cr-4 HobbesDescartesH. RuinLockeBerkeleyJ. St. Mill    
 
FRANZ NAUEN
Die Erkenntnislehre William Hamiltons
[2/4]

"Der  Glaube an die Realität der Bewußtseinstatsachen besagt nur, daß sie  sind, nicht, warum  oder  wie sie sind. Sie lassen sich als ursprüngliche Tatsachen nicht weiter zurückführen und müssen einfach auf Glauben hingenommen werden. Eine solche Bewußtseinstatsache nennt  Hamilton im Anschluß an die Terminologie der schottischen Philosophie mit Vorliebe einen  belief. Diese  primary beliefs, die zusammenfassend auch  common sense genannt werden, sind die letzten Tatsachen, auf die wir bei der Zurückführung unserer Erkenntnisse gelangen.  Sie selbst sind notwendigerweise  unbegreifbar. Sie erklären wollen, hieße ein höheres Bewußtsein annehmen, um daraus unser Bewußtsein abzuleiten."

2. Abschnitt
Das Erkennen und sein Gegenstand
[Fortsetzung]

2. Kapitel
Das Bewußtsein als Quelle der Erkenntnis

I. Das Bewußtsein als
Grundbedingung des Erkennens

Wenn wir den treibenden Motiven nachgehen, die in der Entwicklung der Problemstellung des Kritizismus wirksam gewesen sind, so ist an erster Stelle die Ratlosigkeit des Denkens angesichts der sich vielfach widersprechenden Lehren der Metaphysik zu nennen. Die kritische Philosophie gelangt zu dem Ergebnis, daß der  Dogmatismus  in seinem theoretischen Bereicht sich um Scheinprobleme bemüht hat, die nur durch den Mangel einer das philosophische Denken vorbereitenden und klärenden Erkenntniskritik enstehen konnte. Auch HAMILTONs Denken zeigt sich von jenem Motiv beeinflußt: doch erringt es bei ihm nicht den grundsätzlichen Wert, den es für KANT in der Gestaltung einer kritischen Philosophie hat. Das Kennzeichen für HAMILTONs Denken wird vielmehr am Anfang der philosophischen Selbstbestimmung sogleich offenbar, indem seine Philosophie bei einem eklektischen Ausgleichversuchs stehen bleibt.

Die Tatsache, daß es mehrere philosophische Systeme gibt, die zueinander in einem offenbaren Gegensatz stehen, erklärt HAMILTON dadurch, daß "die Philosophen selten oder niemals die Tatsachen des Bewußtseins, die vollen Tatsachen und nichts als die Tatsachen des Bewußtseins" zur Grundlage ihrer Lehren genommen haben. Jedes philosophische System ist insofern wahr und vollständig, als es die Tatsachen des Bewußtseins in ihrem eindeutigen Sinn entwickelt. HAMILTON vergleich das Bewußtsein mit der Bibel, welche die einzelnen Sekten in dem Sinn ausdeuten, der ein ihr Lehrsystem paßt. So haben auch die Philosophen, "statt ihre Lehren aus dem Bewußtsein entwickelt, sich auf dieses nur berufen, wenn sie eine Autorität zur Bestätigung ihrer vorgefaßten Meinungen anführen konnten". Der Begriff des Bewußtseins hat demnach für HAMILTONs Philosophie eine grundlegende Bedeutung, die sich uns noch mehr aufdrängt, wenn wir erwägen, daß die Phänomenologie des Geistes die Voraussetzung seiner Erkenntnislehre und seiner Philosophie überhaupt ist.

Was im Bewußtsein ist, kann nicht  logisch definiert,  wohl aber  philosophisch analysiert  werden. Wenn wir auf das Bewußtsein die philosophische Methode anwenden, so ergibt sich uns sein Begriff durch die Beobachtung und Vergleichung der Tatsachen des Geistes, indem wir aus dem Vergleich die allgemeinen Bedingungen entwickeln, unter denen allein ein Bewußtseinsakt möglich ist.
    "Der Geist", heißt es an einer anderen Stelle, "kann nur a posteriori, d. h. nur aus einen Offenbarungen (manifestations) definiert werden. Was er in sich selbst, d. h. abgesehen von seinen Offenbarungen ist, davon wissen wir nichts, und demgemäß verstehen wir unter  Geist einfach das, was wahrnimmt, denkt, fühlt, will, wünscht".
Diese Definition des Geistes aus seinen Eigenschaften ist von ARISTOTELES gegeben worden und nach ihm allgemein von den Philosophen, unter anderem auch von REID, angenommen worden.

Der Bewußtseinsakt ist die Bedingung allen Wissens. Ich erkenne, ich wünsche, ich fühle. Obwohl mein Erkennen, Wünschen und Fühlen nicht dasselbe bedeuten, so stimmen sie doch alle in einer Grundbedingung überein.
    "Kann ich erkennen, ohne zu wissen, daß ich erkenne? Kann ich wollen, ohne zu wissen, daß ich will? Kann ich fühlen, ohne zu wissen, daß ich fühle? Nun dieses Wissen, daß ich erkenne oder will oder fühle, - diese gemeinsame Bedingung der Selbsterkenntnis ist genau das, was man Bewußtsein nennt."

    "Das Erkennen, das Fühlen, das Wollen sind nur unter der Bedingung möglich, daß sie gewußt und zwar von mir gewußt werden."
Das Bewußtsein ist demnach das Wissen von meinen eigenen Zuständen. "Das allgemeinste Merkmal des Bewußtseins" ist dieses: "daß es die Erkenntnis (recognition) der eigenen Akte oder Affektionen durch das denkende Subjekt ist". Die Ausdrücke: ich weiß, daß ich erkenne, ich weiß, daß ich fühle, ich weiß, daß ich will, sind demnach gleichbedeutend mit: ich bin mir meines Erkennens, Fühlens, Wollens bewußt. Das Bewußtsein ist einerseits das Wissen von gewissen Modifikationen als Modifikationen meines Selbst; andererseits darf es nicht als etwas von diesen Modifikationen Verschiedenes aufgefaßt werden, sondern es ist die "allgemeine Bedingung ihrer Existenz oder ihrer Existenz im Bereich der Erkenntnis".

