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MARTIN JULIUS ESSLIN
Eugene Ionesco - Antitheater

Wesen des Absurden
Sinn des Absurden
"Deshalb muß die Sprache der Gesellschaft zertrümmert werden; sie besteht nur aus Gemeinplätzen, leeren Formeln und Schlagworten."

IONESCO wurde am 26. November 1912 ind Slatina (Rumänien) geboren. Seine Mutter, mit Mädchennamen THÉRÈSE ICARD, war Französin. Kurz nach seiner Geburt zogen seine Eltern nach Paris. Französisch ist somit seine Muttersprache; Rumänisch lernte er erst richtig, als er im Altern von dreizehn Jahren nach Rumänien zurückkehrte. Seine ersten Eindrücke und frühesten Erinnerungen sind mit Paris verknüpft:
    "Als ich noch ein Kind war, wohnten wir in der Nähe des Square de Vaugirard. Ich erinnere mich - es ist schon lange her! an die schlecht beleuchtete Straße. Es war ein Herbst- oder Winterabend, meine Mutter hielt mich an der Hand, ich hatte Angst, wie Kinder eben Angst haben, wir gingen Einkaufen fürs Abendbrot. Auf den Bürgersteigen bewegten sich dunkle Silhouetten, Leute hasteten dahin: gespenstische, halluzinatorische .Schatten. Wenn dieses Straßenbild in meiner Erinnerung wieder auftaucht, wenn ich daran denke, daß fast alle diese Leute heute tot sind, erscheint mir wirklich alles schattenhaft, vergänglich. Ein Schwindel erfaßt mich, Angst ..."
Vergänglichkeit, Angst - und das Theater:
    "... meine Mutter konnte mich vom Kasperltheater im Jardin du Luxembourg nicht wegbringen. Ich stand dort, ich konnte ganze Tage dorte stehen, wie behext. Ich lachte aber nicht. Das Kasperltheater hielt mich dort fest, ich war wie gebannt durch den Anblick dieser Puppen, die sprachen, sich bewegten, sich verprügelten. Es war das Welttheater selbst; ungewöhnlich, unwahrscheinlich, aber wahrer als wahr wurde es mir in einer unendlich vereinfachten und karikierten Form vor Augen geführt, als ob seine groteske und brutale Wahrheit noch unterstrichen werden sollte."
Nachdem er in Paris einige Jahre in die  école communale  gegangen war, bekam der Junge Anämie und wurde aufs Land geschickt. IONESCO hat geschildert, wie er mit knapp neun Jahren zusammen mit seiner um ein Jahr jüngeren Schwester in dem Dorf La Chapelle-Anthenaise ankam, wo sie bei Bauern untergebracht werden sollten: "Das schwindende Licht, die Müdigkeit, die geheimnisvolle Ruhe der Landschaft, die Vorstellung der langen dunklen Gänge des 'Schlosses' (wofür er den Turm der Dorfkirche hielt) und dann der Gedanke, daß ich nun meine Mutter verlassen mußte ... ich konnte nicht länger an mich halten ... weinend klammerte ich mich an die Röcke meiner Mutter." Als er 1939, am Vorabend des Krieges, La Chapelle-Anthenaise wieder aufsuchte, kamen ihm Erinnerungsfetzen in den Sinn; wie er dort mit den anderen Kindern  Theater  gespielt hatte, was er in der Dorfschule und mit den anderen Kostgängern auf dem Bauernhof erlebte, wie er Alpträume und seltsame Erscheinungen gehabt hatte,
    "die den Gestalten von BRUEGHEL oder BOSCH ähnelten: dicke Nasen, ungestalte Körper, schauderhaftes Grinsen, Pferdefüße. Später, in Rumänien, war ich immer noch kindlich genug, um Angstträume zu haben. Aber jetzt sahen die Ausgeburten meiner Angst anders aus: sie waren nur zweidimensional, flach, mehr traurig als scheußlich - mit riesengroßen Augen. Man muß wohl annehmen, daß es gotische Halluzinationen gibt und byzantische."
IONESCO hat erzählt, daß er zu jener Zeit davon träumte, ein Heiliger zu werden. Die religiösen Bücher, die er im Dorf bekommen konnte, lehrten ihn aber, es sei unrecht, nach Ruhm zu streben. Er gab deshalb den Gedanken an die Heiligkeit auf. Kurz darauf las er die Lebensbeschreibung von TURENNE und CONDÉ und beschloß, ein großer Feldherr zu werden. Mit 13 Jahren - er war inzwischen nach Paris zurückgekehrt - schrieb er sein erstes Stück, ein patriotisches Drama.

