tb-1cr-2Die Grenzen Gegenstand der Erkenntnis Definitiondow     
 
HEINRICH RICKERT
Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft
[7/7]

I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
DIE AUFGABE
DIE GESCHICHTLICHE SITUATION
DER HAUPTGEGENSATZ
NATUR UND KULTUR
BEGRIFF UND WIRKLICHKEIT
DIE NATURWISSENSCHAFTLICHE METHODE
NATUR UND GESCHICHTE
GESCHICHTE UND PSYCHOLOGIE
GESCHICHTE UND KUNST
DIE HISTORISCHEN KULTURWISSENSCHAFTEN
DIE MITTELGEBIETE
DIE QUANTITATIVE INDIVIDUALITÄT
DIE WERTINDIFFERENTE QUANTITÄT
DIE OBJEKTIVITÄT DER KULTURGESCHICHTE

"So führt uns also die Frage nach der  Objektivität  der Geschichte der Begriff der  Universalgeschichte  und der Begriff eines  Systems der empirischen Kulturwissenschaften  über das empirisch Gegebene der faktischen Wertungen  hinaus  und wir müssen in der Tat, wenn auch nicht die Existenz einer definitiv bereits erreichten Kenntnis von dem, was als Wert gilt, so doch die Geltung objektiver Werte und die Möglichkeit voraussetzen, daß wir uns ihrer Kenntnis wenigstens immer mehr  annähern  können. Ein prinzipieller  Fortschritt  in den Kulturwissenschaften mit Rücksicht auf ihre  Objektivität,  ihre  Universalität  und ihren  systematischen Zusammenhang  ist vom Fortschritt in der Herausbildung eines objektiven und systematisch gegliederten  Begriffes  der  Kultur  und das heißt von der Annäherung an ein Wertbewußtsein abhängig, dem ein  System  gültiger Werte zugrunde liegt."


XIII.
DIE WERTINDIFFERENTE INDIVIDUALITÄT

Der Gedanke an die Übertragung der Wertgesichtspunkte auf Wirklichkeiten, die nicht selbst Kulturvorgänge sind, wohl aber die historische Kultur beeinflussen und daher auch durch ihre Individualität wichtig werden, führt uns auf das, was über den zweiten oben erwähnten Einwand zu sagen ist. Kann man auch  ohne Kulturwerte  eine Wirklichkeit  individualisierend  behandeln? Ehe wir jedoch diese Frage beantworten, müssen wir uns darüber klar werden, wie sie allein gestellt werden darf, wenn die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung für die Einteilung der Wissenschaften sein soll.

Da wir über Wortbedeutungen, die aus dem vorwissenschaftlichen Leben stammen und ferner über wissenschaftliche Begriffe verfügen, so können wir selbstverständlich von jeder  beliebigen  Wirklichkeit durch eine bestimmte Kombination von Begriffselementen eine Darstellung entwerfen, die  nur  auf  sie  paßt, also von ihr einen Begriff mit individuellem Inhalt bilden. Es hängt das ganz von unserer Willkür ab. Wir werden es zwar nur dann tun, wenn uns das betreffende Objekt in irgendeiner Weise "interessant" oder "wichtig" ist und das bedeutet, daß es zu Werten in Beziehung steht oder daß ein verständlicher Sinn an ihm haftet. Aber es ist zweifellos, daß wir auch völlig gleichgültige, sinnfreie Gegenstände ihrer Individualität nach schildern  können,  wenn wir es eben  wollen.  Der Willensakt macht dann diese Individualität "wichtig" und stellt so die Wertbeziehung her.

An der Möglichkeit individualisierender Darstellung ohne Beziehung auf  Kulturwerte  ist also nicht zu zweifeln. Aber das allein hat für die Einteilung der  Wissenschaften  noch keine Bedeutung. Denn solche individuellen Begriffe sind vollkommen willkürlich gebildet und das gilt nicht nur für die Fälle, in denen wir die Individualität allein deswegen dargestellt haben, weil wir es wollten, sondern auch für die Fälle, in denen sich, wegen der Verknüpfung mit den von uns gewerteten Werten, ohne unsere ausdrückliche Absicht individuelle Begriffe der betreffenden Objekte bildeten. Jeder kennt Wirklichkeiten in ihrer Individualität wegen der  praktischen  Bedeutung, die sie für ihn haben, und das hat mit wissenschaftlicher Begriffsbildung nichts zu tun. Die Frage darf daher nur so gestellt werden, ob eine  wissenschaftliche  Darstellung nur denkbar ist, die nicht von allgemeinen Wertgesichtspunkten der Kultur geleitet wird.