Im Bewußtsein ist demnach ein Verhältnis des Ichs zu seinen Zuständen gegeben. Das Bewußtsein schließt demnach in seinem einfachsten Akt drei Dinge ein:
    1. ein erkennendes Subjekt,
    2. eine erkannte Modifikation und
    3. eine Erkenntnis derselben durch das Subjekt.
Bewußtsein und Erkennen schließen sich demnach ein. Aber wie wir in der Geometrie das Dreieck als etwas Einheitliches auffassen und die Seiten in Gedanken nicht von den Winkeln trennen können, so fassen wir doch zum Zweck der mathematischen Forschung Seiten und Winkel getrennt auf. Ebenso werden Bewußtsein und Erkennen durch verschiedene Worte nicht als verschiedene Dinge, sondern nur als dasselbe Ding, aber von verschiedenen Gesichtspunten betrachtet, unterschieden.
    "In einem Erkenntnisakt kann meine Aufmerksamkeit hauptsächlich entweder auf das erkannte Objekt oder auf mich als das erkennende Subjekt gerichtet werden; und im letzten Fall, obwohl kein neues Element zum Akt hinzugefügt wird, wird die in ihm enthaltene Bedingung: ich weiß, daß ich erkenne, der hauptsächlichste und vornehmlichste Gegenstand der Betrachtung."
Wie das Bewußtsein als die  absolute  und allgemeine Form der untergeordneten Fähigkeiten des intellektuellen Subjekts betrachtet wird, so können diese als seine relativen und besonderen Modifikationen aufgefaßt werden. Hieraus folgt, daß REID und STEWART Unrecht haben, wenn sie das Bewußtsein als ein besonderes Vermögen auffassen und von andern unterscheiden. Nach REID sind wir uns der Wahrnehmung, aber nicht des Objekts der Wahrnehmung, sind wir uns des Gedächtnisses, aber nicht des Gegenstandes, dessen wir uns erinnern, bewußt. HAMILTON glaubt, daß wir von einem Wissen überhaupt nur sprechen können, wenn wir seinen Gegenstand im Bewußtsein haben. Er zeigt dies im Besonderen bei den Vermögen der Einbildung (imagination) des Gedächtnisses, der Wahrnehmung (perception) und der Aufmerksamkeit, die REID ausdrücklich vom Bewußtsein unterscheidet. In diesem Zusammenhang genügt es wenn wir uns auf die Darlegung HAMILTONs über das Verhältnis des Gedächtnisses und der Wahrnehmung zum Bewußtsein beschränken.

Bezüglich des Gedächtnisses zeigt HAMILTON, daß REIDs Auffassung desselben als eines unmittelbaren Wissens vom Vergangenen ein innerer Widerspruch ist. Wenn wir ein Objekt unmittelbar erkennen sollen, so muß es uns gegenwärtig sein; REIDs Irrtum hat seinen Grund darin, daß er den großen Unterschied der unmittelbaren und mittelbaren Erkenntnis übersehen hat. Der Unterschied zwischen REIDs und HAMILTONs  Theorien des Bewußtseins  tritt besonders in ihrer gegensätzlichen Stellung zum Vermögen der Wahrnehmung hervor, und HAMILTON hat diesen Gegensatz scharf hervorgehoben.
    "Dr.  Reid unterscheidet das Bewußtsein als ein besonderes Vermögen von der Wahrnehmung als einem besonderen Vermögen, und er gesteht jenem die Erkenntnis des letzteren in seiner Tätigkeit (operation) mit Ausschluß seines Gegenstandes zu."
Er meint, wir seien uns unserer Wahrnehmung der Rose, aber nicht der von uns wahrgenommenen Rose bewußt. Dann würden wir das Ich, die subjektive Affektionen durch einen Akt der Erkenntnis, das Nicht-Ich aber durch einen von diesem der Art nach verschiedenen Akt auffassen. HAMILTON glaubt, daß man wohl einen  logischen  Unterschied zwischen dem Bewußtsein als unmittelbarem Wissen von unseren Affektionen und der Wahrnehmung als unmittelbarem Wissen von den Qualitäten eines vom Ich verschiedenen Objekts, der Materie, zugeben kann, aber  psychologisch  dürfen sie nicht geschieden werden.

Alles Relative wird nur in seinem Zusammensein erkannt: "Relatives are known together: the science of opposites is one." Das ist der Fundamentalsatz, der den Sinn unseres Erkennens, seinen relativen Charakter offenbart.
    "Wir wissen vom Subjekt und Objekt nur, insofern sie in einem gegenseitigen Verhältnis und Kontrast stehen, und wir erkennen sie in demselben gemeinsamen Akt."

    "Jeder Begriff des Ichs schließt notwendigerweise einen Begriff des Nicht-Ichs ein: jede Wahrnehmung dessen, was von mir verschieden ist, enthält eine Erkennung (recognition des wahrnehmenden Subjekt im Gegensatz zum wahrgenommenen Objekt."

    "Die unmittelbare Erkenntnis, die  Reid uns bezüglich der vom Geist verschiedenen Dinge zugesteht, und die unmittelbare Erkenntnis des Geistes selbst, können darum nicht in zwei verschiedene Akte getrennt werden. In der Wahrnehmung bezieht sich das Bewußtsein wie in den anderen Vermögen auf beide Glieder des Verhältnisses, das mit der Erkenntnis gesetzt ist."
Löst man diese untrennbare Einheit auf, so ist man genötigt, ein höheres Vermögen zu postulieren, das beide, die Wahrnehmung und das Bewußtsein einschließt. Es ist eine Tatsache, daß das Ich und das Nicht-Ich in demselben unteilbaren Erkenntnisakt erkannt und unterschieden werden. Durch welches Vermögen kommt dieser Akt zustand?
    "Es kann nicht  Reids Bewußtsein sein, da sich dieses nur auf das Ich oder den Geist bezieht -, es kann nicht  Reids Perzeption sein, denn diese erkennt nur das Nicht-Ich oder die Materie. Da der Akt nicht geleugnet werden kann, so muß das Vermögen zugegeben werden."
Da wir den Geist und die Materie, Ich und Nicht-Ich immer nur in einem gegenseitigen Verhältnis und Kontrast erkennen, so muß man, wenn REID Recht hätte, ein höheres Bewußtsein fordern, in dem wir Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich in der Einheit der Erkenntnis erfassen. Was wäre das aber anderes als das gewöhnliche Bewußtsein vom Subjekt und Objekt, von Geist und Materie? Daraus ergibt sich, daß Bewußtsein und unmittelbare Erkenntnis gleichbedeutende Ausdrücke sind. Wenn es also eine unmittelbare Erkenntnis äußerer Dinge gibt, so gibt es folglich ein Bewußtsein der Außenwelt.

