären. So halfen die Sophisten dem menschlichen Denken, sich die Logik zum Bewußtsein zu bringen. Das Bewußtsein der ersten Metaphysiker war gewissermaßen  a l o g i s c h  gewesen, das Bewußtsein der Sophisten war  a n t i l o g i s c h , und in dem Augenblick wurde die Logik aus dem Schlummer gerüttelt, es entstand das  l o g i s c h e  Bewußtsein in SokratesSOKRATES.

An diesen Gedankenzusammenhang mußte kurz erinnert werden, um die ganze Bedeutung zu vergegenwärtigen, die unter solchen Umständen das Verlangen nach Definitionen hatte.

Wenn man überhaupt von einer theoretischen Philosophie des Sokrates reden will, die von seinen ethischen Ansichten zu trennen ist, dann läßt sich ihr Gedankengang ungefähr so darstellen. Sokrates war mit den Sophisten darin einig, daß das Wissen in der Tat nicht vorhanden sei. Aber er war zugleich fest davon überzeugt, daß all die verschiedenen Meinungen etwas enthielten, worin sie übereinstimmten, und gerade der Streit der Meinungen schien ihm darauf hinzudeuten. Nicht was das einzelne Individuum für sich gefunden hat, ist richtig, sondern die Wahrheit ist das Gemeinsame, und der Weg, die Wahrheit zu finden, besteht darin, unter den verschiedenen Ansichten das festzustellen, was alle anerkennen.

Bei der Verfolgung dieses Gedankens entstand in Sokrates durch das eigentümliche Verfahren seiner Gegner das Bedürfnis, dem die Definition ihr Dasein verdankt. Die Beweise der Sophisten für die Relativität aller Ansichten beruhten nämlich darauf, daß sie mit demselben  W o r t e  mehrere verschiedene  B e g r i f f e  bezeichneten. Dieses sah Sokrates ein, und er verlangte daher von jedem, mit dem er disputierte, die genaue  B e s t i m m u n g  der  B e g r i f f e , welche mit den gebrauchten Wörtern verbunden werden sollten. Er erkannte, daß man zu richtigen Einsicht nur gelangen könne, wenn die bei der Untersuchung verwendeten Begriffe bestimmte und gemeinsame waren. So war also bei Sokrates die Definition  d a s   M i t t e l ,   b e s t i m m t e   u n d   e i n d e u t i g   b e z e i c h n e t e   B e g r i f f e  zu schaffen.

Wenn diese Tatsache manchem vielleicht nicht unbestreitbar zu sein scheint, so liegt das nur daran, daß die Definition bei Sokrates in einer eigentümlichen Form auftrat, die wiederum durch das Verfahren seiner Gegner bestimmt war. Die Sophisten bewiesen mit  W o r t e n , und sie wurden über ihre Fehler durch die Sprache getäuscht, die auch in manchen anderen philosophischen Systemen die Ursache von fundamentalen Irrtümern geworden ist. Sokrates versuchte, durch das Gewirr der Sprache und durch die Vieldeutigkeit der Namen zu bestimmten Begriffen durchzudringen, und da war es allerdings notwendig, daß er bei seinen Untersuchungen immer  v o n   d e m   N a m e n   a u s g i n g  und an ihn die Definition des Begriffes knüpfte. Durch den Umstand, daß die Definition im Dialog entstanden ist, wo die sprachliche Formulierung des Gedankens von ebenso großer Bedeutung war wie der Gedanke selbst, ist dieser Denkakt in eine so nahe Beziehung zum Worte gebracht worden, daß es so aussehen konnte, als bestände seine Hauptaufgabe darin, die Bedeutung eines  W o r t e s  anzugeben. Nur insofern jedoch, als bei Sokrates im Gespräch die Fernhaltung der durch die unlogischen Elemente der Sprache entstehenden Irrtümer notwendig war, diente die Definition auch zur Namenerklärung. Ihr eigentlicher Zweck aber bestand immer darin, den  B e g r i f f  zu bestimmen 11). Das ist der erste und für uns wesentliche Punkt.

Der Schritt, den Platon in bezug auf die Definition über Sokrates hinaus tat, ist nach zwei Seiten hin bedeutsam. Wir haben bisher die Definition als ein Mittel betrachtet zur Herstellung bestimmter Begriffe durch Angabe des Allgemeinen, welches dadurch für die Erkenntnis Wert besaß, daß es das Allen  G e m e i n s a m e  war. Nun wird ein neuer theoretischer Wertgesichtspunkt aufgestellt, den wir am besten wieder aus dem Bestreben begreifen, den Relativismus, wie er sich im Zusammenhange mit der heraklitischen Metaphysik bei Protagoras entwickelt hatte, zu überwinden. Der Ansicht Heraklits, daß die einzelnen Dinge der Sinnenwelt nicht  s i n d , sondern nur  w e r d e n , schloß sich auch Platon an, und die Erkenntnis des Einzelnen war daher für ihn keine eigentliche Erkenntnis. Aber die einzelnen Dinge haben auch etwas Gemeinsames, und dies Gemeinsame ist zugleich das  B l e i b e n d e  an ihnen. Das  w i r d  nicht nur, sondern das  i s t , und hierauf muß sich die Erkenntnis richten, wenn sie die Erkenntnis des wahrhaft Seienden sein soll.

Diese Einsicht Platons verliert dadurch nicht an theoretischer Bedeutung, daß sie sofort eine eigentümliche Umdeutung erhielt, indem dem Allgemeinen als "Idee" ein von den Einzeldingen getrenntes Dasein zugeschrieben und dieses geradezu zur "Ursache" der Einzeldinge gemacht wurde. Für die Lehre von der Definition ist es wichtig, das rein logische Element gesondert hervorzuheben. Die Definition, die für Sokrates ein Mittel zur wahren Erkenntnis war, weil sie den gemeinsamen Begriff bildete, liefert nun insofern Erkenntnis, als sie die allgemeine  I d e e  bestimmt, deren Erscheinungsform das zu erkennende Einzelding ist.