Doch auch diese Frage ist noch nicht bestimmt genug. Es ist hier nämlich unter wissenschaftlicher Darstellung nur das zu verstehen, was in sich selbst zum wissenschaftlichen  Abschluß  kommen kann, also nicht etwa bloß  Material  zur weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung liefert. Wir haben ja von vornherein darauf hingewiesen, daß der Prozeß, durch den das Material gefunden wird, bei einer logischen Gliederung der Wissenschaften aus dem Spiel bleiben muß uns daher ist der Begriff des wissenschaftlichen Abschlusses hier in einem logisch strengen Sinn zu nehmen. Es gibt nämlich Forscher, die sich bisweilen mit Ergebnissen begnügen, welche für jede einen Abschluß erstrebende wissenschaftliche Arbeit nur als weiter zu bearbeitendes Material anzusehen sind, und es ist von vornherein klar, daß die Wissenschaftslehre zu einer systematischen Gliederung der Wissenschaften nie kommen wird, wenn sie das, was  auch  als bloße  Materialsammlung  gelten kann, mit abgeschlossener wissenschaftlicher Begriffsbildung ohne Beziehung auf allgemeine Kulturwerte möglich ist, so muß die Antwort verneinend lauten. An Beispielen läßt sich das am leichtesten zeigen. Wir erwähnten bereits früher, daß man bei der  Geographie  zweifelhaft sein kann, ob sie zu den Naturwissenschaften oder den Kulturwissenschaften gehört. (1) So wie sie faktisch betrieben wird, stellt sie meist ein Gemisch der beiden Arten von Begriffsbildung dar. Aber begrifflich können wir ihre Bestandteile scharf gegeneinander abgrenzen. Wird die Erdoberfläche als  Schauplatz  der  Kulturentwicklung  angesehen, so  übertragen  sich die Wertgesichtspunkte von der Kultur auf die für ihre Entstehung notwendigen und sie in ihrem Werdegang beeinflussenden geographischen  Bedingungen  und die Erdoberfläche wird dann wegen des mit ihr verknüpften kulturwissenschaftlichen Interesses durch ihre  Individualität  wesentlich. Die individualisierende Begriffsbildung der Geographie ist also in diesem Fall durch allgemeine Kulturwerte geleitet und fügt sich mindestens ebensogut wie die historische Biologie in den Rahmen unseres Schemas ein. Außerdem werden  dieselben  Objekte wichtig, wenn es gilt,  allgemeine  Theorien zu bilden, die man nicht  geographisch,  sondern  geologisch  nennt. Hier liegen dann generalisierende Begriffsbildungen vor und die einzelnen Formationen der Flüsse, Meere, Gebirge usw., die für die Geschichte der Kultur durch ihre Eigenart und Individualität wesentlich sind, kommen nur als  Gattungsexemplare  in Betracht. Drittens gibt es nun aber in der Geographie allerdings auch  individualisierende  Darstellungen bestimmter Teile der Erdoberfläche, die in keinem Zusamenhang mit der Kultur stehen und diese scheinen in unserem Schema nicht unterzubringen zu sein.

Solange ihnen jedoch  jede  Beziehung zur Geschichte im weitesten Sinne des Wortes oder  jede  Beziehung zur generalisierenden Theorien fehlt, wird man in ihnen nur  Materialsammlungen  erblicken dürfen, die gemacht sind, weil die Feststellung dieser Tatsachen einmal geschichtlich oder naturwissenschaftlich wichtig werden  kann.  Der  Wille Material zu sammeln, macht dann die betreffenden Objekte "wichtig" und stellt die Wertbeziehung her durch welche die Individualität wesentlich wird. Solche Darstellungen aber  wollen  wir in eine Gliederung der Wissenschaften, die an ihren Aufgaben und  Zielen  orientiert ist, gar nicht einordnen. Sie können daher unseren methodologischen Hauptgegensatz, der sich nur auf den  Abschluß  der Untersuchung bezieht, auch nicht in Frage stellen.

Dasselbe gilt von  allen  Darstellungen, die individualisieren und bei denen trotzdem eine Beziehung ihrer Objekte auf Kulturwerte gänzlich zu fehlen scheint. Ihr Vorhandensein ist auf den Umstand zurückzuführen, daß die dargestellten Objekte aus irgendwelchen Gründen besonders  auffallend  sind und dadurch, wie alles Auffallende, das  Interesse  aller Menschen erregen. Hiermit ist dann die Wertbeziehung gegeben und daraus versteht man, daß das Bedürfnis, ein Objekt auch in seiner Individualität kennenzulernen, sich geltend macht, obwohl es für Kulturwerte keine Bedeutung hat. In sich geschlossene Wissenschaft ist das jedoch nicht, ja, solange jede Beziehung zu naturwissenschaftlichen Theorien fehlt, sind solche rein  tatsächlichen  Kenntnisse überhaupt nicht zur ausgeführten Wissenschaft zu rechnen.

Zu den Objekten, deren Individualität uns trotz der mangelnden Kulturbedeutung interessiert, gehört z. B. der Mond. Daher darf seine Darstellung als Beispiel bei einer logischen Gliederung der Wissenschaften nur mit Vorsicht gebraucht werden. In gewisser Hinsicht kommt er als Material für die Bildung  allgemeiner  Theorien von Weltkörpern in Betracht, denn es gibt nicht nur diesen einen Mond, sondern auch andere Planeten haben "Monde". Oft aber wird er in der Tat auch in seiner  Individualität  dargestellt und das geschieht dann,  ohne  daß ein kulturwissenschaftlicher Gesichtspunkt vorhanden ist. Eine solche Darstellung ist entweder auf ein Interesse an unserem "guten Mond" zurückzuführen, der als Individuum im Leben der meisten Menschen "eine Rolle spielt" und dann ist dieses Interesse und die daraus entstehende Wertbeziehung wieder  unwissenschaftlich.  Oder es liegt, wie in den detaillierten Mondkarten, ebenso wie in gewissen geographischen Darstellungen, lediglich ein wissenschaftliches  Material  vor, das noch der weiteren begrifflichen  Verarbeitung  harrt und nur der Gedanke an diese Verarbeitung hat die Individualität des Mondes  wichtig  gemacht. Dann kennen wir bereits die Gründe, aus denen solche Darstellungen sich nicht in eine unserer Gruppen einordnen lassen.