REIDs Lehre schließt einen  allgemeinen Widersinn  ein. Denn nach ihm erkennen wir etwas, dessen wir uns als eines Erkannten nicht bewußt sind. Ebenso findet es HAMILTON sinnlos zu sagen, wir seien uns der Wahrnehmung, aber nicht ihres Gegenstandes bewußt. Der Gegenstand der Wahrnehmung darf nicht aus dem Bereich des Bewußtseins verwiesen werden, da wir eine unmittelbare Erkenntnis des Nicht-Ichs haben.

Die innere Triebfeder dieser Auseinandersetzung mit REID bildet HAMILTONs Auffassung von der  Dualität des Bewußtseins,  die zugleich eine wichtige und notwendige Ergänzung seines Begriffes vom Bewußtsein darstellt. Wenn HAMILTON die Definition des Bewußtseins, wie sie REID gibt, angreift, so wird man nicht sagen können, daß seine eigene so eindeutig und eng begrenzt ist, um die REIDsche auszuschließen. Nach REID ("Intellectual Powers") ist das Bewußtsein eine Handlung des Verstandes, die ihm gleichartig ist; er glaubt ebenso wie HAMILTON, daß es nicht definiert werden kann.
    "Die Gegenstände desselben sind unsere gegenwärtigen Schmerzen, Zweifel, Gedanken aller Art; in einem Wort alle Zustände und Handlungen unseres Geistes, während sie gegenwärtig sind." (9)
REID befindet sich in vollem Einklang mit HAMILTON, wenn er das Bewußtsein als das Vermögen definiert, durch das wir eine Kenntnis von den Handlungen unseres eigenen Geistes haben. Es ist auf der anderen Seite eine Erweiterung des bisher entwickelten Bewußtseinsbegriffs HAMILTONs, wenn dieser sagt, wir dürften unser Bewußtsein nicht auf unsere subjektiven Zustände beschränken. Er begründet diese  Notwendigkeit  mit dem Hinweis auf die unmittelbare Wahrnehmung der Außenwelt, die demnach ein Bewußtseinsdatum ist. REID hat das große Verdienst, diese Lehre in der neueren Zeit vertreten zu haben; doch hat er sie durch seine Auffassung der Perzeption verdunkelt.


II. Die besonderen Voraussetzungen
des Bewußtseins

Unser Bewußtsein ist durch gewisse Bedingungen (conditions) oder Begrenzungen (limitations) eingeschränkt, die ihm eigentümlich sind. HAMILTON zählt in den "Lectures on Metaphysics", Seite 202f, fünf solche  besonderen Voraussetzungen (special conditions) auf, von denen er sagt, sie werden alle allgemein angenommen:
    1. Das Bewußtsein ist eine  aktuelle, keine  potentielle Erkenntnis.

    2. Das Bewußtsein ist eine  unmittelbare, keine  mittelbare Erkenntnis. Eine mittelbare Erkenntnis haben wir z. B. dann, wenn wir uns eines vergangenen Ereignisses erinnern; in diesem Fall sind wir uns nur der  Repräsentation des von uns gemeinten Gegenstandes  unmittelbar bewußt.

    3. Das Bewußtsein setzt einen  Gegensatz (contrast), eine  Unterscheidung (discrimination) eines Gegenstandes von einem andern voraus.  Hamilton hält drei solcher Gegensätze auseinander:
      1. den Gegensatz von  Ich und  Nicht-Ich

      2. die  Unterscheidung unserer  Zustände oder  Modifikationen voneinander und

      3. der  Teile und  Qualitäten der Außenwelt.

      4. Das Bewußtsein schließt ferner einen  Urteilsakt (judgement) ein. Da jedes Urteil der geistige Akt (mental act) ist, durch den etwas bejaht oder von einem andern ausgeschlossesn wird, so ist diese Voraussetzung des Bewußtseins eine notwendige Folge der voraufgehenden. Denn es ist unmöglich zu unterscheiden ohne zu urteilen, da die Unterscheidung in der Tat nur die Ausschließung eines Dinges von einem andern ist.
    "Ein Bewußtsein ist notwendig das Bewußtsein eines bestimmten  Etwas (of a determinate something); und wir können uns keines Dinges bewußt werden, ohne seine Existenz ausdrücklich zu bejahen, d. h. es als seiend zu beurteilen."

    Aber das Bewußtsein ist kein Urteil der bloßen Wirklichkeit (of naked existence), sondern die Bejahung einer eigentümlich gestalteten und bestimmten Existenz.

    5. Ein weiteres Korrelat zur dritten Bedingung ist das  Gedächtnis als Voraussetzung des Bewußtseins. Denn ohne dieses würden unsere geistigen Zustände isoliert und ununterschieden nebeneinander verlaufen, so daß wir sie weder vergleichen, noch unterscheiden könnten.

    Diesen  allgemein angenommenen Bedingungen fügt HAMILTON in den "Dissertations zu Reids Werken" (Note H) einige weitere hinzu.

    6. Was wir wissen, wissen wir nur als ein  hier und  jetzt Existierendes, oder wie  Hamilton sich ausdrückt, wir müssen den Gegenstand der Erkenntnis  apprehendieren. Das Bewußtsein setzt demnach die  Apprehension [gedankliches Begreifen einer Wahrnehmung - wp] als notwendige Bedingung voraus.

    7. Die siebente Einschränkung des Bewußtseins besteht darin, daß wir alles, was wir auch immer denken mögen, unter dem  Attribut der Existenz denken, da die Existenz ein Begriff  a priori, ein dem Geist angeborener Begriff ist und der erste (primary) Bewußtseinsakt ein Existenzialurteil einschließt. Die Existenz ist keine "Idee, die dem Verstand durch jedes äußere Objekt und jede innere Wahrnehmung eingegeben wird", wie  Locke gemeint hat. Denn jedes Objekt des Bewußtseins wird bereits unter diesem Attribut gedacht. Dächten wir es aber nicht unter ihm, so könnten wir es auch nicht aus ihm ableiten.

