p-4William SternMax WalleserRudolf WillyC. M. GießlerErnst Laas    
 
LUDWIG PONGRATZ
Ichtheorien

Persönlichkeitstheorien Das Ich ist weiter als das Bewußtsein.

Das Ich ist in der Psychologie der Gegenwart kein bevorzugtes Forschungsobjekt. Vom Standpunkt einer objektiven und dynamischen Psychologie aus plädieren heute Forscher von Rang dafür, den Ichbegriff aus den Wörter- und Lehrbüchern der Psychologie ganz zu streichen. Sie sehen im Ich ein überflüssiges substantielles Formprinzip und ein zu einfaches Erklärungsprinzip des psychischen Lebens. Der vieldeutige Ichbegriff verstelle die Phänomene mehr, als daß er sie erhelle.

Man wird unwillkürlich an den Seelenbegriff erinnert und fragt sich, ob nun der Psychologie ohne Seele eine "Psychologie ohne Ich" folgen soll. Oder ist der Ichbegriff zwar ein äußerst klärungsbedürftiger, jedoch ein unentbehrlicher Grundbegriff der Psychologie?

Um solche und ähnliche Fragen kreist das Thema dieses Abschnittes. Dabei kann es sich nicht darum handeln, auf diese Fragen verbindliche Antworten zu geben. Lediglich ein erster Einblick in die Problemlage einer Psychologie des Ich soll vermittelt werden. Das Verhältnis von Ich und Bewußtsein ist in unserem Fragezusammenhang besonders zu beachten. Wir werden im folgenden zuerst eine begriffliche Vorklärung versuchen, sodann eine geordnete Übersicht über die mehrfache Bedeutung des Ichbegriffes geben, schließlich einige moderne Ansätze zu einer Theorie des Ich diskutieren.

(1) Das Bewußtsein hat eine polare Struktur. Wir können einen Ich- oder Subjektpol und einen Welt- oder Objektpol unterscheiden. Ichbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein sind zwei Ausformungen des einen Bewußtseins. Das allmähliche Auseinandertreten der beiden Pole ist zugleich der Prozeß der Bewußtwerdung.

a) Die Formel für das Gegenstandsbewußtsein lautet: Ich habe bewußt ein Nicht-Ich; oder allgemeiner: ein Subjekt ist auf ein Objekt, das es nicht selbst ist, bezogen: auf dieses Haus, auf diesen Menschen, auf dieses Phantasiebild, auf diesen Gedankengang usw. Gegenstandsbewußtsein treffen wir auch ohne bewußten Ichbezug an. Kleinkinder und Tiere bewegen und verhalten sich in ihrer Welt "wissend", "aufmerkend", "unterscheidend", "intentional". Ihre aktuelle Subjekt-Objekt-Beziehung wäre als präreflexiv oder "perceptiv" zu beschreiben. Auch der zum reflexiven Bewußtsein gereifte Erwachsene verhält sich und erlebt die längste Zeit auf dieser Primärstufe des Bewußtseins.

Das Kennmal der Reifestufe des Bewußtseins ist die Reflexivität. Auf ihr vermag sich das Ich, wie der Wortursprung besagt, auf sich selbst "zurückzubeugen"; es ist in ein Subjekt- und ein Objekt-Ich verdoppelt. Die Formel für das reflexive Bewußtsein lautet demnach: Ich habe bewußt mich. Dieses zweifache Ich sei im folgenden noch näher beleuchtet.

b) Im Prinzip ist die eben genannte Unterscheidung schon bei LEIBNIZ zu finden. ERNST CASSIRER, dem hervorragenden LEIBNIZkenner zufolge, differenziert LEIBNIZ zwischen einem empirischen Ich, das uns in der inneren Erfahrung der seelischen Tatsachen und Abläufe gegeben ist, und einem rationalen Ich, das als Grund für die empirische Identität des Ich vorausgesetzt ist. LEIBNIZ hat damit im wesentlichen die Ichlehre KANTs vorausgenommen, der unter dem empirischen Ich die in der inneren Wahrnehmung gegebene Einheit der Bewußtseinserscheinungen versteht, während das transzendentale (reine) Ich als notwendige Voraussetzung, als apriorischer Grund solcher Einheit zu postulieren ist.