Diese Beispiele müssen genügen, um das Prinzip klarzulegen, auf das es ankommt. Es ist im Grunde eine Binsenwahrheit, daß man sich um die Individualität der Objekte nicht kümmert, wenn sie nicht wichtig oder interessant sind, also zu  Werten  in keiner  Beziehung  stehen.  Wissenschaftlich  aber kann die individualisierende Darstellung  nur  genannt werden, wenn es  allgemeine  Werte oder Kulturwerte sind, die sie leiten. Wo diese allgemeinen Werte fehlen, haben die Objekte nur als Gattungsexemplare eine wissenschaftliche Bedeutung. Endlich kann die Wertbeziehung durch den Gedanken an eine  spätere  wissenschaftliche Bearbeitung hergestellt werden und so eine individualisierende Darstellung entstehen, die jedoch beim Fehlen jeder Beziehung auf allgemeine Kulturwerte nur als Materialsammlung zu betrachten ist. Eine bloße  Tatsachenfeststellung  ist für sich allein noch keine Wissenschaft.

Findet man diesen Begriff von Wissenschaft zu  eng,  so möge man bedenken, daß ohne einen Begriff, der die bloße Vorarbeit und Materialsammlung beiseite läßt, eine systematisch gegliederte Wissenschaftslehre überhaupt nicht möglich ist. Wissenschaftliches Leben ist ja selbst  geschichtliches  Leben und geht, gerade nach unserer Theorie, in  kein  System allgemeiner Begriffe restlos ein, sobald seine  ganze  Mannigfaltigkeit in Betracht kommt. Welch außerordentliches Interesse nehmen z. B. viele Menschen an der Gestaltung des Nordpols. Ist dieses Interesse wissenschaftlich? Bei den meisten Menschen gewiß nicht. Kommt für wissenschaftliche Menschen die individuelle Gestaltung der Pole nur als Material für die Bildung allgemeiner Theorien in Betracht? Auf solche Fragen kann die Logik sich nicht einlassen und Beispiele solcher Art sollten daher auch nicht als logische Argumente benutzt werden. Es fehlt ihnen die allgemeine typische Bedeutung, die ihre Erörterung methodologisch fruchtbar macht. Eine Theorie der Wissenschaft, die ein  System  bilden will, darf nur hoffen, die  Haupt-  und  Grund formen der Wissenschaften einordnen zu können.

Selbst dann aber, wennn man sich sträuben sollte, die hier und da vorkommenden individualisierenden Darstellungen, für welche sich ein allgemeiner Wertgesichtspunkt als leitend nicht nachweisen läßt, nur als  Vorarbeiten  anzuerkennen, können diese  Ausnahmefälle  doch nichts gegen einen Versuch beweisen, der von vornherein erklärt hat, daß den Linien, die er zur Orientierung ziehen will, ebensowenig eine Wirklichkeit genau entspricht, wie den Linien, welche sich der Geograph zur Orientierung auf unserer Erdkugel gezogen denkt. Deswegen verlieren solche Linien durchaus nicht ihren Wert und durch diese oder jene vereinzelte Ausnahme wird daran nichts besonders geändert, daß durch die Begriffe der generalisierenden Naturwissenschaften und der individualisierenden Kulturwissenschaften die  zwei Haupttendenzen  der empirisch wissenschaftlichen Arbeit sowohl  logisch  als auch  sachlich in viel tiefer gehender Weise charakterisiert sind als durch die übliche Gegenüberstellung der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften, die völlig nichtssagend geworden ist, seitdem das Wort "Geist" seine alte prägnante Bedeutung verloren und eine neue allgemein anerkannte Bedeutung im Unterschied von der des Seelischen oder Psychischen noch nicht wiedergewonnen hat. Mehr kann in diesem Versuch, der auf eine eingehendere logische Erörterung der Detailprobleme verzichten muß, nicht erreicht werden.


XIV.
DIE OBJEKTIVITÄT DER KULTURGESCHICHTE

Von den erwähnten Einwänden bleibt daher jetzt nur noch einer übrig. Er betrifft den Begriff der "objektiven" Darstellung der Kultur durch die Geschichte und führt schließlich zu einer bisher absichtlich zurückgedrängten Frage, die ich berühren muß, weil von ihrer Beantwortung für viele vielleicht mehr als von irgendetwas anderem die Entscheidung über das Verhältnis der Naturwissenschaften zu den Kulturwissenschaften abhängt. Auch ist ihre Erörterung zur weiteren Rechtfertigung des Ausdrucks "Kulturwissenschaften" wünschenswert.

Wenn  Werte  es sind, welche die Auswahl des historischen Stoffes und damit alle historische Begriffsbildung leiten, ist dann - so kann und muß man fragen - die  Willkür  in den Geschichtswissenschaften jemals auszuschließen? Allerdings, die Objektivität der Spezialuntersuchungen wird dadurch, soweit diese sich auf die  tatsächlich  allgemeine Anerkennung ihrer leitenden Werte berufen können und sich ferner streng an die  theoretische Wertbeziehung  halten, nicht berührt, aber es liegt hier doch in der Tat, was nicht übersehen werden darf, eine  Objektivität  von eigentümlicher  Art  vor, die besonders einen  Vergleich  mit der Objektivität der generalisierenden Naturwissenschaften nicht auszuhalten scheint.

Eine wertbeziehende Darstellung gilt immer nur für einen bestimmten Kreis von Menschen, welche die leitenden Werte, wenn auch nicht direkt werten, so doch als Werte verstehen und dabei anerkennen, daß es sich um mehr als rein individuelle Wertungen handelt. Eine Übereinstimmung hierin mag mit Rücksicht auf einen verhältnismäßig sehr großen Kreis von Menschen zu erzielen sein. In Europa wird man gewiß, wo man überhaupt geschichtswissenschaftliche Werke liest, die früher genannten Kulturwerte, die an Religion, Kirche, Recht, Staat, Wissenschaft, Sprache, Literatur, Kunst, wirtschaftlichen Organisationen usw. haften, als Werte verstehen und es daher nicht als Willkür ansehen, wenn diese Werte die Auswahl des Wesentlichen leiten, also die geschichtliche Darstellung auf das beschränken, was mit Rücksicht auf sie wichtig oder bedeutsam ist. Aber falls die Objektivität einer wertbeziehenden Darstellung immer nur für einen mehr oder weniger großen Kreis von Kulturmenschen besteht, so ist sie eine  geschichtlich beschränkte Objektivität,  und so wenig das vom  spezial wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus zu bedeuten haben mag, so sehr kann man unter allgemeinen  philosophischen  Perspektiven und auch vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus darin einen wissenschaftlichen  Mangel  erblicken.

