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OLIVER SACKS
Der Aufstand der Gehörlosen

Ich komme aus einer hörenden Familie ... mein Leben lang habe ich Druck gekriegt, Druck von den Hörenden:  Du schaffst es nicht in der Welt der Hörenden, du bringst es einfach nicht,  und jetzt ist der ganze Druck weg. Plötzlich fühle ich mich frei, voller Energie.

Mittwoch, 9.März, morgens:
"Streik in Gallaudet", "Gehörlose streiken für Gehörlose", "Studenten fordern gehörlosen Präsidenten" - die Zeitungen sind heute voll davon; vor drei Tagen fingen die Proteste an un nahmen dann immer mehr zu, und jetzt berichtet die  New York Times  schon auf der Titelseite darüber.

Es scheint eine tolle Geschichte zu sein. Im vergangenen Jahr habe ich die  Gallaudet University  ein paarmal besucht und bin mit dem Ort ein bißchen vertraut geworden. Gallaudet ist weltweit die einzige geisteswissenschaftlich ausgerichtete Universität für Gehörlose und außerdem das Zentrum der internationalen Gemeinschaft der Gehörlosen - aber in den 124 Jahren ihrer Geschichte hat sie noch nie einen gehörlosen Präsidenten gehabt.

Ich streiche die Zeitung glatt und lese den ganzen Artikel: Seit JERRY LEE, ein Hörender, der seit 1984 Präsident war, im letzten Jahr zurückgetreten ist, haben sich die Studenten für einen gehörlosen Nachfolger eingesetzt. Unruhe, Unsicherheit und Hoffnung beherrschten das Klima. Mitte Februar hatte die Berufungskommission das Feld der Kandidaten auf sechs eingegrenzt - drei Hörende und drei Gehörlose.

Am 1. März fand in Gallaudet eine Demonstration mit dreitausend Teilnehmern statt, um dem Kuratorium klarzumachen, daß die Studenten mit allem Nachdruck auf der Wahl eines gehörlosen Präsidenten bestünden. Am 5. März, dem Vorabend der Wahl, wurde vor den Räumen der Kuratoriumsmitglieder eine Mahnwache bei Kerzenlicht abgehalten. Am Sonntag, dem 6. März, wählte das Kuratorium aus den letzten drei Kandidaten - einer Hörenden, zwei Gehörlosen - ELISABETH ANN ZINSER, die an der  University of South Carolina  in Greensboro als stellvertretende Rektorin für allgemeine Belange der Universität zuständig gewesen war. Sie war die hörende Kandidatin.

Inhalt und Ton der Ankündigung lösten Empörung aus; JANE BASSETT SPILMAN, die Vorsitzende des Kuratoriums, machte in diesem Zusammenhang die Bemerkung: "Die Gehörlosen sind noch nicht so weit, mit der Welt der Hörenden zurechtzukommen." Am nächsten Tag marschierten tausend Studenten zu dem Hotel, in dem das Kuratorium tagte, dann sechs Straßen weiter zum Weißen Haus und schließlich zum Kapitol. Am Tag darauf, dem 8. März, schlossen die Studenten die Universität und verbarrikadierten den Campus.

Mittwochnachmittag:
Fakultät und Personal unterstützen die Studenten und ihre vier Forderungen:
  1. Sofortige Ernennung eines neuen,  gehörlosen  Präsidenten
  2. Sofortiger Rücktritt der Kuratoriumsvorsitzenden JANE BASSET SPILMAN
  3. Ein Kuratorium, in dem die Gehörlosen die Mehrheit haben (im Augenblick besteht es aus siebzehn hörenden und nur vier gehörlosen Mitgliedern).
  4. Keinerlei Repressalien
Ich rufe meinen Freun BOB JOHNSON an, der den Fachbereich Linguistik an der Gallaudet University leitet, wo er seit sieben Jahren lehrt und forscht. Er ist mit den Gehörlosen und ihrer Kultur sehr vertraut, beherrscht die Gebärdensprache ausgezeichnet und ist mit einer Gehörlosen verheiratet. Er steht den Gehörlosen so nahe, wie es einem Hörenden nur möglich ist. (1)

Ich frage ihn, was er von den Ereignissen in Gallaudet hält. "Es ist kaum zu fassen", sagt er. "Noch vor einem Monat hätte ich eine Million Dollar gewettet, daß ich so was nie erleben würde. Du mußt unbedingt kommen und es dir selbst ansehen."

