cr-2W. Windelband A. Huxley C. Lamprecht    
 
RAINER NOLTENIUS
Aphorismus und Systemdenken

Von der dämmerigen Unfaßbarkeit menschlicher Schicksale retten wir uns zur schillernden Helle philosophischer Betrachtungen.

Die ersten Aphorismen wurden früher HYPNOKRATES zugeschrieben, entstammen jedoch der koischen Medizinerschule. Die koischen Mediziner gaben das zusammenhängende Ganze der Tempelmedizin zugunsten empirischer Einzelbeobachtungen auf. So entstand die Form des Aphorismus, die die Erfahrungen als einzelne und deshalb unzusammenhängen darstellte. Ihre prägnante Kürze hatte zugleich eine didaktische Funktion: der medizinische Lehrstoff ließ sich so leichter einprägen und überliefern.

FRANCIS BACON erhob das aphoristische Denken zur wissenschaftlichen Methode: Als Begründer des modernen Empirismus lehrte er, ein widerspruchsloses Denken in Systemen - wie das der Scholastik - vergewaltige die Vielfalt der Wirklichkeit und verhindere den unvoreingenommenen Blick auf die Realität. Daher empfahl er dem wissenschaftlichen Denker der Aphorismus als die Form, gerade weil sie fragmentarisch ist, den Geist besonders anrege.

In dieser Gestalt war der Aphorismus LICHTENBERG, dem Naturwissenschaftler geläufig. Doch übertrug er sie nun, erstmalig im deutschen Sprachbereich - auf damals noch nicht wissenschaftlich erfaßte Bereiche wie Menschenbeobachtung und Selbstbeobachtung und wurde damit zum Begründer der literarischen Aphoristik in Deutschland. Dabei kam seine produktive Phantasie, sein waches "Möglichkeitsdenken", das oft mit Empirie vereint war, z.T. zu überraschenden Denkergebnissen, die wissenschaftlich erst durch FREUD u.a. bestätigt wurden. Der naturwissenschaftliche Ursprung ist in dieser neuen Aphoristik, in der experimentierend gedacht wird, unverkennbar.

GOETHE fixierte u.a. auch die Ergebnisse seiner naturwissenschaftlichen Forschung in Aphorismen. Er tat dies nicht, weil er ein empirischer oder phantastisch experimentierender Forscher gewesen wäre, sondern weil er in dieser Form die "bewegliche Ordnung" der Natur darstellen konnte, vor der jedes starre System versagt hätte.

Der Bergbauingenieur NOVALIS mußte in seinen Gedanken, die die Einheit von Leben und Materie, Subjekt und Objekt beschworen, ebenfalls ein starres System ablehnen. Er griff deshalb zur offenen Form des Fragments.

Der Arzt Feuchtersleben geht in seiner "Diätetik der Seele" weitgehend auf die Aphorismen der griechischen Mediziner zurück, die ja hauptsächlich Verhaltensregeln für bestimmte Krankheitsfälle aufstellen. Freilich schlägt er seine "Diät" nicht mehr für den Körper sondern für den Geist und Seele vor, verfolgt so mit den Aphorismen jedoch praktische Zweckee, die denen der Griechen entsprachen: die Gesunderhaltung oder Heilung der Menschen zu fördern.

Sein Landsmann ARTHUR SCHNITZLER - ebenfalls Arzt - ist drei Generationen später nicht mehr so optimistisch, daß er an eine seelische Therapie durch Aphorismen glauben könnte. Sein durch den Empiriokritizismus ERNST MACHs geprägter Geist verbietet sich jedoch auch, den Versuchen GOETHEs und NOVALIS zu folgen, die mit den Aphorismen die lebendige Einheit alles Daseins darstellen wollten. So schließt er sich wieder der BACONschen Auffassung an, daß der allein empirisch faßbaren Wirklichkeit des Einzelnen nur durch aphoristisches Denken nahezukommen sei.

Hofmannsthal
Der durch NIETZSCHE vermittelte Aphorismus beindruckte den jungen HOFMANNSTHAL als glänzende 'Form'. Das Wahrheitsethos des durch die Krise Gegangenen achtete manche Aphorismen dann als Zeugnisse großer Weisheit. Nach eingehender Beschäftigung mit der aphoristischen Tradition kam auch die zeitweise als bloß fragmentarisch mißachtete Form zur Geltung, weil er erkannte, daß das Fragmentarische auch aus dem Intuitiven hervorgehen könne und dann bedeutender sei als ein sorgfältig kontinuierlich ausgeführter Aufsatz.