KANTs Unterscheidung kehrt in der nachfolgenden Philosophie und Psychologie des Bewußtseins in verschiedenen Variationen wieder: So spricht zum Beispiel WILLIAM JAMES von einem Ich-selbst als reinem Ich, um das der Empiriker zwar weiß, das er aber nicht fassen kann, und einem Ich-selbst als empirischem Ich, das den Index des "mein" trägt, das heißt alles umfaßt, was ein Mensch als das Seine aufzählen kann.

Bei THEODOR LIPPS heißt das empirische Ich sekundäres Ich; es manifestiert sich in allem, was zu unserer Machtsphäre gehörig erlebt wird. Den realen Grund alles Erlebens nennt er primäres Bewußtseins-Ich, das man als "absolut Erstes und Letztes" zu verstehen hat. Es kann sich selbst in den Blick nehmen; dann ist es uns wie ein Gegenstand gegeben und macht eine Seite des empirischen Ich aus. Dem primären Ich bei LIPPS entspricht bei EDMUND HUSSERL das phänomenologische Ich, dem gegenständlichen das intentionale, empirische Ich. Schließlich sei noch STEPHAN STRASSER erwähnt, der den Subjektpol unseres Bewußtseins, das eine geistige Ich, vom Objektpol, dem vieleinheitlichen, objektivierbaren Ich, streng gesondert wissen will.

Man könnte die Differenzierung des Ich in ein empirisches Ich oder "me" und ein "rationales" oder "transzendentales" Ich auch durch andere Bezeichnungen verdeutlichen; könnte von einem Ich als Possessivpronomen und einem Ich als Positionsnomen sprechen. Das possessive Ich wäre dann all das, was ich als das "Meine", zu mir Gehörige bezeichne: meine Anlagen, meine Eigenschaften, meine Erlebnisse, meine Tätigkeiten, meine Besitztümer usw. Beim Ich als Positionsnomen hingegen handelt es sich um das Ich, auf das all diese Possessiva bezogen, von dem sie ausgesagt werden.

Neuerdings hat GORDON W. ALLPORT die Doppelseitigkeit des Ich in seiner Propriumstheorie behandelt. Proprium, ein von EMANUEL SWEDENBORG zuerst gebrauchter Ausdruck, bedeutet sowohl Eigentum wie Eigentümlichkeit, persönliche Eigenart. Von den acht Funktionen des Propriums gehören sieben auf die Seite des Ich als Possessivpronomen, des Objekt-Ich oder des "me" im Sinne von JAMES. Es sind die Aspekte des Körper-Ich, der Ich-Identität, der Ich-Erhöhung, der Ich-Ausdehnung, des Selbst-Bildes, des rationalen Ich, des Eigenstrebens. All diese Funktionen aber sind geeint in der achten, von ALLPORT als "Wissender" (knower) bezeichnet. Dieses Ich entspricht dem Subjekt-Ich, dem primären, dem reinen Ich, dem Ich als Positionsnomen.

c) Vom Subjekt-Ich, dem "Wissenden", wird im allgemeinen gesagt, es sei eine verborgene Größe, darum kein Gegenstand der empirischen Psychologie, sondern der Philosophie. Dies ist näher zu prüfen: Wir wissen nichts über die Existenzform dieses Ich aus der Erfahrung zu sagen, zum Beispiel ob es substantiell, immateriell, geistig usw. sei. Diese Fragen gehören in die Kompetenz der Metaphysik. Will man das Subjekt-Ich empirisch angehen, es beschreiben oder definieren, dann verbirgt es sich hinter dem Objekt-Ich, das heißt hinter seinen Besitztümern, seinen Operationen, seinen Vorgängen und Zuständen. Es selbst als reines Ich bekommen wir nicht zu Gesicht. Dieses unsichtbare Ich geht, so scheint es, die Psychologie nichts an.

