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GUY OAKES
Heinrich Rickerts Logik
einer historischen Kulturwissenschaft


Max Webers Objektivität

Lasks Begriffbildung
"Da die Wahrheit ein Wert ist, besteht Erkenntnis nicht in der Abbildung eines Gegenstandes, sondern in einer Stellungnahme zu einem Wert."

(1) Die Immanenz des Wirklichen

Die Wirklichkeit erfahren wir RICKERT zufolge als eine weder zeitlich noch räumlich eingrenzbare unendliche Mannigfaltigkeit von Einzelgestaltungen und Vorgängen, die untereinander in einem unermeßlichen Beziehungsgeflecht stehen. Damit ist zweierlei impliziert: Wirklichkeit ist   unendlich,  insofern sie niemals erschöpfend erfahren werden kann; sie  ist unübersehbar,  da man sie ebensowenig  in toto  begreifen kann. RICKERT spricht hier von der extensiven Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit. Darüber hinaus ist jedes Ereignis in seiner erfahrbaren extensiv-unendlichen Mannigfaltigkeit aber auch unendlich komplex, was nicht nur darauf zurückzuführen ist, daß jede Entität mit allen anderen Entitäten in zahllosen Beziehungen steht, die auch niemals völlig erfaßt werden können. Selbst wenn man eine solche Einzelgestaltung von all ihren Beziehungen löst, bleibt doch in zweierlei Hinsicht ein unendlicher Komplex bestehen. Erstens ist die Anzahl der Teile, in die man ein beliebiges Ereignis zerlegen kann, prinzipiell unbegrenzt. Zwar können wir herausfinden, welches das "kleinste" wahrnehmbare Element ist, aber wir können nicht sicher sein, daß es nicht doch noch "kleinere" Teile gibt, die unserer Aufmerksamkeit entgangen sind. RICKERT nennt dies die quantitative Unendlichkeit, die jedem Ereignis anhaftet. Diese These von der quantitativen Unendlichkeit beruht auf der einfachen Tatsache, daß wir über kein Kriterium verfügen, mit Hilfe dessen wir entscheiden können, wann wir den "kleinsten", nicht weiter teilbaren Baustein vor uns haben. Zweitens kann man sagen, daß sowohl jeder Vorgang als auch seine sämtlichen Teile über eine unendliche Anzahl von Aspekten verfügen. Niemals können wir uns dieser Aspekte in ihrer Gesamtheit bewußt werden. Jedes Ereignis besitzt eine unbestimmte Anzahl von Eigenschaften, die ihrerseits eine unbestimmte Anzahl von Gesichtspunkten implizieren - und es gibt kein Prinzip, das uns zu einem vollständigen Bild all dieser Gesichtspunkte verhilft. Da jede Eigenschaft selbst wiederum unendlich viele Unterscheidungen umgreift, ist ein Ereignis auch in qualitativer Hinsicht unendlich mannigfaltig. RICKERT spricht deshalb von der intensiven Mannigfaltigkeit des Wirklichen.

Die These von der extensiven wie intensiven Mannigfaltigkeit des Wirklichen zielt nicht nur auf die Welt physikalischer Körper, sondern erstreckt sich auch auf den Bereich geistiger Prozesse. Selbst die subjektiv-psychische Realität der Icherfahrung ist unendlich komplex. Aufgrund der unbegrenzten Fülle der intrapsychischen Vorgänge ist mir nicht möglich, zu einer vollständigen Vorstellung meiner eigenen mentalen Erfahrung zu gelangen, d.h. alles zu erfassen, was ich je gedacht, gewünscht, gehofft, gewollt etc. habe. Zudem ist jeder einzelne mentale Vorgang, für sich genommen, ebenfalls unendlich vielfältig. So gleicht beispielsweise keine Gefühlsregung haargenau einer anderen, keine Wollung wiederholt sich in identischer Form. Dazu kommt noch, daß jeder geistige Vorgang ein temporaler Prozess ist, dessen Ablauf man in unzählige Teilstadien zergliedern kann. Folglich ist die Wirklichkeit als Ganzes, einschließlich der Welt mentaler Prozesse, irrational, insofern es kein Kriterium gibt, anhand dessen wir feststellen könnten, daß unsere Erkenntnis sie in ihrer Totalität erfaßt; und jeder Teil des Wirklichen ist irrational, weil es kein Kriterium gibt, anhand dessen wir prüfen könnten, ob wir es mit einer vollständigen Beschreibung all seiner Aspekte zu tun haben.


