ra-2Objektivität Heinrich Cohn    
 
GUNNAR MYRDAL
Wertbegriff und Wirtschaftsführung
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Die Vorstellung eines "Wirtschaftens" ist nur eine Formulierung der "kommunistischen Fiktion", die sich durch die ganze Nationalökonomie zieht.

Alle diese Versuche, einen tieferen Wertbegriff hinter den Tauschrelationen zu begründen, werden beherrscht von dem Bestreben, zu wirtschaftlichen Normen zu kommen. Ob man sich bei der Bestimmung des Wertes an Nutzen oder Kosten einer Ware hält, schließlich kommt man meistens auf einen für alle Individuen gemeinsamen Wert, den  sozialen Wert.  Streng genommen ist dieser Gedanke schon notwendig, um Wert mit  justum pretium  (gerechtem Lohn) identifizieren zu können, denn das letztere muß ja objektiv und deshalb einheitlich fixiert vorgestellt werden, es ist selbst ein sozialer Wert.

Der soziale Wert ist der Wert, den "die Gesellschaft" setzt, er drückt Nutzen oder Opfer für die Gesellschaft als Ganzes. Um diese Konstruktion zu ermöglichen, kann man sich alle Menschen in dem Maße gleich vorstellen, wie Nutzen eines Objekts oder seine Arbeitskosten für alle gleich angenommen werden. Zuweilen stellt man sich auch gesellschaftliche Durchschnittsnutzen oder Durchschnittskosten vor, ein Gedanke, der schon recht bald in der Nationalökonomie dahin umgeformt wird, daß man die Aussagen auf einen "economic man" bezieht, der u.a. auch die Eigenschaft hat, ein "normales", durchschnittliches Individuum zu sein.

Wählt man keinen dieser beiden Wege, so wird man genötigt, sich mehr unmittelbar die Gesellschaft als Subjekt für die Wertsetzung zu denken in direkter Analogie mit der Wertsetzung durch ein Individuum, d.h. man muß sich die Gesellschaft vorstellen als einen einheitlichen Organismus, eine Personifikation, die selbst auswählt, genießt, opfert, schafft oder andere ähnliche Tätigkeiten vollzieht. Diese organische Gesellschaftsauffassung kann nun ihrerseits wieder eine mehr oder weniger ausdrückliche Formulierung erhalten, oder auch unter der Ausdrucksweise vom "Natürlichen" sich verbergen.

Der Gedanke, daß es so etwas geben muß wie eine gesellschaftliche Wirtschaftsführung, hat der Terminologie innerhalb unserer Wissenschaft den Stempel aufgedrückt. Der Unbefangene, der nicht schon mit den philosophischen Schwierigkeiten des Gedankens bekannt geworden ist, wird sich, wenn er die sprachübliche Verdeutschung von Nationalökonomie, "Volkswirtschaftslehre" hört, darunter die Lehre von einer Wirtschaftsführung vorstellen, deren Subjekt das Kollektivum "alle Mitglieder der Volkswirtschaft" ist, die mithin an der einheitlichen Zweck- und Wertsetzung dieses Kollektivums orientiert scheint.

Was ist der Inhalt im Begriff der Volkswirtschaft im Sinne einer gesellschaftlichen Wirtschaftsführung? Zunächst ist es klar, daß die Vorstellung eine Analogie enthält von einem Individuum, das eine Einzel- oder Familienwirtschaft leitet, zum Kollektivum, zur Gesellschaft als Ganzem. Die Analogie wird gerade in dieser Form ausgeführt bei ADAM SMITH und JAMES MILL. Nach JOHN STUART MILLs Kritik und nachdem sich die neuen Ideen über die Grenze zwischen praktischer und theoretischer Nationalökonomie mehr durchgesetzt haben, wird die Analogie im allgemeinen nicht mehr so präzisiert hervorgekehrt wie vordem.