    8. Endlich erfassen wir alles Erkennbare nur als  Bedingtes und zwar, wie  Hamilton gegen  Fichte, Schelling, Hegel und  Cousin betont, nicht als ein  unbedingtes Bedingtes, sindern als ein  bedingtes Bedingtes. Diese Einsicht, die den letzten Sinn unseres Erkennens nach  Hamilton erschließt, findet ihren Ausdruck im  Gesetz des Bedingten, von dem das Verhältnis der Erscheinungen zu einer unbekannten Substanz, das Gesetz der Kausalität nur Unterarten sind. Aus der Anerkennung dieser Fundamentalbegrenzung unseres Erkennens, die mit dem Bewußtsein gesetzt ist, folgt, daß die einzige mögliche Philosophie nur eine  Philosophie des Bedingten sein kann.

III. Die Regeln der
psychologischen Forschung

Da das Bewußtsein die Quelle aller Erkenntnis ist, so setzt die Philosophie seine Autorität und Wahrhaftigkeit voraus. Die Wissenschaft müßte aufhören, wenn auch nur eine Bewußtseinstatsache als falsch erwiesen wäre. Aber der Zweifel am Bewußtsein widerlegt sich selber; denn gebe ich seine Aussprüche einmal dem Zweifel preis, so kann ich an allen Tatsachen, die es darbiett, zweifeln, also auch an der Tatsache meines Zweifels. Damit wäre die Möglichkeit der Philosophie verneint, und wir ständen vor einem ratlosen Skeptizismus. Doch ist zu einer solchen Befürchtung kein Anlaß gegeben; denn bis jetzt haben sich alle Philosophen auf das Zeugnis des Bewußtseins gestützt. Die Vielfältigkeit der philosophischen Systeme beruth auf ebenso vielen Verirrungen von der Einheit der Wahrheit. Im Bewußtsein erblicken wir aber nicht nur die einzige Quelle der Erkenntnis; in ihm muß auch der Maßstab gegeben sein, wonach wir die Tatsachen, die es darbietet, beurteilen. Dieser Maßstab wird aus den  Regeln  gewonnen, denen eine jegliche Deutung dessen, was für uns gegeben ist, unterliegen soll. Ein Fortschritt der Philosophie ist nur zu erhoffen, wenn wir nicht mit Vorurteilen an das Bewußtsein herantreten, sondern es nach den rechtmäßigen Regeln der psychologischen Forschung beurteilen, die in ihm selbst gegeben und darum von selbst einleuchtend (self-evident) sind. Die erste dieser Regeln bezeichnet HAMILTON als  Gesetz der Sparsamkeit (law of parcimony), das wir mit einem modernen Ausdruck Gesetz der Ökonomie des Denkens nennen können.

Dieses erste Gesetz der psychologischen Forschung verlangt, daß als Tatsache des Bewußtseins nur das gelten darf, was in sich einfach ist und auf nichts anderes zurückgeführt werden kann.

Was ist demnach eine Bewußtseinstatsache? Jede geistige Erscheinung (mental phenomenon) mag so genannt werden. Aber wie wir das Bewußtsein von den besonderen geistigen Fähigkeiten als deren gemeinsame Bedingung unterschieden haben, so unterscheiden wir die Tatsachen der besonderen geistigen Fähigkeiten, die  besonderen  und  abgeleiteten  Phänomene von den  ursprünglichen  und  allgemeinen.  Diese letzteren nennen wir  vorzüglich  Tatsachen des Bewußtseins (facts of consciousness). In einem Akt der Wahrnehmung unterscheide ich z. B. die Feder, die meine Hand hält, meine Hand selbst und micht, der beide wahrnimmt. Diese Unterscheidung ist eine besondere Tatsache, weil sie eine Tatsache einer besonderen Fähigkeit, nämlich der Wahrnehmung, ist. Aber ihr liegt eine allgemeine Tatsache zugrunde, "von der sie nur ein besonderer Fall ist": die Unterscheidung des Ich vom Nicht-Ich, die wir nicht weiter auf ein allgemeines Prinzip zurückführen können.
    "Jedesmal, wenn wir darum in unserer Analyse der intellektuellen Phänomene zu einem Element gelangen, das wir nicht auf eine Verallgemeinerung aus der Erfahrung zurückführen können, sondern das an der Wurzel aller Erfahrung liegt (at the root of all experience), und das wir darum nicht in irgendein höheres Prinzip auflösen können, so nennen wir dies im eigentlichen Sinn eine Bewußtseinstatsache. Indem wir eine solche Tatsache des Bewußtseins als das letzte Ergebnis einer Analyse ansehen, nennen wir es ein letztes Prinzip (ultimate principle); betrachten wir es als den ersten Bestandteil aller intellektuellen Verbindung (intellectual combination), so nennen wir es ein ursprüngliches, erstes Prinzip (primary principle)."
Die  Ursprünglichkeit  und  Allgemeinheit  bilden das  erste  Merkmal dieser Grundtatsachen des Bewußtseins.

Diese treten ferner mit dem Charakter der  Notwendigkeit  auf. Wir können sie nicht anders denken als so, wie sie sich uns darbieten. Das  zweite  Mermal derselben ist somit ihre  Denknotwendigkeit,  die sie von jeder bloßen Verallgemeinerung durch die Erfahrung unterscheidet.

Mit diesen beiden ist eine  dritte  Eigenheit dieser  Bewußtseinstatsachen  gegeben: der  Glaube an ihre Realität.  Sie sagen uns nur, daß sie  sind, nicht, warum  oder  wie  sie sind. Sie lassen sich als ursprüngliche Tatsachen nicht weiter zurückführen und müssen einfach auf Glauben hingenommen werden.
    "Eine Bewußtseinstatsache ist demnach eine solche Tatsache, deren Existenz uns gegeben und gesichert ist durch einen ursprünglichen und notwendigen Glauben."
Eine solche Bewußtseinstatsache nennt HAMILTON im Anschluß an die Terminologie der schottischen Philosophie mit Vorliebe einen  belief . Diese  primary beliefs,  die zusammenfassen auch  common sense  genannt werden, sind die letzten Tatsachen, auf die wir bei der Zurückführung unserer Erkenntnisse gelangen. Sie selbst sind notwendigerweise  unbegreifbar Sie erklären wollen, hieße ein höheres Bewußtsein annehmen, um daraus unser Bewußtsein abzuleiten. So
    "beruth unsere Erkenntnis letztlich auf gewissen Bewußtseinstatsachen, die als einfache (primitive) und demgemäß unbegreifliche Daten weniger in der Form von Erkenntnissen den von  beliefs gegeben sind."
Auf die Wahrhaftigkeit dieser  konstitutiven beliefs  stützt sich all unser Wissen und Erkennen. Die Unbegreifbarkeit dieser  beliefs  ist natürlich kein Grund, ihre Wahrhaftigkeit (veracity) anzuzweifeln. Die entscheidende Bedeutung dieses Satzes tritt vor allem in der Lehre von der  Dualität des Bewußtseins  zutage.