Das Aphoristische ist zu einer erstrebenswerten Form geistiger Produktion geworden. Diese außerordentlich positive Bewertung beweist, daß der Aphorismus für HOFMANNSTHAL keine ganz beliebige Form war, die er nur beiläufig erfüllte, sondern daß die Anlage dazu tief in seiner künstlerischen Natur wurzelte. Wir wollen daher seine 'Disposition zum Aphoristiker' untersuchen.

Neben dem Dichterischen und Essayistischen, die beide stärker zur Gestalt drängen, war ihm auf dem Sektor der Reflexion das Aphoristische die Gattung, die dem Leben am meisten gerecht wird. Die ungestaltete Wirklichkeit zeichnet sich nämlich durch "Inkohärenz" und "gräßliche Widersinnigkeit" aus. Das Widersprechende steht nebeneinander, es gibt keine - zumindest keine objektiv erkennbare - Ordnung. "Wirklichkeit ist die 'fable convenue' der Philister", denn sie ist immer schon subjektive Auslegung vorgegebener Fakten. Zu sinnvollen Situationen ordnen sich die Fakten immer erst durch ein denkendes Individuum, an dessen "Gedanken" der "Wille aber mehr Anteil hat als der Verstand".

Dazu muß der Mensch alle seine Kräfte einsetzen: "The whole man must move at once". Der "Weg in die Existenz", den HOFMANNSTHAL einschlägt, geht "durch die Tat, durch das Werk, durch das Kind". So wird die Vereinzelung und Selbständigkeit des Aphorismus der Vielfalt des Lebens und seinen unendlichen Bezügen viel mehr gerecht als ein dogmatische 'Glaube' oder ein philosophisches 'System'. Im Glauben widerspricht das "Gesicherte Funktionieren der Geistlichen" und der dogmatisch Gläubigen dem Werden des Lebens und der notwendigen "Verwandlung" des Menschen. HOFMANNSTHAL empfindet hier einen "Hauch des Todes", weil das Leben mechanisiert wird.

Die gleiche Verfestigung geschieht aber auch durch den Systemdenker, der behauptet, die Unendlichkeit des Lebens in seiner Ordnung erfassen und klären zu können. Das ist nach der Ansicht unseres Aphoristikers ausgeschlossen, weil jener allein mit dem Verstand nach den Gesetzen der Logik arbeitet statt auch den Willen und die Gemütskräfte einzusetzen. HOFMANNSTHAL erfuhr die sinnvolle Einheit des Lebens im Zusammenklingen von Ich und Du und Welt. In den Momenten der Erhöhung erlebte er sein Ich in der Welt und die Welt im Ich, wie wir das oben bei der Interpretation des Aphorismus "Die ganze Welt ist nie 'bei'sammen außer in der 'Ent'zückung" gezeigt haben. Erst durch dieses Ineinander verliert die Wirklichkeit ihre Inkohärenz und wird durch das Ich zur Ganzheit.

Diese Ordnung zeichnet sich gerade durch lebendiges Werden aus. Die Antithese ist ihr Strukturprinzip und wird es deshalb auch in einer Vielzahl von Aphorismen. Wer eine lebendige Ordnung 'ahnt', wird nie versuchen, sie in einem zusammenhängenden System darzustellen. Der Aphorismus bietet dagegen die Möglichkeit, aus den verschiedensten Perspektiven von den unterschiedlichsten Themen und Situationen aus auf dieses geahnte Ganze hinzuweisen und es doch - gerade wegen der fragmentarischen Art der Aussage - nicht einzuengen, sondern immer vielschichtiger werden zu lassen.

Das Element der Isolierung gehört zwar zur Definition des Aphorismus und alle Aphoristiker sind Gegner des Systemdenkens, aber dennoch unterscheiden sie sich in der geistigen Grundhaltung, aus der diese Voraussetzungen zur Entstehung des Aphorismus hervorgehen. LICHTENBERG griff nicht deshalb zum Aphorismus, weil ein System wie bei HOFMANNSTHAL, die geahnte Ganzheit zu einem abstrakten Gerippe eingeengt hätte, sondern weil ihm jegliche Ganzheit zerbrochen war und er nicht zur dichterischen Vision durchzudringen vermochte.