Der Gedanke aber bleibt derselbe. Wir leben in einer Welt, wo unsere Bedürfnisse praktisch unendlich sind, wo aber die Mittel zu ihrer Befriedigung stets irgendwie begrenzt sind. Jeder einzelne muß offenbar wirtschaften. Das ist der elementare Erfahrungssatz, auf den die Nationalökonomie aufbaut. Wirtschaften heißt, seinen Bedarf maximal unter den geringsten Opfern zu decken. Dieser Gedanke führt später die Grenznutzentheorie zu einer Lehre vom hedonistischen Gleichgewicht, wo die Grenznutzen- und Grenzopfergrößen den Tauschwerten proportional sind und deshalb der Nettonutzen maximiert.

Nun liegt es in der Gesellschaft ebenso, nimmt man an, die Mittel der Bedürfnisbefriedigung sind stets begrenzt, gewiß nicht absolut, aber deswegen, weil sie stets vermehrte Anstrengungen zu ihrer Erstellung erfordern. Die Bedürfnisse der Menschen sind auf der anderen Seite unendlich, sie können nicht anders als nur in einem gewissen Grade befriedigt werden. Es geschieht so etwas wie eine gesellschaftliche Wirtschaftsführung, das läßt sich gar nicht bestreiten, und es ist diese gesellschaftliche Wirtschaftsführung, die wir in der Nationalökonomie studieren.

Was ist mit dieser Analogie gewonnen? Sehen wir zu, was die Theorie sagt. Wir bekommen einen einheitlichen Gesichtspunkt für den ganzen Wirtschaftsablauf. Das Chaos verwandelt sich in Kosmos. Die Preisbildung ist nicht merh nur ein Spiel blinder Kräfte, sie bezeichnet vielmehr die Art und Weise, in der die Gesellschaft in jedem Augenblick das notwendige Haushalten mit ihren knappen Mitteln bewirkt. Es kommt Sinn und Zweck in einen sonst nur ursachenverbundenen Ablauf.

Man kann die wirtschaftlichen Phänomene in zwei große Gruppen einteilen: solche, die als ein relatives Hindernis für diese gesellschaftliche Wirtschaftsführung erscheinen, und solche, die gewisse Funktionen bei dieser Wirtschaftsführung erfüllen. Unter den Hindernissen haben wir z.B. das sogenannte Trägheitsmoment oder die Friktionen (Reibungen), z.B. die Schwierigkeit, die Arbeitskraft von einem lokalen Markt auf einen anderen zu überführen.

Aber wenigstens in einem abstrakten Fall von Wirtschaft, wo wir freie Konkurrenz usw. haben, erfüllen alle wirtschaftlichen Phänomene gewisse Funktionen. Besonders die Preise sind von Wichtigkeit. Sie sind es eigentlich, die ein gesellschaftliches Wirtschaften bewirken. Sie erfüllen vor allem die Funktion, das Angebot von Produkten und damit von Produktionsfaktoren zu stimulieren. Sie veranlassen auch die Produktionsfaktoren, gerade die Produkte herzustellen, deren die Konsumenten bedürfen, und zwar gerade in solcher Menge, daß die Nachfrage darin aufgeht, dabei steigt der Preis bis zu einem bestimmten Niveau, so daß Produktionsfaktoren gerade für die Produktion dieser Menge zur Verfügung stehen.

Es ist die Konsumtion, die die Produktion leitet. Das ist der Inhalt des Satzes, daß die Produktionsfaktoren durch die Preisbildung gerade in ihre wirtschaftlichste Verwendung geleitet werden. Gleichzeitig erfüllen die Preise eine Funktion, indem sie die Nachfrage beschneiden gerade an den vom Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Wirtschaftsführung aus richtigen Punkten. Indem nun die Preise beide Funktionen gleichzeitig erfüllen, erhalten wir Gleichgewicht in der gesellschaftlichen Wirtschaft.