Ein  wichtiger Unterschied  besteht jedoch zwischen diesen  unmittelbaren Tatsachen  des Bewußtseins und der  Wahrheit  dessen, was sie  bezeugen.  Es handelt sich um denselben Unterschied, den wir bei der Vernehmung eines Zeugen zwischen der Wirklichkeit seiner Aussage und der Wahrheit derselben machen können. Zur Verdeutlichung desselben geht HAMILTON wiederum von einem Akt der Perzeption (Wahrnehmung) aus. In einem solchen ist uns ein Doppeltes gegeben: das wahrnehmende Ich und das wahrgenommene Nicht-Ich. Beruth die Realität bäder auf derselben unumstößlichen Gewißheit? Nein. Unumstößlich gewiß ist auch hier wie im angeführten Fall nur die Tatsächlichkeit des Zeugnisses: das Bewußtsein bezeugt uns eine Außenwelt, ein außer uns Existierendes. An der Bewußtseinstatsache, daß uns ein Ich und ein von ihm Unterschiedenes gegeben sind, zu zweifeln, wäre in sich widersprechend, da ein solcher Zweifel sich selbst aufhebt. Es ist aber ein Irrtum, wenn man, wie STEWART, behauptet, die Existenz der Außenwelt sei uns in demselben Grad gewiß wie die Tatsächlichkeit des uns im Bewußtsein Gegebenen oder die Tatsache anderer Bewußtseinssubjekte. Man könnte vielmehr ohne Widerspruch sagen: da das Bewußtsein nur eine Erscheinung ist, so mag der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt nur scheinbar, nicht wirklich sein. Das als äußere Wirklichkeit gegebene Objekt mag nur eine geistige Vorstellung (mental presentation) sein, die der Geist nach einem unbekannten Gesetz hervorbringen und für etwas von ihm Verschiedenes halten muß.

Aus der Betrachtung des ersten Gesetzes hat sich uns ein Doppeltes ergeben: der Begriff einer Bewußtseinstatsache und die Unterscheidung der Tatsächlichkeit und der Wahrheit ihres Zeugnisses.
    "Unter einer Bewußtseinstatsache, die vorzüglich so genannt wird, verstehen wir eine  ursprüngliche (primary) und  allgemeine (universal) Tatsache unseres geistigen Seins (intellectual being)".
Diese Tatsachen sind von zwei Arten:
    1. die im Bewußtsein selbst gegebenen und
    2. die, welche das Bewußtsein nicht zugleich gibt, deren Realität es bloß bezeugt (the reality of which it only bears evidence).
Die erste Tatsachenreihe steht außerhalb jeder Diskussion. Denn sie schließt jeden Zweifel aus. Nicht die  Realität  des Bewußtsins, sondern seine  Wahrhaftigkeit  haben wir zu erweisen. Das Problem stellt sich demnach, ob die Autorität jener Tatsachen als einleuchtender Beweis für etwas, das jenseits ihrer selbst liegt, gelten darf.

Als  zweites  Gesetz der psychologischen Forschung führt HAMILTON das  Gesetz der Integrität (law of integrity) an. Dieses besagt: Die ganzen Tatsachen des Bewußtseins müssen ohne Rückhalt angenommen werden, ob sie uns als konstituierende oder regulative Daten gegeben werden.

Das  dritte  Gesetz bezeichnet HAMILTON als  Gesetz der Harmonie (law of harmony). Nach diesem
    "dürfen nichts als die Tatsachen des Bewußtseins angenommen, oder wenn Vernunftschlüsse zugelassen werden, so dürfen diese zumindest nur insofern als rechtmäßig erkannt werden, als sie von den unmittelbaren Daten des Bewußtseins abgeleitet sind oder sich ihnen unterordnen lassen; jede Behauptung muß als unrechtmäßig zurückgewiesen werden, die im Widerspruch zu ihnen steht."
Gegen beide Gesetze verstößt z. B.. die Behauptung BROWNs, wir erführen nur Veränderungen des Ichs (modifications of the Ego), wonach das Nicht-Ich, sofern es von uns erkannt wird, nur eine Modifikation des Ichs wäre, die wir unter dem Druck einer Selbsttäuschung für etwas Äußeres und vom Ich Verschiedenes ansähen. Im Gegensatz dazu bezeugt das Bewußtsein, daß
    "der Gegenstand, dessen wir uns in der Wahrnehmung bewußt sein, die äußere Wirklichkeit als existierend und nicht bloß ihre Repräsentation im wahrnehmenden Subjekt ist."
Diese Bestreitung der einzigen Möglichkeit, die HAMILTON selbst für die Zurückweisen des  Zeugnisses  unseres Bewußtseins offen läßt, und die nach ihm  ohne Selbstwiderspruch  behauptet werden kann, drückt im negativen Sinn seine Lehre vom Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung aus, die positiv im Begriff der Dualität des Bewußtseins angelegt ist.