Die Familie zog wieder nach Rumänien. Dort begegnete IONESCO einer rauheren, brutaleren Welt:
    "Kurz nach der Ankunft in meiner zweiten Heimat sah ich, wie ein noch junger, gr0ßer, starker Mann einen Alten mit Fausthieben und Fußtritten traktierte ... Ich habe keine anderen Bilder von der Welt als solche, die Vergänglichkeit und Härte, Eitelkeit und Wut, das Nichts oder scheußlichen, nutzlosen Haß ausdrücken. Und so ist mir das Dasein auch weiterhin erschienen. Alles hat nur bestätigt, was ich in meiner Kindheit gesehen und begriffen hatte: unnütze und unflätige Wutausbrüche, Schreie, die in der Stille plötzlich erstickten, Schatten, für immer von der Nacht verschlungen."
In Rumänien studierte IONESCO nach Abschluß seiner Schulausbildung Französisch an der Universität Bukarest. Er schrieb seine ersten Gedichte, Elegien, die den Einfluß MAETERLINCKs und FRANCIS JAMES verraten. Er versuchte sich auch als Literaturkritiker und veröffentlichte einen vernichtenden Angriff gegen drei rumänische Schriftsteller, die damals eine führende Rolle spielten und groß in Mode waren - gegen die Lyriker TUDOR ARGHEZI und ION BARBU sowie den Romancier CAMIL PETRESCO. IONESCO warf diesen drei Dichtern engstirnigen Provinzialismus und Mangel an Originalität vor. Einige Tage später aber ließ er einen zweiten Aufsatz drucken, in dem er dieselben Autoren in den Himmel hob und als große Gestalten der rumänischen Literatur mit Anspruch auf Weltgeltung bezeichnete. Endlich ließ er beide Aufsätze nebeneinandersetzen und überschrieb sie mit "Nein!"; er wollte damit beweisen, daß man ein und denselben Gegenstand von verschiedenen Seiten betrachten kann und daß die Gegensätze identisch sind.

Nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, wurde IONESCO Französischlehrer an einem Bukarester Gymnasium. 1936 heiratete er RODICA BURILEANO, eine zierliche Frau von exotischem Aussehen, das für Osteuropäer nicht ungewöhnlich ist, aber das völlig unbegründete Gerücht aufkommen ließ, IONESCOs Frau sei Chinesin. Im Jahre 1938 erhielt IONESCO ein Staatsstipendium, das es ihm ermöglichen sollte, in Frankreich Material für ein von ihm geplante Dissertation über "Die Themen  Sünde  und  Tod  in der französischen Dichtung seit BAUDELAIRE zu sammeln. Er ging also nach Frankreich zurück.