Meine Besuch in Gallaudet 1986 und 1987 waren verblüffende und bewegende Erfahrungen gewesen. Noch nie zuvor hatte ich mich in einer ganzen Gemeinschaft von Gehörlosen befunden, und mir war auch nicht bewußt gewesen (obwohl ich es theoretisch gewußt hatte), daß die Gebärdensprache tatsächlich eine vollwertige Sprache ist - eine Sprache, die sich gleichermaßen für Zärtlichkeiten und öffentliche Reden, für Flirts und mathematische Formeln eignet.

Ich sah Philosophie- und Chemieseminare, die in Gebärdensprache abgehalten wurden; ich sah Mathematikern zu, die in völliger Stille arbeiteten; ich sah gehörlose Dichter, die ihre Lyrik auf dem Campus vortrugen, die gefühlvollen, variationsreichen Aufführungen des Gallaudet-Theaters, die lebhafte Geselligkeit in der Studentenkneipe, wo in hundert Gesprächen die Hände in alle Richtungen flogen. (2)

All dies mußte ich erst mit eigenen Augen gesehen haben, bevor ich meine "medizinische" Vorstellung von Gehörlosigkeit (als eines "Leidens", eines behandlungsbedürftigen Defizits) über Bord werfen und ein "kulturelles" Verständnis der Gehörlosen als einer Gemeinschaft mit einer eigenen vollwertigen Sprache und Kultur entwickeln konnte. Eine fröhliche, ja arkadische Atmosphäre schlug mir in Gallaudet entgegen, und es überraschte mich nicht zu hören, daß manche Studenten die Wärme, die Abgeschiedenheit und den Schutz, mit einem Wort: die Geborgenheit dieser kleinen, aber vollständigen und selbstgenügsamen Welt nur widerstrebend gegen die unfreundliche und verständnislose große Welt eintauschen. (3)

Aber unter der Oberfläche g.ärten Konflikte und Ressentiments, die sich anscheinend nicht abbauen ließen. Zwischen Verwaltung und Fakultät - viele der Fakultätsmitglieder beherrschten die Gebärdensprache, und manche sind selbst gehörlos - herrschte eine unausgesprochene Spannung. Die Dozenten konnten sich recht gut mit den Studenten verständigen und sich in ihre Welt, ihr Denken hineinversetzen.

Die Verwaltung aber (so wurde mir gesagt) bildete einen abgehobenen Machtapparat und führte die Universität wie eine Firma, mit einer gewissen "wohlwollenden" Fürsorge gegenüber den "behinderten" Gehörlosen, aber mit wenig Verständnis für ihre Gemeinschaft und Kultur. Die Studenten und Dozenten, mit denen ich sprach, fürchteten, die Vewaltung werde den Anteil der gehörlosen Lehrkräfte in Gallaudet weiter verringern und den Gebrauch der Gebärdensprache im Unterricht zunehmend einschränken. (4)

Die Studenten, die ich kennenlernte wirkten in der Gruppe lebhaft und fröhlich, der Außenwelt gegenüber aber oft ängstlich und zaghaft. Es kam mir so vor, als sei ihr Selbstbild auf grausame Weise untergraben, und das galt selbst für jene, die vorgaben, stolz auf ihre Andersartigkeit zu sein.