An dieses Ich denken jene Psychologen auch in erster Linie, von denen wir eingangs feststellten, sie wollten den Ichbegriff ganz aufgeben. Nur darf man bei dieser schwerwiegenden Exstirpation eines nicht vergessen: Vermögen wir auch über die Existenzform des Ich, des "knowers" oder "doers" erfahrungspsychologisch nichts auszusagen, über seine Existenz schlechtweg gibt es keine Debatte. Sie ist eine ursprüngliche und sichere Erfahrung. Insofern ist das Subjekt-Ich die wirklichste Wirklichkeit. ALLPORT hat darauf mit Nachdruck den Finger gelegt. Er empfindet es als eine der Perversitäten der Natur, daß eine so zentrale Funktion so wenig der Wissenschaft zugänglich sein und einen ständigen Zankapfel der Philosophen bilden soll.

Das Subjekt-Ich, dessen Existenz wir gewiß sind, und das Objekt-Ich, über das wir empirische Aussagen machen, stehen miteinander in Personalunion. Sie bilden zusammen das eine unteilbare Ich, auf das sich die Erkenntnisse des Philosophen und des Psychologen beziehen.

d) Mit dem Ich eng verwandt ist der Begriff des Selbst. Ichbewußtsein und Selbstbewußtsein werden meist gleichsinnig gebraucht. In der deutschen Sprache tritt das Selbst in Wortzusammensetzungen viel häufiger auf als das Ich. Wir sprechen von Selbstbeobachtung, Selbstbeherrschung, Selbstbesinnung, Selbsterhaltung, Selbstgefühl, Selbsterkenntnis, Selbstsucht, Selbstmord usw. In den meisten dieser Wortbildungen ist das Selbst im Sinne von individueller Persönlichkeit gemeint; in anderen bedeutet es so viel wie Ich. NIETZSCHE hat dem Selbst den Sinn von "wahrer", "eigentlicher" Persönlichkeit gegeben, im Unterschied zum Ich, das der "Selbsttäuschung" unterliegt. Bei JUNG ist das Selbst eine normative Größe, die ideale Mitte der Psyche, die Einheit von Bewußtsein und Unbewußtem, der Werde- und Zielgrund der Persönlichkeitsentwicklung. Ähnlich wird das Selbst von LERSCH bestimmt: das Selbst realisiert sich, wo der endothyme Grund und der personelle Oberbau "gegeneinander offen sind und integrativ zusammenwirken".

Mannigfaltig und uneinheitlich ist die Bedeutung von  self  in der angelsächsischen Literatur. Das Selbst fungiert bald als Oberbegriff für Ichbegriffe bald ist es die Voraussetzung für die Angleichung des Ich an die anderen, bald ist es eine relativ konstante Struktur von Icherfahrungen, bald wird es mehr passiv (self as object), bald mehr aktiv (self as doer) interpretiert usw. GUILFORD resümiert: "Einige Autoren führen ihn (den Begriff des Selbst, Verf.) auf das Ich zurück, andere dagegen benutzen beide Termini in unterschiedlicher Bedeutung. Nicht einmal zwei Autoren stimmen darin völlig überein, was jeder der Begriffe eigentlich bedeutet und wo er anzuwenden ist." GUILFORD glaubt, die Schwierigkeit komme daher, "daß es für diese Begriffe offenbar keine allgemein akzeptierbare Entsprechung in der Erfahrung gebe". Eine Unterscheidung zwischen Selbst und Ich ist bei dieser Sachlage nur innerhalb der einzelnen Bezugssysteme möglich.