Bei Kriegsausbruch war IONESCO in Marseille. Später kehrte er nach Paris zurück und arbeitete in der Herstellungsabteilung eines Verlags. 1944 wurde seine Tochter MARIE-FRANCE geboren. Als der Krieg zu Ende ging, war IONESCO knapp dreiunddreissig. Nichts deutete darauf hin, daß er bald ein berühmter Dramatiker werden würde. Das Theater mißfiel ihm sogar ganz entschieden:
    "Ich las belletristische Werke, Essays und ging mit Vergnügen ins Kino. Ich hörte hin und wieder Musik, besuchte Kunstausstellungen; aber ins Theater ging ich so gut wie nie."
Warum mißfiel ihm das Theater? Als Kind hatte er es geliebt, aber es gefiel ihm nicht mehr, seit "ich mir einen kritischen Blick angeeignet hatte und die Drähte, die groben Drähte des Theaters, wahrnahm." Das Spiel der Schauspieler setzte ihn in Verlegenheit, er schämte sich für sie: "Ins Theater zu gehen, das hieß für mich: mir anzusehen, wie sich dem Anschein nach seriöse Leute lächerlich machten." Und doch hatte IONESCO eine Vorliebe für das Fiktive, er war sogar davon überzeugt, daß die Wahrheit des Fiktiven der Wahrheit des Realen überlegen wäre. Im Kino mißfiel ihm auch das Spiel nicht. Aber im Theater
    "störte mich die Gegenwart von Menschen aus Fleisch und Blut auf der Bühne. Ihre körperliche Anwesenheit zerstörte das dichterische Element. Es gab dort gleichsam zwei Ebenen der Realität: die konkrete, materielle, verarmte, entleerte, begrenzte Wirklichkeit dieser lebendigen, alltäglichen Menschen, die sich auf der Bühne bewegten und miteinander sprachen, und die Wirklichkeit der Einbildungskraft. Beide standen sich gegenüber, deckten sich nicht, ließen sich nicht aufeinander zurückführen: es waren zwei gegensätzliche Welten, die sich nicht vereinigen, nicht miteinander verschmelzen konnten."
Trotz seiner Abneigung gegen das Theater schrieb IONESCO - fast wider Willen - ein Stück. Das kam so: 1948 beschloß er, er müsse nun Englisch lernen, und kaufte ein englisches Lehrbuch. Eine höchst gelehrte Untersuchung in den hochwissenschaftlichen Spalten der  Cahiers du Collége de Pataphysique  ist später auf Grund eingehender Textanalyse zu dem Schluß gelangt, es habe sich bei dem fraglichen Lehrbuch um "L'Anglais sans peine" von  Assimil  gehandelt. IONESCO hat selbst beschrieben, was dann geschah:
    "Ich machte mich an die Arbeit. Gewissenhaft schrieb ich die Sätze aus meinem Lehrbuch ab, um sie auswendig zu lernen. Als ich sie aufmerksam wieder durchlas, lernte ich zwar nicht Englisch, dafür aber erstaunliche Wahrheiten: daß die Woche sieben Tage hat zum Beispiel, was ich allerdings schon wußte; oder, daß der Fußboden unten, die Decke oben ist - eine Tatsache, die mir vielleicht auch schon bekannt war, über die ich aber niemals ernsthaft nachgedacht oder die ich vergessen hatte und die mir plötzlich ebenso verblüffend wie unbestreitbar wahr erschien."
Als die Lektionen schwieriger wurden, traten zwei Personen auf, Mr. und Mrs. Smith:
    "Zu meinem großen Erstaunen setzte Frau Smith ihren Mann davon in Kenntnis, daß sie mehrere Kinder hätten, daß sie in der Umgebung Londons wohnten, daß sie Smith hießen, daß Herr Smith Büroangestellter wäre, daß sie ein Dienstmädchen hätten, Mary, das ebenfalls Engländerin wäre ... Ich erlaube mir, SIe auf den unwiderleglichen, vollkommen axiomatischen Charakter der Feststellungen von Frau Smith aufmerksam zu machen sowie auf das durch und durch cartesianische Denkverfahren des Verfassers meines englischen Lehrbuchs. Das Bemerkenswerteste daran war ja, daß er bei der Suche nach der Wahrheit so außerordentlich methodisch vorging. In der fünften Lektion kamen die Martins, Freunde der Familie Smith; das Gespräch ging nun zwischen vier Personen hin und her, und von den elementaren Axiomen wurden komplexere Wahrheiten abgeleitet:  auf dem Lande ist es ruhiger als in der Großstadt  ..."
Hier bot sich ein komische Situation an, die bereits in Dialogform abgefaßt war: zwei Ehepaare teilten sich gegenseitig feierlich Dinge mit, die ihnen allen längst bekannt sein mußten. Aber dann
    "geschah etwas Seltsames, ich weiß nicht wie: der Text veränderte sich unmerklich vor meinen Augen, gegen meinen Willen. Die einfachen und einleuchtenden Sätze, die ich voller Fleiß in mein Schulheft eingetragen hatte, begannen sich zu zersetzen, nachdem sie eine Zeitlang sich selbst überlassen gewesen waren, ... sie verwesten, entarteten."
Die Klischees und Gemeinplätze der Konversations-Fibel hatten, obwohl sie jetzt zu sinnentleerten und erstarrten Formen geworden waren, einst einen Sinn ergeben. Nun aber verwandelten die sich in Pseudo-Klischees und Pseudo-Gemeinplätze; diese wiederum entarteten zu wilden Karikaturen und Parodien, und schließlich löste sich die Sprache selbst auf, zerfiel in zusammenhanglose Fragmente.