Ich hatte den Eindruck, daß einige von ihnen sich selbst als Kinder betrachteten - eine Reaktion auf die väterlich herablassende Haltung des Kuratoriums (und vielleicht auch einiger Mitglieder der Fakultät). Ich spürte bei ihnen eine gewisse Passivität, ein Gefühl, ihr Leben lasse sich zwar hier und da mit kleinen Schritten verbessern, insgesamt aber sei es ihr Schicksal, unbeachtete Bürger zweiter Klasse zu sein. (5)

Donnerstag, 10. März, morgens:
Der Taxifahrer setzt mich in der Fifth Street gegenüber der Universität ab. Die Tore sind seit 48 Stunden blockiert; das erste, was ich sehe, ist eine riesige, erregte, aber fröhliche und freundliche Menge, Hunderte von Studenten, die den Zugang zum Universitätsgelände versperren, Transparente und Plakate tragen und sich angeregt in der Gebärdensprache unterhalten. Ein oder zwei Polizeiwagen stehen mit laufenden Motoren vor dem Eingang - die Beamten warten ab, machen aber einen gelassenen, friedlichen Eindruck.

Viele der vorbeifahrenden Autos hupen - was ich erst verstehe, als ich ein Schild entdecke, auf dem steht: HUPEN SIE FÜR EINEN GEHÖRLOSEN PRÄSIDENTEN. Die Menge selbst ist eigenartig still und laut zugleich: die Unterhaltungen, die Reden in der Gebärdensprache sind völlig lautlos, werden aber immer wieder von einem seltsamen Applaus unterbrochen, einem erregten Schütteln der Hände über dem Kopf, begleitet von schrillen Ausrufen und Schreien. (6)

Ich sehe einen Studenten auf einen Pfeiler springen und mit ausdrucksvollen, schönen Gebärden eine Rede halten. Ich verstehe zwar nichts von dem, was er sagt, aber ich spüre, daß seine Gebärden rein und leidenschaftlich sind - sein ganzer Körper, all seine Gefühle scheinen in sie einzufließen. Ich höre, wie ein Name gemurmelt wird - TIM RARUS -, und mir wird klar, daß dies einer der vier Studentenführer ist. Seine Zuhörer verfolgen wie gebannt jede seiner Gebärden und brechen immer wieder in wilden Beifall aus.

Während ich RARUS und sein Publikum betrachte und dann meinen Blick über das weite Universitätsgelände jenseits der Barrikaden schweifen lasse, wo überall erregte, lautlose Gespräche in der Gebärdensprache geführt werden, habe ich das überwältigende Gefühl, nicht nur Zeuge einer anderen Kommunikationsform, sondern auch einer anderen Art von Empfindung, einer anderen Daseinsweise zu sein.

Man muß die Studenten nur ansehen - und sei es nur im Vorbeigehen, als Außenseiter (und ich war ebenso Außenseiter wie die Passanten oder die Menschen in ihren Autos) -, um zu spüren, daß sie mit ihrer Sprache und ihrer Lebensweise einen der ihren  verdienen  und daß jemand, der nicht gehörlos ist, der die Gebärdensprache nicht beherrscht, sie unmöglich verstehen kann. Man merkt intuitiv, daß Dolmetschen niemals ausreichen kann - daß zwischen den Studenten und einem Präsidenten, der nicht ebenfalls gehörlos ist, immer eine Kluft bestehen muß.

Zahllose Transparente und Schilder leuchten in der strahlenden Märzsonne; EIN GEHÖRLOSER PRÄSIDENT - UND ZWAR SOFORT gibt deutlich die Grundstimmung wieder. Es zeigt sich ein gewisser Zorn - wie könnte es auch anders sein -, aber der kommt in Witz gekleidet daher. So gibt es viele Schilder mit der Aufschrift DR. ZINSER IST NOCH NICHT SO WEIT, MIT DER WELT DER GEHÖRLOSEN ZURECHTZUKOMMEN - eine Erwiderung auf SPILMANs unpassende Bemerkung über die Gehörlosen. DR. ZINSER selbst hatte am Abend zuvor in einer Fernsehsendung gesagt: "Eines Tages wird ein Gehörloser Präsident von Gallaudet sein", und prompt sieht man etliche Schilder, die fragen: WIE WÄRs MIT DEM 10. MÄRZ 1988, DR. ZINSER?