Das Ich wurde ihm zur letzten Instanz, so daß sein Denken stets "offen" blieb - in einer viel radikaleren Weise als bei HOFMANNSTHAL. Damit wurden seine Gedanken aber im Inhaltlichen, wenn auch nicht in der Form des Selbstdenkens, unverbindlich, was LICHTENBERG von sich selbst mit den Worten bekannte:
    "Seine Maximen, die er zuweilen äußert, sind nur für eine Stunde gemünzt, in der nächsten verschlägt er sie wieder".
Wegen dieser fehlenden Kontinuität seiner Denkinhalte konnte und wollte er kein philosophisches, wissenschaftliches oder psychologisches System errichten. Die knappe aber prägnante Notiz im Tagebuch war für ihn das Gegebene.

Wie der österreichische Dichter das System verwirft, bestreitet er auch die 'Logik', mit der das System zustandekommt. Deshalb wird NOVALIS zitiert:
    "Den Satz des Widerspruches zu vernichten ist vielleicht die höchste Aufgabe der höheren Logik."
Das hat im 'Buch der Freunde' seine Konsequenz in der häufigen Verwendung des Paradoxon, dieser Form der Vereinigung des Unvereinbaren, aber auch in der Unmöglichkeit, mit den logisch eindeutigen Begriffen zu operieren, die die Geisteswissenschaften und die Philosophie entwickelt haben, denn in ihrer Abstraktheit sind sie in Bezug auf das Leben alles andere als 'exakt'.

Schnitzler
Der Empirismus als Erkenntnis- und Denkform lag SCHNITZLER auch von den Berufserfahrungen her nahe. Wie weit er es auch als Arzt ablehnte, Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, mag der Schlußsatz seiner medizinischen Untersuchung "Über funktionelle Aphonie und ihre Behandlung durch Hypnose und Suggestion" (1889) zeigen:
    "Aus den in den vorstehenden Zeilen angeführten sechs Fällen Schlüsse zu folgern, fühle ich mich nicht berechtigt; ich ziehe es vor, einfach die Eindrücke zu schildern die ich gewonnen."
In einer Rezension einer medizinischen Neuerscheinung spricht er sich grundsätzlich darüber aus:
    "Wir sind so rach mit dem Systematisieren bei der Hand; wir bringen aber eigentlich viel öfter Ordnung in unsere Gedanken als in die Sachen."
Jeder Fall ist individuell und bedarf einer eigenen Betrachtung: Selbst in der Wissenschaft lehnt SCHNITZLER das Systematisieren ab.

Dasselbe gilt von Glaubenssätzen, die mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftreten:
    "Wenn ihr den Gott lobpreist, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt, warum prügelt ihr den Knaben, der ihn herunterschießt?"
Der Aphorismus stellt den Gläubigen eine provozierende Frage. Ironisch auf ein Bibelwort anspielend, weist er den Christen den Widerspruch zwischen ihrem theoretischen Glaubenssatz daß alles durch Gottes Willen geschieht und ihrem praktischen Handeln nach, das von der Voraussetzung der Selbstverantwortung des Menschen für sein Tun ausgeht. -

Damit lernen wir eine weitere aphoristische Funktion der Frage kennen. Sie hat hier dialogischen Charakter, sie spricht mit "ihr" eine ganz bestimmte Gruppe, nämlich die gläubigen Christen, an. Doch ist sie so gestellt, daß ihre Antwort nur eine Relativierung oder gar Aufhebung entweder des Bibelspruches oder des praktischen Tuns bringen kann. Da diese letzte Möglichkeit absurd wäre, handelt es sich um eine rhetorische Frage.

Neben der Frage wird auch die Antithese, oder wie in folgendem Beispiel die Verbindung beider zur Entlarvung einer dogmatischen Haltung verwendet:
    "Weißt du's, Gekreuzigter, denn, ob selig im Glauben du hingingst?
    Ob als todwürdige Schuld heimliche Zweifel du sühnst?"
Dieser "Spruch in Versen" entstammt dem "Ungläubige Distichen" überschriebenen Zyklus, Im ersten Vers wird die Anschauung des Glaubenden in Frage gestellt. Im zweiten Vers setzt der "Ungläubige" eine Gegenthese, die jedoch, weil es sich wieder um ein metaphysisches Thema handelt, mit einem Fragezeichen relativiert wird. Stehen die beiden Thesen inhaltlich auch scheinbar gleichwertig nebeneinander, so läßt die Form SCHNITZLERs Stellungnahme klar erkennen: der erste Vers könnte als Hexameter einen sehr ruhigen rhythmischen Fluß aufweisen, der Spruchdichter stört ihn aber durch drei eine Zäsur schaffende Kommata, damit wird schon klanglich darauf hingewiesen, wie brüchig die These der Glaubenden sei.