So entstand IONESCOs erstes Stück. Zuerst wollte er es "L'Anglais sans peine" nennen, später "L'Heure anglaise", schließlich aber gab er ihm den Titel "La Cantatrice chauve" - "Die kahle Sängerin".

Den Titel für das Stück fand IONESCO erst während der Proben; in der langen, pointenlosen Anekdote "Der Schnupfen", die der Feuerwehrhauptmann erzählt, ist von einer  institutrice blonde  - einer blonden Lehrerin - die Rede. Bei einer Probe versprach sich HENRI-JACQUES HUET, der den Feuerwehrhauptmann spielte, und sagte  cantatrice chauve  statt  institutrice blonde.  IONESCO, der dabei war, erkannte sofort, daß  La Cantatrice chauve  ein viel besserer Titel war als "L'Heure anglaise" oder "Big Ben Follies" (womit er eine Weile geliebäugelt hatte). So wurde das Stück denn also "Die kahle Sängerin" getauft. Eine kurze Anspielung auf die  cantatrice chauve  fügte der Autor am Ende von Szene 10 noch ein: der Feuerwehrhauptmann wendet sich zum Gehen, erkundigt sich vorher noch beiläufig nach der kahlen Sängerin, stiftet mit dieser Frage allgemeine Verlegenheit und erhält nach einem peinlichen Schweigen die Auskunft, sie trage immer noch dieselbe Frisur.

So dunkel und rätselhaft die Stücke IONESCOs auch erscheinen mögen, ihr Autor hat immer bewiesen, daß er seine Ideen mit außerordentlichem Scharfsinn und großer Überzeugungskraft erläutern konnte, wann immer er gezwungen war, sich gegen Angriffe zu verteidigen.