Die Zeitungen sprechen von "Kampf" und "Konfrontation", was den Eindruck vermittelt, als seien Verhandlungen möglich, als bewegte man sich langsam aufeinander zu. Aber die Studenten sagen: "Verhandlungen? Das Wort haben wir vergessen.  Verhandlung  kommt in unseren Wörterbüchern nicht mehr vor.

DR. ZINSER bittet sie immer wieder darum, sich einem "sinnvollen Dialog" zugänglich zu zeigen, aber schon diese Bitte nimmt sich sinnlos aus, denn zwischen den Fronten gibt es jetzt und gab es auch früher schon keine Grundlage für einen solchen Dialog. Den Studenten geht es um ihre Identität, ihr Überleben - es geht um alles oder nichts: Sie haben vier Forderungen gestellt, und die lassen keinen Raum für "irgendwann" oder "vielleicht".

Einige Schilder verraten die nackte Wut der Studenten. Auf einem steht: ZINSER IST SPILMANs MARIONETTE, auf einem anderen: WIR BRAUCHEN KEIN KINDERMÄDCHEN, MAMA SPILMAN. Langsam begreife ich, daß die Gehörlosen dabei sind, mündig zu werden. Endlich sagen sie sehr vernehmlich: "Wir sind keine Kinder mehr. Wir brauchen eure  Fürsorge  nicht mehr."

Ich schiebe mich an den Barrikaden, Schildnern und Rednern vorbei und spaziere über das weiträumige und herrlich grüne Universitätsgelände, vor dessen imposanten viktorianischen Gebäuden sich höchst unviktorianische Szenen abspielen. Überall sind, das ist deutlich zu sehen, Diskussionen im Gange, zu zweit oder in kleinen Gruppen. Rings um mich her Unterhaltungen, aber ich kann nichts davon verstehen; heute komme  ich  mir wie ein Gehörloser, wie ein Stimmloser vor - in dieser großen Gemeinschaft derer, die die Gebärdensprache beherrschen, bin ich der Behinderte, die Minderheit.

Außer den Studenten sehe ich auch viele Fakultätsmitglieder: Ein Professor verkauft selbstgemachte Ansteckknöpfe (ZINSER GO HOME!), die reißenden Absatz finden. "Ist das nicht großartig?", fragt er, als er mich sieht. "Seit damals in Selma hab ich mich nicht mehr so gut gefühlt. Es erinnert mich ein bißchen an Selma und die sechziger Jahre."

Auf dem Campus stromern viele Hunde umher - fünfzig oder sechzig allein auf der großen Rasenfläche vor dem Eingang. Der Besitz von Hunden ist nicht streng geregelt; manche sind "Gehörlosenhunde", manche einfach nur - Hunde. Ich sehe eine Studentin, die ihrem Hund Befehle in Gebärdensprache gibt. Brav legt er sich auf den Rücken, macht "Bitte" und gibt Pfötchen. Sie hat ihm ein weißes Tuch umgebunden, auf dem steht: ICH VERSTEHE DIE GEBÄRDENSPRACHE BESSER ALS SPILMAN.

Während die Stimmung vorn an den Barrikaden zornig und angespannt war, ist es hier ruhig und friedlich, ja mehr noch: Es herrscht eine fröhliche, eher festliche Atmosphäre. Überall sind Hunde und Babies und Kinder; Freunde und Familien sitzen zusammen und unterhalten sich angeregt in der Gebärdensprache. Kleine, bunte Zelte sind auf dem Rasen aufgeschlagen, und an Imbißständen werden Brühwürstchen und Erfrischungsgetränke verkauft. Hunde und Brühwürstchen - das Ganze sieht mehr nach Woodstock aus, als nach einer grimmigen Revolte.

Anfang der Woche hatte es wütende, unkoordinierte Reaktionen auf ELISABETH ANN ZINSERs Wahl gegeben: Tausend Studenten liefen kreuz und quer über den Campus und zerissen Toilettenpapier - die Stimmung war destruktiv. Aber plötzlich, so BOB JOHNSON, "veränderte sich das ganze Bewußtsein".