Der zweite Vers schließt ab, und spricht damit das letzte Wort zur Sache. Hinzu kommt, daß die natürliche Zweiteilung des Pentameters - übrigens das ideale rhythmische Bild der darin ausgesprochenen Zweifelsthese - in viel organischerem, dem Versmaß entsprechenderen rhythmischen Fluß verläuft. Dadurch wird wieder klanglich die These des Ungläubigen als die natürlichere nahegelegt.

Auch der sogenannte "gesunde Menschenverstand", der sich so gerne der Sprichworte bedient, bleibt nicht unbezweifelt:
    "Selbsterkenntnis ist fast niemals der erste Schritt zur Besserung, aber oft genug der letzte zur Selbstbespiegelung."
Die einschränkenden Worte "fast niemals", "oft genug" sind uns schon als typische Formulierungen des vorsichtigen Empirikers bekannt. Darin spricht sich sein erster Einwand gegen das Sprichwort, ja gegen alle Sprichwörter, aus: ihre apodiktische [unumstößliche - wp] Verallgemeinerung bedenkt nicht die vielen anderen Möglichkeiten, die sich aus derselben Situation (z.B. der Selbsterkenntnis) ergeben können.

Mit relativierenden Zusätzen würden sie an Wahrheit gewinnen: 'Selbsterkenntnis ist manchmal der erste Schritt zur Besserung. Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, wenn er nicht intelligent genug dabei vorgeht.' Damit haben die Sprichwörter sofort an Schlagkraft verloren und wirken nicht mehr als denkersparende unmittelbare, volkstümliche Maximen des Handelns. Die kritisch-intellektuelle Haltung ist es, die den Aphorismus vom Sprichwort unterscheidet.

Der zweite, wichtigere Einwand für SCHNITZLER ist die Nähe der Selbsterkenntnis zur Selbstbespiegelung. Freilich setzt er sie nicht gliech. Erkenntnis hat bei SCHNITZLER immer einen hohen Wert und er bemüht sich in Tagebüchern und Autobiographie viel zu sehr um Selbsterkenntnis, als daß er sie keinen "ersten Schritt" auf etwas Neues, Besseres hin, sondern einen "letzten Schritt" bedeutet, bei dem der Erkennende dann selbstverliebt stehen bleibt. Wenn er dafür den Ausdruck "Selbstbespiegelung" verwendet, erweckt er die Assoziation zu Narziß, der sich an seinem Spiegelbild im Wasser berauscht.

Den vier letzten Beispielen ist folgendes gemeinsam: Stets entlarvt SCHNITZLER darin eine Verallgemeinerung, die mit dem Ausspruch auf dogmatische Gültigkeit auftritt. Einmal war es das unzulässige "Systematisieren" in der Wissenschaft, aus dem irrigen Glauben heraus, man könne nicht nur unsere Gedanken, sondern damit auch die dahinterstehenden Dinge ordnen, dann waren es die dogmatischen Glaubenssätze der Religion und zum Schluß der sich im Sprichwort apodiktisch gebärdende "gesunde Menschenverstand", die von allen Aphoristikern attackierte 'opinio communis'.

Der Skeptizismus SCHNITZLERs benutzt dabei mit Vorliebe die Formen der provozierenden Frage, der Antithese, der Abwandlung eines Sprichwortes, aber auch andere nicht in unseren Beispielen vorkommende: die gegnerische Meinung als Fragesatz, worauf die entlarvende Antwort folgt, eine Maxime als Warnung, indirekte Entlarvung durch die fingierte Rede.