IONESCO protestierte gegen die Unterstellung, er sei willentlich ein Antirealist und behaupte, die Sprache sei als Verständigungsmittel ungeeignet. "Schon die einfache Tatsache, daß ich Stücke schreibe und aufführen lasse, ist mit einem solchen Standpunkt zweifellos unvereinbar." Nach einem Hieb auf SARTRE (als dem Verfasser politischer Melodramen), OSBORNE, MILLER, BRECHT und andere, die er als  auteurs du boulevard  bezeichnet, als "Repräsentanten eines Konformismus der Linken, der genauso jämmerlich ist wie der Konformismus der Rechten, äußerte IONESCO die Überzeugung, daß die Gesellschaft selbst eine der Schranken darstelle, die die Menschen voneinander trennen. Die ursprüngliche Gemeinschaft der Menschen sei umfassender als die Gesellschaft:
    "Keine Gesellschaft hat die Trauer des Menschen aufheben können, kein politisches System kann uns von dem Leiden an der Existenz befreien, von der Furcht vor dem Sterben, von unserem Durst nach dem Absoluten. Das Sein des Menschen bestimmt das Sein der Gesellschaft, nicht umgekehrt."
Deshalb muß die Sprache der Gesellschaft zertrümmert werden; sie "besteht nur aus Gemeinplätzen, leeren Formeln und Schlagworten". Deshalb soll man auch die Ideologien und ihre erstarrte Sprache dauernd und von neuem überprüfen und "ihre gefrorene Sprache ... unbarmherzig aufspalten, damit man darunter den Lebenssaft wiederfindet."
    "Wenn ich das allen Menschen gemeinsame Kernproblem entdecken will, muß ich mich erst selbst fragen, was  mein  Kernproblem ist, wovor  ich  eine unausrottbare Angst habe. Dann kann ich sicher sein, die Probleme und Ängste jedes anderen ausfindig zu machen. Das ist der richtige Weg, der in meine eigene Dunkelheit, in unsere Dunkelheit führt, die ich ans Licht des Tages zu bringen suche ... Ein Kunstwerk ist der Ausdruck für eine nicht mitteilbare Realität, die man mitzuteilen versucht - und die man manchmal mitteilen kann. Das ist das Paradoxe an ihm und das Wahre."
Wir leben in einer Welt, die ihre metaphysische Dimension und damit auch jedes Geheimnis verloren hat. Wollen wir den Sinn für das Geheimnisvolle zurückgewinnen, so müssen wir erst lernen, das Alltäglichste in seinem vollen Grauen zu erfassen:
    "Die Absurdität, die Unwahrscheinlichkeit des Alltäglichen und der Sprache empfinden, heißt schon, sie überwunden zu haben. Um sie zu überwinden, muß man sich zuerst in sie versenken. Das Komische ist das Ungewohnte in seiner reinen Form; nichts erscheint mir überraschender als das Banale; das Surreale ist mit Händen zu greifen, es ist vorhanden - im Alltagsgeschwätz."
"Die Unterrichtsstunde" behandelt dasselbe Thema wie "Die kahle Sängerin": die Sprache. Das geht nicht nur aus der langen Abhandlung über die neospanische Sprachfamilie hervor, zu der eine große Anzahl realer und imaginärer Sprachen gehört. Oberflächlich gesehen sind alle diese Sprachen gleich, und doch gibt es zwischen ihnen feine Unterschiede, die das Ohr zwar nicht wahrzunehmen vermag, die aber dennoch vorhanden sind. So wird zum Beispiel das im Französischen "grand-mére" ausgesprochene Wort auf Spanisch, Sardanapali oder Rumänisch ebenfalls "grand-mére" ausgesprochen, aber trotzdem sind diese Sprachen unendlich verschieden. Wenn der eine "Großmutter" sagt, und ein anderer sagt auch "Großmutter", so  scheinen  die beiden zwar dasselbe zu sagen, aber in Wirklichkeit sprechen sie doch von grundverschiedenen Leuten!

Mit großer Gelehrsamkeit erklärt der Professor seiner Schülerin, daß ein Italiener, der "mein Vaterland", so meine er den Orient - folglich bezeichne ein und dasselbe Wort ganz verschiedene Dinge. Hier wird bewiesen, daß eine Verständigung grundsätzlich unmöglich ist - Worte können keinen Sinn vermitteln, weil sie die persönlichen Assoziationen außer acht lassen, die das jeweilige Individuum mit ihnen verbindet. Das scheint auch einer der Gründe zu sein, die den Professor daran hindern, sich seiner Schülerin verständlich zu machen. Ihr Denken verläuft in verschiedenen Bahnen, eine Begegnung ausgeschlossen. Die Schülerin kann addieren, begreift jedoch den Vorgang der Subtraktion nicht; andererseits kann sie aber astronomische Zahlen im Handumdrehen miteinander multiplizieren, obwohl sie versichert hat, sie könne nur bis sechzehn zählen. Sie erklärt dem verblüfften Professor, sie habe einfach alle Ergebnisse sämtlicher Multiplikationen auswendig gelernt.