Innerhalb weniger Stunden setzte sich ein neues, klares Bewußtsein, eine ruhige Entschlossenheit durch - eine politische Gruppe von zweitausend Menschen bildete sich, mit einem geeinten, zielgerichteten Willen. Was jeden, der es erlebte, erstaunte, war das verblüffende Tempo, mit dem sich diese Organisierung vollzog, das jähe Hervortreten eines einigen, gemeinsamen Geistes aus dem Chaos. Und doch war das natürlich zum Teil eine Illusion, denn es hatte dazu zahlreicher Vorbereitungen - und Menschen - bedurft.

Am Nachmittag suchte ich mir eine Dolmetscherin und befragte mit ihrer Hilfe ein paar gehörlose Studenten. Ein Mädchen erzählt:
    "Ich komme aus einer hörenden Familie ... mein Leben lang habe ich Druck gekriegt, Druck von den Hörenden:  Du schaffst es nicht in der Welt der Hörenden, du bringst es einfach nicht,  und jetzt ist der ganze Druck weg. Plötzlich fühle ich mich frei, voller Energie. Die erzählen einem immer:  Das kannst du nicht, das kannst du nicht,  aber jetzt  kann  ich. Den Ausdruck  taub und tumb  wird es bald nicht mehr geben - statt dessen wird es heißen:  taub und top. 
Das waren genau die Worte gewesen, mit denen BOB JOHNSON bei unserem Gespräch geschildert hatte, wie die Gehörlosen unter der "Illusion der Machtlosigkeit" gelitten hatten und wie diese Illusion plötzlich zerstört worden war.

Die Studenten der  Gallaudet University  waren ganz und gar nicht kindlich oder unfähig, wie sei es angeblich sein "sollten" (und sich auch oft genug selbst gesehen hatten), sondern organisierten die Märzrevolte mit großem Geschick. Besonders beeindruckt war ich, als ich den Kommunikationsraum mit seinen Schreibtelefonen betrat. Er war während des Streiks das Nervenzentrum von Gallaudet. Von hier aus hielten die Studenten den Kontakt mit der Presse und den Fernsehstationen:

Sie luden Journalisten ein, gaben Interviews, werteten die Berichte aus, verschickten Pressemitteilungen - alles wurde rund um die Uhr meisterhaft gehandhabt. Vor hier aus sammelten sie Geld, um die Kampagne für einen gehörlosen Präsidenten weiterführen zu können. Von hier aus bemühten sie sich mit Erfolg um die Unterstützung von Kongreßabgeordneten, Präsidentschaftskandidaten und Gewerkschaftsführern. Angewiesen auf offene Ohren in diesem einzigartigen Moment, brachten sie die Welt zum Zuhören.

Selbst die Verwaltung hörte ihnen zu. Vier Tage lang behandelte man die Studenten wie dumme und aufsässige Kinder, die man zur Räson bringen mußte, aber dann war DR. ZINSER gezwungen, innezuhalten und zuzuhören, ihre alten Grundsätze in Frage zu stellen und die Dinge in einem neuen Licht zu betrachten - und schließlich zurückzutreten.

Als sie ihren Entschluß bekanntgab, klangen ihre Worte ehrlich und bewegend. Sie selbst wie auch das Kuratorium, gestand sie, seien von der Leidenschaft und dem Engagement der Studentenschaft überrascht worden. Man habe nicht erkannt, daß dieser Protest die Vorhut einer landesweiten Bewegung für die Rechte der Gehörlosen sei. "Ich habe aus dieser außergewöhnlichen sozialen Bewegung der Gehörlosen die Konsequenzen gezogen", sagte sie, als sie am Abend des 10. März ihr Rücktrittsgesuch einreichte. Ihr sei klargeworden, daß dies "ein ganz besonderer Augenblick" sei, "etwas Einzigartiges: die Stunde der Bürgerrechte in der Geschichte der Gehörlosen".