Bei Privateigentum und Abwesenheit von Eingriffen in die Vertragsfreiheit findet ein sogenanntes "automatisches" oder "mechanisches" Wirtschaften statt im Gegensatz zu einer Planwirtschaft. Glaubt jemand etwa, daß eine  contradictio in adjecto  (Widerspruch im Beiwort; z.B. "hölzernes Eisen") sei - wie kann ein Wirtschaften, das begrifflich doch die Einrichtung auf einen Wirtschaftszweck beinhaltet, automatisch oder mechanisch sein? - so beweist er damit nur, daß er den nationalökonomischen Begriff der Wirtschaft nicht versteht.

Das Wesentliche in dieser Analogie von der privaten auf die gesellschaftliche Wirtschaftsführung ist nämlich, daß man ein einheitliches Subjekt mit einheitlicher Zwecksetzung  fingiert.  Oder man kann auch sagen, daß als Subjekt "wir alle" gesetzt wird: wir ziehen jeder an seinem Strang und in verschiedener Richtung, und das Resultat ist eine gesellschaftliche Wirtschaftsführung. Die Gesellschaft ist es, die wirtschaftet.

An diesem Punkte teilt sich jedoch die Theorie in zwei Gedankenströmen. Die eine Richtung findet in der Wirtschaftsanalogie eine Rechtfertigung für das faktische Resultat des Wirtschaftsablaufs. Wir stehen mit anderen Worten vor einer geschickten Formulierung der alten Harmonielehre. Man findet eine Einheit der streitenden Interessen im Begriff der Gesellschaft und eine Rechtfertigung für den empirischen Ablauf gerade daraus, daß die Preisbildung die Wirtschaftsführung mit den knappen Mitteln realisiert, die notwendig gerade auf Grund des Faktums der Knappheit.

Gegenüber diesem Argumente soll hier nur hervorgehoben werden, daß das Wirtschaften einer gesellschaftlichen Einheit eine falsche Analogie ist, eine Täuschung, die Einheit schafft, wo Mannigfaltigkeit herrscht, die einem Ursachenverlauf einen Sinn geben will, der nicht von einem Subjekt gesetzt oder gedacht werden kann, einen Zweck, der von niemand bezweckt wird. Der Ursachenverlauf kommt gewiß zustande als eine Resultante von Verhaltensweisen, hinter denen Sinngebungen und Zwecke verschiedener Individuen stehen, aber die Resultante wird auch bestimmt von der besonderen Verumständung des besonderen Falles, durch rechtliche Institutionen und andere Zufälligkeiten, die nicht notwendig sind in dem Sinne, wie man die gesellschaftliche Wirtschaftsführung notwendig nennt.

Man hat mit anderen Worten durch eine Analogie ein einheitliches Subjekt geschaffen für einen Prozeß, der in Wirklichkeit kein einheitliches Subjekt hat, sondern viele, und der deshalb auch nicht ein "Wirtschaften" sein kann. Die Vorstellung eines Wirtschaftens ist hier nur eine Formulierung der "kommunistischen Fiktion", die sich durch die ganze Nationalökonomie zieht.

Daneben gibt es eine Gedankenrichtung, in der man sich zum sozialen Resultat des faktischen Wirtschaftsablaufs mehr oder weniger kritisch stellt, jedoch unter Wahrung der Vorstellung, daß dieser Verlauf gleichwohl seinem Wesen nach ein Wirtschaften ist. Die Wirtschaftsführung mag von gewissen Gesichtspunkten eine falsche Wirtschaftsführung sein, aber das hindert doch nicht, daß sie gleichwohl eine Wirtschaftsführung ist.