Beschränkt man sich nämlich prinzipiell auf die faktisch allgemeine Anerkennung der Kulturwerte, ohne irgendwie nach ihrer  Geltung  zu fragen, so muß man es für möglich, ja als Historiker gerade für wahrscheinlich halten, daß das Fundament der Geschichtswissenschaft ebenso, wie es entstanden ist, auch wieder vergehen wird und damit haftet dann den historischen Darstellungen, die das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden, ein Charakter an, der es bedenklich erscheinen läßt, sie überhaupt als "Wahrheiten" zu bezeichnen. Eine wissenschaftliche Wahrheit muß zu dem, was theoretisch  gilt,  auch  ohne  daß es  gewußt  wird, ein bestimmtes Verhältnis haben, d. h. ihm mehr oder weniger nahe stehen. Ohne diese Voraussetzung hat es keinen Sinn mehr, von Wahrheit zu reden. Sieht man nun grundsätzlich von der Geltung der Kulturwerte ab, welche die historische Darstellung leiten, so kommt als  wahr  in der Geschichte  nur  noch das rein  Tatsächliche  in Betracht. Alle historischen  Begriffe  dagegen gelten dann nur für eine bestimmte  Zeit  und das heißt, sie gelten als Wahrheiten überhaupt nicht, denn sie haben zu dem, was  absolut  oder zeitlos gilt, kein bestimmtes Verhältnis. (2)

Freilich werden ja auch die Begriffe der generalisierenden Naturwissenschaften, welche die eine Generation von Forschern gebildet hat, von der nächsten Generation wieder  modifiziert  oder ganz  aufgelöst  und auch diese Generation muß es sich gefallen lassen, daß man ihre Begriffe durch neue ersetzt. Es ist daher noch kein Einwand gegen die Wissenschaftlichkeit der Geschichte, daß sie immer wieder von  neuem  geschrieben werden müsse, denn dieses Schicksal teilt sie mit allen Wissenschaften. Aber von den Naturgesetzen nehmen wir doch an, daß sie  unbedingt  gelten, selbst wenn noch keines uns  bekannt  sein sollte und daher dürfen wir voraussetzen, daß die verschiedenen Begriffe der generalisierenden Wissenschaften einer absolut gültigen Wahrheit mehr oder weniger nahe stehen, während die geschichtlichen Darstellungen überhaupt kein Verhältnis zu einer absoluten Wahrheit besitzen, solange die leitenden Prinzipien ihrer Begriffsbildung lediglich die Werte der  faktischen Wertungen  sind, die kommen und gehen wie die Wellen im Meer.

Abgesehen von den bloßen Tatsachen, gibt es dann so viel  verschiedene historische Wahrheiten,  als es  verschiedene Kulturkreise  gibt und jede dieser Wahrheiten ist, soweit sie die Auswahl des Wesentlichen betrifft, in gleicher Weise gültig oder ungültig. Damit scheint die Möglichkeit eines geschichtswissenschaftlichen  Fortschritts,  ja der Begriff der historischen Wahrheit, soweit er sich nicht auf das rein Tatsächliche bezieht, überhaupt aufgehoben. Müssen wir also nicht die  Geltung  von übergeschichtlichen  Werten  und durch sie konstituierte Sinngebilde voraussetzen, denen die faktisch anerkannten geschichtlichen Kulturwerte wenigstens  näher  oder  ferner  stehen? Wird nicht erst dadurch die Objektivität der Geschichte der der Naturwissenschaft  ebenbürtig?

Das Problem, das hier zugrunde liegt, tritt auch dann zutage, wenn man an den Versuch denkt, die Ergebnisse der geschichtlichen Einzeluntersuchungen zu einem einheitlichen  Ganzen  zusammenzufassen und so eine  Universalgeschichte  im strengen Sinne des Wortes zustande zu bringen, welche die Entwicklung der  gesamten Menschheit  darstellt. Die Menschheitsgeschichte wird sich bei einer Beschränkung auf die rein faktische Anerkennung der Werte immer nur vom Standpunkt eines besonderen Kulturkreises aus schreiben lassen und daher niemals sowohl  von  allen Menschen als auch  für  alle Menschen in dem Sinne gültig oder auch nur "verständlich" sein, daß alle Menschen ihre leitenden Werte als Werte anerkennen. Es gibt also keine "Weltgeschichte" von  empirischer  Objektivität, denn eine solche müßte nicht nur  von  der Menschheit, soweit sie bekannt ist, handeln, sondern auch das  für  alle Menschen Wesentliche in sich aufnehmen und das kann sie nicht. Auf dem  universal-historischen  Standpunkt besitzt der Historiker keine empirisch allgemeinen und faktisch überall anerkannten Kulturwerte mehr. Universalgeschichte ist also nur aufgrund von leitenden Werten zu schreiben, für die eine Geltung behauptet wird, welche über die rein  faktische  Anerkennung im Prinzip  hinausgeht. 