(2) Nach dieser begrifflichen Vorklärung soll die Problematik des Ichbegriffes an seiner Vieldeutigkeit aufgezeigt werden. Wir wählen ein quantitatives Ordnungsprinzip und fragen nach dem Größenverhältnis von Ich und Bewußtsein. Auf diese Frage gibt es drei Antworten:
  • Ich ist gleich Bewußtsein (Ich = Bewußtsein),
  • Ich ist kleiner als Bewußtsein (Ich < Bewußtsein)
  • Ich ist größer als Bewußtsein (Ich > Bewußtsein)
Aus diesem Ansatz wird sich ein Beitrag zur Theorie des Ich ergeben.

a) Ich = Bewußtsein: Diese Gleichung ist in der kartesianischen Formel cogito ergo sum schon impliziert. Die cogitatio, das Bewußtsein, ist Garantin der Selbstgewißheit. Mens, die denkende Seele, ist gleichbedeutend mit Ich. "Nichts ist so leicht und evident gegeben wie mein denkendes Ich" (Nihil facilius et evidentius mea mente posse a me percipi). Bewußte Seele und Ich werden näher bestimmt als res cogitans: "Ich bin aber ein wahres und wahrhaft existierendes Ding, aber was für ein Ding? Nun, ich sagte es schon - ein denkendes".

Rund hundertfünfzigjahre später vertrat KANT ebenfalls die Gleichung Ich = Bewußtsein. Das logische Ich ist das Subjekt der transzendentalen Apperzeption, das psychologische Ich ist Subjekt der empirischen Perzeption oder Apprehension. Jede Vorstellung, so belehrt er uns, ist von einem "ich denke" begleitet. Im Unterschied zu DESCARTES aber knüpft er das "ich denke" enger an die Sinnlichkeit, damit an den Leib, er übernimmt auch die Verdinglichung des Ich nicht.

Einen anderen Sinn gaben einige Assoziationspsychologen der Gleichung Ich = Bewußtsein. Sie verstanden nicht wie DESCARTES und KANT alle Bewußtseinsvorgänge als Akte des denkenden Ich, sondern definierten das Ich als die Gesamtheit aller einem Individuum präsenten Inhalte; das Ich ist in ihrer Sicht der Inbegriff aller Gegebenheiten des Bewußtseins. Hauptvertreter sind: JOHN STUART MILL (1806-1873), HIPPOLYTE TAINE (1828-1893), THEODOR ZIEHEN (1862-1950).

Im Unterschied zu ihnen identifiziert FRANZ BRENTAN0 (1838-1917) das Ich gerade nicht mit den Inhalten, sondern mit den Akten des Bewußtseins: Mit ihnen habe es die empirische Psychologie zu tun: mit dem Vorstellen, Urteilen, Lieben, Hassen, nicht mit dem Vorgestellten, Beurteilten, Geliebten, Gehaßten. Akte aber seien bewußt und ichhaft. Somit lasse sich alles Bewußtsein beschreiben als ein "ich sehe, ich höre, ich urteile, ich liebe, ich hasse".

Von BRENTANO war THEODOR LIPPS (1851-1914) beeinflußt. ihm zufolge ist der eigentliche Sinn von Bewußtsein das Ich. Da Bewußtsein so viel wie Erleben bedeutet, kann LIPPS sagen: In jedem Erleben erlebe ich mich als den Erlebenden.

An LIPPS schloß sich MARIA KRUDEWIG (1897-1963) in ihrer Syneidesiologie an. Sie sieht in LIPPS Kernbestimmung des Ich als dem Mittel- und Einheitspunkt der Erlebnisse den Ausgang für eine "Elementarstrukturlehre der Conscientia humana". Das Bewußtsein wird mit dem Erlebnis-Ich identifiziert. Es fällt "in seiner Ganzheit, in seinem querschnittlichen und längsschnittlichen Aufbau und in seiner Komplexität, mit dem Erlebnis-Ich zusammen". Empfinden und Vorstellungen, Denken und Willensäußerungen, Gefühle und Strebungen sind Modifikationen des Ich. Eine terminologische Abgrenzung wird insofern eingeräumt, als das Bewußtsein die Mehrheitlichkeit, das Ich die Einheitlichkeit des Erlebens akzentuiert. Beide Begriffe werden in einem sehr weiten Sinne gefaßt.