Wir müssen sie u.a. so betrachten, um herauszufinden, worin ihre Fehler bestehen und wie wir sie kurieren sollen. Diese Gedankenrichtung ist natürlich weit interessanter als die vorhergehende, sie ist auch schwerer faßbar und schwerer zu kritisieren und ist auch die allgemein vorherrschende. Selbst die Harmonieökonomen haben übrigens manchmal am faktischen Preisbildungsablauf etwas auszusetzen. Das Ideal, das sie sich denken, setzt meistens freie Konkurrenz voraus und scheidet sich schon insofern vom empirischen Ablauf. Aber im allgemeinen findet man noch mehr auszusetzen an der wirklichen Wirtschaftsführung.

Was den positiven Inhalt der idealen Wirtschaftsführung angeht, von der aus man den wirklichen Wirtschaftsablauf kritisiert, so wechselt dieser manchmal. Das Wichtigste ist aber, daß man ein soziales Wertkriterium haben  muß,  wenn man überhaupt in irgendeinem Sinne von einer gesellschaftlichen Wirtschaftsführung will sprechen können. Man muß geradezu eine Vorstellung von einer idealen Wirtschaftsführung zum Ausgangspunkt haben, von der aus man die wirkliche Wirtschaft betrachtet, die dann unter Umständen verbesserungsbedürftig erscheint.

Schon der Gedanke an eine Wirtschaftsführung setzt nämlich ein einheitliches Subjekt voraus, da Wirtschaften doch als ein zweckmäßiges Wahlhandeln aufgefaßt werden muß. Ein einheitliches Subjekt für den Wirtschaftsablauf als Ganzes bedeutet jedoch eine soziale Zweck- und damit  Wertsetzung,  denn nur eine solche kann dem Begriff der gesellschaftlichen Wirtschaftsführung Bestimmtheit geben. Wenn der Begriff der gesellschaftlichen Wirtschaft wissenschaftlich sein soll - und er soll ja geradezu die Definition für das Problem der Nationalökonomie sein -, so muß er außerdem  objektiv  bestimmt sein, d.h. für jedermann gültig.

So kommt die Nationalökonomie zu einer objektiven Sozialpolitik, Finanzpolitik usw. Ist jene Vorstellung richtig, dann muß es auch so etwas geben. Unabhängig davon,  wie  man den wirklich herrschenden Gesellschaftszustand beurteilt, so bedeutet der Begriff einer gesellschaftlichen Wirtschaftsführung jedenfalls, daß es  möglich  ist, diesen Zustand  objektiv  zu beurteilen.

Nun gibt es natürlich einen dritten Ausweg. Man behält das Wort bei, aber nicht die Vorstellung. Der Begriff der Volkswirtschaft und die damit zusammenhängenden Ausdrucksweisen - z.B., daß die wirtschaftlichen Erscheinungen Funktionen erfüllen - werden beibehalten als sprachliche Metaphern. Man verwendet Ausdrücke, wie man früher in der Chemie von der Affinität oder der Verwandtschaft der Grundelemente sprach. Dagegen läßt sich kaum etwas einwenden. Gleichwohl besteht Grund, in der Nationalökonomie mit Metaphern besonders vorsichtig zu sein.

Einmal ist das Wirtschaftsleben im hohen Grade dynamisch, wir kommen niemals zu wirklichen Konstanten wie in den Naturwissenschaften. Bestimmen wir unter gewissen Bedingungen den Elastizitätskoeffizienten z.B. für die Nachfrage nach Zucker, so wird sich wohl niemand darüber täuschen, daß dieser Koeffizient unter anderen Bedingungen ein ganz anderer ist.

Ein in naturwissenschaftlichem Sinne konstanter Elastizitätskoeffizient für Zucker oder für irgend etwas anderes ist in der Nationalökonomie kaum denkbar. Daraus entstehen Schwierigkeiten für unsere ganze Begriffsbildung, wir haben nicht die festen Punkte, die die Naturwissenschaften haben, weshalb man in letzteren auch ruhig jede beliebige animistische Ausdrucksweise verwenden kann, sie kann das wissenschaftliche Denken nicht mehr infizieren, wenigstens nicht mehr in moderner Zeit. In der Nationalökonomie ist es anders.