Das heißt nicht, daß der Universalhistoriker ein inhaltlich genau  bestimmtes Wertsystem  braucht, dessen Geltung er selbst zu  begründen  vermag, aber er muß voraussetzen, daß  irgendwelche  Werte  absolut  gelten, und daß daher die von ihm seiner wertbeziehenden Darstellung zugrunde gelegten Werte nicht ohne jede Beziehung zum absolut Gültigen sind, denn nur dann kann er anderen Menschen zumuten, das, was er als wesentlich in seine Darstellung aufnimmt, auch als bedeutsam für das, was absolut gilt, anzuerkennen.

Schließlich hängt noch etwas anderes mit der Frage nach der Geltung der Kulturwerte auf das engste zusammen. Ich habe auf den Mangel an  Einheitlichkeit  und  systematischer Gliederung  der Kulturwissenschaften hingewiesen im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die insbesondere, soweit sie Körperwissenschaften sind, in der Mechanik eine feste Basis besitzen. Daß die Psychologie für die Kulturwissenschaften zur Grundlegung nicht dienen kann, haben wir ebenfalls gesehen. Gibt es nun darum aber nichts anderes, das vielleicht an ihre Stelle zu treten vermöchte?

In gewisser Hinsicht müssen wir diese Frage verneinen, denn  grundlegende  Disziplinen, wie die Mechanik eine ist, kann es nur für die Wissenschaften geben, die  generalisierend  oder naturwissenschaftlich verfahren und deren Gesamtgebiet von einem System insich zusammenhängender Begriffe umfaßt wird. Die allgemeinste Wissenschaft ist dann insofern "grundlegend", als sie, wie die Mechanik in den Körperwissenschaften, in der angegebenen Weise für die Begriffsbildung auf den verschiedenen Gebieten auch  inhaltlich  bedeutsam wird. Das geschichtliche Leben aber läßt sich ja gerade  nicht  in ein  System  bringen und deshalb ist für die Kulturwissenschaften, soweit sie  historisch  verfahren, auch keine  grundlegende  Wissenschaft von der Art, wie es die Mechanik ist, denkbar.

Trotzdem jedoch fehlt ihnen darum, wie ich glaube, die Möglichkeit, sich im Lauf der Zeit immer mehr zu einem einheitlichen  Ganzen  zusammenzuschließen, durchaus nicht, sondern der Begriff der  Kultur,  der ihre Objekte bestimmt und, soweit sie historisch verfahren, ihnen das leitende Prinzip der Begriffsbildung liefert, kann ihnen schließlich auch den einheitlichen  Zusammenhang  verleihen. Aber das setzt freilich voraus, daß wir einen Begriff von Kultur nicht nur nach seiner  formalen  Seite hin als des Inbegriffes der faktisch allgemein anerkannten Werte, sondern auch mit Rücksicht auf den  Gehalt  und den systematischen Zusammenhang dieser Werte besitzen. Von einer empirisch allgemeinen Anerkennung eines solchen Kulturwertsystems kann jedoch wiederum nicht die Rede sein und damit kommen wir von neuem zur Frage nach der  Geltung  der Kulturwerte, die ihnen, abgesehen von ihrer faktischen Wertung, gebührt.

So führt uns also die Frage nach der  Objektivität  der Geschichte der Begriff der  Universalgeschichte  und der Begriff eines  Systems der empirischen Kulturwissenschaften  über das empirisch Gegebene der faktischen Wertungen  hinaus  und wir müssen in der Tat, wenn auch nicht die Existenz einer definitiv bereits erreichten Kenntnis von dem, was als Wert gilt, so doch die Geltung objektiver Werte und die Möglichkeit voraussetzen, daß wir uns ihrer Kenntnis wenigstens immer mehr  annähern  können. Ein prinzipieller  Fortschritt  in den Kulturwissenschaften mit Rücksicht auf ihre  Objektivität,  ihre  Universalität  und ihren  systematischen Zusammenhang  ist vom Fortschritt in der Herausbildung eines objektiven und systematisch gegliederten  Begriffes  der  Kultur  und das heißt von der Annäherung an ein Wertbewußtsein abhängig, dem ein  System  gültiger Werte zugrunde liegt.

Kurz, die Einheit und Objektivität der Kulturwissenschaften ist bedingt von der Einheit und Objektivität unseres Kulturbegriffes und diese wiederum von der Einheit und  Objektivität  der  Werte,  die wir werten.

Ich bin mir vollkommen bewußt, daß, indem ich diese Konsequenz ziehe, ich auf nichts weniger als allgemeine Zustimmung rechnen darf, ja, wenn es wirklich eine Konsequenz ist, so wird man meinen, daß gerade durch sie der  problematische  Charakter eines systematischen Abschlusses der kulturwissenschaftlichen Arbeit auf das deutlichste zutage trete. Denn so sehr auch das Verständnis für die Bedeutung der Wertprobleme zunimmt, dahin geht heute fast allgemein noch die Überzeugung, daß Aussagen über mehr als subjektive  Wertgeltungen  mit der  Wissenschaftlichkeit  unvereinbar sind, weil sie sich objektiv nicht begründen lassen.

Noch einmal sei deshalb mit Nachdruck hervorgehoben: die Objektivität einer historischen  Spezial untersuchung wird durch den Umstand, daß ein Kulturwert den leitenden Gesichtspunkt für die Auswahl des Wesentlichen abgibt, in keiner Weise bedroht, denn der Historiker kann sich auf die allgemeine Anerkennung des Wertes, der den Sinn seiner Objekte konstituiert, als auf ein  Faktum  berufen und er erreicht dadurch das höchste Maß  empirischer  Objektivität, das einer empirischen Wissenschaft überhaupt zu erreichen möglich ist. Geht man jedoch über die Spezialuntersuchungen  hinaus,  so entstehen in der Tat Schwierigkeiten und man kann fragen: wenn die  Gesamtheit  der Kulturwissenschaften ihrer  Gliederung  und ihrem  Zusammenhang  nach von einem System von Kulturwerten abhängig sein soll, heißt das nicht, sie auf einen Komplex individueller Wünsche und Meinungen basieren?