"Die Unterrichtsstunde" beschränkt sich aber nicht darauf zu beweisen, daß die Verständigung schwierig ist; sie sagt noch mehr über die Sprache aus. IONESCO zeigt hier auf, daß die Sprache ein  Machtinstrument  ist. Im Verlauf des Stückes verliert die Schülerin, die anfangs eifrig, lebhaft und munter war, ihre ganze Vitalität, während der zunächst nervöse und schüchterne Professor immer sicherer und überlegener wird. Es ist offensichtlich, daß der Professor nur deshalb in steigendem Maße an Macht gewinnt, weil er die Rolle des Sinngebers innehat, der willkürlich vorschreibt, welche Bedeutung die Worte haben sollen. Da die Worte den Sinn annehmen, den  er  ihnen beilegt, gerät die Schülerin immer mehr unter seine Herrschaft, was auf der Bühne ganz konkret dadurch dargestellt wird, daß er das Mädchen schließlich vergewaltigt und ermordet. Das Dienstmädchen dagegen, eine Art bösartiger Mutter-Figur, beherrscht wiederum den Professor. Als er sie mit dem Messer, seiner Mordwaffe, angreifen will, zeigt es sich, daß sie dagegen gefeit ist - einfach, weil sie nicht zu seinen Schülerinnen gehört. Sie resümiert die Situation am Ende des Stücks: "Die Arithmetik führt zur Philologie und die Philologie zum Verbrechen ..." Die Niederlage der Schülerin kündigt sich schon an, als sie plötzlich von heftigen Zahnschmerzen befallen wird; sie sind "das Endsymptom! Das große Symptom!", wie das Dienstmädchen erklärt. Das Zahnweh deutet an, daß die Schülerin die Fähigkeit zu sprechen verliert; es ist andererseits aber auch ein Zeichen für den Sieg der körperlichen Wirklichkeit über die des Geistes. Nach und nach beginnen alle Partien ihres Körpers zu schmerzen, bis sie schließlich in einem Akt vollständiger körperlicher Unterwerfung dem Professor erlaubt, ihr das Messer zwischen die Rippen zu stoßen; sie akzeptiert den letzten Lehrsatz des Professor - "Das Messer tötet."

Die sexuelle Nebenbedeutung des Höhepunktes wird ganz deutlich herausgestellt. Die Schülerin "sinkt in einer schamlosen Haltung auf einen Stuhl ... die Beine sind weit gespreizt und hängen auf beiden Seiten vom Stuhl herunter; der Professor steht vor ihr, mit dem Rücken zum Publikum". Mörder und Opfer schreien in demselben Augenblick: "Aaah!" In der Inszenierung von MARCEL CUVELIER war auch die rhythmische Wiederholung des Schlüsselwortes "couteau" (Messer) durch den Mörder und sein Opfer unmißverständlich orgiastisch.

PIERRE-AIMÉ TOUCHARDs Interpretation zufolge stellt "Die Unterrichtsstunde" den im Lehrer-Schüler-Verhältnis immer enthaltenen Herrschaftsanspruch in karikierter Form dar. Der Professor tötet die Schülerin, weil die Zahnschmerzen ihr einen Vorwand lieferten, seinem Unterricht nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu folgen. Darin verbirgt sich, laut TOUCHARD, wiederum ein Symbol für alle Formen der Diktatur. Wenn Diktatoren spüren, daß ihre Macht über das Volk im Schwinden ist, wollen sie die rebellischen Elemente vernichten, wodurch sie aber auch die Objekte ihrer eigenen Herrschaft verlieren. Diese Deutung ist reichlich rationalistisch; sie wird allerdings durch die Tatsache untermauert, daß am Ende das Dienstmädchen dem Professor eine Armbinde umlegt, "die ein Abzeichen trägt, vielleicht das Hakenkreuz".