IV. Die Dualität des Bewußtseins

HAMILTONs Lehre läßt sich als Idealismus bezeichnen, insofern sie das Erkennen auf die Erscheinungswelt einschränkt. In bewußtem Gegensatz zu den verschiedenen Systemen des Idealismus macht sich jedoch ein ausgeprägter realistischer Grundzug in seiner philosophischen Gesamtauffassung in der Lehre von der  Dualität des Bewußtseins  geltend. Er wird nicht müde, immer wieder hervorzuheben, daß in der Stellungnahme zum Problem der Realität der Erscheinungswelt das eigentliche Kennzeichen eines philosophischen Systems gegeben ist. Demgemäß glaubt er hierin das hauptsächlichste Einteilungsprinzip gefunden zu haben, dem sich alle großen Systeme unterordnen lassen. Auf diese Einteilung werden wir näher im vierten Kapitel dieses Abschnitts eingehen. Es ist nach HAMILTON das große Verdienst REIDs, daß er diese Grundtatsache des Bewußtseins den herrschenden philosophischen Auffassungen zum Trotz zur Voraussetzung seines Philosophierens gemacht und an der Wahrheit desselben als eines ursprünglichen Gefühls (belief) festgehalten hat. Deshalb nimmt die Erörterung, ob REID ein  Realist  gewesen ist, in den Darlegungen seiner  Vorlesungen  und Abhandlungen einen nicht unbeträchtlichen Raum ein So unbezweifelbar dies für HAMILTON feststeht, so hebt er doch des öfteren hervor, daß sein großer Vorgänger selbst Anlaß zur Bezweiflung seiner realistischen Auffassung, vor allem durch die bereits erwähnte Auffassung der Wahrnehmung als eines besonderen Vermögens neben dem Bewußtsein und durch den Mangel einer Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erkenntnis gegeben hat. Dadurch sei es ihm auch nicht möglich gewesen, seine eigene Lehre deutlich gegen die einzelnen idealistischen Systeme abzugrenzen und diese untereinander genau zu scheiden.

Die ganze Lehre von der  Dualität des Bewußtseins  hat HAMILTON zuerst in der "Philosophy of Perception", einer Abhandlung, die er ein Jahr nach dem Aufsatz über COUSINs Lehre vom Unbedingten in der  Edinburgh Review  veröffentlicht hat, dargelegt. Sie ist der eigentliche Kern seiner philosophischen Darlegungen, denn aus der Anerkennung und Deutung dieser Grundtatsache entwickelt sich folgerichtig seine Lehre über die Wahrnehmung und ihren Gegenstand, die sowohl in den Vorlesungen, wie auch in den  Dissertations  zu REIDs Werken das Interesse unseres Philosophen am stärksten beansprucht. Wir haben bereits mehrfach Gelegenheit gehabt, auf die  Dualität des Bewußtseins  hinzuweisen, da sie in der Erörterung über die ursprünglichen Tatsachen des Bewußtseins immer wieder als klassisches Beispiel von HAMILTON verwandelt wird. Er selbst kommt auf keinen Gegenstand so oft und eindringlich wie auf diesen Kardinalpunkt seiner Philosophie zurück.

In den "Discussions" formuliert er die Lehre so:
    "Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf den einfachsten Wahrnehmungsakt konzentriere, so kehre ich von meiner Beobachtung mit der unwiderstehlichsten Überzeugung von zwei Tatsachen oder besser: zweier  Teile (branches) derselben Tatsache zurück: daß ich bin und daß ein von mir Verschiedenes existiert. In diesem Akt bin ich mir meiner selbst als des wahrnehmenden Subjekts und einer äußeren Wirklichkeit als des wahrgenommenen Objekts bewußt; und ich bin mir beider Existenzen in demselben unteilbaren Augenblick der Intuition bewußt. Die Erkenntnis des Subjekts geht der Erkenntnis des Objekts weder vorauf, noch folgt sie ihr: die eine bestimmt weder die andere, noch wird sie durch die andere bestimmt."

    "Beide, Subjekt und Objekt, werden in der Synthesis der Erkenntnis als vereinigt, aber als entgegengesetzt in der Antithesis der Existenz gegeben."

    "Das Bewußtsein gibt uns nicht nur eine Dualität, sondern es gibt seine Elemente in demselben Gleichgewicht und in derselben Unabhängigkeit. Das Ich und das Nicht-Ich, Geist und Materie, werden nicht nur zusammen, sondern in absoluter Gleichheit gegeben."

    " Das ist die Tatsache der Wahrnehmung, die das Bewußtsein enthüllt, und wie sie die Menschheit in ihrer übereinstimmenden Versicherung der Wirklichkeit einer Außenwelt und ihrer eigenen Existenz bestimmt. Das Bewußtsein erklärt unser Wissen von körperlichen Qualitäten als ein intuitives Wissen."
Demgemäß sind auch die Philosophen, deren Lehre in Widerspruch "zur Stimme des Bewußtseins und der natürlichen Überzeugung der Menschheit" steht, sich dieses Gegensatzes bewußt gewesen. Die Überzeugung von der Wirklichkeit der Außenwelt gehört demnach zu den  Erkenntnissen aus erster Hand  zu den  primary beliefs,  auf die alle unsere mittelbaren Erkenntnisse letztlich zurückzuführen sind.

Kann die Wahrheit dieser Bewußtseinstatsache bezweifelt werden? Als subjektives Erlebnis ist sie, wie wir gesehen haben, über allen Zweifel erhaben: wir finden in uns das Zeugnis eines außerhalb von uns existierenden  Etwas  vor. Es kann nur ein Streit darüber entstehen, ob dieses Zeugnis wahr ist. Man könnte einwenden, das, was das Bewußtsein bezeugt, sei nur eine Repräsentation des Nicht-Ichs. In diesem Fall
    "würde die Wahrheit des Zeugnisses für ein über seine eigene ideelle Existenz hinaus Wirkliches bezweifelt oder geleugnet werden."
Einen solche Zweifel, der sich ebenso auf das Wissen von Vergangenem erstrecken würde, schlösse die Behauptung ein, die Aussage des Bewußtseins dürfe nicht als wahr anerkannt werden.

Demgegenüber macht HAMILTON geltend:
    1. Der Idealist, der die Wahrhaftigkeit des Bewußtseins bestreitet, hat diese Zurückweisung derselben zu rechtfertige. Er hat aber den Nachweis zu führen, daß das Bewußtsein trügt. Damit wäre aber die Grundlage aller Philosophie zerstört.

    2. Die Dualität des Bewußtseins gehört zu den  primary beliefs, die überhaupt nicht bewiesen werden können, denn ein jeder Beweis schlösse ein höheres Bewußtsein ein. Sie könnten nur dann abgelehnt werden, wenn der Nachweis erbracht würde:
      1. daß sie einander widersprechen,
      2. daß aus die ihnen notwendigerweise gezogenen Konsequenzen zueinander in Widerspruch stehen.
Daß sie unerklärlich sind, ist kein Beweis gegen sie. "Wir wissen, daß sie sind, nicht, wie sie sein können." Wenn man hierfür im Ernst eine Erklärung fordern würde, so hieße das die Frage erheben, wie Bewußtsein überhaupt möglich ist. Eine solche Frage ist aber sinnlos und  unphilosophisch,  da sie zu denen gehört, "welche die Möglichkeit eines Vermögens außerhalb des Bewußtseins voraussetzen".