Ich darf hoffen, in Kürze eine in jeder Hinsicht befriedigende Antwort auf diese Bedenken zu geben, denn das Verhältnis der Wissenschaft zur Geltung und Systematik der Werte enthält schwierige Probleme (3), die weit über die Frage nach einer Gliederung der empirischen Wissenschaften hinausführen, aber ich wollte doch zeigen, worin allerdings die unumgängliche  Voraussetzung  besteht, wenn man für die Kulturwissenschaften "Objektivität" im  mehr  als rein  empirischen  Sinne in Anspruch nimmt. Dem unbedingt allgemeingültigen  Gesetz  der Natur, das die generalisierenden Wissenschaften suchen, muß dann der unbedingt allgemeingültige  Wert  entsprechen, den unsere Kulturgüter als Träger individueller Sinngebilde mehr oder weniger realisieren und wenigstens die  Alternative,  vor die wir so gestellt sind, kann dadurch klar werden.

Wer Kultur wissenschaft  treiben  will  im höchsten Sinne des Wortes, so daß er die Auswahl des Wesentlichen als schlechthin  gültig  zu rechtfertigen unternimmt, wird auf die Notwendigkeit geführt, sich auf seine leitenden Kulturwerte zu besinnen und ihre Geltung zu  begründen. Das Arbeiten mit unbegründeten Wertsetzungen würde in der Tat der Wissenschaft widersprechen. So gibt es schließlich, d. h. zwar nicht vom spezialwissenschaftlichen, wohl aber vom  universalhistorischen  Standpunkt aus, von dem sich alle historischen Einzeldarstellungen zu einem einheitlichen Ganzen einer Gesamtgeschichte aller Kulturentwicklung zusammenfassen lassen müssen, keine Geschichtswissenschaft ohne  Geschichtsphilosophie. (4)

Will man dagegen von jeder Wertgeltung beim wissenschaftlichen Denken absehen und der Kulturwelt überhaupt keine andere Bedeutung zusprechen als irgendwelchen beliebigen anderen Vorgängen, so müssen uns vom philosophischen und auch vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus die wenigen bekannten Jahrtausende menschlicher Entwicklung, die doch nur in relativ kleinen Nuancen einer sich relativ gleichbleibenden Menschennatur besteht, ebenso  unwesentlich  erscheinen wie die Unterschiede der Steine auf der Landstraße oder der Ähren in einem Kornfeld. Daß wir die Welt der Geschichte als sinnvoll und verständlich ansehen, beruth dann nur darauf, daß wir in den ephemeren Wertungen eines begrenzten Kulturkreises  befangen  sind und historische Wissenschaft, die über Spezialuntersuchungen bestimmter Kulturkreise hinausgeht, gäbe es dann überhaupt nicht. Dieses Entweder-Oder wenigstens sollte man sich klarmachen.

Doch möchte ich noch einen Schritt weitergehen. Wenn ich hier von einer  Alternative  spreche, so ist das nicht so gemeint, als ob nun der wissenschaftliche Mensch den zweiten, wertfreien Standpunkt als den rein naturwissenschaftlichen einnehmen und ihn zugleich zu einer durchführbaren naturwissenschaftlichen "Weltanschauung" erweitern könnte, die sich durch eine größere  Voraussetzungslosigkeit  vorteilhaft vom  kulturwissenschaftlichen  Standpunkt unterscheiden würde, weil sie eben keinen Wertmaßstab als gültig vorauszusetzen braucht. Der  Naturalismus  glaubt zwar wohl, daß das möglich ist, aber das ist nichts als eine Selbsttäuschung. Gewiß kann vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus alle Wirklichkeit, also auch die ganze Kultur, als sinnfreie Natur  angesehen  werden und die Suspendierung jedes Wertgesichtspunktes ist innerhalb einer solchen Betrachtung nicht nur möglich, sondern notwendig. Darf dieser Standpunkt aber als der  einzig  berechtigte philosophische Standpunkt gelten, so daß jede historische Begriffsbildung von ihm als willkürlich erscheint? Bedeutet nicht vielmehr das Absehen von jeder Wertgeltung innerhalb der Naturwissenschaft gerade eine prinzipielle Beschränkung auf die naturwissenschaftliche  Spezial forschung und ist deswegen nicht die Ergänzung durch eine  universale  Betrachtung in der Philosophie ein auch  theoretisch  notwendige Forderung?

Ich glaube, es gibt ein Stück der Geschichte, für welches sogar die Naturwissenschaft die von uns entwickelten logischen Prinzipien der Bearbeitung wohl als  wissenschaftlich  wird anerkennen müssen und zugeben, daß es sich dabei um sehr viel mehr als ein willkürliches Arrangement willkürlich aufgegriffener Tatsachen handelt, das nur für den gilt, der in den Wertungen eines historischen Kulturkreises befangen ist. Dieser Teil der Geschichte ist nichts anderes als die  Geschichte der Naturwissenschaft  selbst. Auch die Naturwissenschaft ist doch ein sinnvolles historisches  Kulturprodukt.  Das mag sie selber als Spezialwissenschaft ignorieren. Richtet sie aber ihren Blick auch auf sich selbst und nicht nur auf die Naturobjekte, kann sie dann leugnen, daß ihr eine historische Entwicklung im angegebenen Sinne vorangegangen ist, die notwendig in ihrem einmaligen und individuellen Verlauf unter dem Gesichtspunkt eines  Wert maßstabes von objektiver Geltung betrachtet werden muß, nämlich des  theoretischen Wertes  der wissenschaftlichen Wahrheit, auf den wir die Ereignisse zu beziehen haben, um in ihnen das für die Geschichte der Naturwissenschaft Wesentliche vom Unwesentlichen zu sondern?