(2) Kritik des epistemologischen Realismus

Der zweite Schritt auf RICKERTs Weg zur Lösung des Problems historischer Erkenntnis besteht in der Zurückweisung des epistemologischen Realismus. RICKERT verwendet das Konzept des epistemologischen Realismus in den  Grenzen,  ohne es präzise zu bestimmen. Auch ist seine an dieser Position geübte Kritik ziemlich wirr. Er entwickelt seine Argumente nur unvollständig, umreißt sie oftmals nur flüchtig und vermischt die unterschiedlichsten Einwände miteinander, die man gegen den epistemologischen Realismus vorbringen kann.

Dennoch geht aus RICKERTs Bemerkungen hervor, daß er den epistemologischen Realismus für eine Position hält, die Erkenntnis als simple Reproduktion der tatsächlich erfahrenen Wirklichkeit betrachtet. Dementsprechend kann eine Aussage dann einen Wahrheitsanspruch erheben, wenn sie eine getreue Wiedergabe der Eigenschaften ihres Gegenstandes ist. Insofern ist eine solche Epistemologie auf eine Korrespondenztheorie der Wahrheit verwiesen. In den  Grenzen  bezeichnet RICKERT diese epistemologische Position als Abbildtheorie, da sie den Zweck der Erkenntnis darin sieht, ein Bild der erfahrbaren Wirklichkeit zu liefern. Im  Gegenstand der Erkenntnis  beschäftigt sich RICKERT ausführlicher, wenn auch keineswegs präziser, mit dem epistemologischen Realismus, indem er sich mit DAVID HUMEs Philosophie befaßt.

Erfahrung umgreift HUME zufolge zwei verschiedene Arten von Bewußtseinsinhalten: einmal die Eindrücke, die von den Erscheinungen hervorgerufen werden, und daneben die Vorstellungen, die diese Eindrücke reproduzieren. In dieser Sichtweise ist Erkenntnis nichts anderes als die Korrespondenz zwischen Vorstellungen und Eindrücken, Vorstellungen sind dann wahr, wenn sie die Eindrücke, für die sie stehen, genau wiedergeben. RICKERT nennt dies "empirischen Realismus" bzw. "immanente Abbildtheorie".

Eingedenk der Irrationalität des Wirklichen und angesichts der Unmöglichkeit, die Wirklichkeit als Ganzes oder in ihren Teilen zu erkennen, ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich RICKERT nicht mit dem epistemologischen Realismus anfreunden kann. So wie wir die Wirklichkeit erfahren, kann sie gar nicht, weder in ihrer Extension noch in ihrer Intension, in irgendeinem Sinne abgebildet bzw. wiedergegeben werden. Darüber hinaus läßt sich RICKERTs Ablehnung des epistemologischen Realismus noch aus zwei konstitutiven Merkmalen seiner Erkenntnistheorie erklären: seiner Begriffs- und Urteilslehre. Denn Begriffe im rickertschen Sinne dürfen nicht mit Vorstellungen verwechselt werden, die er lediglich für Erscheinungen des geistigen Lebens erachtet. Begriffe aber sind Gebilde zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung. Sie werden abgebildet, indem man sich auf besondere Eigenschaften in der Welt physischer oder psychischer Tatsachen bezieht und sie zu kohärenten Einheiten formt, die für die Bedeutung von Begriffen konstitutiv sind. Der Begriffsinhalt, der stets eindeutig festgelegt ist, ist etwas ganz andere als der Inhalt einer Vorstellung, der wandelbar und unbestimmt ist. Während eine Vorstellung eine diffuse Vielfalt von Wahrnehmungen verkörpert, ist ein Begriff durch ein Bündel von Aussagen bzw. Urteilen klar festgelegt.

Bereits in seiner Dissertation  Zur Lehre von der Definition  entfaltet RICKERT ansatzweise seine Auffassung vom Verhältnis zwischen Begriffen und Urteilen. Jede Erkenntnis besteht aus Urteilen, jede Aussage, die einen Erkenntnisanspruch erhebt, ist ein Urteil. Was seinen logischen Gehalt betrifft, ist ein vollständig bestimmter bzw. spezifizierter Begriff das Produkt eines Urteils. Indem RICKERT auf das zwischen Begriffen und Urteilen bestehende Abhängigkeitsverhältnis und auf die propositional ausdifferenzierte Form von Begriffen hinweist, zielt er in erster Linie darauf ab, das diskursive Moment von Erkenntnis gegenüber dem Aspekt der Perzeption hervorzuheben. Gegenstand eines Begriffes ist keineswegs eine Vorstellung oder Wahrnehmung, sondern das Gesamt der in Urteilen ausgedrückten Beziehungen zwischen Vorstellungen und Wahrnehmungen. Diese Beziehungen sind nicht perzeptiv, sondern diskursiv, weil sie aus Urteilen bestehen.