Bisher war von weiten Bewußtseins- und Ichbegriffen die Rede. Demgegenüber setzen LUDWIG KLAGES (1872-1956) und PHILIPP LERSCH (geboren 1898) in die Gleichung Ich = Bewußtsein enggefaßte Begriffe ein. KLAGES, von NIETZSCHE inspiriert, nimmt "das Wort Bewußtsein in seiner engsten und eigentlichen Bedeutung als Daseinsbewußtsein und damit unentrinnbar als Zeitbewußtsein". Zeitbewußtsein setzt aber ein Ich von Dauer voraus, so daß für KLAGES eben nur das Ich-Bewußtsein haben kann. Das Ich gilt ihm als der wollende Geist, der hemmend, fixierend, zerstörend in das fließende, eshafte Erleben der Seele eingreift.

LERSCH zufolge soll der Terminus "Bewußtsein" auf ichbezogene Erlebnisse angewendet werden. Bewußte Erlebnisse sind im Ich zentriert und geeint. Voraussetzung des Bewußtseins ist "die Abgehobenheit eines Subjektes von einem Objekt, eines Ich von einem Nicht-Ich". Das Ich aber wird ganz im KLAGESschen Sinne als aktives Vollzugszentrum des personellen Oberbaues bestimmt; seine Hauptfunktionen sind das Wollen und das (aktive) Denken. Das Reich des Ich ist auf diese "oberen" Regionen begrenzt.

Setzt man in die Gleichung Ich = Bewußtsein enggefaßte Begriffe ein, dann wird der Reichtum des psychischen Lebens zum größten Teil in den eshaft-unbewußten Grund verlagert. Ich und Bewußtsein aber verarmen und werden auf hauptsächlich formale Funktionen beschränkt.

b) Ich < Bewußtsein: Diese Verhältnisform hat ihren Ursprung bei LEIBNIZ und seiner Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption. Sie bestimmt durchaus die Bewußtseinslehre und Schichtentheorie von ERICH ROTHACKER (1888-1964), die uns in den Grundzügen schon begegnet sind: Das perzeptive Gegenstandsbewußtsein und das emotionale Innesein sind "ichlos". Das Ich ist in diesem phylogenetischen Schichtenmodell die oberste "Schicht", sie wird als "Punkt" oder als "Instanz" beschrieben und tritt nur in kritischen Lagen, die ein waches Auge erfordern, in Aktion.

JUNG gelangt von einer anderen theoretischen Position zur Annahme eines "kleinen" Ich. In dem schematischen Aufriß der Psyche, den seine Schülerin JOLANDE JACOBI gibt, nimmt das Bewußtsein nur einen bescheidenen Teil der oberen Hälfte des Seelenkegels ein, dessen Spitze der Ichpunkt bildet. Bezeichnet wird das Ich als das Subjekt oder das Zentrum des Bewußtseins. Das Bewußtsein unterhält die Beziehungen der psychischen Inhalte zum Ich. Unter diesen Beziehungen und Inhalten sind aber auch solche, die zwar zum Bewußtsein gehören, jedoch nicht an das Ich geknüpft sind. Daher ist das Ich kleiner als das Bewußtsein.

JUNG kennt noch einen "Ichkomplex"; er gewährleistet die Kontinuität und Identität des ich und ist zugleich selbst Inhalt des Bewußtseins, was doch wohl nicht anders zu verstehen ist, als daß das Bewußtsein auch die Beziehung zwischen Ichkomplex (als Inhalt) und Ichpunkt (als Subjekt) unterhält.

JUNGs Auffassung ist mit der von JOHANNES LINDWORSKY (1875-1939) vertretenen insofern eng verwandt, als bei beiden das Ich als ein Bewußtseinsvorgang neben anderen beschrieben wird. LINDWORSKY zufolge ist das Ich oder, wie er sich ausdrückt, der "Ichzug" eine eigene Erlebnisklasse neben den kognitiven, volitiven und emotionalen Grundvorgängen des Bewußtseins.