Erkennt sie aber eine historische Wissenschaft in diesem Sinne für diesen  Teil  der Kulturentwicklung an, wie käme sie dazu, die Geschichte der anderen Teile nicht als Wissenschaft gelten zu lassen? Hat es die Menschheit  nur  auf naturwissenschaftlichem Gebiet zu Kulturgütern gebracht, an denen gültige Werte haften? Es fehlt der Naturwissenschaft, die von allen Wertgeltungen absieht,  nur  auf naturwissenschaftlichem Gebiet zu Kulturgütern gebracht, jeder Gesichtspunkt, um diese Frage zu entscheiden und wir haben daher von seiten der  Naturwissenschaft  im Kampf für eine historische Auffassung der Dinge und das Recht der Geschichte nichts zu fürchten. Der historisch-kulturwissenschaftliche Gesichtspunkt ist vielmehr dem naturwissenschaftlichen durchaus  übergeordnet, weil er der bei weitem umfassendere ist. Nicht nur die Naturwissenschaft ist ein historisches Produkt der Kulturmenschheit, sondern auch die "Natur" selbst im logischen oder formalen Sinne ist nichts anderes als ein theoretisches  Kulturgut,  eine gültige, d. h. objektive wertvolle  Auffassung  der Wirklichkeit durch den menschlichen Intellekt und die absolute  Geltung  des daran haftenden Wertes wie des von ihm konstituierten Sinngebildes muß gerade die Naturwissenschaft immer  voraussetzen.

Freilich, es gibt noch einen anderen "Standpunkt" und den könnte man dann vielleicht den "philosophischen" nennen und glauben, daß er  gar nichts  voraussetzt. NIETZSCHE hat eine kleine Fabel erfunden, die illustrieren soll, "wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt". Diese Fabel aber lautet folgendermaßen: "In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigstes und verlogenste Minute der Weltgeschichte: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn und die klugen Tiere mußten sterben." So sind wir, wird man glauben, der Anerkennung  jeder  Wertgeltung glücklich entronnen, wie es dem wissenschaftlichen Menschen ziemt.

Dieser Standpunkt ist, wenn man will, in der Tat konsequent, aber seine Konsequenz vernichtet dann die Objektivität  jeder  Wissenschaft, also die von Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft in  gleichem  Maße und weil dieser "Standpunkt" nur nach einer langen naturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Entwicklungsreihe gewonnen werden konnte, also  selbst  nichts als ein  Teil  der "verlogensten Minute" der Weltgeschichte ist, so ist seine "Konsequenz" zugleich die größte aller Inkonsequenzen oder ein sinnloser Versuch des wissenschaftlichen Menschen, über seinen eigenen Schatten zu springen. Gerade der  wissenschaftliche  Mensch muß die Geltung der theoretischen Werte als  absolut  voraussetzen, wenn er nicht aufhören will, ein wissenschaftlicher Mensch zu sein.

Der Geschichte den Charakter als Wissenschaft abzusprechen, weil sie, um das Bedeutungsvolle vom Bedeutungslosen zu scheiden, einer Beziehung auf Kulturwerte bedarf, scheint daher nichts als ein leere und  negativer Dogmatismus  zu sein. Die mehr als individuelle Bedeutung des Kulturlebens, aus dem er selbst hervorgegangen ist, setzt vielmehr jeder Mensch, der irgendeine Wissenschaft treibt, implizit voraus und es wäre die größte Willkür, eine einzelne Reihe, wie etwa den Teil der intellektuellen Entwicklung, den wir die Naturwissenschaft nennen, aus der gesamten Kulturentwicklung loslösen zu wollen und ihm allein eine objektive Bedeutung mit Rücksicht auf die theoretischen Werte zuzuschreiben. Die Besinnung auf ein umfassendes System von objektiven Kulturwerten kann daher nicht gut als eine sinnlose Aufgabe bezeichnet werden.

Freilich ist keine Philosophie imstande, ein solches System aus bloßen Begriffen zu  konstruieren.  Sie bedarf vielmehr für seine inhaltliche Bestimmung der engsten Fühlung mit den geschichtlichen Kulturwissenschaften selbst und sie kann nur hoffen, sich  im Historischen dem Überhistorischen anzunähern,  d. h. ein System der Kulturwerte, das auf Geltung Anspruch erhebt, kann nur  am  sinnvollen geschichtlichen Leben gefunden und  aus  ihm allmählich herausgearbeitet werden, indem man die Frage stellt, welche allgemeinen und  formalen  Werte der inhaltlichen und fortwährend wechselnden Mannigfaltigkeit des historischen Kulturlebens und seiner individuellen Sinngebilde zugrunde liegen und worin also die  Wertvoraussetzungen der Kultur überhaupt  bestehen, die zu erhalten und zu fördern, wir alle bemüht sind. Ein näheres Eingehen auf das Wesen dieser Arbeit, welche der Philosophie zufällt, würde jedoch unseren Versuch einer Gliederung der empirischen Wissenschaften weit überschreiten. Nur auf ein  Ziel  sollte hier hingewiesen werden (5)