Es gibt noch einen zweiten Grund, der besonders stark gegen den Begriff der Volkswirtschaft auch im Sinne einer Metapher spricht. Äußerlich gesehen scheint "Volkswirtschaft" wirklich eine Realität zu decken. Man kann sich des Wortes deshalb kaum metaphorisch bedienen, ohne daß man dabei zu so vielen Reservationen gezwungen wird, daß sich sein Gebrauch schon aus rein stilistischen Gründen nicht länger rechtfertigen läßt. Läßt man diese Einschränkungen weg, so gibt ihm nämlich der Leser gleichwohl einen Sinn, ob es der Autor will oder nicht, und es ist doppelt gefährlich, wenn die Bedeutung nicht in einer exakten Definition festgelegt wird.

Äußerlich gesehen sieht es nämlich so aus, als ob es wirklich eine gesellschaftliche Wirtschaft gäbe. Gegenstand unseres Studiums sind ja letztlich die Menschen, die alle ihre spezifischen Zielvorstellungen haben und mit den ihnen verfügbaren Mitteln wirtschaften. Es ist auch richtig, daß alle unsere Mittel nicht ausreichen, uns von dem Zwang zum "Wirtschaften" zu befreien. Es ist außerdem richtig, daß wir alle mehr oder weniger fixierte sozialpolitische Ziele haben, die wir mittels politischer Machtausübung zusammen mit anderen Menschen zu realisieren suchen, die einigermaßen ähnliche Ziele verfolgen.

Es ist schließlich richtig: sobald wir politisch denken, so denken wir uns den ganzen Wirtschaftsablauf als eine gesellschaftliche Wirtschaftsführung. Meistens sehen wir darin ein irgendwie falsches Wirtschaften, das wir gern durch spezielle Eingriffe verbessern möchten, damit es danach mehr unserem Ideal entspricht. Oder richtiger gesagt: der Wirtschaftsablauf erscheint als ein an einheitlicher Zwecksetzung orientiertes Wirtschaften, sobald wir in unserem politischen Denken uns selbst als Subjekt setzen, uns etwa politisch mächtig vorstellen, ihn unseren Wünschen gemäß zu verändern oder in seiner gegenwärtigen Gestalt zu erhalten.

Für denjenigen jedoch, der sich nicht zu dieser politischen "hohen Warte" aufschwingen kann, erscheint der Wirtschaftsablauf ganz und gar nicht als eine Wirtschaftsführung, sondern als ein ursachenverbundener mechanisch ablaufender Prozeß der Außenwelt, mag sein, daß im Ursachenkomplex die Zielvorstellungen der Menschen eine Rolle spielen.

Mit anderen Worten: Die Vorstellung einer individuellen Wirtschaftsführung hat ihre Realität gerade darin, daß wir unser eigenes Verhalten als zweckorientiert betrachten. Die Vorstellung einer gesellschaftlichen Wirtschaftsführung beinhaltet ebenso eine Zweckeinstellung und ist deshalb ihrer Natur nach eine politische Betrachtung des ganzen Wirtschaftsablaufs. Ohne politische Bedeutung, ohne einen Zweckinhalt wird das Wort sinnlos.

Damit sagen wir nur dasselbe in anderer Weise, was wir schon soeben ausdrückten, daß nämlich der Gedanke des Wirtschaftens immer ein Subjekt und einen Willen voraussetzt. Wenn nun der Begriff der gesellschaftlichen Wirtschaftsführung als ein wissenschaftlicher aufgefaßt wird, so schließt das die Denkmöglichkeit einer objektiven Politik ein. Wird diese Möglichkeit verneint und doch jene Vorstellung beibehalten so haben wir nur Verwirrung gebracht in die Anschauung des Wirtschaftsablaufs, eine Verwirrung, die gestattet, objektive Politik zu deduzieren, ohne daß man es richtig weiß.