Der Skeptzismus ist für den Empiriker eine notwendige Denkhaltung. Wenn er die Wirklichkeit durch eigene Einzelbeobachtungen erfahren will, muß er alle wissenschaftlichen Systematisierungsversuche, alle philosophischen und religiösen Weltanschauungen sowie traditionelle oder zeitgenössische Synthesen mit seiner Skepsis zersetzen, um ihnen nicht selber zu verfallen und um seine Leser zum möglichst voraussetzungslosen Denken und Erkennen zu erziehen. Aus dieser engen Verbindung von Empirie und Skepsis erklärt es sich, daß er die skeptische Zersetzung der Systeme genau wie seine empirische Abneigung gegen "Symbole, Abstrakta, ja schon die Pluralia" mit ihrer Deutung als Flucht vor der vielfältigen Realität begründet:
    "Von der verwirrenden Vielfältigkeit der Einzelerscheinungen retten wir uns zu der trügerischen Gesetzmäßigkeit naturwissenschaftlicher Systeme; von der dämmerigen Unfaßbarkeit menschlicher Schicksale zur schillernden Helle philosophischer Betrachtungen; von den erschütternden Rätseln der Unendlichkeit zu den ragenden Symbolen der Gottheit, in deren tiefen Schatten die Qual des Zweifels zur Demut des Glaubens sich beruhigt: - und so sind wir stets auf der Flucht aus der chaotischen Wahrheit, die wir weder zu fassen noch zu ertragen imstande gewesen wären, in den trügerischen Trost einer wirllkürlich geordneten Welt." (SCHNITZLER)
Im Nachlaß liegt eine "Autobiographisches Allerlei" überschriebene Mappe, die folgenden wichtigen Passus enthält:
    "Nicht ungestraft habe ich meine Kindheit und meine erste Jünglingszeit in einer Atmosphäre verbraucht ..., in der in den jungen Leuten der falsche Glaube erweckt wurde, sie hätten irgendwelchen klar gesetzten Zielen auf einem vorbestimmten Wege zuzustreben, um dann ohne weiteres ihr Haus und ihre Welt auf sicherem Grunde aufbauen zu können. Man glaubte damals zu wissen, was das Wahre, Gute und Schöne war und das ganze Leben lag in großartiger Einfachheit da. So war mir auch in jenen Tagen der Gedanke noch fern, daß jeder von uns gewissermaßen in jedem Augenblick in einer neuen Welt lebt und daß wie Gott die Welt sich jeder Mensch sozusagen jeden Tag sein Haus von neuem bauen muß."
Diese Abwendung des jungen SCHNITZLER vom klischeehaft gewordenen Humanismus einer älteren Generation steht gewiß im Zusammenhang mit ERNST MACHs Empiriokritizismus. Gerade in der Zeit, als SCHNITZLER und auch noch als Hofmannsthal in Wien studierte, lehrte dieser Naturwissenschaftler und Philosoph dort,
    "daß jeder von uns gewissermaßen in jedem Augenblick in einer neuen Welt lebt" -
wie SCHNITZLER es umschreibt. MACH beschrieb das Ich als eine verhältnismäßig zusammenhanglose Kette von Empfindungen. Der Augenblick ist ihm die einzige sichere Größe, da dieser aber keine Kontinuität hat, muß sich der Mensch "jeden Tag sein Haus von neuem bauen". Daher ist die Einzelerfahrung und konkrete "Gelegenheit" so bedeutsam für SCHNITZLER. Daher muß er die Erkenntnis empirisch aus dem Augenblick gewinnen. Daher gilt sie aber auch nur jeweils für den Augenblick.
    "Tiefe des Gedankens ist keine Eigenschaft an sich. Ein Gedanke erscheint uns dann als tief, wenn er klar, stark und wahr ist, immer also, wenn er vom Hauch des Erlebnisses umwittert ist, dem er seine Entstehung verdankt".
Es ist SCHNITZLER also wichtig, daß ein bedeutender Gedanke kein abstrakter, sozusagen aus der Luft gegriffener, sein kann, sondern daß er durchlebt sein muß und noch Spuren dieses Erlebnisses atmosphärisch spüren lassen muß. Ein Nachlaß-Aphorismus erläutert:
    "Hat man zu einem Gegenstand, zu einer Frage, zu einem Menschen nur eine intellektuelle, verstandesmäßige Beziehung, so hat man keine. Denn gerade das Intellektuelle ist relativ; es ist durch neue Erfahrungen etc. Veränderungen unterworfen. Nur auf die gefühlsmäßigen Beziehungen kommt es an; sie sind die reichern und die wahrern. Ihre Motive liegen im Unbewußten, vielmehr in Vergessenem, Zusammengefaßten".
Für den von MACHs Empfindungslehre beeinflußten Psychologen SCHNITZLER kommt eine abstrakt -intellektuelle - und das hieße bei SCHNITZLER rationalistische - Enstehung von Aphorismen also nicht in Frage. Rationalismus ist für das aphoristische Denken unmöglich, da die Ratio zum Herstellen von Zusammenhängen, also zum Schaffen von systematischen Darstellungen neigt. (Andere intellektuelle Entstehungsbedingungen sind schon möglich - wenn auch von SCHNITZLER nicht verwirklicht: z.B. das experimentierende Denken, das "irdisch" nicht realisierten Möglichkeiten nachgeht, wie ein großer Teil der LICHTENBERGischen und MUSILschen Gedanken.)