In seiner Begriffstheorie unterscheidet RICKERT Begriffsbildung von Begriffszerlegung. Begriffsbildung meint die Synthesis, d.h. die Verknüpfung von Elementen der Erfahrung, die für die Bestimmung eines Begriffs als wesentlich angesehen werden. Begriffszerlegung bezeichnet den Vorgang der Dekomposition, in dem Begriffe auf ihre einzelnen Bestandteile hin untersucht werden. Begriffsanalyse vollzieht sich immer in Urteilen. Ungeachtet der Tatsache, daß sich zwischen 1888, dem Zeitpunkt der Ersterscheinung der  Lehre von der Definition,  und 1929, als die dritte und letzte Auflage herauskommt, in der europäischen Philosophie eine analytisch-linguistische Wende vollzieht, versteht RICKERT unter einem Urteil weiterhin völlig unbeirrt einen geistigen Vorgang, der einem Aussagesatz korrespondiert. Begriffszerlegung, d.h. die analytische Bestimmung eines Begriffs, übersetzt den Begriff in ein Urteil bzw. in eine Folge von Urteilen, wobei es der Begriff ist, über den geurteilt wird. Seine Eigenschaften sind diejenigen Bestandteile der Erfahrung, die in der Synthesis als wesentlich herausgegriffen werden. Somit ist die Synthesis, bei der die Elemente der Erfahrung miteinander zum Begriffe verknüpft werden, ebenfalls ein Urteil und die Begriffsanalyse, die Zerlegung des Begriffes in seine Komponenten, lediglich die Umkehrung dieses Vorgangs.

Begriffsbildung i.e. Synthesis, meint die Denkbewegung von den Urteilen zum von ihnen gebildeten Begriff. Begriffszerlegung, i.e. Analyse, meint die Denkbewegung vom Begriff zu den Urteilen, aus denen er besteht. RICKERT veranschaulicht diese wechselseitige Übersetzbarkeit von Begriffen und Urteilen am Beispiel des physikalischen Gravitationsbegriffs, dessen Inhalt mit dem Gravitationsgesetz, das einem Urteil zum Ausdruck kommt, deckungsgleich ist.

Die eingehendste Erörterung, die RICKERT der Urteilstheorie widmet, findet man im dritten Kapitel seines  Gegenstandes der Erkenntnis.  Wie er dort ausführt, liegt das Besondere an einem Urteil darin, daß es der einzige Akt ist, dem Wahrheit oder Falschheit zukommt. Urteilen heißt keineswegs, Vorstellungen zu bilden. Vielmehr haben wir es dabei mit einem Akt der Entscheidung darüber zu tun, was wahr bzw. falsch ist, mithin einem Akt der Affirmation oder Negation. Eben weil Vorstellungen weder wahr noch falsch sein können, beinhalten sie auch keiner Erkenntnis. Deswegen ist jede Erkenntnis an Urteilsakte gebunden, kann Wahrheit niemals irgendwelchen Vorstellungen entnommen werden. Weil Erkennen Urteilen heißt, ist stets ein Bejahen oder Verneinen impliziert, ein Vorgang, den man nicht als bloßes Abbilden begreifen kann. Selbst wenn wir die Wirklichkeit nicht als unendliche Mannigfaltigkeit erführen, so wäre es immer noch unabdingbar, den epistemologischen Realismus zu verwerfen, weil der Akt des Erkennens, ganz anders als das Hervorbringen von Vorstellungen, nicht als ein Abbilden oder Reproduzieren verstanden werden darf.

Zum selben Schluß gelangt RICKERT, indem er - in einem anderen Argument - die Wahrheit als Wert konzipiert. Ein Erkenntnisurteil ist ein Akt der Entscheidung über wahr und falsch. Da die Wahrheit ein Wert ist, besteht Erkenntnis nicht in der Abbildung eines Gegenstandes, sondern in einer Stellungnahme zu einem Wert. Diese Argumentation beruht auf der Annahme, daß jedweder Willensakt sich als eine Stellungnahme für oder gegen etwas begreifen läßt. RICKERT zufolge sind Willensakte gebunden an ein Entweder/Oder - und wir sind jeweils gezwungen, uns für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden. Dieser Tatbestand mag zwar für das Hervorbringen von Vorstellungen irrelevant sein, geht es aber um ein Urteil, das immer ein Stellungnehmen impliziert und niemals ein Akt distanzierten Betrachtens sein kann, so erlangt er seine entscheidende Bedeutung.