Mit Rücksicht auf die  empirische  Objektivität der Kulturwissenschaften, auf die wir uns bei einer Gliederung der empirischen Wissenschaften beschränken dürfen, genügt die Erinnerung: an objektive Werte, deren Geltung die Voraussetzung für das Streben der Philosophie ebenso wie für die Arbeit in den Kulturwissenschaften selbst bildet,  glauben  wir im Grunde alle, auch wenn wir uns vielleicht unter dem Einfluß der wissenschaftlichen Mode einbilden, es nicht zu tun, denn: "Ohne ein Ideal über sich zu haben, kann der Mensch im geistigen Sinn des Wortes nicht aufrecht gehen." Die Werte aber, aus denen dieses Ideal besteht, "werden entdeckt und gleich wie die Sterne am Himmel treten sie nach und nach mitdem Fortschritt der Kultur in den Gesichtskreis des Menschen. Es sind nicht  alte  Werte, nicht  neue  Werte, es sind  die  Werte". Ich führe diese schönen Worte RIEHLs (6) umso lieber an, als niemand beim Verfasser des "philosophischen Kritizismus" eine unwissenschaftliche Schwärmerei voraussetzen wird. Sollen wir nun etwa das, was wir brauchen, um im geistigen Sinne aufrecht zu gehen, beiseite lassen, wenn wir Wissenschaft treiben? Ich denke, das wird kein Verständiger von uns verlangen.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986
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Anmerkungen
1) Vgl. oben und OTTO GRAF, Vom Begriff der Geographie im Verhältnis zu Geschichte und Naturwissenschaft, 1925
2) Das ist die notwendige Konsequenz des Standpunktes der "historischen Schule", wie ihn mit großer Klarheit ERICH ROTHACKER in seiner "Logik und Systematik der Geisteswissenschaften", 1926 vertritt. Das Buch ist mir erst während des Druckes bekannt geworden.
3) Den Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der im folgenden ausgesprochenen Überzeugung enthält meine Schrift über den "Gegenstand der Erkenntnis", 1892, vierte und fünfte Auflage 1921. Ich glaube, dort gezeigt zuhaben, daß die Annahme objektiv gültiger oder "transzendenter" Werte aus rein logischen Gründen unvermeidlich ist. Vgl. auch mein Buch "Allgemeine Grundlegung der Philosophie, welches als erster Teil eines "Systems der Philosophie" 1921 erschienen ist.
4) Vom Begriff und der Methode einer solchen philosophischen Disziplin kann hier nicht weiter die Rede sein. Diese Schrift beschränkt sich auf die Gliederung der  empirischen  Wissenschaften. Für eine  philosophische  Behandlung der Geschichte muß ich auf meine Probleme der Geschichtsphilosophie, 3. Auflage 1924 und meinen geschichtsphilosophischen Versuch "Kant als Philosophi der modernen Kultur", 1924 verweisen. Bemerken möchte ich mit Rücksicht auf kritische Einwände an dieser Stelle nur, daß ich die Aufgaben der Geschichtsphilosophie nicht allein in einer Geschichts logik  sehe und daher nicht zu den Vertretern einer bloß "formalen" Geschichtsphilosophie gezählt werden sollte. ERNST TROELTSCH hat sich mehrfach in dankenswerter Weise mit meinen geschichtsphilosophischen Ansichten auseinandergesetzt (Moderne Geschichtsphilosophie, Theologische Rundschau VI, 1904, und Gesammelte Schriften II, 1913. Ferner "Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge", 1916 und "Über den Begriff einer historischen Dialektik, Windelband, Rickert und Hegel", 1919, Historische Zeitschrift, 3. Folge, 23. Bd.) Soweit diese Darlegungen meine Geschichts philosophie  betreffen, scheinen sie mir einseitig. Gewiß stelle ich in der Geschichtslogik die formalen Gesichtspunkte voran, aber auch ich zweifle nicht an der "gegenständlichen Besonderheit des historischen Lebens" und lehne eine materiale Geschichtsphilosophie nicht ab. Vielmehr habe ich (Grenzen, 3. und 4. Auflage, Seite 362 - 465) ausführlich zu zeigen versucht, wie die formale Struktur der historischen Methode mit den materialen Besonderheiten des geschichtlichen Kulturlebens notwendig zusammenhängt. An den dabei entwickelten Begriff des  historischen Zentrums  müßte eine Kritik meiner Geschichtsphilosophie vor allem anknüpfen. Geschichts metaphysik  im  alten  Sinne scheint mir freilich als Wissenschaft nicht möglich, aber ich halte trotzdem die Annahe eines  dritten Reiches  (außer der empirischen Realität der Sinnenwelt und den irrealen, geltenden Werten) für unentbehrlich und auf dem Grund meines Begriffs vom Weltall dürften alle die Forderungen zu erfüllen sein, die TROELTSCH mit Recht an eine materiale Philosophie der Geschichte stellt. Mit der heute beliebten Versicherung, es  gäbe  eine übersinnliche Welt und wir  brauchten  Metaphysik, ist es, wie TROELTSCH selber weiß, nicht getan. Wissenschaftlich gefördert werden wir nur, wenn es gelingt, das Gebiet des Metaphysischen auch streng begrifflich zu  bestimmen.  Geschichts metaphysik  braucht  zeitliches  reales Sein. Läßt sich eine übersinnliche Welt zeitlich fassen? Gibt es einen anderen Weg, um über die Sinnenwelt hinauszukommen, als den, der über die zeitlose Geltung von Werten und die von ihnen konstituierten Sinngebilde führt? Sind die Ziele der Metaphysik ohne eine Philosophie der Werte erreichbar? Bleiben wir nicht gerade ohne Reflexion auf die  Werte  des Kulturlebens und seinen inhaltlich erfüllten, individuellen Sinn, den wir verstehen, im "Formalen" stecken?
5) Näheres darüber in meinem Buch "Die Philosophie des Lebens", Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit", 1920, zweite Auflage 1922 und in dem schon erwähnten ersten Teil meines "Systems der Philosophie", 1921.
6) ALOIS RIEHL, Friedrich Nietzsche, Frommans Klassiker der Philosophie, Bd. 6, 1897, dritte Auflage 1901, Seite 170


   
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