Wenn die Aphorismen also aus dem individuellen Erlebnis des Augenblicks hervorgehen, welchen allgemeinen Erkenntniswert können sie dann noch beanspruchen?
    "Wenn ich etwas glaube, so messe ich diesem Glauben nicht einmal für mich selbst jemals dogmatische Bedeutung bei. Das, was ich meinen Glauben nenne, ist nur der Ausdruck dafür, daß mir nach meiner Anlage, meinen Erfahrungen, meiner Denkart, für irgendeine bestimmte Erscheinung, irgendeine bestimmte Erklärung als die plausibelste erscheint; - keineswegs der Ausdruck dafür, daß ich bereit wäre, für diesen meinen Glauben, d.h. also für die allgemeinen Beweiskraft meiner persönlichen Erfahrungen oder die Alleingültigkeit meiner persönlichen Denkweise in den Tod zu gehen. Das Martyrium war immer nur ein Beweis für die Intensität, niemals für die Richtigkeit meines Glaubens. Und wir können den andern niemals den Glauben an das suggerieren, was wir glauben, sondern im allerbesten Fall nur den Glauben an unseren Opfermut".
Hier wird mit aller Deutlichkeit hervorgehoben, wie SCHNITZLER sich die Entstehung seines "Glaubens" - und das heißt seiner Überzeugungen - denkt, die er in so abstrakter Form nur in den Aphorismen ausgesprochen hat: "nach meiner Anlage, meinen Erfahrungen, meiner Denkart". Die so häufige Betonung des "mein", das dann noch durch das zweimalig verwendete Adjektiv "persönlich" verstärkt wird, soll die Subjektivität des Vorgangs betonen. Solche Einsicht bringt es mit sich, daß er den Aphorismen nicht einmal für sich selbst, geschweige denn für sein Leserpublikum, dogmatische Bedeutung beimißt. Das Denkergebnis hat ja keine "allgemeine Beweiskraft", sondern nur persönliche Plausibilität.

SCHNITZLER scheute jede verpflichtende Bindung, weil er in jedem kommenden Moment völlig unbefangen und frei sein wollte für einen erhöhten Augenblick, der ihn zu verwandeln vermöchte. Dahinter steht wie auch bei der Forderung nach erlebendem Selbstdenken - er ERNST MACHsche Empiriokritizismus, dem das Ich nur eine "ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit" darstellte. Er betonte, daß die "Empfindungskomplexe die Körper" bilden, nicht etwa umgekehrt die Körper die Empfindungen. Der Augenblick der Empfindung ist danach das einzig reale Element des Lebens. Das Ich aber ist nur eine zweckmäßige ("denkökonomische") Abstraktion.

Treue ist nach dieser Anschauung Schwäche. Treu sind die Menschen, die, in Konventionen erstarrt, Zustände und Empfindungen mit sich herumschleppen, die durch ihre gegenwärtigen Empfindungen längst überholt sind. Distanz in der Freundschaft uns was nach den traditionellen Anschauungen der Ich-Kontinuität als Untreue der Liebe gilt, bedeutet für SCHNITZLER ein Sich-Offenhalten für andere Menschen und Situationen, um den Augenblick stets neu zu erfahren und sich in ihm zu verwandeln.
LITERATUR - Rainer Noltenius, Hofmannsthal-Schröder-Schnitzler, Möglichkeiten und Grenzen des modernen Aphorismus, Stuttgart 1969