Die Vorstellung einer gesellschaftlichen Wirtschaftsführung beschließt und bestimmt so alle politischen Doktrinen innerhalb der Nationalökonomie. Sie sind sämtlich nur Aussagen darüber, was in verschiedener Hinsicht und evtl. unter gewissen abstrakten Bedingungen objektiv richtig ist, vom Standpunkt der gesellschaftlichen Wirtschaftsführung aus nämlich, was mit anderen Worten gutes Wirtschaften ist für die Gesellschaft als Ganzes. Aus der Vorstellung einer Objektivität dieses gesellschaftlichen Blickpunktes leiten letztlich alle Doktrinen ihre eigenen Ansprüche auf objektive Geltung her.

Man begegnet oft der Behauptung, der Volkswirtschaftsbegriff sei notwendig, um die Nationalökonomie als Wissenschaft zu bestimmen, um also ihr spezielles Objekt, ihre Methode und Ziele anzugeben. In systematischen Arbeiten werden daher diese Begriffe auch meist im einleitenden Kapitel gebracht, das davon handelt, was die Nationalökonomie eigentlich ist. Die Nationalökonomie, heißt es, sei das Studium der Wirtschaftsführung der Nation oder der Welt als gesellschaftlicher Einheit mit den verfügbaren knappen Mitteln. Ihre Probleme sollen entstehen auf Grund der Knappheit, die eben ein Wirtschaften notwendig macht. Verwirft man die Vorstellung der Wirtschaftsführung, so steht man vor der Schwierigkeit, die Nationalökonomie in anderer Weise als selbständige Wissenschaft zu bestimmen.

Es ist ja eine Tradition von alters her, daß die Wissenschaften alle in einer logischen Hierarchie untergebracht werden sollen. Sie sollen voneinander abgegrenzt werden. Die Welt der Erfahrung soll in Bezirke eingeteilt werden, und jede Wissenschaft soll ein besonderes Feld als Untersuchungsobjekt zugeteilt erhalten. Die Grenzziehungen sollen in gewissem Sinne logisch gedingt sein und nicht etwa aus Zweckmäßigkeitserwägungen, die sich aus der positiven Arbeit ergeben, bestimmt werden.

Sie sollen zusammenhängen mit der wissenschaftlichen Methode selbst. Die Nationalökonomie bezeichnet also einen gewissen Gesichtspunkt, unter dem das soziale Leben betrachtet wird und damit auch eine bestimmte Methode zu seiner Erforschung. Das Wissenschaftsobjekt wird also bestimmt mit Rücksicht auf die Reichweite dieser Methode.

Für die Nationalökonomie sind diese Objekt- und Methhodendiskussionen recht unfruchtbar gewesen. In Wirklichkeit besteht die Nationalökonomie natürlich wie alle anderen Wissenschaften aus einer Gruppe verschiedenartiger Problemstellungen, die als ein einigermaßen bestimmter Teil eines größeren Ganzen nur durch Tradition zusammengehalten werden und vielleicht noch durch Zweckmäßigkeitserwägungen in Beziehung auf Forschung und Unterricht.



Jeder Versuch, die Nationalökonomie als Wissenschaft zu "definieren", tut der Wirklichkeit Gewalt an. Wie die behandelten Beispiele zeigen, stehen nun solche Versuche oft unter der Dominante metaphysischer Tendenzen. Man will nicht eine Definition an und für sich haben, man sucht eine solche Definition, die es ermöglicht, einen normativen Inhalt in scheinbar wissenschaftliche Aussagen einzuschmuggeln. Die Definitionen sind deshalb logisch unhaltbar. Zunächst sind sie auch absolut überflüssig. Die einzige Vorstellung, um deren begriffliche Präzisierung sich ein Nationalökonom nicht zu kümmern braucht, ist die Vorstellung  Nationalökonomie.  Dieser Begriff kann unmöglich als entscheidend für irgendein wissenschaftliches Argument angesehen werden. Ebensowenig wie man sich vorstellen kann, daß ein Chemiker aus dem Begriff der Chemie als Wissenschaft Schlüsse ziehen kann. Es ist kein Unterschied zwischen den beiden Wissenschaften zu sehen, der gerade uns zu einer logischen Definition des Wissenschaftsobjektes zwingen sollte.