Unter die Verhältnisformel Ich < Bewußtsein dürften auch alle Beschreibungen des Ich fallen, die in ihm bald eine nur kognitive, bald eine nur willentliche Organisation erblicken. Eine vornehmlich vom Wollen ausgehende Auffassung des Ich findet man zum Beispiel bei ALEXANDER PFÄNDER (1870-1941). Er bindet das Ich allzusehr an den "Kampf der Motive", in dem es die Rolle eines neutralen Schiedsrichters einnimmt. THOMAE verweist demgegenüber auf die konfliktfreien Motivationsvorgänge, die dann nach Pfänder vom Ich rächt beeinflußt wären. Auch ROTHACKER ist zu nennen, dessen Kontroll-Ich manche Ähnlichkeit mit dem KLAGESschen Wollens-Ich hat.

Eine vornehmlich kognitive Auslegung erfuhr das Ich schon bei PLATO, PLOTIN, THOMAS. In der Gegenwartspsychologie tritt sie in der Bestimmung des bei G. H. MEAD, E. R. HILGARD, H. B. GERARD und andern auf, ihnen zufolge ist das ich oder Selbst ein Orientierungsgefüge beziehungsweise dessen kognitive Gliedstruktur.

Eine Formalisierung und Verarmung des Ich ist auch in dieser zweiten Verhältnisform Ich < Bewußtsein gegeben. Das Ich schwebt über dem Auf und Ab des seelischen Geschehens, ist der hervorgehobene Bereich des Gesamtbewußtseins, vertritt nur eine bestimmte Funktion im Ablauf der Bewußtseins-Prozesse, ist die Endgestalt der Bewußtseinsentwicklung - all diese Anblicke bietet das Ich von diesem zweiten Standort aus.

c) Ich > Bewußtsein: Diese dritte Verhältnisbestimmung zwischen dem Bewußtsein und dem Ich ist - sosehr sie zunächst ungewohnt erscheint - in der Alltagssprache gang und gäbe. "Ich" - das meint im allgemeinen die Gesamt-Persönlichkeit; wenn jemand sagt: "Ich gehe spazieren", will er gewiß nicht sagen: "Mein bewußtes Ich tut das, sondern eben ich, dieser ganze Mensch." Das Ich hat in solcher Rede die grammatikalische Funktion des Personalpronomens, steht als  pars pro toto,  als Teil für die Gesamtperson. Dies ist die Erfahrungsgrundlage, auf die sich alle Psychologen berufen können, die das Ich mit Person oder Persönlichkeit oder Individuum gleichsetzen. Die Psychophysis ist gewiß umfassender als das Bewußtsein, und so dehnt sich das Reich des Ich über die Bewußtseinsgrenzen hinweg aus.

Auch SIGMUND FREUD (1856-1939) kommt in der Spätphase seiner Theorienbildung zu der Erkenntnis, das Ich lasse sich nicht auf das Bewußtsein beschränken. Sowie er von den drei "Systemen" Bewußtes, Vorbewußtes, Unbewußtes zu den drei "Instanzen" Ich, Über-Ich und Es weiterschreitet, entdeckt er, daß Ich und Über-Ich sich nicht schlechtweg mit "bewußt" kennzeichnen lassen. Zu dieser Auffassung bestimmen ihn Tatsachen wie diese: "Feine und schwierige intellektuelle Arbeit, die sonst angestrengtes Nachdenken erfordert, wird auch vorbewußt geleistet, ohne zum Bewußtsein zu kommen", Selbstkritik, Gewissensimpulse, Schuldgefühle können "unbewußt die wichtigsten Wirkungen äußern". Eigentlich - so unterstellt FREUD - gehören die genannten seelischgeistigen Vollzüge dem Bewußtsein und dem Ich zu, aber die Erfahrung zeigt, daß sie sich auch unbemerkt und ungewollt ereignen. So muß er zu seiner eigenen Verwunderung feststellen: "Nicht nur das Tiefste, auch das Höchste am Ich kann unbewußt sein." Was meint er mit dem "Tiefsten" am Ich? In seiner Antwort überrascht uns der große Erforscher des Unbewußten mit einer Erkenntnis, die der Bewußtseinspsychologie erst viel später aufgegangen ist: Das Ich ist ganz wesentlich ein "Körperich" und als solches auch nicht bewußt.