Sonntag, 13. März, abends:
Das Kuratorium hat heute neun Stunden getagt. Es waren neun Stunden der Anspannung, des Wartens - niemand wußte, wie die Entscheidung ausfallen würde. Dann ging die Tür auf, und PHILIP BAVIN, eines der vier gehörlosen Mitglieder des Kuratoriums, trat heraus. Jeder Student in Gallaudet kennt ihn, und als nicht SPILMAN, sondern er erschien, wußten alle Bescheid, noch bevor er das Ergebnis verkündete. Er teilte in der Gebärdensprache mit, daß er jetzt als Vorsitzender des Kuratoriums spreche, da SPILMAN zurückgetreten sei. Seine erste - erfreuliche - Amtshandlung sei es nun, bekanntzugeben, daß KING JORDAN von der Mehrheit des Kuratoriums zum neuen Präsidenten gewählt worden sei.

KING JORDAN, der mit einundzwanzig sein Gehör verlor, ist seit fünfzehn Jahren an der  Gallaudet University;  er ist Dekan der Fakultät für Philosophie und Geschichtswissenschaften, ein beliebter, bescheidener und sehr besonnener Mann, der ZINSERs Wahl zunächst unterstützt hatte. (7) Sehr bewegt sagt er, in der Gebärdensprache und in Worten zugleich:
    "Ich folge mit Freuden der Bitte des Kuratoriums, das Amt des Präsidenten der  Gallaudet University  einzunehmen. Dies ist für Gehörlose in aller Welt ein historischer Augenblick. Nach den Ereignissen dieser Woche können wir mit Fug und Recht sagen, daß wir mit vereinten Kräften die Scheu überwunden haben, für unsere Rechte einzutreten. Die Welt war Zeuge, daß die Gehörlosen ihre Unmündigkeit hinter sich gelassen haben. Wir werden nicht mehr hinnehmen, daß man uns vorschreibt, was wir erreichen können und was nicht. Das höchste Lob gebührt den Studenten der  Gallaudet University,  denn sie haben uns gezeigt, wie man eine Idee mit so viel Energie verfolgt, daß sie Wirklichkeit wird."
Überall bricht der Jubel los. Als alle nach Gallaudet zurückkehren, um den Sieg zu feiern, sagt JORDAN: "Sie wissen jetzt, daß die Grenzen dessen, was sie erreichen können, gefallen sind. Und wir wissen jetzt, daß Gehörlose - mit Ausnahme des Hörens - genausoviel können wie Hörende."


Montag, 14. März:
Äußerlich wirkt Gallaudet normal. Die Barrikaden sind verschwunden, das Universitätsgelände ist frei zugänglich. Der "Aufstand" hat genau eine Woche gedauert - vom Sonntagabend letzter Woche, bis zum glücklichen Ende gestern abend, jenem so ganz anderen Sonntagabend, als alles sich änderte.
LITERATUR - Oliver Sacks, Stumme Stimmen, Reinbek 1990
    Anmerkungen
  1. Man kann der Gemeinschaft der Gehörlosen sehr nahestehen, auch wenn man selbst keiner ist. Die wichtigste Voraussetzung - außer Sympathie und Kenntnis - dafür ist, daß man die Gebärdensprache beherrscht. Die einzigen Hörenden, die als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft der Gehörlosen akzeptiert werden, sind wohl die hörenden Kinder gehörloser Eltern, deren Muttersprache die Gebärdensprache ist. Dies trifft beispielsweise auf DR. HENRY KLOPPING zu, den in hohem Ansehen stehenden, beliebten Leiter der  California School for the Deaf  in Fremont. Einer seiner ehemaligen Schüler, mit dem ich in Gallaudet sprach, sagte in Gebärdensprache zu mir: "Er ist einer von uns, auch wenn er hören kann."

  2. In der Kommunikation von Gebärdenden enstehen andere soziale Umgangsformen, die vornehmlich auf die Differenz zwischen Auge und Ohr zurückzuführen sind. Das Sehen ist nämlich spezifischer als das Hören. Man kann seine Augen bewegen, mit ihnen etwas fixieren, sie (im wörtlichen oder im übertragenen Sinne) schließen; mit den Ohren ist all das nicht möglich. Gebärdensprachliche Äußerungen werden sozusagen auf dünnen Laserstrahlen zwischen Gebärdenden ausgetauscht, sie breiten sich nicht in alle Richtungen aus wie Sprachlaute.