Mit diesen Ausführungen ist zugleich der Bewußtseinsbegriff HAMILTONs vollständig umschrieben. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die unmittelbare Erkenntnis der Außenwelt nicht in jener ersten Auffassung des Bewußtseins mitgedacht werden kann, wonach es nur das Wissen von den Zuständen und Affektionen des eigenen Ichs ist. Wir haben vielmehr ebenso ein unmittelbares Bewußtsein vom Nicht-Ich. Diese Dualität des Bewußtseins ist bereits in jener Bedingung desselben enthalten, die HAMILTON als  discrimination  eingeführt hat. Sein Argument gegen den "Repräsentationismus", der nur  geistige Repräsentionen  der  äußeren Wirklichkeit  im Ich zulassen will, ergibt sich als selbstverständliche Konsequenz aus diesem Begriff vom Bewußtsein. Wir können nicht verstehen, wie diese Darlegungen in ermüdender Breite von HAMILTON in allen möglichen Wendungen wiederholt werden, da sie doch nur darauf hinauslaufen, das als wahr zu bestätigen, was von vornherein als wahr, weil im Bewußtsein enthalten, vorausgesetzt ist. Was ist aber damit bewiesen? Bewiesen wäre im günstigsten Fall nur die Denknotwendigkeit der Existenz einer Außenwelt, oder um diesen Ausdruck sinngemäßer zu beschränken: eines Nicht-Ichs. Durch die Scheidung des Bewußtseinszeugnisses und der Wahrheit dieses Zeugnisses hat sich HAMILTON in einen eigentümlichen Gegensatz zum subjektiven Idealismus gestellt, auf dessen Grundvoraussetzung allein eine solche Unterscheidung erst möglich werden konnte. Es erscheint freilich schon jetzt zweifelhaft, ob es sich bei dieser Polemik noch um ein wirkliches und nicht vielmehr ein künstlich geschaffenes Problem handelt, das aus dem unausgeglichenen Nebeneinander des subjektiv-idealistischen und des objektiv-realistischen Zuges seiner Philosophie erwachsen mußte.

In der erwähnten Abhandlung über die "Philosophie der Wahrnehmung" macht HAMILTON zwei wichtige Einschränkungen, um den Sinn seiner Lehre vor jedem Mißverständnis zu schützen. Er führt aus, daß die Realität der Außenwelt von ihm nicht in dem Sinn behauptet wird, als würden wir die äußere Wirklichkeit in sich erkennen, sondern daß alle Erkenntnis derselben nur relativ ist. Nachdem er den Satz von der Dualität des Bewußtseins ausgesprochen hat, fügt er bei, diese Lehre könne nur unter der Voraussetzung von primären, sekundär-primären und sekundären Qualitäten der Materie behauptet werden. So wird sich erst bei der Betrachtung über seine  Qualitätenlehre,  auf die wir bereits bei der Würdigung seiner Lehre von der  Relativität des Erkennens  verwiesen haben, herausstellen, welchen Sinn die von ihm behauptete  Realität der Außenwelt  haben kann. Die Lehre über die Qualitäten kann aber nur im Zusammenhang mit der Lehre über den  Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung  entwickelt werden. Bevor wir zu dieser übergehen, haben wir noch einen Punkt klarzulegen, der in der Polemik gegen REID eine große Rolle spielt: den Unterschied zwischen  unmittelbarer  und  mittelbarer  Erkenntnis.

Die weiteren Grundtatsachen des Bewußtseins, die HAMILTON der Dualität des Bewußtseins anreiht, haben ein bloß  psychologisches,  kein  erkenntnistheoretisches  Interesse (10). Es könnte uns verwunderlich erscheinen, wie beide Gesichtspunkte bei ihm so wirr durcheinander gehen; doch ist eine reinliche Scheidung derselben auch in der modernen Logik nur ein Postulat, das sich zudem keineswegs allgemeine Anerkennung verschafft hat. So wirkt bei HAMILTON deutlich die Überlieferung des englischen Empirismus in seiner Erkenntnislehre nach, die sich bei LOCKE aus den psychologischen Reflexionen über den Ursprung der  Ideen  entwickelt hat. Für unseren Zweck haben diese rein psychologischen Darlegungen keinerlei Bedeutung. Von Interesse hingegen erscheinen die drei  principal facts,  die gewissermaßen die Schlußsteine der Lehre über das Bewußtsein bilden: die  Selbst-Existenz,  die  geistige Einheit  (mental unity), die gegen HUME und KANT behauptet wird und die  geistige Identität (mental identity), die er gegen KANTs Kritik verteidigt. Alle drei sind ihm gleicherweise als Tatsachen des Bewußtseins verbürgt; jeder Zweifel daran verstößt also gegen das  Gesetz der Integrität.  HAMILTON deutet auch hier nur aus dem Bewußtseins heraus was er bereits hineingelegt hat. Doch setzt er sich in seinen Ausführungen gegen HUME und KANT insofern mit sich selbst in Widerspruch, als er doch selber lehrt, die  Substanz  sei für uns nur ein unbekanntes Etwas, das wir als die den Erscheinungen zugrunde liegende Basis denken müssen.


3. Kapitel
Unmittelbare und mittelbare Erkenntnis

Über den Unterschied zwischen  unmittelbarer  und  mittelbarer  Erkenntnis handelt HAMILTON in den "Dissertations" zu REIDs Werken ausführlich und außerdem in den "Vorlesungen", wo er das Wesentlich darüber in kürzerer Form zusammenfaßt. Als Beispiel führt er hier das Phantasiebild einer Kirche an. Unmittelbar erkenne ich in diesem Fall das Bild der Kirche als geistige Repräsentation in mir; mittelbar erkenne ich durch diese den wirklichen Gegenstand.