Andere Überlegungen führen HUBERT ROHRACHER (geboren 1903) zu dem Resultat: Das Ich ist weiter als das Bewußtsein. Das ergibt sich notwendig aus seiner Gleichsetzung von Ich und Persönlichkeit: Persönlichkeit ist "die individuelle Eigenart des einzelnen Menschen", und diese ist "das Ergebnis einer Entwicklung aus Anlage und Umwelt, wobei als Faktor der Anlage die gesamte körperliche Konstitution bis zum Feinaufbau der Ganglienzellen betrachtet werden muß". Demnach hat das Ich auch an der physischen Organisation der Persönlichkeit teil.

Unsere dritte Verhältnisformel in der Auslegung ROHRACHERs kennzeichnet zugleich den modernen Trend in der Ichpsychologie. Was gemeint ist, hat GUILFORD ausgesprochen: "An Stelle des Wortes  Selbst  könnten wir ebensogut Person oder Individuum sagen". Der Unterschied zu ROHRACHER ist lediglich der, daß man keine nähere Bestimmung des Ichbegriffes geben, sondern diesen Begriff überhaupt aufgeben will.

d) Nach dem Prinzip der Aspektivität lassen sich die drei Verhältnisformeln zu einer Synthese einen. Dies ist mit Hilfe der Feldtheorie des Bewußtseins möglich. Danach läßt sich auch das Ich als ein Klarheits- und Aktivitätskontinuum betrachten, kann man einen Ichgradienten annehmen, könnte man um andere Metaphern anzuführen von einem verschieden hohen Ichspiegel oder unterschiedlichen Pegelstand der Ichhaftigkeit sprechen. Die drei genannten Verhältnisse des Ich zum Bewußtsein kennzeichnen danach lediglich ausgezeichnete "Feldbereiche" im Gesamtkontinuum:
Formel (1): Ich = Bewußtsein charakterisiert dann eine Art mittlerer Ichklarheit und aktivität, meint in etwa das, was FREUD die "schwebende Aufmerksamkeit" genannt hat. In diesem "Zustand" reicht der Kognitions- und Aktionsradius des Ich bis an die Randzonen des Bewußtseinsfeldes.

Formel (2): Ich < Bewußtsein hebt auf jene Situationen der schmalen Ichkonzentration ab, in denen der Mensch hellwach auf sich und alles, was zu ihm und seiner Blickrichtung unmittelbaren Bezug hat, zurückgebeugt ist, eine Situation, die in der zwangsneurotischen Selbstbeobachtung pathologisch übersteigert wird.

Formel (3) schließlich: Ich > Bewußtsein betont über die beiden ersten Formeln hinaus jene Zustände, in denen das Ich sich selbst nur diffus gegenwärtig ist. Es agiert, handelt, verhält sich, aber es reflektiert diese Aktivitäten nicht. Auf kindlicher Stufe, im Dämmerzustand, in Zuständen der "Selbstverlorenheit", der Verträumtheit, Verschlafenheit usw. ist dies zu erfahren. Daß es sich bei diesem Ansatz nur um eine Modellvorstellung und nur um einen hypothetischen Versuch handelt, ist uns klar. Das Ich wird dabei vornehmlich als eine veränderliche, dynamische Größe aufgefaßt, als eine zentrale Funktion im System der Persönlichkeit. Die Identitätsbestimmung des Ich, das Ich als konstante Größe, wird durch diese felddynamische Konzeption nicht ausgeschlossen, sondern ergänzt.

LITERATUR - Ludwig Pongratz, Problemgeschichte der Psychologie, München 1984