    So können viele Gebärdende an einem Tisch gleichzeitig mehrere Gespräche führen, von denen keines durch ein anderes notwendigerweise gestört wird. Es gibt kein Hintergrundgeräusch, kein visuelles Rauschen in einem Raum, in dem sich viele Gebärdende aufhalten, und zwar wegen der Gerichtetheit sowohl der visuellen Stimmen wie auch der visuellen Aufmerksamkeit. Zugleich kann man - wie ich dies in der großen Mensa der  Gallaudet University  oder bei Versammlungen Gebärdender beobachtet habe - jemandem am anderen Ende eines großen Raumes voller Menschen in der Gebärdensprache etwas mitteilen; riefe man es ihm zu, wäre das grob und taktlos.

    Es existieren viele andere, für Hörende mitunter fremdartig anmutende gebärdensprachliche Anstandsregeln. Man muß ständig auf die Sehrichtung und auf den Blickkontakt achten, darf nicht unbedacht zwischen Menschen treten und so diesen Kontakt unterbrechen. Man darf auf die Schulter klopfen und mit dem Finger auf jemanden zeigen - was unter Hörenden nicht statthaft ist. Und wenn man einen Raum voller Gebärdender überblickt, im dem gleichzeitig dreihundert Gebärdengespräche stattfinden, gilt es als Zeichen des Anstands, nicht zu beobachten oder zu "lauschen", sondern nur auf das zu achten, was einen visuell angeht.

    Am NTID in Rochester - 1968 für Gehörlose Studenten erbaut - ist dies architektonisch umgesetzt. Wenn man das Gebäude betritt, erkennt man sofort, daß es sich um einen Aufenthaltsort für visuelle Menschen handelt. Es wurde so geplant, daß gebärdensprachliche Äußerungen von fern - auch über Stockwerke hinweg - wahrgenommen werden können. Üblicherweise schreit man nicht von einem Stockwerk zum anderen, aber es ist vollkommen natürlich, sich von einem Stockwerk zum anderen mittels Gebärden zu unterhalten.

  3. Die Welt der Gehörlosen ist, wie alle Subkulturen, zum Teil durch Ausschluß (aus der Welt der Hörenden), zum Teil aber auch durch den Aufbau einer Gemeinschaft, einer Welt, entstanden, die einen anderen - ihren eigenen - Mittelpunkt besitzt. Im selben Maße, wie sie ausgeschlossen werden, fühlen sich die Gehörlosen isoliert, ausgegrenzt, diskriminiert. Im selben Maße, wie sie sich freiwillig und zu ihrem eigenen Nutzen eine Welt der Gehörlosen aufbauen, fühlen sie sich in ihr zu Hause, genießen sie und betrachten sie als einen sicheren Hafen, eine Schutzzone. Insofern ist die Welt der Gehörlosen nicht isoliert, sondern selbstgenügsam - sie will weder assimilieren noch assimiliert werden - im Gegenteil: Sie liebt ihre Sprache und ihre Bilder und will sie schützen.

    Ein Aspekt dieser Situation ist die sogenannte Zweisprachigkeit der Gehörlosen. So unterhalten sich Gehörlose in Gallaudet und anderswo in der Gebärdensprache, wenn sie unter sich sind, gehen aber, wenn sich ein Hörender zu ihnen gesellt, sofort zum manuellen Englisch (oder was auch immer) über, und sie kehren zur Gebärdensprache zurück, sobald er gegangen ist. Die Gebärdensprache wird oft wie ein ganz privater, höchst persönlicher Besitz behandelt, der vor neugierigen Blicken Fremder behütet werden muß. BARBARA KANNAPELL geht sogar so weit zu behaupten, daß die Welt der Gehörlosen zerstört würde, wenn wir alle die Gebärdensprache lernten:

      "Die  American Sign Language  hat eine verbindende Funktion, da die Gemeinsamkeit der Gehörlosen ihre Sprache ist. Gleichzeitig aber grenzt der Gebrauch der Gebärdensprache die Gehörlosen aus der Welt der Hörenden aus. Diese beiden Funktionen sind also verschiedene Aspekte derselben Realität, ja nachdem, aus welcher Perspektive man sie betrachtet - aus der geeinten Gruppe heraus oder von außen.