In der Nationalökonomie wie in aller positiven Forschung studieren wir ausschließlich Relationen verschiedener beobachtbarer Daten, und wir wählen unsere Daten einzig im Hinblick auf das, was relevant erscheint für die speziellen Probleme, die historisch und praktisch in unsere Erkenntnissphäre fallen. Wir versuchen weiter, uns der Methoden zu bedienen, die am sichersten, schnellsten und billigsten zu der Erkenntnis führen, die Antwort gibt auf die gestellten Fragen.

Selbst wenn eine strenge Definition möglich wäre ohne Einführung metaphysischer Denkelemente, die natürlich immer schädlich sind, so läßt man es doch besser bei einer unbestimmten Abgrenzung bewenden. Die Ursachen, die Grenzen zwischen Wissenschaften entstehen lassen, sind nämlich an und für sich schon zu stark. Sie sind ein konservatives Trägheitsmoment, das im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts mit allen Mitteln bekämpft werden sollte.

Sie bezeichnen hauptsächlich eine irrationale Abgrenzung des Gesichtsfeldes, eine Beschränkung des wissenschaftlichen Horizontes. Auch auf dem Gebiet der Sozialforschung gehört die Zukunft einer fortschreitenden Austilgung aller der Grenzlinien, die aus scholastischen oder pädagogischen Gründen früher gezogen worden sind. Es gilt heute vor allem, die Grenzgebiete zu durchforschen und die Forschungsergebnisse der Grenzwissenschaften nutzbar zu machen.

Diese  Probleme  erfordern, wenn man an ihnen arbeitet, klare logische Festlegung im einzelnen, nicht aber der  Wissenschaftsbezirk, worin sie eingefügt sind. Wenn man an die Probleme ernstlich herangeht, wird man finden, sie sind alle von dem Typ: Wie verhalten sich Individuen unter gegebenen Bedingungen? Was geschieht unter den und den Voraussetzungen? Wie wirkt der und der Eingriff in dieser Situation? Nirgends aber wird man auf den Begriff "Wirtschaft" oder "Nationalökonomie" stoßen.

Es gibt nur eine einzige Grenzziehung, die aufrechterhalten werden muß und die möglichst unüberwindlich gemacht werden muß. Aber diese Grenzziehung gilt für alle Wissenschaften und zieht keine Grenzen zwischen dem, was wirklich wissenschaftliche Erkenntnis ist und dem, was nur dilettantische Spekulation mehr oder weniger gelehrter metaphysischer Art ist. Für die Sozialwissenschaften handelt es sich vor allem darum, sich vor normativen und teleologischen Ideen zu hüten. Diese Grenzziehung aber bezeichnet keinen Grund für einen Unterscheidung zwischen einer Wissenschaft und einer anderen, vielmehr liegt es so, daß gerade die Angabe solcher Unterscheidungen metaphysische Denkelemente in die Bestimmung der sogenannten Grundbegriffe einführt.

Jene Grenzziehung vorzunehmen zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft ist jedoch eine Aufgabe, die nicht mehr der Wissenschaft selbst zufällt. Sie ist ein Teil des allgemeinen philosophischen Problems von Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis. Aber etwas können wir dazu beitragen, jeder an seinem Teile, einfach durch eine strengere logische Kritik gegenüber Schlüssen und Deutungen aus dem, was wir mit mehr oder weniger großem Recht doch für die Beobachtung von etwas Wirklichem halten.
LITERATUR - Gunnar Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, Berlin 1932