Eine Anspielung auf politische Machtansprüche ist in der "Unterrichtsstunde" sicher enthalten, aber es ist nur eine Bedeutung unter vielen und doch wohl nur ein nebensächlicher Aspekt des Grundthemas: des sexuellen Charakters jeder Machtausübung und des Zusammenhangs von Sprache und Macht als einer Grundlage aller menschlichen Bindungen. Der Professor dominiert über die Schülerin, wird aber seinerseits wieder beherrscht durch das Dienstmädchen, das ihn wie eine liebevolle, wenn auch mit dem Verhalten des Sohnes nicht ganz einverstandene Mutter behandelt, die das unartige Kind verwöhnt, weil sie auch bei seinen schlimmsten Streichen noch ein Auge zudrückt. Der springende Punkt liegt zweifellos darin, daß die Schülerinnen  immer  Zahnschmerzen bekommen und daß der Professor sie  immer  vergewaltigt und tötet. Der Mord, bei dem wir Zeugen sind, ist der  vierzigste  an jenem einzigen Tag. Und das Stück endet, als das einundvierzigste Opfer zu seiner Nachhilfestunde eintrifft.

Daher handelt es sich hier um den sexuellen, sadistischen Charakter jeder autoritären Äußerung. Was IONESCO sagen will, ist, daß selbst eine dem Anschein nach so harmlose Autoritätsausübung, wie sie das Lehrer-Schüler-Verhältnis verkörpert, die ganze Gewalttätigkeit und Machtgier, die Aggressivität, das Besitzstreben, die Grausamkeit und Wollust enthält, die sich in jeder Machtbekundung manifestieren. Die Technik des nicht-literarischen Theaters, die es dem Autor wie dem Regisseur erlaubt, die Handlung des Stücks  gegen  den Text zu stellen, gibt IONESCO die Möglichkeit, diesen verborgenen Gehalt offenkundig werden zu lassen. Während sich die Sprache weiterhin auf der Ebene von Frage und Antwort, von erbetener und erteilter Auskunft bewegt, wird die  Handlung  immer gewalttätiger, sinnlicher und brutaler. Alles, was von dem komplizierten Wissensgebäude, von der Unterweisung (in ihrer parodierten Form) und dem Begriffssystem übrigbleibt, ist die grundlegende Tatsache, daß der Professor seine Schülerin tyrannisieren und besitzen will. IONESCO hat "Die Unterrichtsstunde" als  drame comique  bezeichnet.

Es wäre falsch, wollte man IONESCOs Haltung als durch und durch pessimistisch bezeichnen. Er will dem Dasein Echtheit, dem Erleben Fülle verleihen, und deshalb zwingt er den Menschen, sich den unerbittlichen Gegebenheiten der Existenz ohne Ausflüchte zu stellen. Dieses Vorgehen öffnet aber auch den Weg zur Befreiung. IONESCO hat einmal geäußert:
    "... die Bloßstellung des Absurden ist ein Mittel zur Feststellung des Nicht-Absurden ... Denn woher sollte man schließlich sonst einen Bezugspunkt nehmen? ... Bei den Zen-Buddhisten gibt es überhaupt keine direkte Unterweisung ... sondern nur das Suchen nach einer Offenbarung, nach einer Enthüllung. Nichts stimmt mich pessimistischer als die Verpflichtung, nicht pessimistisch zu sein ... Ich glaube, daß jede verzweifelte Botschaft eine Situation aufzeigt, aus der ein jeder selbständig einen Ausweg finden muß ..."
Die Feststellung der verzweifelten Situation, die aus ihrer Betrachtung resultierende Fähigkeit des Zuschauers, ihr mutig ins Auge zu sehen, bedeuten an sich schon eine Katharsis, eine Befreiung. Sehen sich nicht auch ÖDIPUS und LEAR der vollen Verzweiflung und Absurdität des menschlichen Daseins gegenübergestellt? Dennoch bewirken ihre Tragödien ein Erlebnis der Befreiung.
LITERATUR - Martin Julius Esslin, Das Theater des Absurden, Düsseldorf 1975