Und der Gegenstand, zu dem wir urteilend Stellung nehmen, muß stets ein Wert sein, denn nur was uns wert ist, kann unsere Hingabe erheischen. Dabei ist die Sphäre der Werte nicht etwas in der Wirklichkeit, sondern etwas Geltendes, und Werte kann man demnach auch nicht als etwas Seiendes ansehen: Sie sind unwirklich bzw. irreal. Daraus folgt wiederum, daß es kein Korrenspondenzverhältnis zwischen Werten und Wirklichkeit geben kann. Wenn wir die Wahrheit als einen Wert auffassen, so bedeutet dies, daß wir von etwas Wahrem nicht sagen können, daß es existiert, wir können lediglich sagen, daß es gilt. Deshalb kann man von dem Umstand, daß wahre Aussagen möglich sind, nicht auf ein Korrespondenzverhältnis zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit schließen, ebensowenig wie man behaupten kann, daß wahre Urteile ihre Gegenstände abbilden. In RICKERTs Augen ist der Gedanke eines derartigen wechselseitigen Entsprechungsverhältnisses denn auch alles andere als schlüssig. Für ihn ist eine Aussage nicht deswegen wahr, weil sie mit der Wirklichkeit korrespondiert, sondern weil ihr Gehalt, genauer gesagt, ihre irreale Bedeutung, für die Wirklichkeit Geltung besitzt.

In seinen Bemerkungen zum Unterschied zwischen der Bedeutung eines Urteils auf der einen und dem Vorgang des Urteilens, dem praktischen Urteilsvollzug auf der anderen Seite bestimmt RICKERT näher, was unter diesem ideellen Gehalt zu verstehen ist. Den Vollzug des Urteils nämlich, der immer ein zeitlich begrenzter, von einem konkreten Subjekt hervorgebrachter Akt ist, will er strikt getrennt wissen von der kognitiven Bedeutung des Urteils. Hierbei unterscheidet er zwei Arten von Urteilsbedeutung.

Zum einen kommt Urteilen eine subjektive Bedeutung zu, die den Intentionen desjenigen entspricht, der im Vollzug eines Urteils praktisch Stellung nimmt. Die subjektive Bedeutung bleibt dem Akt des Urteilens immanent, sie verkörpert den aktuellen Sinn des Urteilens, nicht aber die Bedeutung des Urteilsgegenstandes. Urteile haben aber auch eine objektive Bedeutung, die gänzlich unabhängig ist von den Intentionen des Urteilenden und dem Akt der Stellungnahme. Diese objektive Bedeutung ist der eigentliche Gegenstand des Erkenntnisurteil, wobei seiner Wahrheit bzw. Falschheit selbstredend weder Seinscharakter noch Seinskonformität zugeschrieben werden darf. Wie bereits an anderer Stelle erörtert, gehören die objektiven Urteilsbedeutungen nicht der Wirklichkeit, sondern der Sphäre des Geltens an - und insofern sie gelten, können sie nicht als abbildförmige Reproduktion des Wirklichen betrachtet werden.

Zusammenfassend kann man sagen, daß RICKERT zwei Begründungen liefert, mit deren Hilfe er seine Ablehnung des epistemologischen Realismus erklärt. Die eine dieser beiden Begründungen fußt auf seiner Auffassung dessen, was Begriffsbildung und Erkenntnis heißt, die andere auf seinen Überlegungen zum Gegenstand von Erkenntnisurteilen. RICKERT zufolge werden Begriffe durch Urteile gebildet, d.h. durch Akte des Bejahens oder Verneinens. Deshalb sind Urteile, im Gegensatz zu Vorstellungen, keine Abbildungen des Wirklichen. Erkenntnis wäre demnach selbst dann keine bloße Reproduktion der Wirklichkeit, wenn wir das Wirkliche nicht als eine unendliche Mannigfaltigkeit auffaßten. Hinzu kommt, daß der Gegenstand, zu dem man urteilend Stellung nimmt, indem man ihn für wahr oder falsch erachtet, ein Wert ist. Werte aber, als etwas Nichtseiendes, liegen außerhalb der Sphäre des Wirklichen. Folglich kann der Gegenstand eines Erkenntnisurteils keine abbildförmige Reproduktion des Wirklichen sein.
LITERATUR - Guy Oakes, Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, Frankfurt/Main 1990
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