      Die Gruppe ist von der Welt der Hörenden getrennt. Diese ausgrenzende Funktion ist für Gehörlose ein Schutz. So können wir uns zum Beispiel mitten in einer Menge von Hörenden unterhalten, worüber wir wollen. Die anderen sollen uns ja gar nicht verstehen. Es ist wichtig zu begreifen, daß die Gebärdensprache das einzige ist, was ganz und gar den Gehörlosen gehört. Sie ist das einzige, was diese Gruppe geschaffen hat. Vielleicht haben wir Angst, unsere Sprache mit Hörenden zu teilen. Vielleicht verschwindet unsere Gruppenidentität, wenn die Hörenden die Gebärdensprache verstehen."
  4. Selbst diejenigen Dozenten, die eine Gebärdensprache beherrschen, benutzen lieber eine Form des manuellen Englisch als die Amerikanische Gebärdensprache. Bis auf die Dozenten des mathematischen Lehrstuhls, wo die meisten gehörlos sind, ist nur eine Minderheit der Lehrenden in Gallaudet gehörlos, während es zu EDWARD GALLAUDETs Zeit die Mehrheit war. Dies ist leider an den Gehörlosenschulen allgemein so. Es gibt nur sehr wenige gehörlose Gehörlosenlehrer, und die amerikanische Gebärdensprache wird von der überwiegenden Zahl der hörenden Lehrer entweder nicht beherrscht oder nicht verwendet.

  5. Abgesehen von der allgemeinen Benachteiligung Gehörloser (die nicht auf deren Beeinträchtigung, sondern auf unsere Diskriminierung zurückzuführen ist) stellen sich verschiedene spezifische Probleme, die mit dem Gebrauch einer Gebärdensprache verbunden sind. Aber es handelt sich um Probleme, die  wir  zu solchen machen.

    Für einen Gehörlosen ist es schwierig, angemessenen ärztlichen oder Rechtsbeistand zu erhalten. Es gibt in den Vereinigten Staaten nur eine Handvoll gebärdender Rechtsanwälte, fast keine gebärdenden Ärzte (und nur noch wenige gebärdende Arzthelferinnen oder Krankenschwestern). Ferner gibt es so gut wie keine adäquaten Einrichtungen für Notfälle von Gehörlosen. Erkrankt ein Gehörloser, so ist es für ihn lebenswichtig, daß nur ein Arm für intravenöse Injektionen immobilisiert wird. Ebenso wird es immer wieder übersehen, daß das Anlegen von Handschellen für einen Gehörlosen soviel bedeutet wie Knebelung.

  6. Es wird einfach vorausgesetzt, daß Gehörlose keine Laute von sich geben können und in einer lautlosen Welt leben, doch das trifft nicht unbedingt zu. Wenn sie wollen, können sie durchdringend schreien, um andere auf sich aufmerksam zu machen. Sie sprechen unter Umständen zu laut, und ihre Aussprache ist sehr schlecht, weil sie ihre Stimme nicht mit Hilfe des Gehörs steuern können. Schließlich kann es bei ihnen zu unbewußtem und oft schrillen Ausrufen verschiedenster Art kommen - es handelt sich hierbei um zufällige und unwillkürliche Bewegungen des Sprachapparats, die weder beabsichtigt noch gesteuert sind und meist bei heftigen Gefühlen, körperlicher Anstrengung und in erregten Diskussionen auftreten.

  7. Obwohl sich fast alle über seine Wahl freuten, gab es eine Fraktion, die sie (weil JORDAN erst so spät ertaubte) als einen Kompromiß betrachtete und statt dessen für HARVEY CORSON eintrat, den Direktor der  Louisiana School for the Deaf.  Er war der dritte Kandidat und ist sowohl von Geburt an hörlos als auch mit der Gebärdensprache aufgewachsen.