Noch ein zweites hat Platon für die Logik geleistet, wodurch die Definition eigentlich erst zu dem wird, was dann bei Aristoteles als Definition auftritt. Er suchte nicht nur, die verschiedenen wahren Ideen einzeln zu erkennen, sondern er machte den ersten Versuch, diese Ideen zu einem System zusammenzuschließen. So wie die Ideen die verschiedenen Einzeldinge unter sich enthalten, so können sie selbst wiederum unter einer höheren Idee vereinigt werden, und es würde, wenn Platon eine Ausführung unternommen hätte, auf diese Weise jene Pyramide von Ideen entstanden sein, deren Spitze die Idee des Guten als des eigentlichen Weltprinzipes bildet 12).

Das gibt der platonischen Definition ihre besondere  F o r m . Einen Gegenstand erkennen, heißt: ihm in dieser Pyramide seinen Platz anweisen. Man ordnet ihn einer Idee unter und fügt dasjenige hinzu, wodurch der Gegenstand sich von anderen, derselben Idee untergeordneten Dingen unterscheidet. Damit ist die Erkenntnis eines Dinges vollendet; denn es ist ihm jetzt nach Platon seine Stellung um Weltprinzip angegeben. So entsteht das, was später die Definition durch Angabe des genus proximum und der differentia specifica genannt worden ist. Orismos ist also bei Platon immer die Erkenntnis des Wesens einer Sache durch Angabe der übergeordneten Idee, deren Erscheinungsform sie ist, an der sie Anteil hat, oder wei man sich sonst ausdrücken mag.

So sehen wir, ist die Definition auch der Form nach vorhanden. Platon hat eine wissenschaftliche Methode, die er mit Sicherheit handhabt. Aber nirgends hat er diese Methode selbst zum Gegenstand einer besonderen Untersuchung gemacht; er hat keine Theorie über die Form seiner Erkenntnis aufgestellt, kurz keine Definition der Definition gegeben. Dies tat erst Aristoteles. Er hat die Definition nicht erfunden, sondern er brauchte nur zu analysieren, was Platon bereits getan hatte. Platon hatte gefragt,  w a s  der Gegenstand der wahren Erkenntnis sei, und die Antwort darauf erteilt; die Idee. Aristoteles fragte dagegen:  w i e  erkennen wir? Und er antwortete darauf: indem wir durch Angabe der Gattung und der Differenz den Begriff bestimmen.  M e t h o d o l o g i s c h  ist hier zwischen Aristoteles und Platon in bezug auf die Definition kein prinzipieller Unterschied; denn Idee sowohl wie Begriff haben beide die Aufgabe, das Wesen eines Dinges anzugeben, und deswegen muß mit ihnen definiert werden. Daß zwischen der  m e t a p h y s i s c h e n  Bedeutung von Idee und Begriff ein Unterschied besteht, kommt hier nicht in Betracht.

Andererseits freilich ergibt sich daraus auch zugleich, wie eng die metaphysische Ansicht des Aristoteles mit seiner Lehre von der Definition verwachsen ist. Die Form ist leer und willkürlich ohne die bestimmte metaphysische Voraussetzung. Trotzdem aber - und das ist es, worauf es uns hier vor allem ankommt - bei Sokrates, Platon und Aristoteles hat das Wort orismos immer das Denkgebilde bezeichnet, dem die Aufgabe zufiel,  d e n   B e g r iff  zu  b e s t i m m e n , und wir werden daher das Wort Definition für die Begriffsbestimmung verwenden dürfen, ja müssen. Wie weit wir der Definition auch die andere Aufgabe zuerteilen können, die für uns nicht denselben eindeutigen Sinn mehr hat wie für die Griechen, nämlich das  W e s e n  einer Sache anzugeben, läßt sich hier noch nicht zeigen.



LITERATUR - Heinrich Rickert, Zur Lehre von der Definition, Tübingen 1929
    Anmerkungen
    1) Topic. VII, 5
    2) Topic. I, 8
    3)  U e b e r w e g , System der Logik § 60, 5. Aufl., 1882, S. 165.
    4) Ueberweg a. a. O. § 55 S. 147f
    5)  L o t z e , Logik 1874, 2. Aufl. 1880, § 160 S. 198 f. Die Seitenzahlen der neuen, 1912 von Georg  M i s c h  besorgten Ausgabe stimmen mit denen des Originals überein.
    6)  S i g w a r t , Logik I 1873, § 44, 4. Aufl. 1911, S. 385.
    7)  S i g w a r t , a. a. O. S. 387
    8)  L o t z e , a. a. O. S. 201
    9)  S i g w a r t , a. a. O. S. XVII
    10) Vgl. hierzu  W i n d e l b a n d , "Kritische oder genetische Methode?" in den Präludien, 1884, 4. Aufl. 1911, Bd. II, S. 109f
    11)  X e n o p h o n , Memorabilien IV, 6.
    12) Vollständig durchgeführt ist der Gedanke, daß das Gute die "Spitze" der Ideenpyramide sei, bei Platon noch nicht. Erst Aristoteles bildete den Gedanken so weiter, daß die Gottheit in jeder Hinsicht die Spitze der Pyramide darstellt. Vgl. dazu meine Abhandlung: Die Erkenntnis der intelligiblen Welt und das Problem der Metaphysik. Logos XVI, S. 185-186.