HAMILTON betrachtet beide Erkenntnisarten nach  fünf  Gesichtspunkten:
    1. Als  Akte: die unmittelbare Erkenntnis stellt sich als ein einfacher, die mittelbare als ein zusammengesetzter Akt dar. Denn in jener erfasse ich nur einen Bewußtseinsinhalt, in dieser hingegen werde ich mir einmal einer Modifikation meines Ichs und außerdem dieser Modifikation als einer Repräsentation eines Gegenstandes außerhalb meines Bewußtseins bewußt.

    2. Bezüglich ihrer  Objekte: In einem Akt der unmittelbaren Erkenntnis fallen das Objekt als Inhalt des Bewußtseins und das Objekt als existierend zusammen. In einem Akt unmittelbarer Erkenntnis unterscheide ich das bewußte Objekt von dem mir bloß repräsentierten, aber unbekannten Gegenstand.

    "Das unmittelbare Objekt oder das in diesem Akt erkannte Objekt, sollte das subjektive Objekt oder Subjekt-Objekt zur Unterscheidung vom mittelbaren oder unbekannten Objekt, das als Objekt-Objekt im Gegensatz zu jenem bezeichnet werden könnte, heißen."

    3. Als  Urteile:  als Bewußtseinsakte schließen beide Erkenntnisarten ein Urteil ein und zwar die unmittelbare Erkenntnis ein assertorisches [gewiß-sicheres - wp], die mittelbare Erkenntnis ein problematisches Urteil, da in diesem Fall die Realität des repräsentierten Objekts nur als Möglichkeit gegeben ist.

    4. Bezüglich der  Sphäre, auf die sich beide erstrecken: die repräsentative (mittelbare) Erkenntnis ist ausschließlich subjektiv, da ihr unmittelbarer Gegenstand eine bloße Modifikation des Bewußtseins ist. Die intuitive (unmittelbare) Erkenntnis ist entweder subjektiv oder objektiv, denn ihr einziger Gegenstand kann entweder eine Erscheinung des Ichs oder des Nicht-Ichs, entweder ein Geistiges oder Materielles sein.

    5. Bezüglich der  Vollkommenheit des Erkennens: Eine intuitive Erkenntnis ist vollständig und absolut, eine repräsentative ist als Akt unvollständig, da sie sich auf eine Existenz jenseits des Bewußtseins bezieht und sie vertritt. Ebenso ist das Objekt der ersteren vollständig, da es zugleich erkannt wird und real ist, wogegen das gewußte Objekt der zweiten  ideal und das nicht gewußte  real ist. In ihren Beziehungen zueinander betrachtet, ist die unmittelbare Erkenntnis sich selbst genügend, die mittelbare Erkenntnis hängt dagegen, um verwirklicht zu werden, von jener ab.  Hamilton erwähnt die Scholastiker, die im Gegensatz zu den meisten anderen Philosophen, die Unterscheidung zwischen unmittelbarer (cognitio intuitiva) und mittelbarer Erkenntnis (cognitio abstractiva) streng durchgeführt hatten.
Danach sind  äußere  Wahrnehmung oder  Wahrnehmung schlechthin (perception) und  innere Wahrnehmung  oder  Selbstbewußtsein präsentative  oder  intuitive  Vermögen, da wir durch sie das Nicht-Ich bzw. das Ich  unmittelbar  erkennen. Die  Einbildungskraft  oder  Phantasie  ist ein  repräsentatives  Vermögen, das sich sowohl auf die Erscheinungen der inneren wie der äußeren Welt bezieht. Da das Bewußtsein eine Erkenntnis nur von dem ist, was  jetzt  und  hier  dem Geist gegenwärtig ist, so ist jede unmittelbare Erkenntnis ein Objekt des Bewußtseins und jede unmittelbare Erkenntnis nur eine besondere Form desselben. Insofern das Bewußtsein aber alle Erkenntnisakte umfaßt, müssen die mittelbaren Erkenntnisse in den unmittelbaren Erkenntnissen enthalten sein. Nun wissen wir aber, daß diese in ihrem letzten Grund ursprüngliche Bewußtseinstatsachen,  primary beliefs  sind, und darum kann man im Sinne HAMILTONs sagen: unser ganzes Erkennen beruth auf dem Glauben.

REID hat den Unterschied beider Erkenntnisweisen völlig außer Acht gelassen. Dadurch hat er die beiden Hauptformen des  Repräsentationismus  nicht voneinander geschieden und so konnte ihn BROWN selber für einen Vertreter des  Idealismus  in dem Sinne halten, daß dieser unser unmittelbares Wissen auf die Zustände des Ichs beschränkt. Ebenso hängt seine  Lehre vom Gedächtnis  als eines  unmittelbaren  Wissens vom Vergangenen mit diesem Irrtum zusammen. Die ungenaue Auffassung REIDs bezüglich des eigentlichen Objekts der  Wahrnehmung  hat ebenfalls hier ihre Quelle, da er fälschlich annimmt, wir könnten unmittelbar irgendein von uns entferntes Objekt erkennen.
LITERATUR: Franz Nauen, Die Erkenntnislehre William Hamiltons, Straßburg 1911
    Anmerkungen
    9) THOMAS REID, Intellectual Powers, Works, Seite 442
    10) Die erste dieser  allgemeinen Erscheinungen (general phaenomena), wie er sie auch nennt, betrifft die Frage: ob wir immer bewußt tätig sind? Mit Heranziehung psychologischer Beobachtungen (Schlaf, Somnambulismus) glaubt HAMILTON diese Frage bejahen zu können. Gegen LOCKE zeigt er, daß Bewußtsein und Erinnerung an einmal Bewußtes nicht gleichbedeutend sind (Lectures XVIII). Mit einem noch größeren Aufwand von längeren Zitaten aus zeitgenössischen Psychologen entscheidet er in der folgenden Vorlesung die Frage, ob der Geist jemals unbewußt modifiziert wird? Diese Frage bejaht er mit Berufung auf CARDAILLAC, DAMIRON und insbesondere auf LEIBNIZ. Im Anschluß an die Dualität des Bewußtseins behandelt HAMILTON die Lehre vom Verhältnis von Leib und Seele. Er weist alle darauf bezüglichen Hypothesen zurück, da sie alle über das Feld der Beobachtung hinausgehen. Er verzichtet ausdrücklich auf eine Erkenntnis desselben, da eine "zufriedene Unwissenheit weiser ist als eine eingebildete Erkenntnis".